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Bilder lesen ...


Author: Hermann Kalkofen
[published in: IMAGE 6 (Ausgabe Juli 2007) ]

Catchwords: Bildlesen, Simulaneität bei Bildern, Bildwahrnehmung

Disciplines: Semiotik, Psychologie


The set phrase 'reading pictures' is increasingly used in the current aesthetic discourse and is taken seriously by authors like Claude Gandelman [Reading Pictures, Viewing Texts, 1991]. Against this background it shall, on the one hand, be tried to compile the essential features of that kind of foveal vision which can be called 'reading'; and it will be examined to what extent the viewing of pictures can be referred to in a non-metaphoric sense. This question is, on the other hand, not independent from the query of the constitution of those formations of graphic signs which shall represent ‘reading materials’. May reading be the general mode of the reception of text and – if we follow the supporters of a potentially overstretched conception of text – of pictures as well? It shall be attempted to show that, at least from an etymological point of view, there is not that much to say against even conceiving a picture as text. However, 'written' texts and 'presentational' forms in terms of Susanne Langer are a linear 'discursive' constitution.

Abstract in deutsch:

0. Einleitung

»Bilder lesen« – diese mitsamt ihren Spielarten nicht eben selten begegnende Redensart lässt sich bis mindestens 1961 zurückverfolgen. In diesem Jahr nämlich erschien im US-amerikanischen ‘Saturday Evening Post’ ein Aufsatz mit dem Titel ‘How to Read a Painting’. Autor war niemand anders als Ernst Gombrich, der den Artikel wenig später in seinen ‘Meditations on a Hobby Horse’ auf’s Neue veröffentlichte. Lesen scheint hier tatsächlich buchstäblich gemeint zu sein, schreibt Gombrich doch: “We read a picture, as we read a printed line, by picking up letters or cues and fitting them together till we feel that we look across the signs on the page at the meaning behind them” (Gombrich 31978:155). Bilder wollen gelesen sein! Gombrich hat einen guten Grund für diese Behauptung; davon später. Von einer Bilder-Sprache spricht er in diesem Aufsatz nicht.

1.

Bildersprache. An eine Bildersprache, nämlich an eine visuelle Sprache , die auf Form- und Farbelementen, Formemen und Chromemen basieren würde, denkt Max Bense(1971 92ff). 1990 teilt Fernande Saint-Martin ihre Sémiologie du langage visuel (1987), eine umsichtige Betrachtung des Gegenstands, auf Englisch mit. Während Bense zwischen visueller Sprache und visueller Semiotik überhaupt, scheint’s, keinen (großen) Unterschied macht , beruft Saint-Martin sich auf Lotmans tolerante Definition von Sprache als “any system of communication which uses signs in a particular way” (Lotman 1973). Sie definiert “the basic unit of visual language as the coloreme “7 (Saint-Martin1990: 5). Der Ansicht, daß es eine Bilder- sive visuelle Sprache im Grunde nicht geben kann, ist dagegen, z.B., Sol Worth 1971: “... pictures are not a language in the verbal sense. While words mean primarily or basically because of lexicon and syntax, pictures have no lexicon nor syntax” (Worth 1974 104) . Dass Bilder kein Lexikon hätten, läßt sich womöglich bestreiten. Doch wozu brauchten sie eine Grammatik?

2.

Zwei semiotische Typen. Es ist die auditorische Konstitution oral-verbaler Sprache, die eine Syntax erforderlich macht; in Roman Jakobsons Worten: die Sukzessivität von „Zeichen ... auditorischer Natur … impliziert ... notwendig hierarchische Anordnung und diskrete Elementarkomponenten“ (Jakobsons 1964: 104-5). Linearität gibt Grund zu Arbitrarität . Zeichen „auditorischer Natur“ stellen den zweiten der beiden semiotischen Typen dar, die Jakobson erkennt. Es lasse sich zeigen, “dass eine Vielfalt von Zeichen in zwei Klassen geteilt werden kann: „Zum einen «repräsentierende Zeichen», die eine faktische Ähnlichkeit oder Kontiguität mit zugehörigen Objekten vermitteln und zumeist visuell sind, zum andern «nicht-repräsentierende» Zeichen überwiegend auditorischer Natur. Die Zeichen der ersten Kategorie betreffen in erster Linie den Raum, die der zweiten die Zeit; das wesentliche Strukturprinzip ist bei den repräsentierenden Zeichen Simultaneität, bei den nicht-repräsentierenden Sukzessivität“ (aaO). Jakobson (1967) erinnert den Leser daran, wie zwei Jahrhunderte zuvor Gotthold Ephraim Lessing, „the famous master and theoretician of literature,“ diese Einteilung im Grunde vorwegnahm, als er im »Laokoon« lehrte, dass Malerei eine auf räumliches Nebeneinander gegründete Kunst ist, „whereas poetry operates solely with time sequence (zeitliches Nacheinander)” (Jakoson 1967: 6). Als Susanne Langer präsentative und diskursive Formen von Symbolen einander gegenüber stellte, war ihr Lessings Priorität scheint’s nicht bewusst (Langer 31974/1942). Lessing seinerseits war nicht bekannt, dass er in Leonardo einen Vorläufer hatte.

3.

Wie simultan sind Bilder? „Nun siehst du wohl“, wandte sich Leonardo am Ende einer Ausführung über den “Unterschied zwischen der Poesie und der Malerei“ an den Leser, „welcher Unterschied es ist, ob man etwas, das dem Auge Vergnügen schafft, unter langer Zeitdauer erzählen hört, oder ob man es mit derselben Raschheit sieht, in der die wirklichen Dinge gesehen werden“ (Leonardo 1890/1498: 13 §18). Heißt das nicht Simultaneität des Ikonischen? Bei Leonardo ist in der Tat zu lesen, dass die Malerei dem Betrachter „in einem Nu ihren Inhalt in die Sehkraft hinein“ stellt (loc.cit. §19). Bei Lessing produziert Malerei »Was das Auge mit einmal übersiehet« . Bei Langer präsentieren »visual forms« ihre Konstituenten dergestalt, „daß die Relationen, die eine visuelle Struktur bestimmen, auf einen Blick erfasst werden“ (Langer 31974/1942: 93). In Gombrichs Artikel über das Bilderlesen ging es zum größten Teil um Proben aus Maurits Cornelius Eschers graphischem Schaffen. Die erste Wahrheit, die sich bei der Betrachtung derartiger visueller Paradoxa erschließt, sagt Gombrich, ist die des „stückweisen Charakters des Bildlesens. Es gibt eine klare Begrenzung der visuellen Information, die wir in einem gegebenen Blick aufnehmen können“ (aaO: 156). Das ist seit Helmholtz’ Tagen bekannt und wurde von Guido Hauck verbreitet. Der hebt 1879 hervor, daß „die Gewandtheit, die das Auge in dieser wandernden Thätigkeit besitzt ... so gross“ ist, „dass uns die Einzelheiten des Processes nicht entfernt zum Bewusstsein kommen. Im Nu ist das Gesammtbild geschaffen, das wir als eine Combination von gleichzeitigen Detaileindrücken auffassen zu müssen glauben, während dieselben in Wirklichkeit nach einander erfolgt sind“ (Hauck 1879: 7-8). Sehen bedeutet die Übertragung des Sukzessiven in Simultaneität“ (Kalkofen 2003: 360). Auf Grund der engen Grenzen der Fovea centralis und der Enge des Bewußtseins findet die physische Simultaneität distaler visueller Reize proximal und psychisch (zu allermeist) keine Entsprechung. Muß die zwangsläufig sukzessive Aufnahme komplexer visueller Reize nun aber partout als Lesen bezeichnet werden? Vor dem Versuch einer Antwort auf diese Frage ein zweiter Blick auf Lessings Laokoon.

4.

Lessings Opposition von Poesie und Malerei ist eigentlich, wie David Wellberry in unverblümter Deutlichkeit konstatiert (man hatte es immer gewußt), eine Vergleichung “of poetry and the plastic arts” (Wellberry 1984: 112), von Dichtung und Skulptur. Aus welchen Gründen auch immer wählte Lessing stattdessen als Gattungsbegriff Malerei; ein Etikettenschwindel, wenn man so will. Weniger harmlos als diese Verkleidung ist in meinen Augen nun aber die – gut möglich ohne Arg erfolgte – Darstellung der Poesie als oral-auditorisch . Die Zeichenvehikel der Poesie existierten nichtsdestotrotz zu Lessings mehr noch als schon zu Leonardos Zeit (auch) visuell, in Form von markings. William Ittelson definierte ein marking als

“a pattern that appears on a surface. The term marking always entails that (1) there is a surface and (2) the informational content of the marking does not refer to the surface. While the surface can exist without the marking, the marking cannot exist without a surface” (Ittelson 1996: 171).

Derlei markings können nach den Intentionen, die Herstellung und Verwendung zugrunde liegen, eingeteilt werden. So entstehen vier Kategorien : “designs, writings, diagrams, and depictions” (aaO: 172). Was Lessing hinsichtlich der Malerei befand – „dem Auge bleiben die betrachteten Teile beständig gegenwärtig; es kann sie abermals und abermals überlaufen“(aaO: 123) – gilt allgemein für markings und somit auch für Literatur. Dennoch bleiben »writings« linear und ‚visualisieren’ die Linearität der gesprochenen Sprache, wie Ferdinand de Saussure es ausdrückt:

„Im Gegensatz zu denjenigen Bezeichnungen, die sichtbar sind (maritime Signale usw.) und gleichzeitige Kombinationen in verschiedenen Richtungen darbieten können, gibt es für die akustischen Bezeichnungen nur die Linie der Zeit; ihre Elemente treten nacheinander auf; sie bilden eine Kette. Diese Besonderheit stellt sich unmittelbar dar, sowie man sie durch die Schrift vergegenwärtigt und die räumliche Linie der graphischen Zeichen an Stelle der zeitlichen Aufeinanderfolge setzt“ (de Saussure 1967/1916 :82) .

5.

Ikonische Texte? Definitionen von »Lesen« und »Text« sind offensichtlich interdependent. „Lesen heißt“ für Eleanor J.Gibson und Harry Levin 1987 „Information aus Texten entnehmen“. (Gibsom/Levin 1989/1975: 17). Das wäre eine konzise Definition, wenn die Autoren den „Begriff des Textes“ nicht „weit fassen“ würden, denn „er bezieht sich auf Kombinationen von Texten {!} und Bildern, Diagramme, graphische Darstellungen, illustrierte Anweisungen usw.“ (loc. cit.). Das ist noch nicht die nahezu grenzenlose Text-Definition der Schule von Tartu, doch schon ein Schritt in dieser Richtung. Die von Eleanor Gibson und Levin aufgeführten Exemplare sind nicht länger mehr notwendig verbal; doch haben sie die essentiellen features surveyability und preservability, die Josef Vachek 1959 herausgestellt hat. Sollte ein Diagramm, ein Bild nicht Text genannt werden dürfen? Verbale Zeichen treten im allgemeinen nicht als isolierte Einzel-Wörter auf, sondern in satzübergreifenden Zeichenverbänden. Auch ikonische Zeichen existieren zumeist in Verbänden. textum von lat. texo weben; flechten; zusammenfügen, bauen, verfertigen ist im Langenscheidt Gewebe (bsd. Kleid, Tuch); Geflecht; / Gefüge, Bau. (Gewebe; Zusammenfügung). Zumindest etymologisch spricht also wenig dagegen, von Bildern als von (ikonischen) Texten zu sprechen und semiotisch wäre es nicht unvernünftig.

6.

Sehen und Lesen. Werden ikonische Texte gelesen? “We don't read a painting, we see it” - die Stelle dieses so treffenden Lessing-Zitats, das Wolfgang Ernst in seinem Bericht über Martin Stegus Beitrag zum Kolloquium »Perspektiven des Laokoon«, das 1994 in Berlin stattfand, produzierte, ließ sich weder bei Wellberry noch auch bei Lessing wieder finden (cf Stegu 2004). Sehen ist jedenfalls nicht immer Lesen und Lesen umgekehrt nicht immer Sehen. Sehen und visuelles Lesen erfordern beide die Aufnahme optischer Information. Über ein schmales Fenster der Simultaneität hinaus wird die Informationsaufnahme ein Sammeln, muß stückweise erfolgen, wie Gombrich bemerkte. Das gilt für visuelle Wahrnehmung allgemein. Das Eigenartige am Lesen ist, dass die Informationsaufnahme, wenn sie denn gelingen soll, in einer fast peinlich genauen Ordnung erfolgen muß. Henderson and Hollingworth berichten 1998 über “a direct comparison of eye movement behaviour in reading and image viewing”. Sie registrierten Blickbewegungen von 8 Probanden angesichts von Umrißzeichnungen, Farbphotographien und ‚computer-rendered 3-D colour images of real world scenes’ (Innenaufnahmen) und angesichts von Texten (sensu stricto).


Abb. 1 zeigt das Ergebnis: Fixationsdauer und Sakkadenlänge sind beim Lesen im Modal größer und variieren bedeutend weniger (Henderson/ Hollingworth 1998: 289). Die eingeschränkte Variation der Augen-Motilität widerspiegelt die Linearität, die gesprochene Sprache ihrer geschriebenen Form auferlegt; nicht unbedingt auf dem graphemischen, auf jeden Fall aber auf dem lexemischen Niveau. »Bilder lesen« ist, nach allem, eine unangebrachte Metapher.


Abb. 1 ist Fig. 2 in Henderson & Hollingwoth (1998)


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