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Fiktionen und Placeboeffekte. Wie Produktdesigner den Alltag überhöhen


Author: Wolfgang Ullrich
[published in: IMAGE 8 (Ausgabe September 2008)]

Catchwords: multisensory enhancement, Placebo, Konsum

Disciplines: Werbung, Kulturwissenschaft, Produktdesign


If branded sox get essential for an activity, if we feel nerveless, because we have to abstain from our favorite shower bath, then placebo effects belong no longer only to the world of the pharmaceutical industry. Wolfgang Ullrich deliberates in the following article the nowadays high requirements for marketing and product design, the connections between Wittgenstein and today’s consumer cultur and the meaning of ›multisensory enhancement‹.

Wenn die Markensocken für eine Tätigkeit unentbehrlich werden, wenn wir uns schlapp fühlen, weil wir auf unser Lieblingsduschbad verzichten mussten, dann gehören Placeboeffekte nicht länger nur in die Welt der Pharmaindustrie. Welch hohe Anforderungen in der heutigen Zeit an Marketing und Produktdesign gestellt werden, was Wittgenstein mit der heutigen Konsumkultur zu tun hat und was man unter ›multisensory enhancement‹ versteht, das zeigt uns Wolfgang Ullrich im folgenden Artikel.

Fiktionen und Placeboeffekte. Wie Produktdesigner den Alltag überhöhen

Eines der bemerkenswertesten Details in einem der ungewöhnlichsten Häuser der neueren Architekturgeschichte ist eine Türklinke. Wer sie einmal benutzt hat, glaubt fortan zu wissen, worin das Wesen des Öffnens einer Tür besteht, ja was es heißt, einen Raum mit einem anderen zu verbinden und eine Grenze aufzuheben. Die Aufmerksamkeit, mit der ein alltäglicher Vorgang hier ausnahmsweise stattfindet, führt somit zu einer Erkenntnis; ein Ding wird zum philosophischen Mentor. Dass der Architekt dieses Hauses selbst Philosoph war, wundert daher auch nicht: Ludwig Wittgenstein ließ es zwischen 1926 und 1928 für seine Schwester Margarethe Stonborough in Wien bauen. Viele Gerüchte und Anekdoten werden dazu kolportiert. Immer wieder kommt darin die Akribie zur Sprache, mit der Wittgenstein sich auch mit scheinbar nebensächlichsten Gestaltungsfragen beschäftigte. Als ausgebildeter Ingenieur konstruierte er jedes Detail, als handle es sich um das Teil einer Maschine. Seine Ansprüche waren so hoch, dass für die Herstellung vieler Elemente erst Techniken entwickelt werden mussten. Um etwa die Klinke nahtlos – ohne vorgeblendete Abdeckscheibe – in das Türblatt münden zu lassen, bedurfte es eines Schlossers, der in der Lage war, auf zehntel Millimeter genau zu arbeiten.

Wie mit der Türklinke ist es in diesem Haus auch mit anderen Elementen. Wittgenstein gelingt es, Wohnen als Reihe von Ritualen zu vergegenwärtigen und es damit zu einem eigenen Thema zu machen. Neben dem Öffnen der Türen wird etwa das Steigen von Treppen, das Öffnen eines Fensters oder die Benutzung des Aufzugs zu einem solchen Ritual. In jedem Fall sind es leichte Abweichungen vom Gewohnten, die die Aufmerksamkeit überhaupt erst wecken: Dass die Klinke etwas höher positioniert ist als Türklinken in anderen Häusern oder dass der Aufzug eigens – und gleich doppelt – zu ver- und zu entriegeln ist, verhindert ein gleichgültiges Agieren. Statt komfortabel zu sein und in ihrer Dienlichkeit aufzugehen, machen sich die Dinge präsent, setzen sich in Szene und formatieren, ja erziehen auf diese Weise ihren Benutzer. Sein Haus sei das »Produkt entschiedener Feinhörigkeit« und »guter Manieren«, bemerkte Wittgenstein selbst (WITTGENSTEIN 1984: 503). Diese guten Manieren werden bei jeder Tätigkeit im Haus eingeübt.

Da das, worauf Wittgenstein die Aufmerksamkeit lenkt, jeweils sehr einfach, ja minimalistisch reduziert gestaltet ist, liegt es nahe, ihn zum Platoniker zu erklären: Wo sonst, wenn nicht in seinem Haus, hat sich die Idee der Türklinke – frei von allen Schnörkeln – materialisiert? Eine alltägliche Tätigkeit wie das Öffnen einer Tür sollte die Bedeutung haben, die sie ›an sich‹, ihrem Wesen nach ohnehin schon hatte.

Damit ist aber die Differenz zur heutigen Ding- und Konsumkultur offenkundig: Zwar mag es in ihr mehr denn je um Bedeutungen gehen, aber fast immer wird dabei das Ziel verfolgt, Dinge und Tätigkeiten zu etwas zu machen, das sie bis dahin noch nicht waren. Semantisches Hoch- und Umrüsten ist angesagt. Ziel ist eine Fiktionalisierung, und fast jede Bedeutung mündet darin, dem Konsumenten eine Rolle anzubieten, die ihm schmeichelt – statt ihn zu erziehen. Ist Wittgenstein Platoniker, so hält es die Konsumwelt mittlerweile mit Novalis und seinem Credo, wonach »die Welt [...] romantisiert werden« müsse. Das aber geschieht dadurch, dass »ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe« (NOVALIS 1978: 334). Es geschieht also gerade dadurch, dass der Alltag als solcher nicht akzeptiert wird und daher transzendiert werden soll. Statt der ›Prosa des Lebens‹ (Hegel) sucht man Poesie, Steigerung, im Idealfall ein Kontinuum an Ausnahmezuständen. Das vermeintlich Normale, Langweilige soll in etwas Spannenderes verwandelt werden. Romantisiert wird heutzutage nahezu jedes Produkt, von der Limonade über den Turnschuh bis hin zur Pfeffermühle. Alles ist daher zugleich etwas anderes oder zumindest mehr als es selbst.

Dadurch wurde der Umgang mit vielen Dingen in den letzten Jahrzehnten zwar nicht leichter, aber intensiver und verheißungsvoller. Tätigkeiten, mit denen sich ehedem kein höherer Sinn verband, entwickelten sich zu Ereignissen. Man denke nur daran, wie die Evolution des Designs von Espresso-Maschinen das Kaffeetrinken verändert hat. Für manchen ist es aufgrund ihrer monstranzähnlichen – alles andere als minimalistisch-reduzierten – Erscheinung sogar zu einem geradezu heilstiftenden Vorgang geworden. Die Tasse steht auf einer Bühne, während von oben der Strahl der gewünschten Flüssigkeit wie ein Segen kommt. Das Füllen der Tasse gerät damit zu einem eleganten Schauspiel. In ihm vollenden sich die Leichtigkeit, die Geschmeidigkeit, der Schwung, die bereits durch die stromlinienförmigen Fugen des Apparats erfahren werden. So kann der Nutzer die erhoffte Wirkung des Kaffees – Entspannung und Belebung – bereits imaginieren. Bei manchen Modellen kann man sogar zwei Tassen gleichzeitig füllen und damit eine Partner- oder Freundschaft in Harmonie und Symmetrie zelebrieren. Das gemeinsame Kaffeetrinken lässt sich dann gar als Form von Kommunion erleben.

In Haushaltswarengeschäften gibt es auch sonst zahlreiche Dinge, die eine Tätigkeit groß in Szene setzen, damit ästhetisieren und im weiteren ritualisieren: Zitronenpressen, die mindestens einen halben Meter hoch sind, eine Muskatmühle, die hundertmal so groß ist wie die Nuss, die sie reiben soll, oder Apfelschäler, die das Ausmaß einer Werkbank besitzen. Doch es erstaunt nicht nur, welchen Platz viele Apparaturen beanspruchen, sondern vor allem, wie differenziert – und aufwendig – sie auf jeweils nur eine Funktion ausgerichtet sind. Immerhin taugte für die Muskatnuss genauso eine Reibe, mit der sich ebenso anderes bearbeiten lässt. Und einen Apfel kann man nach wie vor mit einem normalen Küchenmesser schälen. Doch scheint es im Küchenbereich (und ebenso in anderen Bereichen) seit einiger Zeit Trumpf zu sein, für jede Tätigkeit ein eigenes Gerät zu haben. (Mühelos könnte man selbst eine 50 Quadratmeter große Küche mit all den Instrumenten füllen, die nur zum Spargelschälen, Bratenlüften, Nudelschneiden oder Rettichhobeln dienen.)

Die Spezialisierung ist aber auch eine der wichtigsten Strategien der Romantisierung. Schon im Laden verleiten die Dinge dazu, sich in der Rolle des Koch-Profis zu sehen und Situationen auszumalen, in denen man seine Familie, den Partner oder gute Freunde beglückt, viel Lob für seine Sorgfalt bekommt und lange Wochenenden in den eigenen vier Wänden verbringt. Da die einzelnen Hilfsmittel so stark spezifiziert sind, lässt sich nämlich genau vorstellen und vorwegnehmen, was mit ihnen getan werden kann: Sie führen Regie darüber, welche inneren Bilder entstehen und welche Wünsche lebendig werden. Auf diese Weise werden sie zu Requisiten eines Films, den sie selbst erst in Gang setzen: eines Films, der den Konsumenten in einer positiven, geradezu kitschig-fürsorglichen Hauptrolle, als Held der Familie zeigt. Ein Küchengerät hingegen, das für vieles taugt, ist zu unverbindlich, um solch einen inneren Film beginnen zu lassen. Es mag um vieles funktionaler und praktischer sein als ein hyperdifferenziertes Teil, aber sein Fiktionswert ist geringer, weil es zu abstrakt ist.

Ein Team britischer Soziologen hat kürzlich in empirischen Studien erforscht, dass viele Konsumenten gerade im Fall von Küchengeräten zum Kauf verleitet werden, weil diese verheißungsvolle Bilder von der Zukunft (»images of the future«) wecken. Sie hoffen darauf, neue Praktiken und Rituale in ihr Leben einführen zu können, also etwa mehr selbst zu machen, eleganter und effizienter zu kochen oder die Küche zu einem sozialeren Ort werden zu lassen (»We [...] found people acquiring things in order to induce new practices, for instance, designing kitchens in order to foster and in some cases enforce desired habits like those of making more ›home-made‹ food, being more ›efficient‹, or spending more time with others.«; SHOVE et al. 2007: 34 f.). Hier lässt sich auch an eine Feststellung im Konsumistischen Manifest (2002) von Norbert Bolz denken, wonach von einem Produkt früher Bedürfnisbefriedigung und später Verführungskraft verlangt wurde, man ihm heute aber mit dem Imperativ »Verändere mich!« gegenübertrete (BOLZ 2002: 99).

Oft jedoch – auch das bestätigte die Studie der britischen Soziologen – werden die Dinge dann gar nicht genutzt. Gerade weil sie einzelne Tätigkeiten aufwendig inszenieren und überhöhen, ist ein alltäglicher Gebrauch gar nicht mehr möglich. Sie überfordern den Alltag, weil sie viel – zu viel – Bewusstheit verlangen. Daher entzieht man sich den Ansprüchen, die die Dinge stellen, boykottiert sie gleichsam – und kauft lieber wieder Neues, das schöne innere Filme zum Laufen bringt.

Bei anderen Produkttypen trifft man auf andere Strategien der Romantisierung. So hat man es oft, etwa bei Sportzubehör mit einer Variante von ›architecture parlante‹, nämlich mit einer ausdrucksstarken, expressiven Designbotschaft zu tun. Wer einen modernen Fahrradhelm sieht, wird sofort in einen Geschwindigkeitsrausch verfallen. Selbst der schnöde Anfänger darf sich damit als Topsportler fühlen, ja nimmt schlagartig die Rolle eines Tour-de-France-Teilnehmers oder Montain-Bike-Helden ein. Wie das Strebewerk einer gotischen Kathedrale dem Gläubigen ehedem das Gefühl gab, dem himmlischen Jerusalem schon ganz nahe zu sein, so weckt das Strebewerk eines Radhelms den Glauben an Sieg und Rekorde. Die Helmschale ist in ein Netz aerodynamisch gestylter Pfeilspitzen verwandelt, ja es scheint, als seien aus mäandernden Hirnwindungen zackig-flotte Hochleistungsbahnen geworden. Unterstützt wird dieses Doping durch Design von den Namen, die die Helme tragen: ›Maniac‹, ›Torero‹, ›Fireball‹, ›Python‹, ›Revolution‹ sind bildstarke Begriffe, die dem inneren Film zusätzlich Stoff und Emotion geben und anspornend wirken. Ein passend geformter Helm ersetzt also fast einen Trainer.

In Testberichten erwähnen Konsumenten häufig, dass sie einen Helm vor allem wegen seines Designs gekauft haben (http://www.ciao.de/Giro_Exodus_Helm__Test_1704027). Weil er »recht aggressiv geschnitten« (http://www.ciao.de/Giro_Havoc_Helm__Test_2941503) oder weil er »Kult« (http://www.ciao.de/Giro_Exodus_Helm__Test_571118) ist, weil er »eine einmalige Ausstrahlung besitzt« und »an Sportlichkeit und Schnelligkeit erinnert« (http://www.ciao.de/Met_Stradivarius_Helm__Test_1858617) oder weil er »futuristisch und cool« (http://www.ciao.de/Met_Stradivarius_Helm__Test_2198981) aussieht, lauten einige Begründungen. Ein weiterer Käufer schreibt: »Da sieht's auch der Laie, hier fährt ein Profi. Nicht so ein aufgeblasener Kinderhelm des Typs halbe Wassermelone, sondern [...] mit [...] Spoilereffekt« (http://www.dooyoo.de/fahrradzubehoer/giro-stelvio/589808).

Testberichte verraten nicht nur viel über Erwartungen und Erfahrungen von Konsumenten, sondern vor allem auch darüber, welche Bedeutung Fiktionswerte bei verschiedenen Produkten spielen. Man kann diese Berichte, die engagierte Verbraucher seit einigen Jahren auf Verbraucherportalen wie ciao.de oder dooyoo.de im Internet veröffentlichen, als neue Textgattung, ja als spezifische Prosa der Konsumkultur kaum hoch genug einschätzen. In ihnen drückt sich eine ästhetische Erfahrung ohne ästhetische Einstellung aus. Mittlerweile gibt es Millionen solcher Berichte, und nicht selten existieren sogar zehn, zwanzig, fünfzig Stellungnahmen verschiedener Konsumenten zum selben Produkt. Viele der Texte sind, druckt man sie aus, mehrere Seiten lang. Es handelt sich hierbei um Laienliteratur, wie sie früher in Briefen oder Tagebüchern ihren Ort hatte. Wären sie nicht so dilettantisch abgefasst, könnten zumindest einige Testberichte in der Akribie der Beschreibung und im Interesse am Detail an Texte von Adalbert Stifter oder Marcel Proust erinnern. Wie À la recherche du temps perdu bekanntlich nur die Erinnerungsströme festhält, die der Geschmack einer zur Teestunde genossenen Madeleine auslöste, vermerken auch viele Testberichte die Empfindungen und Assoziationen, die sich einem Konsumprodukt verdanken. In ihnen werden die inneren Bilder reportiert, die Fiktionen verbalisiert. Nicht selten wird ein solcher Text damit auch zum Bekenntnis einer Stimmungslage: Produkterfahrungen teilt man in einer Mischung aus Beichte und Werbung mit. Wohl nirgendwo sonst findet man so viel Stoff zur Analyse von Alltagsphänomenen und Phantasien, von Überhöhungen und Ritualisierungen des Handelns.

Ein paar Schlaglichter: Superbiene – so der Nickname einer Testerin – beschreibt, dass sie sich »öfters dabei erwisch(t)«, fasziniert auf »die blinkende LED-Anzeige« ihres Toasters zu blicken und sich »den ganzen Röstvorgang an(zu)schaue(n)« (http://www.dooyoo.de/toaster/siemens-tt-91100/1021231). Das technische Gerät führt also dazu, dass seine Nutzerin sich ein wenig Zeit nimmt und das Toasten als Schauspiel wahrnimmt, ja die Wartezeit nicht als lästig, sondern als Unterbrechung oder Überhöhung des Alltags empfindet. Jenseits seines Gebrauchswerts sorgt der Toaster so für mehr Bewusstheit; er schafft Raum für Kontemplation. Eine andere Testerin, tina510, schwärmt von einem Bademittel mit Kokosduft und beschreibt minutiös, wie sie sich auf einen Badewannenabend vorbereitet, dann den Schaum genießt und »bei geschlossenen Augen wunderbar in der exotischen Wanne entspannt«. Sie fühle sich in ihrem »›Milchbad‹ fast ein bisschen wie Cleopatra« und werde zugleich »an einen Urlaub unter Palmen erinnert« (http://www.ciao.de/Yves_Rocher_Duschbad_mit_Kokos__Test_3003817). Hier kommt der Fiktionswert des Produkts voll zur Geltung; die Badewanne wird zum Kino innerer Bilder, zum Gefährt virtueller Reisen. Die Konsumentin wähnt sich an einen anderen Ort oder in eine andere Zeit versetzt; sie taucht ab, wie sonst nur bei der Lektüre eines Buchs.

Andere Tester vergleichen den Gebrauch eines Produkts sogar ausdrücklich mit dem Lesen – und weisen darauf hin, dass ein Buch mit seinen Fiktionen keineswegs immer gegen die Imaginationen ankommt, die von einem starken Produkt ausgehen. So vermerkt die Benutzerin eines weiteren Bademittels, es durchsetze das Badewasser »leicht mit milchigen Wolken« und dufte so stimulierend, dass sie »das Buch zur Seite lege« (http://www.ciao.de/Weleda_Citrus_Erfrischungsdusche__Test_3111508). Und Spatz19 ist von seinem Duschgel so begeistert, dass er in ihm, obwohl er »eigentlich am liebsten mit einem guten Buch in der heißen Badewanne lieg(t)«, »[...] wirklich eine Alternative« erblickt (http://www.ciao.de/Duschdas_Snow_Star__Test_2143739).

Den Herstellern liefern Testberichte Anhaltspunkte dafür, welche fiktionalen Potentiale in ihren Produkten enthalten sind. Und sie können überprüfen, ob die inneren Bilder und Emotionen geweckt werden, auf die sie es abgesehen haben. Denn natürlich wird der Fiktionswert nicht dem Zufall überlassen, sondern muss als wichtiger – mittlerweile oft sogar wichtigster – Teil des Produkts genauso geplant, weiterentwickelt und gegen die Konkurrenz durchgesetzt werden wie der Gebrauchswert. In den beiden letzten Jahrzehnten wurden daher etliche Methoden ersonnen, um zu ermitteln, welche Fiktionen – inneren Bilder – die Konsumenten erleben wollen und bei bestimmten Produkten bereits erwarten. Am bekanntesten und einflussreichsten ist dabei wohl ZMET, die von Gerald Zaltman, Marketing-Professor in Harvard, entwickelte Zaltman-Metapher-Elicitation-Technique, die darauf zielt, die Metaphern – also Bilder – abzuschöpfen, die Verbraucher mit einzelnen Produkttypen assoziieren. In Interviews werden die Probanden dazu angeregt, sich ausgehend von Bildern, die sie selbst mitbringen, über Produkterfahrungen zu äußern, diese Bilder weiterzuspinnen und mit anderen Bildern zu verbinden. Gleicht man die Ergebnisse mehrerer solcher Interviews gegeneinander ab, lassen sich Bildbereiche identifizieren, die häufig wiederkehren. Damit sind den Produktdesignern und der Marketingabteilung Anhaltspunkte für ihre Arbeit gegeben: Sie können ein Produkt so verändern, dass es künftig noch stärker und präziser die Bilder erzeugt, die sich die Konsumenten wünschen, sind also in der Lage, den Fiktionswert zu verbessern (vgl. ULLRICH 2006: 155-164). Dass ein Fahrradhelm den Namen ›Torero‹ erhält, könnte Folge einer Untersuchung sein, bei der etliche Probanden angaben, sich auf dem Rennrad wie ein Stierkämpfer zu fühlen. Und sollte man feststellen, dass sich mehrere Nutzerinnen beim Baden wie Kleopatra fühlen, böte es sich an, die Flasche des entsprechenden Mittels künftig mit Motiven aus der ägyptischen Kultur – wie dem Kopf einer Sphinx – zu versehen oder in ihrer Form einer Pyramide nachzubilden.

Analysiert man die Fiktionswerte verschiedener Produkte etwas genauer, wird man aber nicht umhinkommen, eine wichtige Unterscheidung zu treffen. So bleibt dem Konsumenten bei vielen Fiktionen bewusst, lediglich in eine für ihn angenehme Rolle versetzt worden zu sein. Statt zu glauben, wirklich an der Tour de France teilzunehmen oder, als Nutzer eines Bademittels, unter einer Palme zu liegen, genießt er die Vorstellung, es könnte so sein. Wie bei der Lektüre eines Romans wird die fiktionale Welt nicht mit der realen verwechselt.

Doch gibt es auch Fiktionen, die nicht mehr als solche empfunden werden. So dürften einige Käufer eines Fahrradhelms tatsächlich der Überzeugung sein, damit ihre Leistung zu steigern. Das stromlinienförmige Design suggeriert ihnen so eindrucksvoll Geschwindigkeit, dass sie sich schneller fühlen als ohne Helm – und dass sie vielleicht sogar wirklich schneller sind. Sich dank eines Accessoires in die Rolle des Helden zu begeben, setzt Reserven in ihnen frei. Wie Motivationstrainer darauf bauen, dass man eine Prüfung meistert oder einen Wettkampf gewinnt, wenn man sich dies nur oft und intensiv genug vorstellt, so können auch Konsumgüter als Stimulanzien fungieren. Den Fiktionen, die sie wecken, steht der Konsument dann nicht mehr in kontemplativer Distanz gegenüber; vielmehr identifiziert er sich so stark damit, dass sie ihm zur ›altera natura‹ werden. Statt über bestimmte Eigenschaften lediglich innerhalb einer Rolle zu verfügen, besitzt er sie auf einmal – vermeintlich – ganz real.

Der Fiktionswert eines Produkts äußert sich dann als Placeboeffekt. Ein solcher liegt bekanntlich vor, wenn jemand die Wirkungen zu erleben glaubt, die ihm versprochen wurden (vgl. KIRSCH 1997: 166). Viele Konsumgüter sind heute ausdrücklich darauf angelegt, nicht nur Fiktionen zu erzeugen, die den Fiktionen von Literatur und Kino ähneln, sondern sie so eindrucksvoll in Szene zu setzen, dass ihre Inhalte als wirklich erlebt werden. Vor allem bei Produkten, die – wie Kosmetik oder Nahrungsmittel – mit dem Körper in Berührung kommen, wird häufig suggeriert, sie könnten merkliche Einflüsse auf das Wohlbefinden haben – und nicht nur ein bisschen Abwechslung zum Alltagsprogramm bieten. Tees, Anti-Aging-Cremes, Mineralwasser oder Duschgels versprechen, man könne durch sie entspannt, verjüngt, erfrischt oder cooler werden. Sie operieren dabei gerne mit Begriffen, die sonst im Zusammenhang mit Medikamenten auftauchen, werben also mit Hinweisen auf Vitamine, Proteine oder Mineralstoffe. Selbst bei Produkten wie Deos wird noch so getan, als könnten die Inhaltsstoffe in den Stoffwechsel eindringen und damit nicht nur äußerlich wirken.

Macht man sich klar, wie viele Produkttypen physische oder psychische Effekte versprechen, dann wird man von der Ansicht abrücken müssen, Placeboeffekte seien vornehmlich ein Phänomen der Pharmazie. Marketing erzeuge im wesentlichen Placeboeffekte (»much of marketing is about placebo effects«), stellt Gerald Zaltman fest (ZALTMAN 2003: 60). Und Martin Lindstrom, einer der weltweit erfolgreichsten Marketingberater, prognostizierte 2005, dass die Pharma-Industrie in den nächsten Jahren als »Sensory Pioneer« auf etliche andere Branchen Einfluss nehmen werde, ja dass es zu einer Verwischung der Grenzen zwischen ihr und anderen Industrien – etwa der Kosmetik- oder Nahrungsmittelindustrie – kommen werde. Der Zusammenhang zwischen Markeninszenierung und Placebos (»branding and placebos«) werde an Bedeutung zunehmen (LINDSTROM 2005: 197).

Angesichts der Vielzahl und Vielfalt inszenierter Produkten ist sogar zu vermuten, dass es noch keine Kultur gab, in der Menschen so umfassend wie heute von und mit Placeboeffekten lebten. Um so mehr erstaunt, dass sich die Forschungen, die dem Placeboeffekt gewidmet sind, nach wie vor auf Medikamente beschränken und nicht ebenso Biosäfte, Bademittel, Energy-Drinks und Fahrradhelme berücksichtigen. Es fällt schwer, sich auszumalen, wie es um das allgemeine Wohlbefinden stünde, fielen die zahlreichen Suggestionen der Warenwelt von einem Tag auf den anderen weg. Mancher fühlt sich bekanntlich schon indisponiert, wenn er nur einmal auf ein einziges gewohntes Produkt verzichten muss. Dass die Lieblingscreme ausgegangen ist, wird dann zur Entschuldigung dafür, unkonzentriert zu sein.

Kaum etwas aber vermag die großen Möglichkeiten ästhetischer Gestaltung – und die besondere Bedeutung ästhetischer Erfahrung ohne ästhetische Einstellung – besser zu demonstrieren als die Existenz von Placeboeffekten in der Konsumwelt. Immerhin werden sie hier kaum durch Personen mit besonderer Autorität – Medizinmänner oder Ärzte – hervorgerufen und entstehen auch nicht als Folge geheimnisumwitterter Tätigkeiten wie eines Besprechens oder Beschwörens. Vielmehr ergeben sie sich nahezu ausschließlich aus dem Produktdesign und der Werbung, wobei das Image einer starken Marke noch begünstigend wirken mag.

In den letzten Jahren wurde auch vielfach ergründet, wie ein Design verfasst sein muss, um einen besonders intensiven Eindruck zu erzeugen. Zum beliebten Schlagwort ist dabei die Wendung ›multisensory enhancement‹ avanciert, mit der sich die Idee verbindet, dass Reize durch Impulse verstärkt werden können, die an andere Sinne adressiert sind. Angeblich wird ein Ereignis sogar bis zu zehnmal so intensiv erlebt, wenn sich verschiedene Sinneseindrücke gegenseitig bestätigen. Sofern sie einander widersprechen, heben sie sich aber auch auf – und das Produkt löst keine emotionale Wirkung aus.

Ein mit Sauerstoff angereichertes Mineralwasser wird also offenbar nur dann als erfrischend empfunden, wenn der auf die Flasche gedruckte Text Leistungskraft verspricht, wenn zugleich die Verschlusskappe so gestaltet ist, dass das Wasser beim Öffnen mit einem leichten Zischen heraussprudelt, und wenn die Flasche außerdem eine schlanke Form hat und auf dem Etikett Farben verwendet werden, die entweder – wie rot – Energie verheißen oder aber – wie blau – für Luftigkeit und Frische stehen. Auf einer bauchigen Flasche, die in Beige oder Grau gehalten ist und aufgeschraubt werden muss, erschienen Vokabeln wie ›Power‹ oder ›Sport‹ hingegen unglaubwürdig; nach Gebrauch eines derart gestalteten Produkts fühlte man sich kaum mit Energie aufgeladen.

Tatsächlich künden Testberichte über Produkte, die den Regeln des ›multisensory enhancement‹ gemäß gestaltet sind, von erstaunlichen Placeboeffekten. »Nach einer halben Stunde waren meine Kopfschmerzen wie weggefegt; ich fühlte mich energiereicher«, schreibt Nat21 in seinem Bericht über ein Mineralwasser (http://www.ciao.de/Adelholzener_Active_O2__Test_1939114). Aber selbst enttäuschte Kommentare sind bezeichnend, da sie verraten, welch hohe Erwartungen mittlerweile gerade auch mit den alltäglichsten Produkten ganz selbstverständlich verknüpft werden. So bemängelt ein Tester desselben Mineralwassers, »nicht so viel von der Wirkung [...] bemerkt« zu haben und nach einiger Zeit, nachdem sich der Verdacht erhärtet hatte, »daß es mir zu wenig bringt«, wieder auf Energy-Drinks umgestiegen zu sein (http://www.ciao.de/Adelholzener_Active_O2__Test_1973410).

Gerade auch Martin Lindstrom macht sich für eine weitere Verbreitung von Strategien des ›multisensory enhancement‹ stark und weist auf die »Macht der vernachlässigten Sinne« hin (LINDSTROM 2007: 160). Künftig dürfte es daher noch mehr Produkte als bisher geben, bei denen gezielt aufeinander abgestimmt ist, wie sie sich anfühlen und riechen und welche Töne sie von sich geben, wenn man sie benützt. Als Vorbild preist Lindstrom die katholische Kirche an, die vom Glockengeläut über den Weihrauch bis hin zu den Farben der Messgewänder alle Sinne anzusprechen und einheitlich zu stimulieren verstehe: ohne ›multisensory enhancement‹ kein Glaube und, bei Produkten, auch keine Placeboeffekte.

Einiges spricht also dafür, dass deren große Zeit erst beginnt. Um nochmals auf das Beispiel mit dem Mineralwasser zurückzukommen: Wer hätte sich vor fünfzehn oder zwanzig Jahren vorstellen können, dass Wasser Energie oder Entspannung, Fitness oder Spiritualität vermitteln soll? Zwar gibt es eine große Tradition von Heil- und Weihwassern, die ihrerseits für viele Placeboeffekte verantwortlich gewesen sein dürften, aber im Unterschied zu ehedem ist es mittlerweile allein das Design und Marketing, das geradezu beliebige Wirkungen glaubhaft macht. Eine Vielfalt an Flaschenformen, Materialien, Verschlusstechniken und Vermarktungsstrategien ist die Folge davon.

Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Versprechungen der Hersteller dank eines konsequenten ›multisensory enhancement‹ künftig häufiger erfüllen als bisher. Dann werden die Konsumenten selbst von einfachsten Produkten Heil erfahren, umgekehrt aber vielleicht schon bald keine Dinge mehr ertragen, die auf therapeutische Dienste verzichten. Der Dauerpegel an Placeboeffekten wird dann noch höher sein. Aber sicher werden spätestens dann auch asketische Gegenbewegungen entstehen, die placebofreie Produkte fordern und es als cool, als Zeichen von Stärke, gar als Heroismus ansehen, möglichst ohne Placeboeffekte auszukommen.

Als neue Helden, die nicht nur schmeichelhafte Rollen in inneren Filmen spielen wollen, etablieren sich gegenwärtig schon Menschen, die im Selbstversuch ausprobieren, was es heißt, auf Konsum weitgehend zu verzichten. Ihre freiwillige Askese geschieht gerade nicht mit dem Ziel, irgendwelche Erleuchtungen zu bekommen; vielmehr wollen sie eine robuste Konstitution unter Beweis stellen. Manchmal müssen sie dabei aber auch Niederlagen einräumen.

Ein schönes Beispiel dafür liefert die US-amerikanische Autorin Judith Levine in ihrem Buch No shopping (2007). Ein Jahr lang beschränkten Levine und ihr Lebensgefährte ihren Konsum auf das, was nicht unmittelbar zum Leben notwendig war. Tagebuchartig beschreibt sie die Ängste, Depressionen und sozialen Schwierigkeiten, die daraus erwuchsen. Regelrecht zur Beichte aber gerät ihr Bericht, als sie ihre Sportsocken – der Marke SmartWool – verlegt hat. Sie muss nämlich beschämt feststellen, von diesem vermeintlich banalen Zeug abhängig zu sein. Immerhin habe sich das auf den Socken aufgedruckte Versprechen »permanenter Höchstleistung« erfüllt – so gut, dass sich Levine nicht vorstellen kann, noch einmal mit anderen Socken auf die Skipiste zu gehen: »Wie kann ich ohne meine Socken Ski fahren? Wie kann ich unter diesen Umständen Höchstleistung erwarten – oder überhaupt eine Leistung?« – Also muss der Ausflug entfallen. Mehr als darunter leidet die Autorin jedoch daran, dass ein Paar Socken so große Macht auf sie ausübt. Sie spricht daher sogar von einer »beinahe pathologisch enge[n] Beziehung« – und beklagt, dass »in dem Augenblick, da ich diese Socken kaufte, [...] ein vollkommen ausreichendes Produkt (meine pinkfarbenen Polyestersocken) unzureichend, kurz darauf sogar unerträglich« wurde (LEVINE 2007: 36-49).

Es fällt also offenbar schwer, auf Placeboeffekte zu verzichten. Und ähnlich ernüchternd wäre es, lösten die Produkte keine inneren Filme mehr aus und fungierten nicht als Motivationstrainer, Zukunftsplaner und Alltagsanimateure. Wir alle sind so stark romantisiert, dass es uns schwer fiele, wieder zu Platonikern zu werden. Sich mit dem Wesen der Dinge zu beschäftigen, war nämlich schon immer anstrengender als sich an Überhöhungen zu laben – als »dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein« zu geben.


Literatur

  • BOLZ, NORBERT: Das konsumistische Manifest. München [Fink] 2002.

  • KIRSCH, IRVING: Specifying Nonspecifics: Psychological Mechanisms of Placebo Effects. In: HARRINGTON, A. (Hrsg.): The Placebo Effect. An Interdisciplinary Exploration. Cambridge (MA) [Harvard University Press] 1997, S. 166-186

  • LEVINE, JUDITH: No Shopping! Ein Selbstversuch. Köln [Kiepenheuer] 2007

  • LINDSTROM, MARTIN: Brand Sense. Build Powerful Brands through Touch, Taste, Smell, Sight, and Sound. New York [Simon & Schuster] 2005

  • LINDSTROM, MARTIN: Making Sense: Die Multisensorik von Produkten und Marken. In: HÄUSEL, H.-G. (Hrsg.): Neuromarketing. Erkenntnisse der Hirnforschung für Markenführung, Werbung und Verkauf. Planegg [Haufe] 2007, S. 157-169

  • NOVALIS: Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. II, hg. v. MÄHL H.-J.; SAMUEL, R.. Wien 1978

  • SHOVE, ELISABETH; WATSON, MATTHEW; HAND, MARTIN; INGRAM, JACK: The Design of Everyday Life. Oxford [Berg] 2007

  • ULLRICH, WOLFGANG: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?. Frankfurt/M. [Fischer] 2006

  • WITTGENSTEIN, LUDWIG: Philosophische Bemerkungen. In: WITTGENSTEIN, L.: Über Gewissheit. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1984

  • ZALTMAN, GERALD: How Customers Think. Essential Insights into the Mind of the Market. Boston [Harvard Business School Press] 2003