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Paradies der Sinne. Das Warenhaus als sinnliches Ereignis


Author: Gertrud Lehnert
[published in: IMAGE 8 (Ausgabe September 2008)]

Catchwords: Warenhaus, Konsum, Flaneur, Atmosphäre

Disciplines: Werbung, Kulturwissenschaft, Ästhetik


There are complex interactions between spaces, affects and mentalities, which are intensifed for every epoche in particular spaces. In the 19th century the department store belongs to these spaces. It will be analysed in the following article in more detail. Besides that the article focusses on new perceptions, experiences, emotions and the resulting forms of communication and expression, which emerge on the stage of the department store.

Zwischen Räumen, Affekten und Mentalitäten gibt es komplexe Wechselwirkungen, die sich in jeder Epoche in ganz bestimmten Räumen verdichten. Im 19. Jahrhundert gehört zu diesen Räumen das Warenhaus und soll deshalb im folgenden Artikel näher beleuchtet werden. Das Interesse gilt dabei neuen Wahrnehmungen, Erlebnissen und Gefühlen, die sich auf der Bühne des Warenhauses herausbilden, und den damit verbundenen Kommunikations- und Ausdrucksformen.

1. Einleitung

Menschen sind räumliche Geschöpfe. Sein in der Welt, so Elisabeth Ströker, impliziere eine räumliche Beziehung, deren sich das Subjekt (als Leibsubjekt) freilich nicht bewusst sei. Selbst dreidimensional, bewegen Menschen sich im Raum, sie werden vom Raum bestimmt und erzeugen umgekehrt Räumlichkeit durch ihre Bewegung und ihr Interagieren im Raum und mit dem Raum (und sie produzieren konkrete Räume, z.B. Architektur).

Meine Ausgangsthese ist, dass es eine komplexe Wechselwirkung zwischen Räumen, Affekten und Mentalitäten gibt und dass sich diese Wechselwirkungen in jeder Epoche in ganz bestimmten Räumen verdichten. Solche Räume können als Bühnen betrachtet werden, auf denen einerseits Lebensformen und Affekte zur Aufführung gelangen und die andererseits spezifische Affekte, Erlebnisse und Interaktionen hervorbringen. Das hängt nicht nur mit der kulturellen Kodierung dieser Räume zusammen, sondern auch mit ihrer konkreten materiellen Struktur. (Mit Bühne ist nicht ein So-Tun-Als-Ob-Raum gemeint, auf dem Menschen bewusst Rollen spielen würden, sondern ein Raum, der einen räumlichen und zeitlichen Rahmen für das gibt, was man als ›Cultural performance‹ bezeichnen kann, und der zugleich etwas hervorbringt.)

Im 19. Jahrhundert gehören neben dem privaten Innenraum das neue Phänomen Warenhaus sowie das Museum zu den wesentlichen mentalitäts- und affektbildenden Räumen. Sie sind charakterisiert durch ihre Aufgabe, eine Vielzahl äußerst unterschiedlicher Objekte zu vereinen, mit deren Hilfe ›Lebenswelten‹ unterschiedlichster Provenienz inszeniert werden (Sammeln und Inszenierung können als gemeinsames Interesse, wenn auch mit unterschiedlicher Zielrichtung, konstatiert werden). Beide sind aufgrund der Handlungs-Angebote, die sie machen, geschlechtsspezifisch kodiert. Konstitutiv für das Warenhaus ist seine Zwischenstellung zwischen Öffentlichkeit und Intimität, während das Museum ein deutlich öffentlicherer Ort ist. Konstitutiv für das Warenhaus ist meines Erachtens auch, dass es ein Durchgangsort ist, sich aber den Anschein eines Ortes zum Verweilen zu geben bemüht ist, jedenfalls in den höherpreisigen Warenhäusern. Beide, Warenhaus und Museum, können als Heterotopien im Sinne Foucaults betrachtet werden; freilich steht gerade das Warenhaus auf der Grenze zwischen Heterotopie und zu dem, was Marc Augé „non-lieux“ nennt, was in einem anderen Zusammenhang ausdifferenziert werden muss. (FOUCAULT 2002; AUGÉ 1992)

Mein Interesse richtet sich im Folgenden auf neue Wahrnehmungen, Erlebnisse und Gefühle, die sich im Zusammenhang mit der ›Bühne‹ Warenhaus herausbilden, und auf die damit verbundenen spezifischen Kommunikations- und Ausdrucksformen (vgl. zur Entstehung WILLIAMS 1982). Mit dem Warenhaus inszeniert sich die Moderne als Konsumgesellschaft und schafft sie sich ihr sichtbarstes Symbol: den Ort, in dem Shoppen als selbstzweckhafte Beschäftigung und als Erlebnis zelebriert wird (vgl. zur Shoppingkultur SCHULZE 1992; HAUBL 1996; LEHNERT 2009). Damit hängt zusammen der Umgang mit Schein und Sein, Nähe und Distanz, Außen und Innen im buchstäblichen wie übertragenen Sinne.

Um das Phänomen Warenhaus als Bühne der Selbstinszenierung der bürgerlichen Moderne, als sinnliches Ereignis und als Raum der Erzeugung neuer Verhaltensformen und Mentalitäten verstehen zu können (vgl. LEHNERT 1999, 2002), ziehe ich die phänomenologische Raumbeschreibung von Elisabeth Ströker heran (die mir handhabbarer scheint als die Theorie Herman Schmitz’ (vgl. SCHMITZ 2005)), ferner ästhetische Konzepte, die sich mit folgenden Stichpunkten umreißen lassen: Aisthesis, Atmosphäre, Erscheinen, Aufmerksamkeit, Präsenz (vgl. BÖHME 2001, 2006; SEEL 2000). Textgrundlagen sind (natürlich) Emile Zolas Roman Au Bonheur des dames (1882 f.) sowie Paul Göhres Buch über das zeitgenössische Berliner Warenhaus Wertheim (1907). Beide stellen das Phänomen halb sachlich, halb ästhetisierend-symbolisierend dar, wählen also eine in ihren Verfahren in manchen Zügen vergleichbare literarische Misch-Technik der Analyse und Beschreibung des damals noch neuen Phänomens, die Aufschlüsse verspricht über die Art und Weise seiner affekt-, identitäts- und verhaltensmodellierenden Wirkung auf die ZeitgenossInnen. Exemplarisch werde ich mich (im Sinne einer dichten Beschreibung à la Clifford Geertz) auf das Phänomen ›Entgrenzung‹ konzentrieren.

2. Coup de foudre

Die zwanzigjährige Denise kommt nach dem Tod ihrer Eltern mit ihren beiden jüngeren Brüdern aus der französischen Provinz in die Metropole Paris. Das erste, was sie erblickt, ist ein Warenhaus,

»un magasin de nouveautés dont les étalages éclataient en notes vives, dans la douce et pâle journée d’octobre.«/»ein Modegeschäft […], dessen Auslagen in dem milden und bleichen Licht des Oktobertages in lebhaften Tönen erstrahlte.« (ZOLA 1980: 29 f.; ZOLA 2002: 5)

Es ist acht Uhr morgens; das noch leere Warenhaus »bourdonnait à l’intérieur comme une ruche qui s’éveille.«/»summte in seinem Inneren wie ein erwachender Bienenstock.« (ZOLA 1980: 30; ZOLA 2002: 6)

Schon auf der ersten Seite von Emile Zolas 1882/83 erschienenem Roman Au Bonheur des Dames werden visuelle und akustische Signale eingesetzt, die den Ton stimmen für alles folgende: Das Warenhaus setzt strahlende farbige Akzente in dem fahlen morgendlichen Herbstlicht, und während die Straßen noch leer und unbelebt sind, erwacht das Warenhaus bereits – es summt und schwirrt wie ein Bienenstock. Sinnliche Eindrücke erzeugen eine Gesamtatmosphäre, die das farbige, lebendige Warenhaus aus der farblosen, unbelebten Umgebung heraushebt, es in den Mittelpunkt des Romaninteresses rückt, ja es personifiziert. Darüber hinaus werden große Erwartungen geweckt: Das Warenhaus summt wie ein erwachender Bienenenstock; bald wird etwas geschehen ...

Denise verschlägt es die Sprache:

»[C]e magasin rencontré brusquement, cette maison énorme pour elle, lui gonflait le cœur, la retenait, émue, intéressée, oublieuse du reste.« / »Dieses Geschäft, das so plötzlich vor ihr aufgetaucht war, dieses für sie ungeheuer große Haus, ließ ihr das Herz aufgehen, hielt sie im Bann; aufgewühlt, voller Interesse, vergaß sie alles übrige.« (ZOLA 1980: 30; ZOLA 2002: 6)

Was wir hier lesen, ist mitnichten eine Beschreibung davon, wie jemand mit Interesse eine neue Architektur (und eine neue ökonomische Struktur) zur Kenntnis nimmt, sondern: Die Beschreibung einer Liebe auf den ersten Blick, eine erotische Begegnung.

Ein coup de foudre eröffnet die Geschichte der strategisch ausgeklügelt inszenierten, alle Sinne betörenden Verführung der Frauen – durch das Warenhaus; die Geschichte des einzigen Rauschs, der Frauen im 19. Jahrhundert zugestanden wurde – des Kaufrauschs; die Geschichte der passiven und gleichzeitig aktiven Konsumentin – eine neue weibliche Hauptrolle auf der Bühne der europäischen Kultur; schließlich die Geschichte der weiblichen ›flâneuse‹, die es nirgendwo geben kann als hier, in diesem gigantischen Haus, das eine Welt für sich ist und doch mit allen Fasern der Kultur verbunden ist, in der allein es gedeihen kann und die es gleichzeitig tiefgreifend verändert. Es ist durchaus eine Liebesgeschichte, die wir lesen werden, und zwar nicht nur im vordergründigen und traditionellen Sinne der sich langsam entfaltenden Liebesbeziehung zwischen einer Frau und einem Mann, sondern recht eigentlich die Liebesgeschichte zwischen Denise und dem »grand magasin«, dem »Bonheur des Dames«, wie es bezeichnenderweise heißt (oder auf Deutsch: Paradies der Damen).

Der dramaturgisch höchst effektvoll in Szene gesetzte Romanbeginn schildert ein Ereignis, das die Sinne und die Affekte Denises überwältigt, bevor sie noch einen rechten Begriff für das hat, was geschieht; eine ästhetische Erfahrung. Erst danach vermag sie Details zu sehen, vermag sie ›etwas‹ zu sehen: Die Schaufenster, architektonische Details, die Verkäuferinnen oder die Waren im Inneren des Gebäudes.

Im Deutschen ist die starke visuelle Komponente dieses speziellen Ereignisses nicht zuletzt etymologisch begründet: ›Ereignen‹ leitet sich aus dem Althochdeutschen ab (irougen = vor Augen stellen (ouga = Auge)) (vgl. KLUGE 2002); Ereignis meint seit dem 18. Jh.: Geschehnis, Auftreten, Erscheinung (vgl. KÖBLER 1995). Freilich ist die Überwältigung Denises keine nur visuelle, sondern sie umgreift alle Sinne ein. Das hat zu tun mit der spezifischen Atmosphäre, die dieser gigantische Bau in der Begegnung mit einem dafür offenen Gegenüber zu erzeugen vermag. Und Atmosphären sind meines Erachtens niemals nur auf einen Sinn beschränkt, sondern können, wenn auch unter Umständen vermittelt durch einen Sinn, alle anderen mit-ergreifen.

1.1 Shoppen in der Zeit vor dem Warenhaus

Zola wählt seine Protagonistin geschickt, um die Besonderheit der Institution Warenhaus und die davon evozierten neuen Wahrnehmungsweisen gebührend in Szene zu setzen: Ein Mädchen vom Land, das noch nie in der Stadt war, ist Ende des 19. Jahrhunderts vom Warenhaus sehr viel stärker und unmittelbarer beeindruckbar als eine Städterin, zu deren Alltag immense Gebäude und vor allem die Erfahrung des Shoppens zu jener Zeit längst gehörte. Warenhäuser waren entgegen dem, was Zola suggeriert und ein großer Teil der Forschung seit den 1980er Jahren reproduziert, nicht der Initiator der Modernisierung. Vielmehr hatten sie teil an den allgemeinen Innovationen, machten sie aber sichtbar und sinnlich erfahrbar (vgl. CROSSICK/JAUMAIN 1999). Ihre Vorläufer, die Bazare und Passagen, hatten mit ihren Architekturen und Präsentationsformen das Publikum längst an die neuen Raumeindrücke und an die Fülle der angebotenen Waren gewöhnt. Und schon viel früher, bereits im 18. Jahrhundert, existierte eine Shopping-Kultur, die die heute gängige Überzeugung, sie sei erst mit den Warenhäusern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, Lügen straft. Nicht nur Märkte oder Markthallen dienten dem Kaufen und Verkaufen, sondern ganze Straßen wie die Regent Street in London waren dem Konsum gewidmet, und zwar vornehmlich dem von Luxus, also von Stoffen, Bekleidung, Accessoires, Einrichtungsgegenständen etc. Die Einzelhandelsgeschäfte trennten die Werkstätten zunehmend von den Verkaufsräumen, diese wiederum wurden immer aufwendiger eingerichtet, weil man erkannte, in welchem Maße ein einladendes, luxuriöses Interieur und die Präsentation der Waren in Vitrinen und Schaufenstern die Kauflust anregen (vgl. WALSH 1999; MORRISON 2003). Die entsprechende Beleuchtung erzeugte theatrale Effekte, die Inneneinrichtung war den luxuriösen Interieurs der Upper Class angepasst; die dekorativen Effekte waren ›dramatic, fashionable, and class specific‹. Da sie häufig wechseln mussten, verwendete man Gips, also den Schein des Reichtums. Claire Walsh spricht von

»stage sets in which consumers could act out real or fantasy roles, in which they could perform to polite society, exploit the sensation of entering a temporary world of glamour and refinement, and in which they could become emersed in the drama of shopping and the dazzling show of the world of goods.« (WALSH 1999: 51)

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts richtete man, meist im 1. Stock, helle, geräumige Showrooms ein, in denen die Waren in Ruhe betrachtet und berührt werden konnten; verkauft wurde im Erdgeschoß.

Das Neue am Warenhaus ist die Verschmelzung von räumlichen Strukturen einerseits (Showroom und Verkaufsraum) und von unterschiedlichen Warengruppen andererseits, die nun alle unter einem Dach verkauft werden – freilich nicht mehr von unabhängigen Händlern wie im Bazar oder in der Passage, sondern aus einer Hand und unter einem Dach. Ich möchte das eine Hybridisierung nennen (die übrigens seit einigen Jahren wieder rückgängig gemacht wird mit dem Prinzip des Shop in Shop). Die zweite, mindestens ebenso bedeutende Neuheit ist, so meine These, die maßlose Übersteigerung der architektonischen Effekte, die zum überwältigenden Eindruck von Kathedralen des Konsums führt und drittens ist die vermeintliche Demokratisierung zu nennen, insofern das Warenhaus den Massen offen steht.

Freilich ist das Warenhaus von Anfang an klassendifferenzierend. Es gab diejenigen, die sich an ein gehobenes bürgerliches Publikum wandten, wie das Bon Marché, und nur teilweise die finanzschwächeren Schichten anlockten; hingegen gab es sehr rasch auch die einfacheren Häuser, die preiswerte Waren in einem schlichteren Ambiente verkauften (vgl. hierzu am Beispiel Deutschlands COLES 1999). Tim Coles nennt das Warenhaus des 19. Jahrhunderts ein ›Interface‹ zwischen dem traditionellen Bildungsbürgertum und den neuen städtischen Mittelschichten, die sowohl eine mittlere (Angestellte) als auch eine ärmere (Arbeiter) Schicht umfassen.

Das Warenhaus macht sich mithin die Erfahrungen zunutze, die im Bereich des Konsums als nicht nur ökonomischer, sondern auch kultureller Praxis bereits vorhanden war, verbindet sie mit quasi-mythischen Modellen und mit neuen architektonischen Möglichkeiten und schafft schließlich daraus ein unübersehbares materielles Symbol für die bürgerliche Moderne. Worauf nun beruht dessen Wirkung und Wirksamkeit?

2. Raum

Elisabeth Ströker versteht Raum als dynamisches Gefüge (STRÖKER 1965: 58). Sie unterscheidet drei miteinander verwobene Raumstrukturen, die dem Leib korrespondieren: 1. den gestimmten Raum, 2. den Aktionsraum und 3. den Anschauungsraum. Am Beispiel von Zolas Roman lässt sich das verdeutlichen: Denise wird von dem Gebäude vor ihr angesprochen, sie ist ergriffen und betroffen – das entspricht dem, was Ströker dem gestimmten Raum zuschreibt, der

»vom gestimmten Wesen in einer eigenen Unmittelbarkeit gewahrt“ wird: „Sein Vernehmen ist kein Wahrnehmen, sein Gewahren kein Erkennen, es ist vielmehr ein Ergriffen- und Betroffensein.« (STRÖKER 1965: 22 f.)

Da der Raum in diesem Verständnis in seiner Fülle nur von den Dingen her zugänglich ist, gilt das nicht nur für das von außen sichtbare architektonische Artefakt Warenhaus, sondern auch für das Innere des Warenhauses. Denn es geht um die ›Tönung‹ der Dinge. Aus diesem Grund werden Verkaufsaktionen realisiert, in denen der gesamte Lichthof wie eine schäumende weiße Féerie wirkt – erst auf den zweiten Blick erkennt die Kundin, dass es sich um simple Wäsche und um Spitzen handelt, die kunstvoll arrangiert worden sind, um ein blendendes visuelles Spektakel zu erzeugen.

Wenn die Kundinnen sich dann mehr oder weniger gezielt auf der Suche nach Dingen durch das Warenhaus bewegen, schauen, betasten, Preise vergleichen, anprobieren, mit Verkäufern reden usw., geschieht das im Aktionsraum als dem ›Worin möglicher Handlungen‹. Hier können Dinge unterschieden, kann handelnd Raum erschlossen werden; die »Ausdruckscharaktere der Dinge verschwinden in den Eigenschaften, die ihre Dienlichkeit bestimmen« (STRÖKER 1965: 57), das Subjekt wendet sich zielstrebig der Welt zu (STRÖKER 1965: 58) und findet sich den Dingen (die ihm zuhanden sind) gegenüber statt bei sich (STRÖKER 1965: 65).

Der Anschauungsraum schließlich zielt auf pure Wahrnehmung des Vorhandenen, das den Verwendbarkeitszusammenhängen entrissen sei. Anschauung meint freilich mehr als Wahrnehmung, da sie das ›volle Ding in seiner gesamten realen Eigenschaftsfülle‹ erlebt, d.h. alle seine sinnlichen Wahrnehmungsqualitäten einschließlich der verdeckten, wogegen Wahrnehmung nur Seitenansichten sehe. Die Ausdifferenzierung dieses Modells für das Warenhaus muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben, nur soviel: Das Warenhaus funktioniert natürlich gerade in der Simultaneität als ästhetisches und ökonomisches Phänomen zugleich; Waren verkaufen sich nur, wenn sie wirkungsvoll affektiv – oder atmosphärisch – aufgeladen werden.

3. Atmosphären

Gernot Böhme entwickelt auf der Grundlage des gestimmten Raums sein Konzept von Atmosphäre. Er bestimmt das atmosphärische Spüren von Anwesenheit als grundlegendes Phänomen von Wahrnehmung (BÖHME 2001: 42); dieses Atmosphärische sei noch nicht nach Sinnesqualitäten ausdifferenziert. Atmosphären seien etwas zwischen Subjekt und Objekt, nichts Relationales, sondern die Relation selbst (BÖHME 2001: 54); Atmosphären sind nicht Eigenschaften der Objekte, werden aber durch die Eigenschaften der Objekte in deren Zusammenspiel erzeugt (BÖHME 2001: 54). »Die Atmosphäre ist die Anregung eines gemeinsamen Zustandes von Subjekt und Objekt.« (BÖHME 2001: 56) Ästhetische Arbeit zielt auf die Erzeugung von Atmosphären − hier haben wir das grundlegendes Prinzip des modernen Warenhauses (und der Mode, die sein wesentlicher Warenartikel ist). Es ist die Atmosphäre, die zum Verweilen einlädt − und die den Verkauf ankurbelt. Es ist die Atmosphäre, die den Kaufrausch erleichtert und unter Umständen die Sucht befördert. Damit meine ich sowohl die Atmosphäre des Raumes selbst als auch die der darin ausgestellten Waren, die ja allesamt nicht einfach hingestellt, sondern im Dialog mit dem prachtvollen architektonischen Raum kunstvoll inszeniert und auf diese Weise affektiv aufgeladen werden: Ein orientalischer (Teppich-)Salon entführt die Kundinnen in ein Märchen aus 1001 Nacht (ZOLA 2002: 133 ff.), banale Schirme ergeben ein phantastisches innenarchitektonisches Kunstwerk (ZOLA 2002: 306 f., ZOLA 1980: 312).

Nachts sorgt die elektrische Beleuchtung dafür, dass das beleuchtete Haus wie ein Märchenpalast aussieht, mit seinen großen verglasten Bühnen (vgl. SCHIVELBUSCH 2004), den Schaufenstern.

Hier wird ästhetische Wahrnehmung provoziert − und diese wird sogleich in Begehren überführt. Das ist der entscheidende Unterschied zum Museum, das nicht Begehren, sondern ästhetische Distanz erfordert und den Sehsinn favorisiert. Seine Blick- und Begehrensordnung kodiert das Museum in der Kultur des 19. Jahrunderts als tendenziell männlich. Das Warenhaus hingegen ist von Anfang an als ›weiblicher‹ Ort konzipiert – oder besser: als Ort, den männliche Erfindungs- und ökonomische Manipulationskraft für Frauen realisiert, nicht zuletzt, um die Geschlechterverhältnisse festzuschreiben. Hier werden alle Sinne der Frauen überwältigt. Sie sehen und begehren, sie berühren, betasten, riechen, spüren. Und sie können haben: Sie kaufen die Objekte, die einen unvergleichlichen Zauber besitzen; die ein Versprechen bergen, das Leben zu verändern durch den Besitz dieses und nur dieses Gegenstandes. Der freilich kann seinen Zauber nur im Rahmen der Inszenierung in diesem besonderen Raum Warenhaus entfalten und ist am nächsten Tag, zu Hause, nur noch ein toter Gegenstand wie tausend andere.

4. Denise

Denises Faszination durch das Warenhaus ist freilich ganz anderer Art als die der Kundinnen. Denise nämlich lässt sich nicht durch die Waren verführen, sondern sie lässt sich faszinieren von dem neuen ökonomischen Prinzip, von der Verführungskraft, die durch dieses männlich gedachte Haus ausgeht, von seiner Effizienz. Damit sprengt die kleine Verkäuferin – die freilich den großen Aufstieg schafft – die Geschlechtergrenzen, die im Roman überhaupt erst als konstitutiv für das Funktionieren des Warenhauses konstruiert werden: Die der weiblichen Verführbarkeit durch affektiv aufgeladene, käufliche Dinge, insbesondere durch Mode als besonders intimer Konsum, da unmittelbar mit dem Körper und dem Selbstbild und Selbstgefühl verbunden. Insofern unterläuft der Roman unabsichtlich (oder im Gegenteil besonders raffiniert) die Geschlechterordnung, die er selbst als Voraussetzung für das Funktionierens des Prinzips Warenhaus konstruiert.

Die Dinge selbst berühren Denise ungeachtet ihres hohen ›Inszenierungswerts‹nicht; sie hat vielmehr einen kaufmännischen Verstand, der ungeachtet ihrer anfänglichen erotischen Faszination durch die Atmosphäre des Neuen sofort das Neuartige und Zukunftsweisende an dem neuen Prinzip erkennt, das hier zum Inbegriff der Moderne wird. Damit wird Denise zur Verbündeten des großen Ausbeuters und Verführers aller Frauen, des Warenhausgründers Mouret (und bestärkt damit dann wiederum die Geschlechterordnung, die der Roman erzeugt).

Denises Haltung ist trotz der geschilderten spontanen ›Liebe auf den ersten Blick‹ als beherrschte, (selbst-)reflexive Distanz zu bezeichnen. Hier findet sich eine Analogie zur ästhetischen Distanz, die das Museum fordert. Aber nicht zufällig wird sie im späten 19. Jahrhundert einer Frau nur im Warenhaus zugeschrieben. Den anderen Frauen, den Kundinnen hingegen fehlt gerade jegliche Distanz, und sie verfallen den Verführungen des Konsums bzw. der Objekte (verkörpert in der Figur des attraktiven Warenhausgründers Mouret) nahezu willenlos. Verkörpert Denise eine Erotik der Macht, bezogen auf das Objekt, eine Erotik der Erkenntnis gleichsam, so frönen die anderen Frauen einer narzisstischen Erotik, Selbstbezogenheit, einer Erotik der Imagination durch Imagination und vermittelt über Dinge. Das unterscheidet die flanierende Kundin vom Flaneur.

5. Flaneuse

Der klassische männliche Flaneur, jene zentrale Figur der kulturellen Imagination des 19. Jahrhunderts, lebt in der großstädtischen Öffentlichkeit; laut Baudelaire benötigt er die Menschenmenge, die ihm Kraftreservoir ist und in der er dennoch hochmütig allein bleibt; er streift frei und vom Zufall geleitet durch die Stadt und schaut distanziert auf das, was ihm begegnet. Das vereinnahmt er dann aber durchaus durch seinen Blick, ist er doch ein ›moi insatiable du non-moi‹, wie es bei Baudelaire heißt und von Edgar Allen Poes Man of the Crowd so eindrucksvoll vorgeführt wird. Bürgerlichen Frauen ist im 19. Jahrhundert Öffentlichkeit so wenig erlaubt wie aktives Schauen; in der Geschlechterökonomie der Zeit sind sie diejenigen, die passiv angesehen werden, sich für die Blicke der anderen zurichten. Das Warenhaus, jene Institution, die Öffentlichkeit und Privatheit verbindet und vermischt, wird zum idealen Ort der ›Flaneuse‹. Hier darf sie allein flanieren, hier darf sie ihre Schaulust ausleben. Hier darf sie – und das öffentlich! – ihr Begehren entfalten. Denn ihr Begehren wird im Warenkonsum auf Objekte gerichtet, nicht auf Menschen. Durch diese Ablenkung auf dingliche Objekte des Begehrens wird ihr Begehren gleichsam entschärft, ungefährlich, neutralisiert. Und das um so mehr, als die Objekte, die sie begehrt, immer direkt oder indirekt mit ihrem Körper zu tun haben, es handelt sich nämlich im Warenhaus um Stoffe, Accessoires, Einrichtungsgegenstände, solche Dinge also, die zur Herstellung von Körper und (Geschlechts-)Identität, von Selbstgefühl und Selbstbewusstsein, aber auch zur Selbstbespiegelung und zum narzisstischen Selbstgenuss dienen – und dann schließlich zur Provokation des Begehrens der anderen benötigt werden, damit sich das Subjekt begehrt fühlen kann. Durch ihre Konzentration auf materielle Objekte, die dennoch alle Sinne ansprechen, wird das weibliche Subjekt auf sich selbst bezogen, gerät Genuss zum Narzissmus und Begehren zur Inszenierung des Begehrtwerdens. Zugleich aber rückt der Rausch in gefährliche Nähe.

In Au bonheur des dames wird ein großer Ausverkauf geschildert als »débauche de couleurs«, als ein Ort, »ou chacun pouvait aller se réjouir les yeux.« (Zola 1980: 126) Das könnte man auch über ein Museum sagen – wäre da nicht die »débauche« …

Anders gesagt: Statt zu den Objekten Distanz zu wahren, nehmen die Frauen – klassisch weiblich konnotiert – eine Position der Nähe ein, sie berühren, riechen die Objekte, sie begehren sie und verleiben sie sich schließlich selbst ein, indem sie sie kaufen. Das ist der entscheidende Unterschied zum voyeuristischen Flaneur, der sich mit dem Schauen begnügt und gut im Museum vorstellbar ist. Während die Position der Nähe eine ist, die im Warenhaus und durch das Warenhaus befördert, ja unter Umständen erst erzeugt wird.

6. Dezentrierung

Der Flaneur verkörpert jene Neustrukturierung des Sehens im 19. Jahrhundert, in der die Mobilität und Austauschbarkeit der visuellen Erfahrung die feste Bezüge der Zentralperspektive ersetzen. Der völlig auf das Objekt konzentrierte Betrachter der Camera obscura, so Jonathan Crary, werde abgelöst durch das sich ›in der Zeit als veränderlich erfahrene Subjekt‹, das keine feste Perspektive und keine feste Relation Subjekt-Objekt mehr kenne (vgl. CRARY 1995). Die Passage, die Vorläuferin des Warenhauses, entspricht noch dem Modell der Zentralperspektive, während das Warenhaus mit seiner gezielten Unübersichtlichkeit Prototyp des veränderten Wahrnehmungsmodells ist. Man betritt es mit einem bestimmten Ziel und ist schon verloren, denn die Menschenmenge und die Fülle der Angebote, die immer wieder neu arrangiert werden, halten einen auf, bringen einen vom Wege ab, verdeutlichen, dass es keinen festen Weg gibt. Ständig wird das Auge und mit ihm die Aufmerksamkeit abgelenkt, denn wie eine Theaterkulisse ändert sich das Innere des Warenhauses ständig, wodurch Waren immer unterschiedlich atmosphärisch inszeniert werden. Größe und Unübersichtlichkeit tragen zu diesem labyrinthischen Effekt ebenso bei wie das Spiel von Nähe und Distanz, Höhenunterschiede (die Treppen, die Überblicke von oben auf das Ganze gewähren, im Gegensatz dazu der kleine Mensch unten, dessen Blick sich in schwindelnde Höhen verliert). Erhellend ist in dem Zusammenhang Elisabeth Strökers These, der Aktionsraum kenne keine Entfernung, nur Abstand.

Typische Raumeindrücke schildert der Zeitgenosse Paul Göhre so:

„Wer das Haus Wertheim zum ersten Male betritt, empfängt den Eindruck eines erdrückenden Gewirres. Menschen fast zu jeder Tageszeit in ununterbrochenem Strömen; unabsehbare, immer neue Reihen von Verkaufsständen; ein Meer von Warenmassen, ausgebreitet; Treppen, Aufzüge, Etagen, sichtbar wie die Rippen eines Skeletts; Säle, Höfe, Hallen; Gänge, Winkel, Kontore; Enge und Weite, Tiefe und Höhe; Farben, Glanz, Licht und Lärm; ein ungeheuerliches Durcheinander, scheinbar ohne Plan und Ordnung. Wer [...] einen Über- und Einblick in das Haus und sein Getriebe gewinnen will, bedarf häufiger Besuche, fast eines richtigen Studiums.“ (GÖHRE 1907: 15)

Hier wird deutlich: Das Warenhaus zielt auf Verwirrung. Ja mehr noch: Es zielt auf Entgrenzung, zielt auf Rauschzustände, die gerade einmal so lange dauern wie der Aufenthalt im Haus, zielt auf das Außerkraftsetzen der klaren Überlegung, zielt auf Spontaneität und völlige Hingabe – die freilich mit aktiver Kaufkraft gepaart ist. Das Eingehen in die Massen, die die einzelne voran tragen, symbolisiert diese Hingabe materiell:

„Von der Strömung erfasst, konnten die Damen nicht mehr zurück. Gleich den Flüssen, die die schweifenden Gewässer eines Tales an sich ziehen, schien die Flut der Kundinnen, die sich in die Vorhalle ergoss, die Straßepassanten aufzuschlucken, die Bevölkerung von allen Ecken und Enden von Paris einzusaugen. Sie kamen nur sehr langsam weiter, eingezwängt, dass sie kaum noch Atem holen konnten, aufrecht gehalten von Schultern und Bäuchen, deren weiche Wärme sie spürten; und ihr befriedigtes Verlangen freute sich dieser bedrängenden Nähe, die ihre Neugier noch stärker anstachelte.“ (ZOLA 2002: 311)

Was wir hier lesen, ist der Verlust jeglicher Individualität, jeglicher Privatheit, und damit auch jeglichen eigenen Willens: Die individualistischen bürgerlichen Damen gehen gleichsam in einer animalischen Masse auf.

Auch sonst verlieren sie ihre Privatheit, denn die Haut, der Körper der Frauen, stellt ihren eigentlich intim kodierten Zustand unkontrollierbarer, quasi-sexueller Erregung öffentlich zur Schau: »Frau Marty« – so heißt es in Zolas Roman über eine der Kundinnen nach einem Ausverkauf –

»hatte jetzt das angeregte und nervöse Gesicht eines Kindes, das unvermischten Wein getrunken hat. Mit klaren Augen, die Haut kühl und frisch, [...] war sie hereingekommen. [...] Als sie endlich fortging, nachdem sie, entsetzt über den Rechnungsbetrag, gesagt hatte, sie werde zu Hause bezahlen, hatte sie die verzerrten Züge, die geweiteten Augen einer Kranken.« (ZOLA 2002: 344)

Trotz unserer modernen Unterscheidung von Innen und Außen werden auf der Bühne des Warenhauses, wie im Theater, die Gefühle äußerlich sichtbar. Allerdings geschieht das auf der Warenhausbühne unwillkürlich und nicht absichtlich und kontrolliert wie im Theater (BÖHME 2001: 120).

In der Logik dieser neuen Institution zielen die destabilisierenden Strategien auf Frauen, nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – auf Männer. In dieser Destabilisierung und Dezentrierung werden Öffentliches und Privates auf gefährliche und zugleich wünschenswerte Weise vermischt, und zwar auf allen Ebenen. Anschaulich wird das auch in der öffentlichen Zurschaustellung der Dessous (ZOLA 2002: 527 f.), womit die Grenzen zwischen dem verwischt werden, was der Intimität der bürgerlichen Frau des 19. Jahrhunderts (und gegebenenfalls ihres Ehemannes) vorbehalten bleiben sollte, und dem, was allen zugänglich ist. Eine seltsame Art von öffentlicher Privatheit entsteht hier, die den Frauen im scheinbar geschützten Raum des Warenhauses durch den Warencharakter der Dinge ihre Ehrbarkeit nimmt und zugleich so tut, als gehe alles ganz ehrbar zu.

Zolas Warenhausgründer Mouret betont, er wünsche, dass die Kundinnen sich bei ihm wie zu Hause fühlen. Damit wird der Charakter des Warenhauses als Heterotopie zugleich verschleiert und betont. Die Menschenmassen nötigen dem einzelnen eine unglaubliche physische Nähe auf, er/sie handelt wie getrieben von der Menge und wird um so wehrloser dem Begehren und dem Kauftrieb ausgesetzt – und schottet sich zugleich mental durch eine unsichtbare Glasglocke gegen den unerträglichen Einbruch aller anderen in die eigene Privatsphäre ab. Es ist eine Situation, in der Regeln gleichzeitig außer Kraft gesetzt und hochgehalten werden – eine Zeit, die dem von Bachtin beschriebenen Karneval nicht unähnlich ist (vgl. BACHTIN 2000).

Das Verhalten aller changiert zwischen Förmlichkeit und Informalität. Gleichgültige Dinge werden ästhetisiert und funktionalisiert. Begehren wird zum Zentrum der ephemeren Identität weiblicher Subjekte. Kurz: Das Warenhaus bündelt wie ein Brennspiegel die Lebensbedingungen und -formen der modernen Großstädte: Es ist ein anonymer Ort, der zugleich vertraut ist; es ist übervoll und bevölkert und muss doch dem einzelnen das Gefühl seiner Einzigartigkeit vermitteln; jeder bekommt für kurze Momente seine Bühne und verliert sich doch in der Masse der Zuschauer; alle gehen in der Masse auf und müssen sich zugleich von der Masse absetzen.

7. Museum

Auf die Idee einer solchen Vermischung kommt niemand im Zusammenhang mit dem Museum. Das Museum ist ein Ort, den man gezielt betritt und der als Heterotopie im Sinne Foucaults von allen anderen Räumen abgegrenzt ist (FOUCAULT 2002). Hier gerät man nicht in Rauschzustände, und von den Sinnen wird eindeutig der Sehsinn favorisiert. Anders als im Warenhaus kann man nichts berühren, sondern man schaut aus der Ferne, vielleicht sogar noch durch Glas vom Objekt getrennt. Nicht Begehren, sondern distanzierter ästhetischer Genuss wird gefordert und gefördert, Kennerschaft wird produziert. Ungeachtet der ›Anmutungsqualitäten‹ der Architektur, die natürlich den Besucher gleich in eine bestimmte Stimmung bringen will, und trotz der Aura der Kunstobjekte setzt das Museum letzten Endes auf Distanz. Es zielt auf die harmonische Einheit von Kunstkenntnis und Kunstgenuss (vgl. ROCH 2001). Selbstvergewisserung, nicht Selbstverlust wird hier zur Grundlage der bürgerlichen Identität, die mit Disziplinierung und Selbstzwängen im Sinne Elias’ verbunden ist. Und, so möchte ich wiederholen, es ist gerade darin für das bürgerliche Bildungspublikum ein vornehmlich männlich kodierter Ort.

Wenn Paul Göhre allerdings die Architektur des Wertheimschen Prachtbaus in der Leipziger Straße beschreibt, dabei Fakten und Zahlen nennt und sich zugleich immer wieder in geradezu hymnischen Lobeserhebungen ergeht, dann spricht offenbar ein Mann mit Kunstverstand, wie man ihn eher im Museum suchen würde. Damit bringt er das Prinzip der Vermischung zur Geltung, das das Warenhaus charakterisiert, und zugleich ist dieser Gestus der einzige, der es ihm ermöglicht, als Mann über das Warenhaus zu schreiben. Über den neuen, 24 Meter hohen Lichthof schreibt er:

»Das Mächtigste, ganz Originelle, ganz Überwältigende sind zwei gewaltige Brücken, die nicht viel unter dem Dach, in der Höhe der vierten Etage, parallel zueinander laufend, sich quer über den ganzen Raum legen, in wuchtiger Breite, kühnster Bogenspannung, ganz aus leuchtender Bronze. Es ist unmöglich, den ganz eigenartigen, neuen, gigantischen Reiz dieser Schöpfung auch nur annähernd zu schildern. Man schaut zu ihnen etwa empor, wie man im Hochgebirge ein dräuendes Bergmassiv oder einen Wasserfall oder am Abgrund ragende Riesenbäume aus nächster Nähe anschaut. Die Wirkung dieser zwei Brücken ist durchaus elementar naturhaft; ihr Anblick weckt geradezu heroische Gefühle.« (GÖHRE 1907: 19)

Hier beschreibt jemand den ästhetischen Eindruck des Erhabenen, wie er durch das Naturschöne oder das Kunstschöne ausgelöst werden kann – und das am schnöden Ort des Konsums, der schon zuvor immer wieder mit sakralen Assoziationen versehen wurde.

8. Aufmerksamkeit

Dezentrierung muss freilich durch Aufmerksamkeit kompensiert werden. Jonathan Crary führt aus, dass die westliche Moderne seit Ende des 19. Jahrhunderts vom Individuum verlange, sich »im Sinne eines Vermögens der ›Aufmerksamkeit‹ zu definieren und zu formen – wie sie verlangt, sich aus dem umfassenderen Feld visueller oder akustischer Attraktion zurückzuziehen und sich statt dessen auf eine begrenzte Anzahl isolierter Reize zu konzentrieren.« (CRARY 2002: 13) Das moderne Warenhaus inszeniert diese Situation bewusst und führt gleichzeitig Steuerungsmechanismen der Aufmerksamkeit ein. Die zu jener Zeit erstmals riesig großen Schaufenster verwischen den Unterschied zwischen Innen und Außen; sie ziehen den Blick nicht nur auf die Auslagen selbst, sondern auch auf das, was im Inneren vorgeht. Die offenen Türen laden zum Eintreten ein. Tagsüber werden Schnäppchen vor dem Warenhauseingang aufgestellt, die die Kundschaft an- und hineinlocken und aus harmlosen Passanten im Handumdrehen Käufer machen. Die eintretenden Menschen werden von der Masse weitergetragen, und zwar durch die Gänge, die die Regisseure dafür vorgesehen haben und die den Blick auf bestimmte Waren lenken.

Innerhalb dieser Massen ergeben sich momentan ephemere Intimitäten – zwischen Käuferin und Warenhaus, verkörpert im (meist zufällig anwesenden) Verkäufer. Das fängt ein Gemälde von Felix Valloton von 1898 sehr anschaulich ein: Eine kleine Insel der Aufmerksamkeit und der Ruhe im tobenden Chaos des übrigen Hauses. Intimität als verkaufsförderndes Element wird, so beschreibt Zola, ständig inszeniert. Parallelen und Unterschiede zu Charles Baudelaires Gedicht A une passante fallen ins Auge: Flüchtige, zufällige Begegnung im unüberschaubaren großstädtischen Raum, Intimität durch den Blick im einen Fall, im anderen Fall über den Blick der Kundin auf ein Objekt, also vermittelt über das Objekt; eine Intimität, die völlig objektbezogen ist und doch zwischen zwei Menschen stattfindet.

Das Warenhaus zwingt die Kundinnen, sich dem atmosphärischen Eindruck des Ganzen hinzugeben, sich zu zerstreuen – und dann die Aufmerksamkeit auf das Detail zu richten, das sie kaufen. Es erzeugt die Vision einer grenzenlosen Verfügbarkeit der Waren, obgleich diese natürlich längst nicht allen zugänglich sind, und macht durch markante räumliche Anlaufstellen wie die aufmerksamkeitsheischenden Kassen doch die Unterschiede deutlich. Ästhetische Arbeit steht im Warenhaus im Dienste des ökonomischen Gewinns.

9. Warenhaus heute

Der Flaneur ist eine vergangene Gestalt, und die Flaneuse auch. Die Warenhäuser haben sich verändert und sind doch in vielem gleich geblieben. Ihre Organisation hat sich verfeinert, sie sind immer größer geworden, bestimmte Angebote allerdings wie die Leseräume sind mittlerweile verschwunden, und auch die großen Freitreppen und Galerien, von denen aus man den herrschaftlichen Blick aufs Ganze hatte, gibt es kaum mehr: Rolltreppen sind nur im Hinblick auf Glamour nur ein armseliger Ersatz für die Freitreppe, die man hinauf- oder herabsteigen kann wie ein Bühnenstar. Und ein paar Galerien rund um den Lichthof gibt es zwar noch, aber sie sind längst mit Waren vollgestellt. Shopping Malls, die die alten Passagen wiederaufleben lassen (wenn auch ohne den Glanz, den diese besaßen), sind zur größten Konkurrenz der Warenhäuser geworden. Warenhäuser erstaunen uns nicht mehr, weil wir an sie gewöhnt sind; sie haben den Charakter des Neuen und Interessanten nicht mehr. Also müssen sie auf anderes setzen, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen: auf eine genaue Ausdifferenzierung der Kundschaft, die sie ansprechen, auf Vielfalt des Angebots – und auf Events. Damit ist dann nicht mehr nur das Shoppen gemeint, sondern Venezianische Feste, Halloween-Feste, Modenschauen, Buchpräsentationen, Weinverkostungen, Model-Castings – der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt, wie man unschwer merkt, wenn man auf die Websites des Kadewe in Berlin geht, oder auch auf die der Berliner Galeries Lafayette, die den Hauch Glamour in die deutschen Hauptstadt bringen soll, den im Bereich des modischen Konsums immer noch Frankreich auszustrahlen scheint. Die Idee also, die das Warenhaus ins Leben brachte und es funktionieren ließ, lebt weiter. Wenn man vor einigen Jahren auf die (mittlerweile deutlich nüchterne und bilderarme) Website des Kadewe ging, fand man folgende Abteilungen: Erfahren, Erleben, Besuchen, Kaufen. ›Erleben‹ bot Links zu ›Suchen‹, ›Bummeln‹, ›Fragen‹, ›Schauen‹. Klickte man ›Bummeln‹ an, las man die freundliche Aufforderung zu einem Bummel durch das Haus, auch wenn der Monitor die Atmosphäre eines wirklichen Bummels nicht vermitteln könne. (Schon damals gab es leider keinen animierten Rundgang durch das Haus, sondern vor allem verbale Beschreibungen.) Der zentrale Satz hier war das unverblümte: ›Sehen heißt begehren‹. Eine Kolumne bot Essays zu Themen wie Langsamer leben – mehr erleben vom Mai 2003, Die Rückkehr der Werte (Juli 2003) oder Genuß ist nicht dumm. Unter ›Besuchen‹ fand man den Eventkalender, der eine Halloweenparty, eine Silvesterparty und eine venezianische Nacht anbot (die gibt es noch immer) (die Preise aber vornehm verschweigt).

Hier wurde sehr offen mit all jenen Elementen gespielt, die das Warenhaus schon vor über 100 Jahren faszinierend machten: Der Erlebnischarakter, das durchaus hohe Niveau in bezug auf Bildung und soziales Standing (ungeachtet der Versuche, auch billige Produkte für die ›einfachen‹ Leute anzubieten), der Versuch, das Haus zu einem Treffpunkt einer eingeschworenen Gemeinde von Insidern zu erklären (Feinschmeckeretage als Treffpunkt). Man kann, so die Botschaft, im Kadewe leben; das Kadewe macht das Leben aufregend und immer neu – dass man vor allem kaufen soll, scheint da nur noch eine Nebensache.

Das Kadewe wurde 1907 gegründet, im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach ständig vergrößert; mittlerweile hat es eine Verkaufsfläche von 60.000 qm (damit ist es der größte Department Store auf dem europäischen Kontinent), beschäftigt ca. 2000 MitarbeiterInnen, führt auf 8 Verkaufsetagen über 380.000 verschiedene Verkaufsartikel und empfängt ca. 80.000 Besucher täglich (MEINERS 2007: 162). Im Vergleich: Das Bon Marché hatte nach seinem großen Umbau von 1869 eine Verkaufsfläche von ca. 25.000 qm.

Die Ende Februar 1996 in Berlin eröffneten Galeries Lafayette sind gleichfalls deutlich als Inszenierung zu erkennen. Die Baumaterialien zitieren den Londoner Crystal Palace (1851) und ähnliche Bauten des 19. Jahrhunderts. Spiralförmig zirkeln die relativ kleinen Verkaufsetagen um einen leeren, eierförmigen Mittelpunkt, der den ursprünglich zentralen Lichthof der frühen Warenhäuser (der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in eine Anzahl dezentralisierter Lichthöfe verwandelt hatte) in modifizierter Form zitiert und neu einsetzt. Die aus dem Material und dessen räumlicher Anordnung resultierenden Spiegelungen lassen das Gebäude größer erscheinen, als es tatsächlich ist; Käufer und Flaneure werden beständig reflektiert und solcherart zu Protagonisten einer regelrecht theatralen und gewissermaßen integralen ›Inszenierung‹ von Architektur, Waren und Publikum gemacht – Protagonisten indessen, die sich buchstäblich am Rande bewegen. Zugleich werden sie immer wieder auf sich selbst im Spiegel verwiesen. Jenseits aller vordergründigen Transparenz des Materials werden aufgrund der Spiegelungen Vervielfachung und Uneindeutigkeit zum Prinzip der Wahrnehmung des modernen Warenhauses gemacht. Die das rein Ökonomische weit transzendierende Warenhausidee wird durch diesen Bau auf einen neuen Höhepunkt getrieben und – im kulturhistorischen Kontext – zugleich als fortgesetztes Spiel mit Bedeutungen entlarvt, das sich immer wieder im Kreise dreht.

10. Schluss

Das Museum verlangt ein distanziertes, auf Erkenntnis oder ästhetischen Genuss gerichtetes Schauen auf Objekte, die distanziert und unberührbar sind. In ihnen werden Gegenstände inszeniert, um ästhetische Wahrnehmung auszulösen. Der Betrachter bewegt sich auf klar vorgegebenen Pfaden an den statischen Objekten entlang. Im Theater sitzt der Zuschauer unbeweglich im verdunkelten Zuschauerraum, damit ihm bewegte Inszenierungen präsentiert werden. Nur in der Pause kann er selbst flanieren, andere anschauen und angeschaut werden/sich zur Schau stellen. Im Warenhaus flaniert die Kundin durch das Haus, lässt sich von der Masse und von ihrem eigenen Begehren leiten. Zum visuellen Wahrnehmen kommt das Riechen, Spüren – alle anderen Sinneswahrnehmungen. Und die ästhetische Wahrnehmung ist nicht zweckfrei und auf bloßen Genuss im Hier und Jetzt – oder auf den Genuss des Hier und Jetzt - gerichtet, sondern sie wendet sich rasch in Begehren.


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