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Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild


Autor: Beate Ochsner
[erschienen in: IMAGE 9 (Ausgabe Januar 2009)]

Schlagwörter: Inszenierung, Monströses, Bild und Medizin, Fotografie

Disziplinen: Kulturwissenschaften, Medienwissenschaft, Visual Studies


The article deals with the production of monstrous bodies. Based on carefully picked examples, different strategies of visualization and readings are shown as they have developped between teratology and media since the beginning of the 19th century. The chosen material includes medical and freak photography of the second half of the 19th century as well as contemporary photographies and sculptures. First of all, the analysis concentrates on the mediatic and social production of monstrous (images of) bodies as well as the mise-en scène of the so-called ›biological realness‹ which forces the spectator to look at and judge upon the peculiarity of the the exposed bodies.

Der Artikel beschäftigt sich mit der Geschichte der Inszenierung monströser Körper. Anhand ausgewählter Bildbeispiele werden verschiedene Visualisierungsstrategien sowie Lesarten aufgezeigt, wie sie sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts zwischen Teratologie und Medien entwickelt haben. Das präsentierte Material reicht von medizinischen und Freakfotografien aus dem 19. Jahrhundert über verschiedene Arbeiten zeitgenössischer Fotografen bis hin zu zeitgenössischen Skulpturen. Im Vordergrund der Analysen stehen die soziale und vor allem mediale Produktion monströser Körper(bilder) sowie der Effekt der ›biological realness‹ (MARY RUSSO) als die mit Hilfe verschiedener Bildstrategien sich dem Betrachter aufdrängende und ihn zum Urteil zwingende Eigenheit der ausgestellten Körper.

Anstelle einer Einleitung die Visualisierung unseres heutigen Sujets durch die englische Malerin Alison Lapper.

Alison Lapper – Filmausschnitt (vgl. www.youtube.com: Alison Lapper)

›I’m differently beautiful because my body looks different to other people’s.‹ So die englische Künstlerin Alison Lapper (Abb. 1-4) in einem auf youtube veröffentlichen Feature über ihre Person, ihre künstlerischen und politischen Arbeiten. In ihrer Beschäftigung mit dem menschlichen Körper sowie seinen Bildern setzt Lapper gleichermaßen Fotografie, Computergrafik und Malerei ein, wobei die kulturelle Produktion von Differenz (und mithin von Normalität) im Vordergrund steht. Gleich und doch nicht gleich zieht der physisch andere Körper die Blicke auf sich: »You cause people to watch and to make judgement.« (vgl. http://www.youtube.com: Alison Lapper)

Zahlreiche Exponate der englischen Künstlerin zeigen Selbstportraits, deren Ästhetik sich aufgrund ihrer Ähnlichkeit an der Venus-Statue als dem Ideal weiblicher Körper orientieren: »I've labelled myself Venus de Milo in some of my works. She lost her arms; I was born without mine. Yet no-one would describe her as disabled, as they do me, even though I'm real and I can answer them back.« (vgl. http://www.youtube.com: Alison Lapper) Die im Jahr 2000 entstandene fotografische Arbeit Untitled (2000) lässt die Inspirationsquelle unschwer erkennen, wobei der in der sanften S-Kurve des griechischen Ideals geformte Körper das klassische ästhetische Prinzip in der Differenz zwischen den Bildern hervorhebt. Die harten Kontraste der Schwarz-Weiß-Aufnahme lassen die weiße Haut der Portraitierten hervortreten und verleihen dem fotografischen Körper eine nahezu marmorne Skulpturalität.



Abbildung 1

Untitled (Lapper, 2000)


In ihren Installationen kombiniert Alison Lapper ihre fotografischen oder malerischen Arbeiten mit Gipsabdrücken sowie frühen klinischen Aufnahmen ihres Körpers, die seine Deformität dokumentieren, benennen und klassifizieren. Auf diese Weise sichern die ›aus den Fugen‹ des protonormalistischen Dispositivs geratenen Körper das System körperlicher Normalität, um sich selbst als defizitär auszuschließen. Was nun bringt eine Frau dazu, sich freiwillig auf diese Art zur Schau zu stellen und sich (erneut) den Blicken der Öffentlichkeit auszusetzen? Ähnlich wie andere behinderte Künstler – so z. B. die irische Performancekünstlerin Mary Duffy oder der englische Schauspieler Matt Frazer – stellt Lapper ihren ›anderen‹, ihren monströsen Körper aus, um auf diese Weise die pervasiven medizinischen und schaulustigen Blicke zu reproduzieren, die ihn aus Legitimationsgründen zum gesellschaftlichen Spektakel erklären. Im Rahmen ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Thema Freaks bzw. der disability-Forschung konstatiert die amerikanische Forscherin Rosemary Garland-Thomson, dass Behinderung über die medizinischen Kontexte hinaus und vergleichbar mit den Kategorien des Geschlechts oder der Rasse zu einer Verhandlungssache gesellschaftlicher Repräsentations- und Diskurssysteme geworden ist. (vgl. GARLAND-THOMSON 2000: 181) Auf diese Weise gerät der fehlgebildete Körper zum kulturellen Artefakt, zum Produkt sozialer, ästhetischer und diskursiver Praktiken. Als solches Artefakt oder Kunststück stellt Alison Lapper sich selbst bzw. ihren eigenen Körper bewusst aus, um auf die Konstruiertheit seiner ästhetischen Vorbilder wie auch die soziale Fabrikation seiner Spektakularität zu verweisen.

Dass ich die im folgenden Text die Begriffe des monströsen und des anderen Körpers synonym verwende (wie auch Alison Lapper in ihrem Kurzfilm) ist keinesfalls mit einer Negativwertung verbunden, vielmehr geht es mir um die auffallende Nähe der Diskurse um den monströsen und den – wie Alison Lapper sagt – anderen Körper. Leider kann ich nicht ausführlich auf die spannende Begriffsgeschichte des Monsters eingehen, darum nur so viel: Monster oder – mit Thomas Macho gesprochen – »exilierte Dissidenten der Normalität« sind die Anderen des Systems, das sie als defizitär markiert, um das Eigene als Normalität zu sichern (vgl. OCHSNER 2008). Diese Funktion kommt in ganz ähnlicher Art und Weise auch den auf den Fotografien abgebildeten anderen Körpern zu, die in der Zur-Schau-Stellung zu Monstern im Sinne Jean-Marie Sabatiers werden: »Monster sind nur Monster, weil wir sie ausstellen.«

Seit der Antike wird das Andere (des Menschlichen) – das Monster, der Fremde oder der Kranke – in unterschiedlichen medialen Konzeptionen exponiert. Seit dem 19. Jahrhundert spielt die medizinische Fotografie in diesem Kontext eine wichtige Rolle: Unter Einhaltung strikter visueller Konventionen – ein neutraler Hintergrund, der die Aufgenommenen objektiviert und sie in der Abstraktion vergleichbar macht, die Beigabe von Requisiten, die das soziale Standing andeuten, Frontal- oder Profilaufnahme, Ganzkörper- oder Gesichtsdarstellung etc. – sowie durch erklärende wissenschaftliche Texte vervollständigt, bestätigt die fotografische Konstruktion einer medizinischen Autorität über den pathologischen Körper den szientifischen Diskurs. Nun wenden die zeitlich aufkommende Freak- oder Monsterfotografie wie auch zeitgenössische Fotografien von Diane Arbus, Joel-Peter Witkin, Nick Knight oder auch Gerhard Aba vergleichbare Visualisierungsstrategien an, mit dem Ziel, entweder die Glaubwürdigkeit mit Hilfe wissenschaftlicher Authentizität zu erhöhen oder aber – in ästhetischer und historischer Deplatzierung – die Monstration der Zur-Schau-Gestellten zu reflektieren. Die verschiedenen Typen von Fotografien spielen dabei einen als »effet de monstre« zu bezeichnende Wirkung aus, der auf die rhetorische Figur der Katachrese verweist, die David Williams in seiner ausgezeichneten Studie über die Funktion des Monsters als apophatische Monstration oder ›showing forth‹ bezeichnet: Wo das Fehlen des eigentlichen Ausdrucks – das Monster verweist auf keine ihm vorgängige Signifikation – die Repräsentation verhindert, wird sie durch die reine Monstration ersetzt, die die Funktion der Repräsentation als solche reflektiert. In der Geste des reinen Zeigens, des Monstrierens, spielen nun nicht nur die mittelalterlichen Monster ihr Potential aus:

»(T)he monster’s proper function is to negate the very order of which the monster is a part, and to critique the philosophical principles that sustain order itself.« (WILLIAMS 1996: 14)

Dieses besondere soziale und sozialkritische Potential in ausgewählten Bildern ›monströser‹ Körper medial zu hinterfragen, ist Anliegen der folgenden Überlegungen.

Krao, das Missing link

Nur kurze Zeit nach ihrer Erfindung hielt die Fotografie Einzug in unterschiedliche Bereiche der Wissenschaft wie z.B. der Medizin: Neben vorwiegend archivarischer Funktion konnte die Fotografie gar zu einem wissenschaftlichen Instrument avancieren, das dem Auge des Mediziner bislang verschlossene Gebiete, mithin eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit eröffnete. Nicht nur die sehr früh für die Medizin entdeckte Mikrofotografie feierte Erfolge, rasch begann man sich auch in den Bereichen der Dermatologie und Orthopädie sowie, generell, im Bereich physischer und psychischer Devianzen für die akkurateren und »more lifelike« (Squire, zit. nach GERNSHEIM 1961: 147) Repräsentationen zu interessieren und so entstanden, neben verschiedenen fotografisch illustrierten Buch- und Zeitschriftenpublikationen, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an zahlreichen Krankenhäusern fotografisch illustrierte Sammlungen human-pathologischer Absonderlichkeiten, die ihre Faszination an der Zur-Schau-Stellung ›lebender‹ wie auch ›toter‹ Monstrositäten kaum verheimlichen können.

Auf Suche nach der menschlichen Vor-Geschichte bedienten sich auch die Anthropologen und Ethnologen wie der berühmte Rudolf Virchow der Fotografie: Interessanterweise handelt es sich – wie in den Verhandlungen, dem Publikationsorgan der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, nachzulesen – nicht nur um von Wissenschaftlern oder Berufsfotografen zu wissenschaftlichen Zwecken aufgenommene Bilder, vielmehr bestaunte man entsprechende ›Fälle‹ life in Panoptiken oder auf Jahrmärkten oder erstand die käuflich zu erwerbenden Freakfotografien der berühmtesten unter ihnen. Manchmal konnte man die Ausstellungsobjekte gar einer Untersuchung unterziehen und, in diesem Rahmen, Aufnahmen anfertigen lassen. So auch im Falle Kraos, deren Berühmtheit in erster Linie auf ihre geschickte Vermarktung und Inszenierung als Darwin’s missing link – wohl eine Idee ihres Besitzers Farini – zurückzuführen ist.



Abbildung 2

Krao, das missing link, zusammen mit ihrem Besitzer Farini (http://sideshowbarker.blogspot.com/, Zugriff 17.11.08)


Zum Vergleich eine Aufnahme Tom Thumbs in der erhöhenden Präsentationsweise, die auf Requisiten wie europäische Uniformen, Adelsprädikate (Major Tom Thumb) etc. rekurriert:



Abbildung 3

Tom Thumb zusammen mit Ph. T. Barnum (http://chnm.gmu.edu/lostmuseum/lm/335/, Zugriff 17.11.08)


Auch die bereits im Mai 1883 in La Nature veröffentliche Richtigstellung dieser verwegenen Annahme vermag die Sensations- und Schaulust nicht zu mindern, und als ›Lückenbüßer‹ der Genealogie muss Krao weiterhin angesiedeltes hybrides Wesen zwischen Affe und Mensch die sich in diesem unbekannten Zeitraum vollziehende Perfektionierung des Menschen bezeugen.



Abbildung 4

La Nature, Mai 1883 (http://www.bl.uk/learning/images/bodies/ printlarge4801.html, Zugriff 17.11.08)


Die neben der Vermarktung hinter diesem Beispiel stehende Idee rekurriert auf Deleuzes Unterscheidung zwischen Andersheit und Differenz: Während die Andersheit die ‚einfache‘ Negation eines Wertes auf der Basis identitärer Strukturen meint, spricht Deleuze von der Differenz als reflexivem Begriff, der „den Übergang von benachbarten ähnlichen Arten zur Identität einer Gattung“ [DELEUZE 1997: 57] ermöglicht. In diesem Sinne wird Krao sowohl als Anderes wie auch als Differentes instrumentalisiert: Wird sie in einem ersten Schritt als reine Differenz an die Stelle des menschlichen Ursprungs gesetzt, um dessen Abstammungslinie zu sichern, so wird sie der problematischen Unbestimmtheit affirmativer Differenz sogleich entzogen und als (einfaches) Anderes (im Deleuze’schen Sinne) aus der (durch sie erst entstandenen) kontinuierlichen Entwicklungsreihe eliminert-. Mit den Worten Foucaults: Als „natürliche Form der Gegen-Natur“ [FOUCAULT 2003:77] fungiert Krao als Prinzip der Erkennbarkeit aller Anomalien, ohne jedoch selbst erkennbar zu sein. Auf diese Art und Weise (er)schafft man zum einen die Sicherung evolutionärer Perfektionierung und zum anderen die Verortung (und gleichzeitige Fixierung) des Anderen als das ‚nur‘ Negative (des Eigenen) ins normale System.

Im Fluss des vom Kontinuitätsdenken beherrschten 19. Jahrhundert verschwinden die vom Teratologen Etienne Geoffroy Saint-Hilaire als ›arrêt du développement‹, als pathologischer Stillstand der Entwicklung bezeichneten Anomalien (wie eben auch das missing links) auf dem Weg zum Normalzustand; allein die Fotografie vermag das Momentum, den ›arrêt‹ abermals zu arretieren, dies jedoch nur, um es im Rahmen biologischer, medizinischer oder evolutionstheoretischer Verhandlungen oder einfach um des Amüsement willens erneut und endgültig festzustellen: Das entstellte Monster wird im Bild gestellt und geriert ein Wissen, »das erst in seinen Verkehrungen das Monströse als Verkehrtes hervorbringt.« (OLDENBURG 1996: 38) Diese Verkehrungen liegen letztlich im Diskurs eines auf stetigen Fortschritt programmierten szientifischen Denkens begründet, das diskontinuierliche Entwicklungen zwar nicht ausschließt, sie jedoch als graduelle Phänomene oder Devianzen des Normalzustande bez. einer normal verlaufenden Evolution verortet. Die dem Verschwinden entgegenwirkende Fotografie hebt den Verlauf der Zeit auf und vermag auf diese Weise mögliche ›Lücken‹ (z.B. der Evolution) durch eine ›natürliche‹, d.h. ohne Eingriff des Menschen hergestellte Präsenz zu substituieren: Das fotografisch fixierte Objekt – in unserem Falle Krao – wird gleichsam rückwirkend als Beweis der an ihm aufgestellten (Hypo-)These gelesen, es fungiert als Supplement einer so nie gelebten Vergangenheit und indiziert gleichzeitig deren Verlust (vgl. OLDENBURG 1996: 38).

In ihrer gleichzeitigen Bezeugung der Objektivität der Aufnahme und der Authentizität des Objekts entwickelt sich die Fotografie zum wissenschaftlichen Instrument. Doch geschieht dies, wie Jean-Marie Schaeffer bereits 1987 konstatiert, lediglich aufgrund eines semiotischen Kurzschlusses zwischen indexalischer und ikonischer Funktion (vgl. SCHAEFFER 1987): Im Gegensatz zum Indiz, das sich auf Manifestationen des realen Raum-Zeit-Verhältnisses bezieht, verweist das Ikon an sich nicht auf existierende Dinge; es handelt sich, nach Pierce, um ein Zeichen der Essenz. Was nun allzu häufig die Interpretation der Fotografie kompliziert, ist die Tatsache, dass der Empfänger die beiden Funktionen im fotografischen Dispositiv kurzschließt: Auf diese Weise zeugt die indizielle Funktion, die auf die reale Existenz der Aufnahme verweist, plötzlich von der Authentizität des abgebildeten Objektes, während die ikonische Funktion dessen essentielle Eigenschaften darstellt. So zeugt die Fotografie Kraos von der Authentizität des missing links, das als Momentum einer individuellen Entwicklung auf die Evolution des Menschen übertragen wird.

Rudolf Virchow mag nun der missing link-Story keinen Glauben zu schenken, gleichwohl interessiert er sich für die fotografische Fixierung des ontogenetischen Zeitpunkts der Abweichung: Das von der Evolution abweichende, mithin ‚störende‘ „damals“ soll sich – nun im Vokabular Thierry de Duves (vgl. DE DUVE 1987) – dem „Jetzt“ der Fotografie einschreiben. De Duve fügt eine weitere Spreizung zwischen „hier“ („ici“) und „dort“ („là-bas“), so daß zwei sich kreuzende Linien (Zeit/Raum) mit den jeweiligen Punkten „damals“–„hier“ bzw. „jetzt-dort“ entstehen. Virchows Ansatz basiert auf dieser Kreuzung (der normalen Serien), und man stellt fest, daß diese Beziehung sich jeweils in einem Bruch mit dem hic et nunc der ‚normalen (Entwicklungs-)Zeit‘ vollzieht. In Virchows Funktionalisierung der Fotografie als an einem bestimmten Punkt der Evolution eintretende pathologische Entwicklungshemmung vollzieht sich wie in dem von de Duve beschriebenen Übergang von der Momentaufnahme zur Pose eine Transformation von Raum in Zeit und umgekehrt: Die damalige (d. h. ursprüngliche!) Abweichung (die pathologische Entwicklungshemmung) soll sich dem Hier des anderen Körpers einschreiben, das dort des missing links im Jetzt der Fotografie monstrieren.

Die Inszenierung der Fotografie im »crucifiement«

Mit dem Einzug Jean-Martin Charcots in die Salpetrière beginnt auch der Aufbau des dortigen Fotoateliers. Von der Mehrzahl der Aufnahmen, die zumeist der Dokumentation und Authentifizierung dienen, unterscheiden sich die sog. ›Kreuzigungsfotografien‹ nicht allein aufgrund der Pose und der ihrer Bezeichnung geschuldeten ikonographischen Verankerung in der christlich-religiösen Kunstgeschichte, sondern gleichermaßen in Bezug auf einen spezifischen Umgang mit dem Medium der Fotografie. Während man relativ schnell feststellt, dass einige Aufnahmen effektvoll aufgerichtet wurden, um den Eindruck einer Kreuzigungsszene zu verstärken und dem Phasentitel Crucifiement gerecht zu werden, so verzichtet man auf die Aufnahme, wenn die Patientin die gewünschte Pose nicht in vollendeter Manier hervorbringt.



Abbildung 5

Iconographie photographique de la Salpetrière, Band 1, 1876, Abb. VI, VII, IX.


Die hysterisch erstarrten Körper zeigen eine auffallende strukturelle Ähnlichkeit zur fotografischen Stillstellung, interessant ist hier die zeitliche Dimension: Atemstillstand und gänzliche Immobilität des hysterischen Körpers gehen seiner fotografischen und textuellen Stillstellung voraus, und so wird der hysterische Körper bereits vor seiner medialen Repräsentation als Allegorie des fotografischen Prozesses lesbar (vgl. BAER 1994). Das der Fotografie des Körpers vorgängige Bild der Hysterie wird in der Aufnahme wiederholt und gleichzeitig supplementiert. Mit Roland Barthes wäre zu folgern, dass die Charcot’schen Kreuzigungsfotografien den Blick auf ein psychologisch Unbe- bzw. Nichtgewußtes freigeben, das außerhalb des fotografischen Wiederholungsprozesses nicht existiert. Dies bestätigt auch Didi-Hubermans These, Charcot habe die Hysterie erfunden, um sie nachträglich kunstgeschichtlich zu verankern. Wie Karin Dahlke aufzeigt (DAHLKE 1998: 214), führt die intermediale Ver-Setzung des fotografischen Mediums in einen kunstgeschichtlichen Inszenierungsrahmen zur Aufhebung der fotografischen Spezifika; Reproduktion und Produktion nähern sich einander an und die Fotografie (bzw. die Hysterie) mutiert zu einem Vorzeichen ihrer selbst, um sich im eigenen Bild zu bestätigen.

Nick Knight oder: Die Neue(n) Mode(ls)

›Nur eine Provokation?‹ Alexander Mc-Queen, Chefdesigner bei Givenchy, eröffnet bei der Londoner Fashion Week 1998 mit speziellen, ganz ›anderen‹ Modellen: Neben einer Frau ohne Arme und Beine, einem Mann ohne Unterleib trat auch die ohne Schienbeinknochen zur Welt gekommene und daraufhin beidseitig unterschenkelamputierte Sportlerin Aimee Mullins auf den Laufsteg. Die Medien- und Modewelt reagiert zumeist schockiert: Eine ›Gratwanderung zwischen Schock und Schick‹ wollte die Süddeutsche Zeitung gesehen haben. Von ›Ausbeutung‹ schrieb der Figaro. Der deutsche Modemacher Wolfgang Joop nannte den Auftritt von Aimee Mullins in einem NZZ-Gespräch ›ein Bild verletzter Endzeitromantik, das Harte kombiniert mit dem Zarten‹. Die Konkurrenz tat McQueen als ›Voyeuer und Provokateur‹ ab.

Aimée Mullins hingegen trug die bizarre Schau einen Supermodelstatus ein: Mit dem Untertitel Ich bin eine ganz normale Frau präsentierte die Titelseite des ZEIT-Magazins vom 5. November 1998 eine Fotografie von ihr, aufgenommen vom Londoner Fotografen Nick Knight, der sich mit einigen der hier gezeigten Aufnahmen an einer Ausstellung mit dem Titel Bilder die noch fehlten beteiligte, die u.a. im Deutschen Hygienemuseum in Dresden zu besichtigen waren. ›Natürlich werden einige das hier als Freak-Show empfinden. Das lässt sich nicht vermeiden‹, kommentiert der bereits erwähnte ›Mann ohne Unterleib‹, der Tänzer und Choreograph David Toole. Die ZEIT zweifelt am dauerhaften Erfolg dieses Programms: ›Doch wenn London weiterhin der Nabel der Fashionwelt sein will, reicht es nicht, sich zweimal im Jahr von McQueen, der für seine Show am Sonntag beinamputierte Models engagiert hatte, und einer Handvoll halbetablierter Zöglinge schocken zu lassen.‹





Abbildungen 6, 7 und 8

Alison Lapper, David O’Toole und Aimée Mullins, fotografiert von Nick Knight, in: Zeitmagazin, 5. Februar 1998.



Abbildung 9

Speziell bei der Fotografie David O’Tooles finden sich Verweise auf die Posen Johnny Ecks, jenes Mannes ohne Unterleib, der auch im berühmten Film Freaks von Tod Browning spielte.


Joel Peter Witkin: Vom Dokument zur Theatralen Performance

Die amerikanische Wissenschaftlerin Ann Millet beschreibt Joel-Peter Witkins Arbeiten als

»corporeal tableau-vivants that showcase body difference, taboo, and abnormality. […] [He] dissects and sutures together multiple visual genres, such as art history, popular culture, pornography, theatre, medical exhibits and photography, and freak show displays. He targets the visual conventions with which these genres display the body and, specifically, how they produce the disabled or ›abnormal‹ body as spectacle.« (MILLET 2008: 1)

Freilich wurde diese Verflechtung verschiedener visueller Dispositive von der Kunstgeschichte bis zur Freakshow häufig mit dem Vorwurf belegt, Witkin betreibe nichts anderes als eine provokative Zur-Schau-Stellung anormaler Körper nach dem Vorbild der medizinischen Fotografien des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich ist Witkin stark beeinflusst von der fotografischen Sammlung des Ophtalmologen Stanley B. Burns (BURNS 1979a, b, c, d, 1980, 1983, 1986). Die Überkreuzung fotografischer und medizinischer Themen im Hinblick auf Objektivität des Bildes und Objektivierung der Modelle ruft ebenso großes Interesse bei ihm hervor wie die ästhetische Konstruktion der Bilder von Krankheit und Tod, von Dissektionen, von allgemeiner chirurgische Praxis und anatomischen Anomalien, dem, was man noch im Mittelalter als lusus naturae, in der Renaissance als menschliche Kuriositäten und noch heute als Freaks bezeichnet: So wirft man ihm vor, die Behinderung der zu Schauobjekten degradierten Menschen als gesellschaftliches Spektakel, als bizarre Unterhaltungsshow zu inszenieren, die der Schaulust sanktionsfreien Lauf lässt. Nun ist kaum von der Hand zu weisen, dass die flagrante Andersheit der auf vielfältige Weise ins Bild gesetzten Körper den Blick anzieht und ja, Witkin produziert den anderen Körper als Spektakel. Gleichwohl eröffnet die an der von einer monströsen Vielfalt begeisterten Renaissance geschulte Inszenierung mit ihren zahlreichen Zitaten der verschiedensten Vorbilder einen Raum für Reflexion.

Im Gegensatz zur gängigen Praxis in der medizinischen Fotografie feiert Witkin die Abweichung von der Norm, anstelle eines neutralen Hintergrundes kombiniert er eine Vielzahl von Inszenierungsstrategien, die aufgrund der persönlichen Spuren (des Fotografen, nicht des Objekts) keine Abstraktion oder Vergleichbarkeit zulassen. Diese Manipulationen machen die Unterschiede und gleichzeitig Konventionen medizinischer Bildproduktion augenscheinlich: Witkin unterläuft die Konstruktion von Autorität in der medizinischen Bildproduktion, macht ihre niemals unschuldige Inszeniertheit und die ihr inhärenten Widersprüche in seinem strategische Konzept einer symbolischen Spektakularisierung der sog. anormalen Körper sichtbar. In ironischer Zitation verschiedener Dispositive aus Freakshow, Theater, Jahrmarkt oder Kunst stellt er das Andere nicht einfach aus, sondern lässt – wie die folgenden Bilder zeigen mögen – die Andersheit in ihrer »biological realness« (RUSSO 2000: 93) performieren. Diese Akzentverschiebung von passivem Objekt zu aktivem Subjekt sowie die in der unabgeschlossenen Signifikation negierte Finalität der Bedeutung erscheinen wesentlich in den Arbeiten Witkins.



Abbildung 10

Joel-Peter Witkin, Humor and Fear, New Mexico, 1999 (http://www.edelmangallery.com/archive7.htm, Zugriff 17.11.08)


Joel-Peter Witkins Arbeit Humor and Fear aus dem Jahr 1999 verweist bereits im Titel auf eine ambivalente Konzeption, der eine ebenso zwiespältige Rezeption antwortet. Trotz der Fülle visueller Details, verschiedener Requisiten sowie der erotisch-provozierenden Körperhaltung wird der Blick des Betrachters von den Beeinträchtigungen des Modells angezogen: Die Beinstümpfe und die deformierten Hände werden objektiviert oder, so kritisiert Rosemarie Garland-Thomson [vgl. GARLAND-THOMPSON 2001], nach dem Modell der medizinischen Fotografie fetischisiert. Dabei gehe die vielfältige Persönlichkeit der Abgebildeten verloren, und die Behinderung werde zum gesellschaftlichen Ereignis. Das Buch, in dem das Bild publiziert wurde, gehorche – so Garland-Thomson weiter – auch in dem Aspekt seinem medizinischen Vorbild, als den verschiedenen Aufnahmen Berichte und Diagnosen hinzugefügt werden. Die Kombination von Text und Bild entspricht nun nicht nur der medizinischen Praxis, auch die Freakshowbetreiber gaben ihren Exponaten sogenannte (freilich zumeist erfundene) True-Life-Booklets an die Hand, die die Neugierde des Betrachters bezüglich der Herkunft, der medizinischen Diagnose etc. befriedigen sollen. Bei Witkin erfährt man auf diese Weise, dass die junge Frau ihre Beine aufgrund eines toxischen Schocksyndroms, verursacht durch einen Tampon, verlor (PARRY 2001: 115). Das wissenschaftliche Rendering in fotografischer Detailtreue macht aus der jungen Frau (respektive ihrem Bild) ein medizinisches Fallbeispiel, das einem diagnostischen Blick ausgesetzt wird – so die Aussage der medizinischen Inszenierungsstrategie. Und doch, trotz oder vielleicht aufgrund der direkten Zitate und Verweisungen, verweigern Witkins Bilder die Zustimmung zur oben beschriebenen Inszenierung: So schaut die junge Frau zur Seite, sie erwidert den Blick des Betrachters nicht, was den medizinisch-fotografischen Konventionen widerspricht, im Rahmen derer der Patient entweder direkt in die Kamera blickt oder aber durch eine Binde vor den Augen anonymisiert wird: Doch während die Verhüllung des Gesichtes in den medizinischen Fotografien weniger den Dargestellten, denn dem Betrachter nutzt, der dem Blick des Exponates nicht standhalten muss, mag der nur leicht zur Seite gewendete Blick der Amputierten entweder auf die Scham des Models oder aber das voyeuristische Dispositiv der Komposition, mithin auf die Strategien ihrer eigenen visuellen Inszenierung zu deuten.



Abbildung 11

Joel-Peter Witkin, Man without legs, 1976 (http://oseculoprodigioso.blogspot.com/2007_05_01_archive.html, Zugriff 17.11.08)


Das folgende Bild mit dem Titel Man without legs, Leo (1976) stammt aus der Serie Evidences of Anonymous Atrocities: Es zeigt einen in einer Art Käfig sitzenden Mann ohne Beine, dessen unscharf abgebildeter Kopf an eine schwarzen Ledermaske erinnert, während die Haltegurte Bondage-Gurten ähneln. Ähnlich zahlreichen Exponaten aus Freakshows bzw. den dort zu erstehenden Fotografien derselben wird der Körper nicht als menschlicher, sondern als animalischer dargestellt, Leo erscheint in der Rolle des wilden Tiers. Diese Inszenierung hat ihre Wurzeln in der Freakshow, und reicht von den Beispielen des missing link über die Wilden aus Borneo, die Aztekenkinder oder Sara Baartmann, die schöne wilde Hottentott Venus. Durch den Schatten bzw. aufgrund verschiedener Manipulationen (Bleichen, Sepiafärbung, Scratchen etc.) durch Witkin selbst erscheint Leos Haut dunkler, als sie ist, was rassistische Assoziationen unterstützt. Und tatsächlich kann man nun mit Ann Millet fragen, ob diese durchaus problematische Ästhetisierung von ›disability‹ als marginalisierte Identität die Inszenierung des ›disabled body‹ nicht doch (erneut) als ›the freakish other‹ reinstauriert? Vielleicht, in dem 1994 von Jérôme de Missolz gedrehten Film L’image indélébile über die Arbeit Joel-Peter Witkins aber zeigt Leo sich für die Bezahlung dankbar, die ihm zwei Wochen U-Bahn-Betteln ersparen konnte.



Abbildung 12

Joel-Peter Witkin, Abundance, 1997 (http://www.edelmangallery.com/witkin2.ht, Zugriff 17.11.08)


Ein weiteres Beispiel mit dem Titel Abundance (1997) zeigt eine Torso-Frau aus Prag, die – so die Information im Buch – von ihrer Mutter verlassen wurde und zusammen mit einem großen Hund in einem Appartement lebt. Die Konzeption des Bildes mit den Requisiten der Ateilierfotografie deplatziert die Amputierte aus ihrem alltäglichen Sozialleben, im Rahmen dessen sie als behindert, als deformiert gilt und lässt sie auf einer Bühne performieren. Wenn diese Performanz auch durch die Immobilisierung auf einer Art Klavierstuhl eingeschränkt erscheint, so übertrifft die multireferentielle Darstellung (ornamentaler Charakter des Körpers, Allegorie des Überflusses und der Fruchtbarkeit, Erotisierung) die physische Unbeweglichkeit:

»Fused with the urn, she is posed as a spectacular, hybridized body showcased in a hybridized photograph – one that fuses and confuses the bodily displays of science and art.« (MILLETT 2008: 27)

Im Kontext dieser Hybridisierung fällt eine strukturelle und inhaltliche Nähe des fotografischen Dispositivs zur bürgerlichen Atelierfotografie, wie wir sie auch in zahlreichen medizinischen Fotografien wiederfinden: Beide Genres visieren das gleiche Ziel, ihrem Objekt nicht nur ähnlich, sondern gleich zu werden. Mediologisch verdoppelt die medizinische Fotografie bürgerlich kanonische (Ins-Bild-)Setzungen, und es scheint gerade so, als ob die fotografische Darstellung der heilen Welt unausweichlich das diese ›positive‹ Repräsentation sogleich in Frage stellende ›Negativ‹ hervorbringt. Parallel zum Bild des hoffnungsfrohen Bürgerlichen fixiert die medizinische Fotografie dessen ›monströses‹ Pendant, um es in der psychiatrischen Anstalt, dem Krankenhaus, im Gefängnis oder dem Familienalbum ab- bzw. stillzustellen. Die Suche nach verborgenen Zeichen, deren Sichtbarmachung die Monstren endgültig der Ordnung der Normalen überantworten könnten, bestimmen die kulturellen Inszenierungsmodi in gleichem Maße wie die Pose im Stil bürgerlicher Atelierästhetik dem Bild des menschlichen Subjektes verpflichtet bleibt – so auch im Falle der folgenden Aufnahme Frieda Pushkins, die ebenfalls auf einer Art Klavierstuhl trohnt:



Abbildung 13

Frieda Pushkin: The Armless Wonder. Aus: Ari M. Roussimoff, Freaks Uncensored, Bohemia Productions (100 Minutes, Color & Black and White) 1998.


Vor dem Hintergrund der medizinischen Fotografie, die das Andere im Bild arretieren soll, und der Freakfotografie, die sich der medizinischen Fotografie bemächtigt, um ihrem primär unterhaltungsindustriell-wirtschaftlichen Interesse szientifische Authentizität zu verleihen, erscheinen die von Joel-Peter Witkin’schen Aufnahmen als Rückkehr und gleichzeitig Reflexion des verdrängten Anderen. Gleichzeitig aber – und dies wird in der Hybridisierung unterschiedlicher visueller Strategien und historischer Dispositive markiert – sprengen seine Fotografien die im Bild selbst vielfach gesetzten Rahmen hinaus, verweigern eine finale Semantik und verbleiben in monströser Undeutbarkeit.

Marc Quinn: Antike Skulpturen

Abschließend noch eine ähnliche, allerdings nicht fotografische, sondern skulpturale Visualisierung des anderen Körpers, wie sie sich in der Serie The Complete Marbles (1999-2001) des englischen Künstlers Marc Quinn findet. In weißen, glatten und klassisch schönen Marmorskulpturen der Malerin Alison Lapper, des Punkrockers Mat Fraser oder des Schwimmers Peter Hull subvertiert Quinn die neoklassizistische Perfektion des Ideals eines vollständigen, unversehrten und klassisch schönen Körpers. Während dort das Ideal reproduziert wird, zeigen sich hier – und dies unterscheidet Quinn z.B. von Witkin – Bilder spezifischer Individuen, die nicht unter einem wie auch immer gearteten Ideal subsumierbar sind. Diese Körper überschreiten die Regeln der visuellen Kultur, indem sie unterschiedliche Strategien hybridisieren, wie Quinn dies mit seiner marmornen Inszenierung des Schönheitsideals antiker Skulpturen mit ›anderen‹ Körpern vorführt. Der Überfluss an Bedeutung schafft eine Gegenästhetik, die jenseits der Grenzen von normal/anormal anzusiedeln ist.




Abbildungen 14 und 15

Marc Quinn: Peter Hull: Abb. 14 (http://www.groningermuseum.nl/index.php?id=3253, Zugriff 17.11.08)

Alison Lapper: Abb. 15 (http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2004/mar/17/art.fashion, Zugriff 17.11.08)


Conclusio: Zur Unberechenbarkeit des Monströsen

Spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fungiert die Fotografie als privilegiertes Medium der Differenzierung zwischen Normalität und Anormalität. Als wissenschaftliches Instrument, das für Akkuratheit und Präzision steht, bietet sie den stillgestellten Körper dem medizinischen und dem öffentlichem Blick an, der sich mit Hilfe der Bilder der/des Anderen ihrer eigenen (körperlichen und moralischen) Normalität versichern. In diesem Sinne setzen die homogenen Konstellationen den devianten Einzelfall dem berechenbaren, disziplinierten Kollektiv gegenüber. Normalität wird zur entkörperlichten Abstraktion, die im krassen Gegensatz zum im höchsten Maße konkreten, körperlichen, sich der sinnlichen Wahrnehmung in spektakulärer Weise darbietenden anormalen Körper gedacht wird.

Die Exponierung des anderen Körpers in einer Komposition verschiedenster visueller Kulturen und Gattungen ruft freilich die Frage nach Normierung bzw. Anormalisierung oder kurz: nach dem Normalitätsdispositiv auf den Plan, vor dessen Hintergrund diese Bilder ihre eigenartige Ambivalenz entfalten. Lennard J. Davis wie auch Georges Canguilhem, die sich beide aus historischer Perspektive mit dem Phänomen der Normalität auseinandergesetzt haben, begreifen Normalität als kulturelles, soziales Konstrukt, das Homogenität bevorzugt und physische Abweichung stigmatisiert. Der ›Vorteil‹ dieser einheitlichen und Einheit stiftenden Konstellationen liegt dabei – so unsere Vermutung – in ihrer mathematisch-statistischen Berechenbarkeit und Verdatung sowie der daraus resultierenden Reproduktionsmöglichkeit. In ihrer Konkretheit und Unkalkulierbarkeit lassen sich jedoch die hier aufgezeigten Bilder körperlicher Andersheit kaum in mathematische Raster einordnen ...


Literatur

  • BAER, ULRICH: Photography and Hysteria: Toward a Poetics of the Flash. In: Yale Journal of Criticism,1, 1994, S. 41-77
  • BURNS, STANLEY B.: Early Medical Photography, II. In: New York State Journal of Medicine, 6, 1979a, S. 943-947
  • BURNS, STANLEY B.: Early Medical Photogaphy in America (1839–1883). In: New York State Journal of Medicine, 5, 1979b, S. 788-795
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