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Bildnerisches Denken


Autor: Goda Plaum
[erschienen in: IMAGE 11 (Ausgabe Januar 2010)]

Schlagwörter: Bildnerisches Denken, Gestaltungslehre, Bauhaus, HfG Ulm

Disziplinen: Philosophie, Bildwissenschaft, Kunstpädagogik


Sowohl in der semiotisch orientierten, wie auch in der phänomenologisch ausgerichteten Bildwissenschaft ist man sich einig darüber, dass bei der Rezeption und Produktion von Bildern bestimmte Denkprozesse ablaufen, die es zu untersuchen gilt. Die meisten Untersuchungen beider Richtungen behandeln hierbei allerdings ausschließlich oder schwerpunktmäßig die Seite der Rezeption von Bildern. Der vorliegende Artikel geht davon aus, dass die spezifischen Charakteristika dieses Denkens wesentlich deutlicher bei der Produktion von Bildern in Erscheinung treten als bei der Rezeption. Dies liegt daran, dass der Bildproduzent während seines Schaffensprozesses nicht nur in den meisten Fällen die spätere Rezeption des Bildes mitberücksichtig, sondern selbst auch immer gleichzeitig Rezipient ist. Wie der Weg über die Analyse der Produktion von Bildern zur Charakterisierung dieses »bildnerischen Denkens« führen kann, soll hier demonstriert werden.

Semiotic as well as phenomenological image science agrees insofar that in the perception and the production of pictures, specific thinking processes take place, which needs to be explored. Most investigations of both approaches only concern or attach importance to the perception of images. This article starts from the premise, that the characteristics of this thinking become more evident at focussing on the production of pictures. This is caused by the doublerole of the producer, who is at the same time perceiving and reflecting the later perception of his own picture during its process of creation. The task of this article is to show how analyzing the process of producing pictures can lead to a characterisation of »bildnerisches Denken«

1. Einleitung

Sowohl in der semiotisch orientierten, wie auch in der phänomenologisch ausgerichteten Bildwissenschaft ist man sich einig darüber, dass bei der Rezeption und Produktion von Bildern Denkprozesse ablaufen, die es zu untersuchen gilt. Uneinigkeit herrscht lediglich in der Frage, ob diese Denkprozesse mit einem zeichentheoretischen Vokabular und analog zur Sprachrezeption fassbar sind oder nicht. Die meisten Untersuchungen beider Richtungen behandeln hierbei allerdings ausschließlich die Seite der Rezeption. Nur bei einigen phänomenologisch orientierten Autoren findet man eine stärkere Berücksichtigung der Bildproduktion, so z.B. bei Gernot Böhme. Für ihn besteht die Tätigkeit eines Künstlers im Herstellen von »Atmosphären«. Kunst ermöglicht eine ästhetische Erkenntnis, die wesentlich von der wissenschaftlichen Erkenntnis zu unterscheiden ist (vgl. BÖHME 1995: 10). In Bezug auf die Bildrezeption unterscheidet er zwischen zwei Wahrnehmungsweisen, dem »Spüren von Atmosphären« und dem »Deuten von Zeichen« (vgl. BÖHME 1999: v. a. 28 und 101–103). Schon bei Maurice Merleau-Ponty findet man den Gedanken, dass die Kunst über ein eigenes von der Wissenschaft zu unterscheidendes Potential verfügt. Er spricht von einer besonderen Art des Sehens bzw. von einer »magischen Theorie des Sehens«, die der Maler praktiziert, während er malt (vgl. MERLEAU-PONTY 2003: 19). Auch John Dewey geht davon aus, dass beim Maler während des Malprozesses eine besondere Art des Denkens aktiv ist: »The artist does his thinking in the very qualitative media he works in, and the terms lie so close to the object that he is producing that they merge directly into it.« (DEWEY 1980: 16). Mit seinem Buch Visual Thinking liefert auch der Psychologe Rudolf Arnheim einen Beitrag, der die ›denkerischen‹ Prozesse der Bildproduktion untersucht (ARNHEIM 1969). Gemeinsam ist allen diesen Autoren, dass sie von einer speziellen Denkart ausgehen, die sich wesentlich von der wissenschaftlichen Art zu denken unterscheidet.

Der vorliegende Artikel geht davon aus, dass die spezifischen Charakteristika dieses Denkens wesentlich deutlicher bei der Produktion von Bildern in Erscheinung treten als bei der Rezeption. Dies liegt daran, dass der Bildproduzent während seines Schaffensprozesses nicht nur in den meisten Fällen die spätere Rezeption des Bildes mit berücksichtigt, sondern selbst auch immer gleichzeitig Rezipient ist. Daher muss eine Beschreibung dieser Denkart von einer Untersuchung der Bildproduktion ausgehen. Dementsprechend soll dieses Denken ›bildnerisch‹ genannt werden. Allerdings gestaltet sich dieser Zugang zu diesen Denkprozessen weitaus schwieriger als über die Rezeption von Bildern, weil jeder Mensch – zumal jeder Bildwissenschaftler – in seinem Leben zwar eine Vielzahl von Bildern betrachtet hat, aber nicht unbedingt produziert. Allgemein zugänglich werden die ›denkerischen‹ Prozesse der Bildproduktion erst durch ihre nachträgliche Reflexion des Produzenten, z.B. mit dem Ziel, andere in der Produktion von Bildern anzuleiten oder auszubilden. Für die Analyse des ›bildnerischen‹ Denkens und seiner Ausprägung im Prozess der Bildproduktion werden daher Aufzeichnungen und praktische Aufgabenstellungen von Gestaltungslehrern als Ausgangsmaterial hinzugezogen. Im Folgenden werden alle Lehrer des bildnerischen Gestaltens ›Gestaltungslehrer‹ genannt, unabhängig davon, ob es sich um Künstler oder Grafiker und ob es sich um eine künstlerische oder angewandte Ausbildung handelt. Dementsprechend werden alle bildnerischen Produkte ›Bilder‹ genannt, sowohl alle Werke der bildenden Kunst als auch der angewandten Gestaltung.

Ziel der Untersuchung dieser Lehren ist die Beantwortung von zwei Fragen, die wesentlich zur Charakterisierung des bildnerischen Denkens beitragen:

1. Was sind die spezifischen Probleme des bildnerischen Denkens?

2. Welche Rolle spielen die Lehrinhalte bei der Lösung dieser Probleme?

Die Antwort auf die erste Frage führt zu einem Katalog der bildnerischen Probleme, der in verschiedene Problemkategorien eingeteilt werden kann. Den Kategorien entsprechen die verschiedenen Funktionen des bildnerischen Denkens, die die jeweiligen Probleme lösen. Über die Problemkategorien erhält man also einen Katalog der Funktionen des bildnerischen Denkens und damit eine Charakterisierung desselben. Bei der zweiten Frage geht es um die Art und Weise, wie die Lehrinhalte bei der Lösung der bildnerischen Probleme helfen sollen, und nicht etwa um einen konkreten Vergleich der verschiedenen Gestaltungslehren. Fasst man die theoretischen Inhalte der Gestaltungslehren als Werkzeug zur Problemlösung auf, dann soll die Frage beantwortet werden, um welche Art von Werkzeug es sich handelt sowie wann und wie es angewendet wird. Denn in den verschiedenen Gestaltungslehren findet man immer wieder den Hinweis darauf, dass eine gute Lösung auch verlangen kann, die vorgestellte Lehre zu ignorieren bzw, – um im Bild zu bleiben – gar kein Werkzeug zu verwenden oder ein neues zu erfinden. Für die Charakterisierung des bildnerischen Denkens ist es daher genauso wesentlich, die Grenzen des Werkzeuges, d.h. die Grenzen des Lehrbaren im Bereich des bildnerischen Denkens zu untersuchen. Für den empirischen Aspekt dieser Untersuchung muss also nicht vorausgesetzt werden, dass die konkreten Lösungswege der Gestaltungslehrer überzeugend oder gut sind. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass zumindest ein Teil der bildnerischen Probleme oder Fragen, die im Unterricht behandelt wurden oder werden, sinnvoll sind, und zwar besonders dann, wenn dieselben Fragen auch an anderen Schulen gestellt wurden oder werden.

Im Folgenden soll zunächst geklärt werden, in welchem Sinne von ›bildnerischem Denken‹ gesprochen werden kann (2. Bildnerisches Denken). Anschließend werden unter den Stichworten ›Zusammensetzen‹ und ›Übersetzen‹ zwei wesentliche Funktionen des ›bildnerischen Denkens‹ anhand von Aufzeichnungen und Aufgabenstellungen aus dem Bauhaus und der Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) exemplarisch dargelegt (3. Zusammensetzen, 4. Übersetzen). Zuletzt wird untersucht, wo die verschiedenen Gestaltungslehrer an die Grenzen des Lehrbaren stoßen (5. Grenzen des Lehrbaren).

2. Bildnerisches Denken

Der Begriff des ›bildnerischen Denkens« taucht in den einschlägigen deutschen Wörterbüchern der Philosophie nicht auf. Auch die Begriffe ›anschauliches«, ›visuelles« oder ›analoges« Denken werden in diesen Nachschlagewerken nicht behandelt. Ein englisches Äquivalent für den Begriff ›bildnerisch« gibt es nicht. In den englischen Nachschlagewerken findet man zu den möglichen Übersetzungen »Visual Thinking« (ARNHEIM 1969) oder »The thinking eye« (KLEE 1964) keine einschlägigen Einträge, genauso wenig wie zu den Übersetzungsversuchen »aesthetic/ analogue/ analogous/ artistic/ iconic/ imaginal/ pictorial« »thinking/ reason/ mind/ thought«.

Dabei reflektiert John Dewey bereits 1934 in seinem Buch Art as Experience explizit das Fehlen eines solchen Begriffes im Englischen: »We have no word in the English language that unambiguously includes what is signified by the two words ›artistic‹ and ›esthetic‹. Since ›artistic‹ refers primarily to the act of production and ›esthetic‹ to that of perception and enjoyment, the absence of a term designating the two processes taken together is unfortunate.« (DEWEY 1980: 46).

Die Kunstpädagogik hingegen hat hierfür den Begriff des »bildnerischen Denkens« geprägt (PFENNIG 1974). Deweys Umschreibung trifft exakt den Sinn dessen, was mit »bildnerischem Denken« gemeint ist: Es ist das Denken, das während des Prozesses des bildnerischen Gestaltens und während der Rezeption der Ergebnisse dieses Prozesses aktiv ist.

Nicht jede Frage, die im Rahmen eines Gestaltungsunterrichtes gestellt wurde, ist für das bildnerische Denken relevant. Daher muss das, was unter den Funktionen des bildnerischen Denkens verstanden werden soll, genauer bestimmt werden und vor allem gegen andere Inhalte der bildnerischen Lehre abgegrenzt werden. Von den Lehrinhalten, die die Funktionen des bildnerischen Denkens betreffen, sind zunächst die grundlegenden Bildelemente (Punkt und Linie) sowie deren verschiedene Verwendungsweisen (als Umriss, als Schraffur, als Raster, usw.) zu unterscheiden. Übungen zum Umgang mit diesen Gestaltungsmitteln sind häufig fester Bestandteil von bildnerischem Unterricht. Allerdings geht es hier weniger um eine denkerische Leistung, sondern darum, das Material des Gestaltens kennenzulernen und eventuell die Handfertigkeit zu schulen. Weiterhin besteht ein großer Teil der Farbenlehre aus physiologisch oder physikalisch begründeten Wahrnehmungsgesetzen, die ebenfalls nicht zum bildnerischen Denken, wohl aber zu einer bildnerischen Gestaltungslehre gehören. Auch die Regeln der Perspektive sollen zu diesem grundlegenden Material gezählt werden, auch wenn sie natürlich eine denkerische Leistung verlangen. Aber hier handelt es sich um Regeln der darstellenden Geometrie, nicht des bildnerischen Denkens. Zwei zentrale Funktionen dieses Denkens sollen im folgenden exemplarisch erläutert werden: Das Zusammensetzen und das Übersetzen.

3. Zusammensetzen

Jeder bildnerische Produktionsprozess beinhaltet das Problem des Zusammensetzens bzw. der ›Komposition‹: Wie erreiche ich eine gute bzw. qualitätsvolle Zusammensetzung der einzelnen Gestaltungsmittel oder -elemente? Was hier im Einzelnen als ›gut‹ oder ›qualitätsvoll‹ verstanden wird, ist natürlich sehr verschieden. Dementsprechend fallen auch die Antworten auf diese Frage recht unterschiedlich aus. Gemeinsam ist ihnen aber die Suche nach einer Art Regel, mit deren Hilfe das Problem des Zusammensetzens leichter zu lösen ist. Sowohl am Bauhaus als auch an der HfG Ulm war das Thema Komposition zentraler Bestandteil der Lehre.

3.1 Bauhaus

Wassily Kandinsky hat in seiner Schrift Punkt und Linie zu Fläche, in der er einen Teil seiner Bauhaus-Lehre veröffentlichte, verschiedene Kompositionsprinzipien ausführlich behandelt. Er hat für seine Studenten mehrere Regeln aufgestellt, nach denen bestimmte Zusammensetzungen der Bildelemente harmonisch und andere dagegen dishamonisch wirken. Eine dieser Regeln behandelt die Charakterisierung der verschiedenen Richtungen in einem Bild. Dabei geht er von einer Analyse der Wirkung aus, die verschiedene Bildteile allein aufgrund ihrer Position im Bild auf uns haben. Kandinsky drückt diese Unterschiede mit dem Begriff des »Gewichtes« aus. Verschiedene Bildteile haben unterschiedliches Gewicht. Er teilt die Bildfläche in vier Quadranten ein und beschreibt eine Zunahme des »Gewichtes« von links oben nach rechts unten (Abb. 1). (vgl. KANDINSKY 1955: 142 ff.)



Abb. 1: Wassily Kandinsky: Gewichtsverteilung. (KANDINSKY 1955: 145), (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2010


Diese Verteilung trifft prinzipiell auf alle rechteckigen Bildformate zu. Aus ihr leitet Kandinsky eine Charakteristik der beiden Diagonalen ab: Die Diagonale von links unten nach rechts oben (und umgekehrt) bezeichnet er als »harmonisch« bzw. »lyrisch«, da sie zwei Flächenbereiche miteinander verbindet, die gleichgewichtig sind. Die Diagonale von links oben nach rechts unten (und umgekehrt) hingegen nennt er »disharmonisch« oder »dramatisch«, da sie zwei Flächenbereiche miteinander verbindet, die gegensätzliches Gewicht haben. (vgl. KANDINSKY 1955: 145)

Ein weiteres Beispiel für eine Kompositionsregel aus dem Unterricht von Kandinsky bezieht sich auf das Verhältnis von Farbe und Form. Ähnlich wie er von einer Entsprechung der Grundformen mit den Grundfarben (Kreis – Rot, Quadrat – Blau, Dreieck – Gelb) ausgeht, stellt er auch eine Übereinstimmung zwischen Farben und Winkeln her (Abb. 2).



Abb. 2: Friedly Kessinger-Petitpierre: die winkel in beziehung zur farbe. (POLING 1982: 78)


Eine Komposition, in der ein Winkel (oder auch die entsprechende Kurve) mit der ihm zugehörigen Farbe zusammengebracht wird, ist harmonisch. Werden hingegen Winkel und Kurven mit Farben kombiniert, die ihnen nicht entsprechen (z.B. ein flacher Winkel, der gelb gefärbt ist), dann handelt es sich um eine dissonante oder dramatische, dynamische Komposition.

Eine Arbeit aus Kandinskys Unterricht, bei der man sehr deutlich die Ableitung einer Komposition von einem Stillleben unter Berücksichtigung dieser Kompositionsregeln beobachten kann, ist von Charlotte Voepel-Neujahr erhalten (Abb. 3).



Abb. 3: Charlotte Voepel-Neujahr: Analytische Zeichnung und Farbkomposition nach analytischer Zeichnung. (FIEDLER 1999: 386)


In der linken Zeichnung kann man noch ansatzweise erkennen, dass es sich um die Zeichnung einer Anordnung von Gegenständen handelt, auch wenn die Gegenstände im einzelnen nicht mehr eindeutig zu erkennen sind. Bei dem rechten Bild handelt es sich um eine freie Interpretation der linken Zeichnung. Sie ist aus den drei Grundfarben (Rot, Gelb, Blau) sowie verschiedenen dreieckigen und rundlichen Formen aufgebaut. Die meist spitzen Winkel sind eher gelblich oder rötlich gefärbt, die runden offeneren Formen eher bläulich. Nach Kandinsky dürfte es sich hier daher tendenziell um eine harmonische Komposition handeln.

Mit seiner Klassifizierung von Kompositionen als »harmonisch« oder »disharmonisch« verbindet Kandinsky allerdings keineswegs eine Wertung und damit eine normative Vorstellung von Bildern. Beide Charaktere haben für ihn ihre Berechtigung. In seinen Erklärungen hierzu verwendet er den Begriff »Harmonie« implizit mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen. Einmal gebraucht er diesen Begriff im eher üblichen Sinne und bezeichnet damit (in Bezug auf Bilder) eine für den Betrachter angenehme Ausgeglichenheit der verschiedenen Bildelemente. In einem etwas anderen Sinne meint er die Übereinstimmung zwischen dem Charakter eines Bildes und seinem aktuellen kulturellen Umfeld. Ein Bild ist in diesem zweiten Sinne harmonisch, wenn es zu seiner Zeit passt. Eine Disharmonie im ersten Sinne kann so zu einer Harmonie im zweiten Sinne werden. Dies meint Kandinsky, wenn er schreibt: »Ja, die Harmonie! Eine komplizierte Angelegenheit, an die man sich verlieren kann. Das Gegenteil der Harmonie ist die Disharmonie. Und im Laufe der ganzen Geschichte der Malerei wird die Disharmonie von gestern zur Harmonie von morgen.« (KANDINSKY 1973b: 239). Worin für Kandinsky die Harmonie seiner Zeit (d.h. die Harmonie im zweiten Sinne) besteht, beschreibt er wie folgt: »das verlorene Gleichgewicht, fallende ›Prinzipien‹, [...] scheinbar zielloses Streben, [...] Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie.« (KANDINSKY 2004: 113)

Nur hinter dieser »zweiten« Harmonie verbirgt sich eine bestimmte Auffassung davon, was oder wie Kunst sein soll und damit ein normativer Anspruch. Doch »Harmonie« in diesem zweiten Sinne ist nicht Gegenstand des Unterrichts bei Kandinsky. Die »Harmonieregeln«, die Kandinsky seinen Studenten an die Hand gibt, sollen ihnen unabhängig von normativen Vorstellungen über Kunst beim Zusammensetzen ihrer Bilder helfen.

3.2 HfG Ulm

Die HfG ist dafür bekannt, dass in dieser Institution versucht wurde, den Prozess der Gestaltung so weit wie möglich zu verwissenschaftlichen. Das Ausbildungsziel war die angewandte Gestaltung (z.B. Produktdesign), der Anspruch, Kunst zu produzieren, wurde bisweilen sogar als rückständig und elitär verstanden und daher abgelehnt (vgl. AICHER 1975: 12 ff. und AICHER 1991: 162). Im Rahmen des Gestaltungsunterrichtes wurden den Schülern z.T. konkrete Kompositionsregeln beigebracht. Manche Kompositionsprinzipien wurden dagegen nur durch praktische Aufgabenstellungen behandelt. Tomás Maldonado war einer der einflussreichsten Lehrer der HfG Ulm. Seit 1954 unterrichtete er im Rahmen der Grundlehre das Fach »Visuelle Methodik« (auch »Visuelle Einführung« genannt). Zentraler Inhalt dieses Unterrichtes war die Symmetrielehre. Hier wurden über mehrere Stunden hinweg die verschiedenen Arten der Symmetrie sowie ihre Kombinationsmöglichkeiten behandelt. Auch praktische Aufgabenstellungen wurden zu diesem Thema gestellt. Den erhaltenen Unterrichtsmitschriften ist zwar nicht zu entnehmen, warum die Symmetrie so ausführlich besprochen wurde, doch das Lehrbuch, das Maldonado hier weitgehend als Grundlage verwendet hat, gibt darüber Auskunft. Der Titelanfang des 1956 erstmals erschienenen Buches lautet: »Symmetrie – Versuch einer Anweisung zu gestalthaftem Sehen und sinnvollem Gestalten« (WOLF/WOLFF 1956). Ihr Ziel erklären die beiden Autoren im ersten Kapitel »Das objektiv Schöne oder Freiheit und Notwendigkeit«: »Die notwendigen Grundlagen aufzudecken des objektiv Schönen in Natur und Kunst [...][ist] der Sinn der folgenden Betrachtungen; würdige Subjekte zu bilden zu seinem Verständnis und seiner Darstellung ihr Ziel. [...] Das Schöne wird von allem, was zu Recht Mensch heißt, unmittelbar empfunden. Es wird aber um so entschiedener aufgenommen und um so vollkommener dargestellt, je tiefer seine Grundlagen durchdacht sind. Deshalb muß [sic] jedes Urteilen und Schaffen in Kunst und Wissenschaft mit dem Studium des Schönen beginnen. […][Die] Notwendigkeit im Schönen beruht auf der Zahl und Zahlenverhältnissen und damit auf einem hintergründigen und weitreichenden Phänomen des Mathematischen, der Symmetrie« (WOLF/WOLFF 1956: 1). Die Beschäftigung mit Symmetrie wird also damit gerechtfertigt, dass sie notwendige Bedingung von Schönheit ist. Nach der Theorie der Autoren besteht die Erfahrung von Schönheit im Erfassen einer Ordnung. Diese Ordnung entsteht aus den Übereinstimmungen und Unterschieden verschiedener Formen. Das System dieser Ordnung ist die Symmetrie, durch die die Abwandlung einer Form unter Beibehaltung bestimmter Eigenschaften mathematisch beschrieben werden kann.

Der theoretische Unterricht wurde von praktischen Übungen begleitet, bei denen die behandelten Prinzipien der Symmetrie umgesetzt werden sollten (Abb. 4a/b). Bei beiden praktischen Arbeiten wurden eine oder mehrere Dreiecksformen immer wieder in Größe, Farbe und Orientierung variiert und miteinander kombiniert. Dadurch entsteht ein relativ geschlossener Eindruck der gesamten Komposition. Das Thema Symmetrie wurde im Rahmen der visuellen Einführung als Kompositionsprinzip eingeführt, das zu einem im allgemeinsten Sinne angenehmen Gesamteindruck einer Gestaltung führen soll. Erreicht wird dieser Gesamteindruck durch eine bestimmte Art der Beziehung der verschiedenen Bildelemente zueinander: durch die Symmetrie.



Abb. 4a (links): Symmetrie, 1956/1957, Dozent: Tomás Maldonado, Student: Klaus Krippendorff, Ulmer Museum/HfG Archiv, Depositum Krippendorff, Dp 18.

Abb. 4b (rechts): Symmetrie,1956, Dozent: Tomás Maldonado, Student: Hans von Klier , Ulmer Museum/HfG Archiv, Depositum von Klier, Dp 17.2.


Bereits aus dem Unterricht von Max Bill ist eine Aufgabenstellung überliefert, die zwar nicht den Titel Symmetrie trägt, aber dennoch den gleichen Prinzipien folgt (Abb. 5a/b). Die Aufgabenstellung lautete: »Eine Reihe von Punkten mit mathematischer zusammen mit einer solchen in farbiger Progression«. Gefordert war also die Anordnung von zwei Punktreihen auf einer quadratischen Fläche, wobei bei den Punkten immer jeweils eine ihrer Eigenschaften variiert wurde während die anderen gleich blieben (z.B. Variation der Größe, Konstanz der Helligkeit und umgekehrt).



Abb. 5a (links): Punktreihen, 1953, Dozent: Max Bill, Student: Klaus Erler, Ulmer Museum/HfG Archiv, Depositum Erler, Dp 9.20.

Abb. 5b (rechts): Punktreihen, 1953/54, Dozent: Max Bill, Student: Christoph Naske, Ulmer Museum/HfG Archiv, Depositum Naske, Dp 24.3.


Genau wie bei den späteren Aufgabenstellungen von Maldonado zur Symmetrie wird hier eine Einheit der Bildkomposition erreicht, indem trotz Variation der Formen eine gewisse Konstanz gewahrt bleibt. Auch bei dieser Aufgabenstellung geht es um die Anwendung von Kompositionsregeln. Ob diese explizit formuliert wurden oder implizit durch die praktische Auseinandersetzung erfahren wurden, ist nicht mehr rekonstruierbar. Aber es ist sehr wahrscheinlich, das nicht alle praktischen Übungen der Einübung explizit formulierter Regeln gedient haben. Es sind auch bei Maldonado Aufgaben zu finden, die anscheinend unabhängig von expliziten Gestaltungsregeln gestellt wurden. Eine solche Aufgabenstellung thematisiert ganz ähnlich wie bei Kandinsky das Verhältnis von Form und Farbe (Abb. 6a/b).



Abb. 6: Unterschiedliches Gleichgewicht einer Figur durch Farben, 1956, Dozent: Tomás Maldonado, Student: Hans von Klier, Ulmer Museum/HfG Archiv, Depositum von Klier, Dp 17.2.


Hier lässt sich erkennen, wie in der Schwarz-Weiß-Version die verschiedenen Formen miteinander korrespondieren und so als zusammengehörend wahrgenommen werden: der Halbkreis links oben korrespondiert mit der Kreisform am rechten Rand. Zwischen den beiden wellenförmigen Linien in der Mitte und rechts unten gibt es ebenfalls eine Übereinstimmung. Die gebogene Linie links unten kann sowohl als ein Teil eines Kreises, als auch als Teil einer Wellenlinie gesehen werden, so dass diese fünfte Form eine Verbindung zwischen den anderen vier herstellt. Durch die unterschiedlichen Farbgebungen in der hellen Version hingegen werden diese Korrespondenzen zwischen den Formen verschleiert. Diese Aufgabenstellung ist ein Beispiel für viele Übungen, zu denen keine explizite Regel formuliert wurde. Dennoch muss man davon ausgehen, dass die Gestaltungslehrer annahmen, die Studenten würden in der praktischen Arbeit etwas lernen. Es scheint also, dass im Bereich des bildnerischen Denkens nicht alles Lernbare lehrbar ist im Sinne von verbalisierbar (worauf weiter unten näher eingegangen wird).

3.3 Zusammenfassung

Zwar gibt es deutliche Unterschiede zwischen dem Unterricht am Bauhaus und an der HfG. Die ›Reinigung‹ der Designausbildung von künstlerischen Ansprüchen wurde an der HfG sicher konsequenter betrieben als am Bauhaus. Aber sowohl Kandinsky als auch Maldonado stellten sich – unter ihrem jeweiligen Vorzeichen – die Frage, wie die verschiedenen Bildelemente oder Gestaltungselemente so miteinander kombiniert werden können, dass sie als Gesamtheit eine bestimmte, der Sache angemessene Wirkung erzielen. In beiden Fällen wird dies dadurch erreicht, dass die einzelnen Bild- bzw. Gestaltungselemente in eine bestimmte Beziehung zueinander gesetzt werden. Bei Kandinksy werden diese möglichen Beziehungen und ihre Wirkungen aufgezählt, bei Maldondado wird eine allgemeine Regel genannt, um diese Beziehung herzustellen. Darüber hinaus wird bei ihm wie auch bei Bill die Sensibilität für Komposition ohne Bezug zu einer Regel durch praktische Übungen geschult. Gemeinsam ist allen Lehrern das Problem, das das bildnerische Denken lösen muss: aus den einzelnen Gestaltungselementen ein gelungenes Ganzes zusammenzusetzen.

4. Übersetzen

Eine andere zentrale Frage des bildnerischen Denkens lautet: Wie kann man Strukturen, Systeme oder Sachverhalte in ein Bild übersetzen? Bildnerisches Gestalten hat es sich schon immer zur Aufgabe gemacht, für einen Sachverhalt in der Welt eine bildnerische Entsprechung bzw. Analogie zu finden. Dabei geht es nicht immer um gegenständliches Abbilden von etwas Sichtbarem. Auch eine abstrakte Komposition kann das Ergebnis einer Übersetzung ins Bild sein. Welche abstrakten oder ungegenständlichen Bilder in diesem Sinne als Analogie aufgefasst werden können und welche nicht, soll hier nicht diskutiert werden. Sicherlich ist die Grenze zwischen Bildern als Analogien und solchen, die gerade diesen Analogie-Charakter bewusst verneinen (wie die Werke der Minimal Art) fließend. Die Tatsache, dass sich nicht bei jeder bildnerischen Produktion das Problem des Übersetzens stellt, heißt nicht, dass dies nicht als Funktion des bildnerischen Denkens aufgefasst werden kann. Ebenfalls ohne Bedeutung ist hier die Frage, ob man die Ähnlichkeit als einen Spezialfall von Analogie oder umgekehrt betrachten möchte. In jedem Fall soll Analogie hier aufgefasst werden als eine Entsprechung oder Übereinstimmung zweier Systeme in gewissen Merkmalen ihrer Elemente und/oder der Beziehungen ihrer Elemente, wobei das eine System in unserem Fall das der bildnerischen Gestaltung ist.

4.1 Bauhaus

Paul Klee hat an mehreren Beispielen das Problem der Übersetzung ins Bild in seinem Unterricht behandelt. Eine Aufgabe bestand darin, die Funktionsweise einer Wassermühle in einer Zeichnung so deutlich wie möglich sichtbar zu machen. Klee hat hierfür eine Begrifflichkeit ausgearbeitet, mit deren Hilfe sich die Beziehungen der einzelnen Elemente eines Systems kategorisieren lassen. Er unterscheidet zwischen dem aktiven, dem passiven und dem medialen Elementen eines Systems, wobei das Aktive dabei immer die größte Bedeutung hat. Es ist das bewegende Element des Systems, vergleichbar einem Motor, der die Energie liefert. Das mediale Element überträgt die Energie weiter und das passive Element ist das, was durch die Energie verändert wird. Auf die Wassermühle angewendet sieht eine korrekte Analyse nach Klee wie folgt aus (Abb. 7a):



Abb. 7: Paul Klee: Wassermühle. (Klee 1964: 345 f.), (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2010


Das Wasser ist das aktive Element (I), das Räderwerk das mediale (II) und der Hammer das passive Element (III). Was Klee unter einer korrekten Darstellung versteht, wird klar, wenn man sich sein Negativ-Beispiel ansieht (Abb.7b): Hier sind die verschiedenen Elemente in einem »falschen« Verhältnis zueinander dargestellt, da hier das aktive Element, das Wasser, bildnerisch am wenigsten Gewicht hat. Für Klee kommt es also nicht nur darauf an, dass die bildnerische Übersetzung einen Erkenntnisgewinn liefert, sondern er legt auch fest, welche Art von Wissen wertvoll ist. Ein Bild bringt nur dann wertvolle Erkenntnis, wenn es uns über das Verhältnis des Aktiven, Passiven und Medialen in der Welt aufklärt. Dagegen wäre eine Darstellung, die nur die äußerlich sichtbaren Proportionen der Wassermühle wiedergibt, für Klee nicht zufriedenstellend.

4.2 HfG Ulm

Auch aus Ulm sind Aufgabenstellungen überliefert, bei denen es darum geht, für ein System eine bildnerische Übersetzung zu finden, in der die entscheidenden Merkmale des Systems deutlich werden. Im Grundlehre-Unterricht von Otl Aicher sollten zwei Kreuzungsarten in Hinblick auf vorgegebene Aspekte verglichen werden (Abb. 8a/b). Der relative Durchgangsverkehr der Hauptstraße im Vergleich zu den einmündenden Straßen sowie das Verkehrsaufkommen der unterschiedlichen Abbiegespuren war in der Aufgabenstellung enthalten. In der oberen Zeichnung ist dieses Verkehrsaufkommen mit unterschiedlich dicken Pfeilen wiedergegeben. In der unteren Darstellung sind die Überschneidungen der Fahrbahnen sichtbar gemacht: Je größer der Punkt, desto häufiger die Überschneidung.



Abb. 8: Leistungsvergleich zweier Kreuzungen, Funktionsdarstellung und Fahrbahnüberschneidung, 1960, Dozent: Otl Aicher, Student: Reinhold Deckelmann,Ulmer Museum/HfG Archiv, Depositum Deckelmann, Dp 47.29;


Im Unterschied zu der Aufgabe von Klee wurden hier Merkmale der Kreuzung dargestellt, die quantifizierbar sind (Größe des Verkehrsaufkommens). Aus diesen Werten ergeben sich sowohl die Dicke der Pfeile (auf der oberen Darstellung) als auch die Größe der Punkte (auf der unteren Darstellung). Es ist aber davon auszugehen, dass der Sinn dieser Zeichnungen nicht allein darin bestand, die quantifizierten Werte, mit denen die Kreuzung beschrieben werden kann, in einem richtigen Verhältnis abzubilden. Die Bandbreite der verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten dieser Werte lässt darauf schließen, dass die Art der Darstellung ebenfalls Thema dieser Aufgabenstellung war. Vergleicht man beispielsweise die obigen Abbildungen mit einer anderen Lösungsvariante (Abb. 9a/b), wird deutlich, wie viel Spielraum die Studenten in der Art der Darstellungsweise hatten.



Abb. 9: Leistungsvergleich zweier Kreuzungen, Funktionsdarstellung und Fahrbahnüberschneidung, 1960, Dozent: Otl Aicher, Student: Gerhard Curdes, Ulmer Museum/HfG Archiv, Depositum Deckelmann, Dp 40.23.


Genauso wie in den oberen Abbildungen sind die vorgegebenen Werte korrekt umgesetzt (die Größe des Verkehrsaufkommens der unterschiedlichen Spuren und die Anzahl der Fahrbahnüberscheidungen). Dennoch sind sie wesentlich weniger prägnant dargestellt und lassen sich viel schlechter aus der Zeichnung herauslesen. Der Freiraum, der hier den Studenten gegeben wurde, musste ohne jede Regel durch die reine Praxis bewältigt werden. Hierin ähnelt diese Aufgabe der bereits behandelten Aufgabe zum Verhältnis von Farbe und Form (Abb. 6a/b), bei der ebenfalls keine explizite Regel zur Problemlösung überliefert ist.

4.3 Zusammenfassung

Die Gemeinsamkeit beider Aufgabenstellungen liegt darin, dass in beiden Fällen die Darstellung einen Erkenntnisgewinn liefert, der in Abhängigkeit dazu steht, was als relevante Eigenschaft des Systems angesehen wird. Dieser Erkenntnisgewinn ist außerdem abhängig von der Art der Darstellung (dunkle Pfeile oder helle, Größe des Wasserrades im Vergleich zu den anderen Teilen). Die Entscheidungen, die der Gestalter bei der Herstellung dieser Darstellungen treffen muss, erfordern einen Denkprozess, bei dem es darum geht, eine bildnerische Analogie für das betreffende System zu finden. Dabei gibt es bessere und schlechtere Analogien und zwar in Abhängigkeit zu dem, was als das Wesentliche des Systems angesehen wird. Das Übersetzen von etwas in der Welt in eine bildnerische Analogie kann daher als eine weitere Funktion des bildnerischen Denkens bezeichnet werden. Im Unterschied zum Problem der Komposition wird zumindest im Unterricht der HfG Ulm, soweit er rekonstruierbar ist, keine Regel besprochen, die eine gelungene Übersetzung garantiert. Stattdessen müssen die Studenten mit dem Freiraum umgehen, der ihnen gegeben ist. Klee hingegen lehrt seinen Schülern das System des Aktiven, Passiven und Medialen als Übersetzungsregel, vermittelt damit allerdings zugleich seine normative Vorstellung von Kunst.

5. Grenzen des Lehrbaren

Die Tatsache, dass nicht für alle bildnerischen Probleme eine Regel zu ihrer Lösung angegeben wird, ist ein Indiz dafür, dass das Lehrbare im Bereich des bildnerischen Denkens an bestimmten Punkten an seine Grenzen stößt. Es scheint ein zentrales Charakteristikum dieses Denkens zu sein, dass es diese ›Lücken‹ des Lehrbaren gibt. Die verschiedenen Gestaltungslehrer gehen mit dieser Eigenart unterschiedlich um.

5.1 HfG Ulm

An der HfG reflektierten Otl Aicher und der Mathematiker Horst Rittel das Unlehrbare explizit, Maldonado hingegen äußert sich diesbezüglich zurückhaltender. So schreibt Aicher: »design [sic] erweist sich in der einzelentscheidung [sic], am einzelnen objekt [sic], nicht in der wahrheitsfindung [sic]« (AICHER 1962) und bemerkt damit, dass nicht alle Probleme des Designs durch eine regelhafte Vorgehensweise gelöst werden können. Die Lücke im Lehrbaren besteht hier darin, dass für manche Gestaltungsprobleme keine allgemeine Regel zur Lösung angegeben werden kann. Stattdessen muss der Einzelfall wie eine Ausnahme behandelt werden, für den jeweils eigene Regeln geschrieben werden müssen. Horst Rittel war von 1958 bis 1963 an der HfG Dozent für Design-Methodologie, Wissenstheorie und Theorien der Kommunikation. Ursprünglich eingestellt, um das Projekt der Verwissenschaftlichung des Designprozesses weiter voran zu treiben, ist er einer derjenigen, der gerade die unlehrbaren Elemente im Gestaltungsprozess betont. In einem Artikel aus dem Jahr 1961 stellt er im Namen des Rektoratskollegiums der HfG die Arbeitsmethoden und die Grundlagen der HfG dar. Darin reflektiert er explizit die Grenzen des Lehrbaren: »Was ist eigentlich lehrbar? Lehrbar sind ein bestimmtes Sachwissen, Fertigkeiten und Methoden und die Kenntnis offener und zu diskutierender Probleme. Im Gegensatz dazu können Auffassungen und Meinungen nur exemplifiziert, demonstriert und diskutiert, aber nicht gelehrt [...] werden. Das Bewusstsein von den Spielräumen der freien Entscheidung muß [sic] sich entfalten.« (RITTEL 1961: 283)

Maldonado hingegen ist vorsichtiger im Thematisieren des Unlehrbaren, zumindest soweit es den Mitschriften aus seinem Unterricht zu entnehmen ist. Dennoch hat er sich sicher damit beschäftigt. Wie bereits erwähnt, behandelt das Buch Symmetrie, das Maldonado seiner Symmetrielehre im Rahmen des Kurses »Visuelle Einführung« zu Grunde gelegt hat, explizit die Frage der Schönheit: »Schönheit ist [...] gegründet auf Notwendigkeit und Freiheit.« (WOLF/WOLFF 1956: 1). Das Verhältnis dieser beiden Elemente wird wie folgt erklärt: »Vollkommenheit ist noch nicht Schönheit. Das Vollkommene ist da, wenn das Notwendige geleistet ist, das Schöne erst, wenn Freiheit das Notwendige zwar nicht aufhebt, aber verbirgt.« (WOLF/WOLFF 1956: 1). Zentraler Inhalt des Buches ist eine Ausführung dieses Notwendigen in Form der Symmetrielehre. Zum Element der Freiheit wird am Ende des Buches folgendes erklärt: »Die Freiheit gibt dem schaffenden Menschen die größte Fülle der Möglichkeiten; sie ist aber ebenso seine größte Gefahr. Daß [sic] er dieser zu begegnen wisse, dazu möge er sich mit der in unserer Betrachtung dargelegten und in unserem System zusammengefassten Notwendigkeit auseinandersetzen. Was ihn zum Künstler macht, lässt sich aber [...] auch dann noch nicht lehren.« (WOLF/WOLFF 1956. 127). Die Freiheit ist nach Wolf/Wolff das unlehrbare Element der Schönheit. Auch wenn Maldonado – soweit den Unterrichtsmitschriften zu entnehmen – explizit nie über Schönheit oder das Unlehrbare gesprochen hat, scheint er den Gedanken von der Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit doch verinnerlicht zu haben. Denn 1966 beschreibt er in einem Artikel über Designtheorie einen neuen »Anspruch an die Designpädagogen. [...] Das wäre die Überwindung des Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissen und Handeln, zwischen Bewusstsein und Realität, zwischen Freiheit und Notwendigkeit.« (MALDONADO 1966). In dieser Dichotomie von Freiheit und Notwendigkeit wird eine weitere Lücke des Lehrbaren deutlich: Wenn man unter dem Notwendigen die Regeln versteht, die bei der Lösung der verschiedenen Gestaltungsprobleme helfen können, dann kommt die Freiheit dadurch hinzu, dass diese Regeln nicht absolut gesetzt werden und man sich gegebenenfalls sogar über sie hinwegsetzt. Die Lücke des Lehrbaren besteht also in zweifacher Hinsicht: Im ersten Fall ist das Problem, dass bei bestimmten Fragen allgemeine Regeln fehlen und die Probleme nur anhand des Einzelfalls gelöst werden können. Im zweiten Fall gibt es zwar Regeln, diese gelten aber nicht absolut, sondern müssen eventuell modifiziert, erweitert oder sogar bewusst gebrochen werden. Es handelt sich um »Regeln mit Vorbehalt«.

5.2 Bauhaus

Kandinsky erkennt die gleichen Grenzen des Lehrbaren, auch wenn er sie zum Teil mit einem ganz anderen Vokabular beschreibt. Zunächst betont er immer wieder die Wichtigkeit der Intuition im Gestaltungsprozess: »Wir können außerdem auch ganz mit Recht behaupten, daß [sic] bis zur Gegenwart die intellektuelle Arbeit als solche, das heißt ohne intuitives Element, niemals lebende Werke hervorbrachte. […] Ich kann nur aus persönlicher Erfahrung sprechen: meine verschiedenen Versuche, von Anfang bis zu Ende auf eine ausschließliche vernunftgemäße Art zu verfahren, haben niemals zu einer wahren Lösung geführt.« (KANDINSKY 1973a: 147).

Zu den Problemen des Gestaltungsprozesses, bei denen Regeln zur Lösung fehlen, schreibt Kandinsky: »Wenn ich die Regeln des Tischlers kenne, so werde ich immer einen Tisch machen können. Der aber, welcher die vermutlichen Regeln des Malers kennt, darf nicht sicher sein, daß [sic] er ein Kunstwerk schaffen kann. Diese vermutlichen Regeln, [...] sind nichts als Erkenntnis der inneren Wirkung der einzelnen Mittel und ihrer Kombinierung [sic]. Es wird aber nie Regeln geben, durch welche eine gerade in einem bestimmten Falle notwendige Anwendung der Formwirkung und Kombinierung [sic] der einzelnen Mittel zu erreichen sein wird.« (KANDINSKY 1973c: 37). Das, was diese Lücke im Regelwerk der Gestaltung nach Kandinsky ausfüllt, nennt er die »innere Notwendigkeit«: »Alle Mittel sind heilig, wenn sie innerlich-notwendig sind. Alle Mittel sind sündhaft, wenn sie nicht aus der Quelle der inneren Notwendigkeit stammen. [...] Nur durch Gefühl [...] ist das künstlerisch Richtige zu erreichen. [...] Bei sichersten Proportionen, bei feinsten Waagen und Gewichten, kommt aus der Kopfrechnung und deduktiven Wägung nie ein richtiges Resultat zur Folge.« (KANDINSKY 2004: 88).Das, was nach Kandinsky bei der Gestaltung der »inneren Notwendigkeit« entstammt, entspricht im Vokabular von Wolf/Wolff genau dem Gegenteil des Notwendigen, nämlich der Freiheit. Hier wird deutlich, dass auch bei Kandinsky im Einzelfall der Regelbruch die richtige Lösung eines Gestaltungsproblems sein kann. Auch er weist also auf die zweifache Begrenztheit des gestalterischen Regelwerkes hin.

5.3 Lehrbarkeit und Lernbarkeit

Wie erläutert, zeigt sich die Grenze des Lehrbaren in zweifacher Hinsicht: In der vorbehaltlichen Geltung von Regeln und im völligen Fehlen von Regeln bei der Lösung von bildnerischen Problemen. Genauer betrachtet handelt es sich hierbei um zwei Aspekte des selben Phänomens. Wenn eine Regel nur unter Vorbehalt und nicht bei jedem Einzelfall genau gleich angewendet werden kann, dann entspricht der Einzelfall, auf den die Regel nur verändert angewendet werden kann, den Fällen, in denen es gar keine Regel gibt. Es scheint also charakteristisch für das bildnerische Denken zu sein, dass es zwar mit Regeln arbeitet, diese aber einen anderen, und zwar geringeren, Stellenwert haben, als in anderen Bereichen des Denkens. So wird durch die Begrenztheit des bildnerischen Regelwerkes zwar die Grenze des Lehrbaren bestimmt, aber nicht automatisch auch die Grenze des Lernbaren. Das Unlehrbare muss nicht gleichzeitig auch unlernbar sein. Was sich nicht mehr durch die Lehre von mehr oder weniger allgemeingültigen Regeln vermittelt lässt, das kann sich in der persönlichen Erfahrung des Einzelfalls und damit in der eigenen praktischen Arbeit zeigen. Das bedeutet, dass die Lücke des Lehrbaren nicht nur ein besonderes Charakteristikum des bildnerischen Denkens zu sein scheint, sondern auch eine ganz spezifische Unterrichtsform notwendig macht: die Verschränkung von Theorie und praktischer Arbeit. Aus diesem Grund findet bis heute jeder Gestaltungsunterricht bis hinein in den Kunstunterricht an den allgemeinbildenden Schulen im Wechselspiel von Bildbetrachtung und Produktion statt.

6. Fazit

Anhand des Unterrichtes von verschiedenen Gestaltungslehrern wurden zwei wesentliche Funktionen des bildnerischen Denkens herausgestellt. Das Zusammensetzen eines Bildes und das Übersetzen von einem Stück Welt in ein Bild sind zwei wesentliche Funktionen, die das bildnerische Denken im Prozess der Bildproduktion zu leisten hat. Die verschiedenen Gestaltungslehrer bieten den Gestaltern hierfür unterschiedliche Regelsysteme als Hilfestellung an. Dabei scheint die Begrenztheit der Regelsysteme bei der Lösung bildnerischer Probleme ein charakteristisches Merkmal des bildnerischen Denkens zu sein. Diese Lücke des Lehrbaren kann im Gestaltungsunterricht durch die eigene praktische Arbeit geschlossen werden. Für die Charakterisierung des bildnerischen Denkens bedeutet dies, dass es Denkprozesse beinhaltet, die anscheinend nicht von allgemeinen Regeln geleitet werden und nur in der eigenen gestalterischen Tätigkeit geschult werden können. Zur Schulung des bildnerischen Denkens scheint also die Produktion mindestens ebenso viel beizutragen, wie die Rezeption. So hat Dewey Recht, wenn er einen übergreifenden Begriff für dieses Denken fordert. Im Deutschen besitzen wir einen solchen Begriff bereits mit dem Wort »bildnerisch«, nur steht es noch aus, dass er für die Bildwissenschaft fruchtbar gemacht wird.

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