Druckansicht
How To Do Things With Media Images. Zur Praxis positiver Transformationen stehender Bilder.


Autor: Rolf Sachsse
[erschienen in: Bild und Transformation - IMAGE 12 (Ausgabe Juli 2010)]

Schlagwörter: Architektur, Bild, Design, Gestalt, Gütschow Libera Lovink Modell, Photographie, Sprechakttheorie

Disziplinen: Medientheorie


Die Möglichkeiten positiver Transformationen eines antizipierenden Verständnisses von Welt anhand stehender Bilder beruhen auf der Praxis im Umgang mit ihnen. Grundlage dieser Praxis ist ein Design-Begriff, der auf den Ursprung des Worts im Verleihen von Bedeutung zurückweist: Der Gebrauch von Design ist wichtiger als die Gestaltung. Daraus ergeben sich Konsequenzen, die im Sinn einer Medienökologie helfen können, aus den hermeneutischen Problemen heutiger Ikonologie heraus zu kommen.

The possibilities that positive transformations of an anticipatory understanding of the world by still images have, rest on the practice of using them. Base of this practice is an understanding of design that goes back to the fundamental interpretation of the word in the constitution of meaning: the use of design is more important than its production. The consequences of this proposition can be seen in the sense of a media ecology and thus lead out of the hermeneutic problems of iconology today.

Der Titel dieses Textes ist eine Paraphrase über John L. Austins Vortragsreihe aus dem Jahr 1955, die eine »Theorie der Sprechakte« begründete (Austin 1979). Der Begriff Words wurde hier durch Media Images ersetzt worden, bewusst nicht durch Photographs oder eine andere technische Fixierung des Verfahrens. Denn es soll im Folgenden nicht um die Genese von Bildern gehen, sondern um die inzwischen ubiquitäre Voraussetzung des ständigen Vorhandenseins vieler, allzu vieler Bilder, mit denen Menschen seit ihrer Geburt umgeben sind. Mit dieser Annahme ist auch eine Diskussion um die Differenzen ausgeschlossen, die sich aus dem linguistisch geprägten Bildbegriff von Austin etwa zu dem von Ludwig Wittgenstein ergeben könnte (Trautsch 2010). Stehende Bilder werden hier insofern vorausgesetzt, als sie sich im Begriff des Photogramms besser zur – retrospektiven wie antizipierenden – Projektion eigenen Verhaltens eignen als bewegte Bildformen (Metz 1977). Im folgenden Text sollen einige historische Beispiele, willkürlich doch hoffentlich hinreichend sinnvoll ausgewählt, die Möglichkeiten ausloten, die medialen Bildern als Basis positiver Transformation explizit wie implizit mitgegeben wurden. Dabei werden Definitionen von Kunst und Design im Kontext von Medien eingesetzt, die der Autor an anderer Stelle entwickelt hat (Tsvasman 2006).

Zunächst mag mit einem Paradoxon begonnen werden: Das Universum der Bilder schrumpft. Zwar wächst die absolute Zahl der medialen Bilder, doch handelt es sich dabei zumeist um Wiederholungen von Bildmotiven, -formen und -symbolen, die anderweitig semantisch definiert, ikonographisch fundiert, selbst in den ersten zwei oder drei möglichen Bedeutungsableitungen ikonologisch ausgereizt erscheinen und direkt in eine Verhaltensform münden, die Robert Pfaller als Interpassivität charakterisiert hat (Pfaller 2008). Die motivische, formale und symbolische Reduktion geht jedoch mit einer anagrammatischen Erweiterung einher: Alte Bilder fokussieren neue Körper und deuten alte Körper in neue Erwartungen um, eben in passive Übereinkünfte zu ihrem jeweiligen Gebrauch (Weibel 2004). Eine ikonographische Analyse des einzelnen Bildes im Kontext seiner Entstehung lohnt nur noch in seltenen Fällen und ist selbst über einen Anspruch auf künstlerische Autonomie kaum noch als Verhaltensform gegenüber einem Bild zu fordern; vielmehr haben sich sub-kulturelle Codes durchgesetzt, die über konstante Neubewertungen und De- wie Umcodierungen kurzfristigen Schwankungen in Gebrauch und Validisierung ausgesetzt sind.

Damit ist zunächst eine Konstante des Betrachtens von Bildern außer Kraft gesetzt, die jedweder positiven Transformation strikt entgegengesetzt schien: In seinem Spätwerk La Chambre Claire hat Roland Barthes jeder Photographie den existentialistischen Stellenwert eines Memento Mori zugewiesen, dessen Existenz im Moment der Aufnahme unwiderruflich historisiert und damit als lebendig ausgelöscht sei (Barthes 1985: S. 108 f). Abgesehen davon, dass er in früheren Debatten visueller Codierung die Differenz zwischen dem photographischen Akt und seinem medialen Ergebnis wesentlich präziser und damit für transformatorische Prozesse offener angelegt hatte (Barthes 1983), fällt die spätere Definition Barthes mit dem Ende der analogen Photographie zusammen, mit der für diese Technologie spezifischen, weitgehenden Bindung des Bildergebnisses an den Akt der Aufnahme (Dubois 1998). Nicht berücksichtigt wird in dieser Produzententheorie, wie weitgehend die mediale Wirkung von Bildern auf ihrer prinzipiell unendlichen Reproduktion beruht, und um diese soll es im Folgenden gehen.

Durch seinen massenhaft wiederholten Gebrauch wird jedes einzelne Bild im Sinn Austins zur Äußerung im Sprechakt, vor allem in der Differenz zwischen lokutionärem, illokutionärem und perlokutionärem Akt in der Kommunikation (Austin 1979: S. 137 ff). Und ganz offensichtlich, eben dem Gebrauch von Bildern gemäß, etablieren sich im vielfältig vernetzten Angebot der (Austin 1979: S. 137) und darüber hinaus als Basis einer positiven Transformation angesehen werden können. Damit dies funktioniert, müssen – ganz dem Gebrauch von Worten und sprachlichen Äußerungen gemäß – sich ikonologische Codes ablagern, in eher un- oder vorbewusste Formen eines visuellen Humus übergehen, aus dem sich jene Erwartungen speisen können, die im transformierenden Gebrauch der Bilder notwendig sind. Bei der Suche nach derartigen Codes kommen allerdings auch mediale Bilder in den Sinn, die sich von vornherein als positiv transformierend verstanden haben, selbst in der Geschichte ihrer Genese. An drei sehr unterschiedlichen Beispielen sollen zunächst die hier gegebenen Thesen konkretisiert werden, bevor auf einen Umgang mit medialen Bildern einzugehen ist, der – im weitesten Sinn des Worts als ökologisch zu bezeichnen – nahezu alle Bilder perlokutionär und positiv transformierend einzusetzen versteht.

Die einfachste Form einer positiven Transformation ist die Re-Inszenierung vorhandener, als ikonisch klassifizierter und damit ubiquitär verfügbarer Bilder unter der Maßgabe eines zukünftigen Bedeutungswechsels. Eine pointierte Version dieser Methode hat Zbigniew Libera seit 2003 mit seiner Serie Positives vorgeführt, in der er heroische Photographien aus der Geschichte des Bildjournalismus nachstellen ließ und dabei die historische Bedeutung in ein optimistisches Dispositiv verkehrte: Ché Guevara lässt sich eine Zigarre anzünden, statt auf dem Totenbett zu liegen; fröhliche Menschen stehen hinter einem Stacheldrahtzaun, statt als Auschwitz-Überlebende auf die Befreier zu warten; ein nacktes Mädchen tollt mit Freundinnen im Sand herum, statt auf einem vietnamesischen Feld vor Brandbomben zu fliehen (Lunghi 2006). Libera, der schon früher mit spektakulären Werken der Appropriation Art auf sich aufmerksam gemacht hat – u.a. 1996 mit der Lego-Version eines Konzentrationslagers – spielt hier eindeutig und recht zynisch mit den Erwartungshaltungen der Bildbetrachtung: Die Bedeutung des Ursprungsbildes steht fest, seine Echtheit kann bezweifelt werden, der Umgang mit dem Bild wird bei jeder neuen Reproduktion mehr vom Sinn entleert. Für positive Transformationen ist hier, wie fast immer im Bereich des Ready Made oder der Appropriation Art, kein Platz; der Erkenntniswert eines Bildes von Kunst über Kunst ist durchwegs retrospektiv, geradezu revisionistisch (Schmidt 2000).

Zwei dieser Positive Liberas haben immerhin ihren Weg in einen historischen Bildatlas des 20. Jahrhunderts gefunden (Paul 2008, 2. Bd.: S. 214 und 437). Dieser Atlas behauptet, die wichtigsten Ikonen eines bildlastigen Jahrhunderts zu versammeln und bietet daher den illokutionären Akt des Umgangs mit Bildern an: Zwar verbleiben die einzelnen Bilder – neben Photographien vor allem Plakate, Comics, Film- und Videostills – in ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang, werden aber durch ihre Erklärung Teil einer – im ganzen Konzept eines solchen Buchwerks als bedeutend apostrophierten – umfassenden Bildgeschichte, die sich in den Köpfen ihrer Rezipienten zu einer konsistenten Geschichtsvorstellung verdichten soll (Paul 2008, 1. Bd.: S. 14). Was Gerhard Paul den Bildern in seinem Atlas zuweist, ist eine Rolle, eben das was Austin mit dem illokutionären Akt des Sprechens beschrieb (Austin 1979: S. 146 f): ein normierter Bericht, ein klares Konzept, unter prinzipiellem Verzicht auf semantische Konnotationen und semitotische Verzeichnungen. Derartige Rollen machen die Vorstellung positiver Transformationen möglich, auch wenn sie sie nicht selbst evozieren.

Wer sich die Bilder beider Bände auf die denkbare Möglichkeit einer positiven Transformation hin anschaut – nicht nur auf eine Re-Inszenierung à la Libera oder Thomas Demand, sondern auch auf filmische Fiktionalisierung à la Steven Spielberg oder Quentin Tarantino und ihre anschließende Weiterbearbeitung in skulpturalen Installationen à la Mathew Barney, der kann schon prima vista eine einfache Rechnung aufmachen: Von 181 vorgestellten Bildern sind mindestens 74, also mehr als ein Drittel, ohne weiteres einer medial positiven Transformation zugänglich, d.h. lassen sich in ein auf Zukunft gerichtetes Muster ausdeuten. Dabei nimmt interessanterweise die Zahl bildlicher Transformationsgrundlagen über das ganze Jahrhundert hinweg zu: Im ersten Band, bis 1949, sind nur 28 von insgesamt 91 Bildern geeignet, über eine ikonische Transformation – gleich ob über mediale Grenzen oder über Verschiebungen von Bedeutungen hinweg – in positiven Konnotationskontexten platziert zu werden. Im zweiten Band sind es schon 46 von 90 Bildern, also mehr als die Hälfte. Das lässt sich als zunehmende Mehrdeutigkeit jeden Bildangebots, als stärkere Medialisierung jeden Bildinhalts oder als geringere Bindung an Realien im Bildsinn interpretieren (Rösch 1997), aber auch als die noch eher vage Idee von der veränderten Funktion des medialen Bildes im kommunikativen Prozess seit dessen Digitalisierung und Vernetzung.

Die perlokutionäre Funktion des medialen Bildes als Aussage einer positiven Transformation war in Architektur, Skulptur, Zeichnung, Fotografie, Film und Video bis in die 1980er Jahre hinein einem einzigen Genre vorbehalten, das seine Existenz eher am Rande der Aufmerksamkeit fristete: dem Modell. Spätestens in der Renaissance wurde das Modell als Element positiver Transformation eingesetzt (Evers 1995): Wenn Filippo Brunelleschi den Florentiner Granden die neue Verschalung der Domkuppel mit einem hölzernen Modell erklärt, hat er mehr geleistet als die Verbildlichung und damit Konkretisierung eines Plans: Er hat durch Verkleinerung, semiotisch also durch die Verzeichnung eines Entwurfs, die Machbarkeit des Großen und Ganzen demonstriert, also ein bestehendes Problem ins Positive transformiert. Prospektiver und retrospektiver Modellbau begleitet seither die Architekturgeschichte und verändert im Lauf der Jahrhunderte schnell seinen Gebrauch: Seit Antonio Chichi und Carl May haben Generationen von vermögenden Touristen Korkmodelle antiker Bauten über die Alpen gebracht, und aus ihrer Anschauung wie aus den Stichen Giovanni Battista Piranesis erwuchs der Vorbildcharakter antiker Architektur in Klassizismus und Historismus des 18. und 19. Jahrhunderts (Chichi 1967). Von dort wiederum war es nur ein kleiner Schritt in die Medialität: Die Vorbildsammlung des Landrates Freiherr von Minutoli zu Liegnitz, die der Photograph Ludwig Belitski um 1850 anlegte, enthielt mindestens ein Bild eines Korkmodells von May (Vogelsang 1989). Dort verwies ein ausdrücklich nicht auf die sammlerischen Leidenschaften eines Touristen, sondern sollte im Kontext der anderen Bilder den niederschlesischen Handwerkern zu besserer Anmutung und höherer ästhetischer Qualität ihrer Produkte verhelfen.

Mit der Moderne kamen die Modelle, in der Architektur wie im Denken. Und mit den Modellen kam die Modellphotographie, die zunächst ihre Herkunft aus Einzeichnung und Photomontage nicht leugnen konnte (Sachsse 1997: S. 147 ff), aber durch das Einkopieren von Wolken, das Einbelichten kleiner Straßenszenen und andere Tricks den Charakter einer hoffnungsfrohen Vorab-Darstellung zukünftiger Wirklichkeiten zu tragen begann. Spätestens mit der Digitalisierung aller Entwurfstechniken und Medien wurden Modelle zu Simulationen, schon im Begriff Transformationen einer möglichst zukünftigen Realität (Ojeda / Guerra 1995). Doch wie bei allen Verzeichnungen beginnt sich das Modell in seiner eigenen Geschichtlichkeit vor die Realien zu drängen und diese zu überholen. Ein menschlicher Modellbegriff entwickelt sich parallel zur postmodernen Doppelcodierung in Architektur und Design, erfasst die Mode und macht den Kleiderständer bedeutender denn das, was als Produkt getragen wird. Die Antizipation einer positiven Transformation, die das Modellphoto – sowohl im architektonischen als auch im modischen Sinn – zu leisten vorgibt, kann nicht nur häufig in eine Ent-Täuschung münden, was ja an sich ein modernes Verfahren der Erkenntnis ist, sondern vor allem auch schnell verbraucht sein. Der perlokutionäre Akt von medialen Modellbildern – hier ist tatsächlich mehr als nur die Photographie gemeint: 3D-Simulationen, CGI-Darstellungen noch nicht fertiger Design-Entwürfe, stage settings in games und Bühnen wie Installationen formen derartige Bilder – ist zwar als Rolle in Richtung zukünftigen Handelns hin angelegt, wirkt aber nicht immer so: Die positive Transformation ist, was den Fundus einer produktiv konzipierten Mediengeschichte vor allem der stehenden Bilder angeht, eine außerordentlich flüchtige Erscheinung, durchaus richtig in Plutarchs Beschreibung der Begegnung Alexanders von Mazedonien mit Diogenes von Sinope gefasst (»Geh’ mir aus der Sonne«): Das Schreiben mit Sonne, das alle medialen Bildern brauchen, selbst die simulierten, ist für einen positiven Nutzen noch nicht genug.

Medienbilder sind Design, und als Ding mit Gestalt wird jedes Medienbild mindestens drei Mal mit Bedeutung versehen, also Gegenstand und Vorwurf eines Design-Prozesses von durchaus geringer Steuerbarkeit. Die erste Ebene des Designs ist im Entwurf gegeben, im intentionalen Handeln des gestaltenden Prozesses – sie ist die Bekannteste und am besten historisch wie methodisch Erforschte; ideologisch wie ideologiekritisch gesehen ist dies der Ort aller positiven Transformationen, aber eben auf den Bereich der Kreativen beschränkt. Doch diese erste Ebene sagt schlicht nichts aus über die beiden nächsten Ebenen – in Analogie zur Praxis von Computer Games wären sie ohne weiteres als ›Leben‹ zu bezeichnen – des Designs. Die zweite Ebene ist die Aneignung eines gegebenen Designs, in Form eines Dings oder eines medialen Bildes oder eines Klangs oder was auch immer sich zur Projektionsfläche für Bedeutungen anbietet: Diese Aneignung ist ein zwar im Entwurf mitbedachter, aber von diesem nicht steuerbarer Prozess – und er verändert das Design grundsätzlich durch seine individuelle Kontextualisierung. Jede Aneignung von Bildern ist ein psychophysischer Prozess, bei dem die Herkunft des jeweiligen Bildes sekundär ist; genau da setzt der zweite Design-Prozess ein. Die Quelle verschwindet, das Bild bleibt, die Kritik verliert sich, der symbolische Gehalt formt die nächsten Möglichkeiten des Umgangs damit. Vom Ursprung in einem Entwurf, von einer primär anvisierten Gestalt bleibt dieser zweite Prozess des Designs weit entfernt.

Noch komplexer wird die Situation im dritten Teil des umfassenden Design-Prozesses, der mit diesem Einschluss auch als ökologischer Vorgang gewertet werden kann. Es geht um das, was Brandes und Erlhoff als »nicht intentionales« Design bezeichnet haben (Brandes / Erlhoff 2006), um die erweiterte Aneignung von Bildern und Dingen nach dem ersten Nutzungsablauf. Für dinghafte Objekte wie Stühle, Wasserbecken und Yoghurtbecher ist es simpel zu sehen, wie aus ihnen Kleiderständer, Pflanzschalen und Zahnputz-Utensilienhalter werden; bei Bildern ist der tertiäre Aneignungsweg etwas verschlungener – wie das oben genannte Beispiel von Zbigniew Libera bereits gezeigt haben mag, denn seine Transformations-Inszenierungen grausamer Realitäten sind direkt mit seiner übrigen künstlerischen Arbeit und dadurch mit einem festen Set an Bedeutungszuweisungen verbunden, die er für seine Arbeit als unabdingbar erklärt hat – ob sie danach noch als positive Transformationen taugen, interessiert ihn nicht und muss bei jeder Betrachtung individuell neu entschieden werden.

Zunächst mag der Weg dieser Aneignung von Bildern als Festlegung von Stereotypen verlaufen (Lockemann 2008). Damit sind kulturelle – für manche Forschungen bis zur Epigenetik reichende – Bindungen an Deutungsmuster gegeben, die jedwede Transformation in Erkenntnis, Interesse und Handlungsformen bestimmen. Allein: die Konstitution dieser Muster ist ebenso wenig zu fassen wie ihr späterer Gebrauch – hier enden auch Zugriff und Wirkung der Psychoanalyse (Doering / Moeller 2008: V). Doch kein Stereotyp hält ewig, auch wenn der Begriff diese Konnotation mit sich führt. Gerade im Internet haben sich Formen und Haltungen fixiert, die es den ›geübten Usern‹ – wie es so gern in Foren heißt – ermöglicht, direkte Erkennungen für Spam und andere unliebsame Erscheinungen ablaufen zu lassen und auf diese Weise wenigstens einen Großteil des alltäglichen Datenmülls abzuwehren. Selbstverständlich ist man auch hier nie vor Überraschungen gefeit – diese bestehen aber zumeist aus konventionalisierten Mustern, die nur in ihrer Re-Kontextualisierung noch nicht beachtet worden sind.

Hierfür hält die neuere Medienbildkunst in zwei Œuvres klassische Beispiele bereit: Beate Gütschow (Egan 2007) und Andreas Gefeller (Uthemann 2009) montieren Bilder aus großen Mengen kleinster Bildschnipsel, die sie aus dem Internet beziehen – allerdings benötigen sie zum Verständnis ihrer Arbeit offensichtlich noch den Rekurs auf etablierte Muster der Wahrnehmung, entweder in der Landschaftsmalerei und Architekturphotographie (Gütschow) oder in der touristischen und Nachtphotographie (Gefeller), also in Themengebieten, die mehr oder minder als prämodern bis modern konventionalisiert sind (Bätschmann 1989: S. 193 ff). Wie die Arbeit von Zbigniew Libera ist ihr Werk maximal im Rückgriff auf bekannte Deutungsmuster transformierbar, also kaum zur Schaffung positiver Visionen geeignet. Doch sie demonstrieren, wohin die Reise gehen könnte, die ein vom Ursprung losgelöster Gebauch medialer Standbilder fährt: in die offene Struktur einer Möglichkeit, die nach und nach den Druck der Konvention zugunsten erweiterter Bildstrukturen, im metaphorischen wie symbolischen Sinn neuer Kontexte aufweicht.

Dafür sei am Ende noch ein Beispiel angedeutet, das – wie so vieles im Internet – mit dem Charme der Novität antrat und von den Walzen des Kommerzes überrollt worden ist. Die Rede ist von ›de digitale stad‹ Amsterdam, die 1995 von Geert Lovink und anderen als Versuch gestartet wurde, kommunitäre Strukturen der Kraaker-Bewegung ins Internet zu überführen (Aurigi 2005: S. 74 ff). Hilfsmittel dazu waren eine Benutzeroberfläche in Kristall- und Wabenform, die zunächst an die Hilfsmittel der Bus- und Bahnlinien samt ihrer Tarifstruktur erinnerte; sie wurde unterhalb dieser Struktur mit Logos für alle Dienstleistungen und Kommunikationsbereiche versehen – und das halbe Internet musste zunächst rätseln, was gemeint war. Doch genau das war ein wichtiges Moment der Identifikation mit der urbanen Agglomeration, die allein virtuell existierte; so wenig man 1933 Harry Becks Plan der Londoner U-Bahn mit der Topographie der Stadt in Verbindung bringen konnte, so wenig war Amsterdam digital bildhaft, doch bestand es aus Bildern, die allesamt in einer positiven Transformation brauch- und nutzbar gemacht werden konnten. Das System war seiner Zeit weit voraus und brach nach einigen Jahren von unten wie oben weg – von unten durch Hacker, von oben durch kommerzielle Aufkäufer, die aus der digitalen Stadt ein globalisiertes Einkaufszentrum machten.

›De digitale stad‹ hatte einen Aspekt, der es so perfekt funktionieren ließ und gleichzeitig den Neid der globalen Warenumschlags-Planer hervorrief (der letztlich zum nutzlosen Aufkaufen der Site und damit zu ihrer Zerstörung führte): Die Reichweite des Angebots war klar definiert – ohne Bezug zur realen Stadt Amsterdam war die Überführung dieser Informationen in eigenes Handeln nicht zu leisten. Damit sind alle Voraussetzungen einer positiven Transformation durch mediale Bilder gegeben: Die Bilder selbst dürfen kaum ästhetische Ansprüche stellen, um achtlos benutzt zu werden; die benutzbaren Oberflächen formen selbst Bilder, die in sich bedeutungslos sind; und alles, Nutzung wie Erkenntnis ist zeitlich relativ begrenzt, damit sich seine Bedeutungen wenigstens für eine Weile als Konsens einer spezifischen Gruppe erhalten – eben in einer Gruppe begrenzter Reichweite, wie sie auch für die Genese von Kunst unabdingbar ist (Sachsse 1997b). Gerade das Beispiel aller digitalen Städten im Internet – es waren um 2000 rund 50, sie sind vollständig verschwunden und nicht einmal mehr auf Sammel-Sites wie www.archive.org zu finden, weil auch ihre Software nicht mehr aktualisiert wurde – zeigt deutlich, dass mediale Komplexität nur in ausgesuchten und begrenzten User-Kreisen aufrecht zu erhalten ist; diese Erfahrung mussten auch spätere Online-Umgebungen wie ›Second Life‹ machen.

Was zu zeigen war: Ja, mediale Bilder sind zu positiven Transformationen nutzbar, auch und gerade stehende. Doch sie zahlen dafür einen hohen Preis: ihre relative Bedeutungslosigkeit. Damit ist aber ein Tor zu einer Medienökologie eröffnet, das aus dem hermeneutischen Zirkel einer immanenten Bedeutungszuweisung herausführt: Alles ist mit allen Bildern machbar – und das ist nur für die Bildermacher selbst, in ihrer eigenen Bedeutungszuweisung, eine ungemütliche Vorstellung.


Literatur

  • Aurigi, A.: Making the digital city, the early shaping of urban Internet space. Aldershot [Ashgate] 2005.
  • Austin, J. L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Oxford 1962. Stuttgart [Reclam] 1979.
  • Bätschmann, O.: Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750-1920. Köln [DuMont] 1989.
  • Barthes, R.: Rhetorik des Bildes (1964). In: Kemp, W. (Hg.): Theorie der Fotografie, Bd. 3, 1945-1980. München [Schirmer-Mosel] 1983, 138-149.
  • Barthes, R.: Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a.M. [Suhrkamp] 1985.
  • Brandes, U. / Erlhoff, M.: Non Intentional Design. Köln / London / New York [Daab] 2006.
  • Doering, S. / Möller, H. (Hg.): Frankenstein und Belle de Jour, 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Heidelberg [Springer] 2008.
  • Dubois, P. / Wolf, H. (Hg.): Der fotografische Akt, Geschichte und Theorie der Fotografie, Bd. 1. Dresden / Amsterdam [Verlag der Kunst] 1998 (Dubois 1998).
  • Egan, N. (Hg.): Beate Gütschow LS/S. New York [Aperture] 2007.
  • Evers, B. (Hg.): Ausst.Kat. Architekturmodelle der Renaissance. München [Prestel] 1995.
  • Lockemann, B.: Das Fremde sehen. Der europäische Blick auf Japan in der künstlerischen Dokumentarfotografie. Bielefeld [Transit] 2008 (Diss. Phil. Stuttgart 2007).
  • Lunghi, E. (Hg.): Traces de parcours 1996-2006, Casino Luxembourg Forum d’art contemporaine. Luxembourg [Casino Forum d’Art Contemporaine] 2006, 177.
  • Metz, M.: Le Signifiant imaginaire. Psychanalyse et cinéma. Paris [Union Générale d’Editions] 1977.
  • Ojeda, O. R. / Guerra, L. H. (Hg.): Exh.cat. Hyper-Realistic, Computer Generated Architectural Renderings. San Francisco [evergreen] 1995.
  • Paul, G. (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder, 2 Bde. Ort [Vandenhoeck & Ruprecht] 2008/09.
  • Pfaller, R.: Ästhetik der Interpassivität, Fundus 175. Hamburg [Philo Fine Arts] 2009.
  • Rösch, T.: Kunst und Dekonstruktion. Serielle Ästhetik im Werk von Jacques Derrida. Stuttgart [Passagen] 1997 (Diss. Phil).
  • Sachsse, R.: The Quest for Quality in Art and Media. In: Klotz, H. ZKM (Hg.): Perspektiven der Medienkunst. Ostfildern [Hatje Cantz] 1996, 58-65.
  • Sachsse, R.: Bild und Bau. Zur Nutzung technischer Medien beim Entwerfen von Architektur, Bauwelt Fundamente 113. Braunschweig / Wiesbaden [Vieweg] 1997.
  • Schmidt, U. K.: Kunstzitat und Provokation im 20. Jahrhundert. Weimar [VDG] 2000 (Diss. Phil. Erlangen 1999).
  • Trautsch, C.: Die Bildphilosophien Ludwig Wittgensteins und Oliver Scholz' im Vergleich. In: IMAGE 11 http://www.bildwissenschaft.org/image?function=fnArticle&showArticle=160.
  • Tsvasman, L. R. (Hg.): Das Große Lexikon Medien und Kommunikation, Kompendium interdisziplinärer Konzepte. Würzburg [Ergon] 2006.
  • Uthemann, E. W. (Hg.): Ausst.Kat. Andreas Gefeller photographs. Ostfildern [Hatje Cantz] 2009.
  • Vogelsang, B.: Das Museum im Kästchen, oder Die Erfindung des Kunstgewerbemuseums als Photosammlung durch den Freiherrn von Minutoli. In: Von Dewitz, B. / Matz, R. (Hg.): Ausst.Kat. Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photographie im deutschen Sprachraum 1839-1860. Heidelberg [Braus] 1989, 522-547.
  • Weibel, P.: Virtuelle Welten: Des Kaisers neue Körper (1990). In: Sachsse, R. (Hg.) / Weibel, P.: Gamma und Amplitude, Medien- und kunsttheoretische Schriften, Fundus 161. Berlin [Philo Fine Arts] 2004, 366-406.


Autor

    Rolf Sachsse: Professor für Designgeschichte und Designtheorie an der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken.


Publikationen (Auswahl)

  • Main Street. Design ohne Designer, Wien 2009; Raumbilder Bildräume. Architekten fotografieren, München 2009.
  • Wilhelm Ostwald. Farbsysteme. Das Gehirn der Welt, Ostfildern 2004.