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Die Dramaturgien der schrägen Kamera: Thesen und Perspektiven


Autor: Hans Jürgen Wulff
[erschienen in: Die schräge Kamera. Formen und Funktionen der ungewöhnlichen Kameraperspektive in Film und Fernsehen (Themenheft zu IMAGE 1)]

Schlagwörter: Filmbild, Verkantung, Kameratheorie, Exzentrik / exzentrische Formen, Horizontlinie im Bild

Disziplinen: Filmwissenschaft


Unter „schräger Kamera“ (im Amerikanischen: oblique angle, Dutch angle, Chinese angle, canted camera oder auch tilted shot) will ich alle Bildformen verstehen, in denen der Bildhorizont nicht mit dem Zuschauerhorizont übereinstimmt. Es handelt sich um das Formenfeld der Verkantungen um die Bildachse. Es gliedert sich dann in einen Kern- und in einen Randbereich. Im Kernbereich unterscheide ich

- Verkantung (Schrägstellung auf der Kameraachse),
- Schwanken der Kamera (Hin- und Herbewegung auf der Achse),
- Rollen auf der Kameraachse (kontinuierliche Rotationsbewegung in eine Richtung).

1. Das Handlungsfeld der Kamera

Unter „schräger Kamera“ (im Amerikanischen: oblique angle, Dutch angle, Chinese angle, canted camera oder auch tilted shot) will ich alle Bildformen verstehen, in denen der Bildhorizont nicht mit dem Zuschauerhorizont übereinstimmt. Es handelt sich um das Formenfeld der Verkantungen um die Bildachse. Es gliedert sich dann in einen Kern- und in einen Randbereich. Im Kernbereich unterscheide ich

- Verkantung (Schrägstellung auf der Kameraachse),

- Schwanken der Kamera (Hin- und Herbewegung auf der Achse),

- Rollen auf der Kameraachse (kontinuierliche Rotationsbewegung in eine Richtung).

Verkantete Bilder gehören zu den ungewöhnlichen Perspektiven, die in der Photographie (und auch in der Filmphotographie) der 1920er Jahre eine außerordentliche Bedeutung hatten, waren sie doch eines der auffälligsten Mittel, den photographischen Blick auf das Wirkliche so zu verfremden, daß das Gezeigte neu und erregend erschien. Die „exzentrische Kamera“ gehört zu den auffallendsten Erscheinungsformen einer Bildnerei, deren Anliegen die Irritation des Betrachters ist, um so einen veränderten Blick auf das Gezeigte zu ermöglichen. Das Auftreten ungewöhnlicher Perspektiven im Kino insbesondere 1920er Jahre deutet auf einen ästhetischen Diskurs hin, der den Film in die künstlerischen Ausdrucksmittel der Moderne mit einstellt. Später verliert sich dieser Horizont, und spätest mit den MTV-Ästhetiken ist die ungewöhnliche Perspektive zu einem letztlich leeren Stilmittel geworden - denn die Charakterististik des Irritierenden und Verstörenden haben diese Aufnahmen durchaus behalten.

Doch will ich zur formalen Darstellung des Handlungsfeldes der Kamera zurückkehren. Den Verkantungen um die Kamera- oder Bildachse zugeordnet ist die um 90° auf diese angeordnete Horizontlinie der Kamera in die Tiefe des dargestellten Raumes hinein. Neben die Normalsicht treten hier

- Untersichten und

- Aufsichten

bis zu den Extremposition der

- Überkopfaufnahme (top shot) und der (viel selteneren)

- Von-unten-Aufnahme (meist in der davon etwas abweichenden „Froschperspektive“).

Rein technisch gliedert sich das Feld in Positionen und Operationen. Am Beispiel der Verkantung (um die Kameraachse):

Positionen:

- lotrechte Position: als Normalposition, Nullwert

- Verkantungen nach rechts und links (bis zu 45 Grad; Angaben in Grad)

- Seitenlagen nach rechts und links (Drehung um 45 Grad oder weiter)

- Überkopfposition (Drehung um 180 Grad); dies ist die Inversion der Normallage

Operationen:

- Einstellungen der Kamera: Schrägstellen, Verkanten

- Tätigkeiten der Kamera: Rotation / Rotieren, Rollen

Die schräge Kamera entsteht also in einem einfachen formalen Handlungsfeld, das die Lage der Kamera im vorfilmischen Raum sowie die Veränderungen, die sie gegenüber einer angenommenen Grundform annehmen kann, beschreibt.

Aus dieser Grundüberlegung gehe ich für das folgende gehe von der Annahme aus, daß die Nullform des Handlungsfeldes der Kamera zugleich die Normalform des Bildes produziert: Der Horizont der vorfilmischen Welt ist der Horizont des Bildes. Dabei scheint die Horizontlinie gegenüber anderen Nicht-Null-Lagen der Kamera nochmals besondere Bedeutung zu haben: Auch Auf- und Untersichten - die zumeist aus dem Handeln der Akteure motiviert sind - beachten die Koordination der beiden Horizontlinien. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kinobilder die Normallage einnehmen, bedarf des Nachdenkens und der Begründung.

Man könnte z.B. an eine materiale Verbindung von Bild- und Zuschauerraum, von Realität und imaginativer Enklave denken: der Horizont kommt beiden gleichermaßen zu, schafft so eine gemeinsame Grundorientierung an der Schwerkraft. Man könnte auch medien- oder kunstgeschichtlich argumentieren und behaupten, das Kino der Frühzeit müsse auf das Theater zurückgedacht werden, es habe am Anfang schlicht die Proszenium-Bühne nachgeahmt (so behauptet bei Nilsen o.J., 31). Die Normallage des Bildes wäre so als eine imaginäre Nachzeichnung der Gleichlage der Bühne und des Zuschauerraums zu begründen: Zwei Räume, die im gleichen Schwerkraftsystem angeordnet sind. Die diegetische Welt und die Normalwelt des Zuschauers gründen auf der gleichen Physik, der Schauspieler bleibt als Schauspielerkörper in der gleichen physikalischen Welt wie der Zuschauer. Die These scheint interessant - sie würde dafür sprechen, daß sich in der Anfangszeit des Films das Filmbild an die Normallage der Bühne adaptiert hat, daß sich diese Anlehnung aber gelockert hat, je mehr sich das Kino vom Theater löste -, läßt sie sich nicht einlösen. Die angenommene Entwicklung hat so nie stattgefunden.

Maßstab der Filmbildnerei ist bis heute die Horizontlinie. Die Kamera ist in aller Regel mit der Schwerkraft der erzählten Welt koordiniert. Horizontlinie resp. Schwerkraft bilden einen mimetischen Nullpunkt der Darstellung. Alle Abweichungen fallen auf und verlangen tendenziell nach Begründung. Kamera und Bild verhalten sich wie ein Akteur im Schwerkraftsystem. Die aufrechte Haltung kommt dem Kamera-Akteur und dem Bild ebenso zu wie den Akteuren der Handlung.

In allen diesen Überlegungen ist die Erkennbarkeit der Horizontlinie und die Identifizierbarkeit des Lotes im Verhältnis zu Bild- und Zuschauerraum vorausgesetzt. Dagegen steht eine in sich freiere Vorstellung der „ungewöhnlichen Perspektiven“, die - wie oben schon angedeutet - wiederum zum Projekt der „Fremdmachung“ (ostranenje) der Standardwahrnehmung und -darstellung in Beziehung gebracht werden kann. Gerade in der photographischen Produktion jener Jahre läßt sich die Intensität, mit der nach Blickpunkten gesucht wird, die alltäglichste Gegenstände „ungewöhnlich“ erscheinen lassen, sie neu erfahrbar machen oder auch nur verrätseln und gegen allzu schnelle Identifikation abschirmen, deutlich ausmachen. Die Bildgestaltung des Films korrespondiert mit der Arbeit der Photographen. Im Amerikanischen werden Schräglagen der Kamera sowie auch andere außergewöhnliche Kamerapositionen als „Dutch angle“ bezeichnet - und damit wird nicht etwa eine „holländische“ (wie „Dutch“ zu signalisieren scheint), sondern eine deutsche Tradition angespielt: die extrentrische und expressive Kameraarbeit deutscher Kameraleute in Filmen der 1920er Jahre, die in die Hollywood-Studios Einzug hielt, weil auch Kameraleute exilierten. Ohne dem hier nachgehen zu wollen, sei festgehalten, daß die Bezeichnung darauf hindeutet, daß die schräge Kamera historisch mit den ästhetischen Ambitionen einer expressiven Kameraarbeit in den 1920er Jahren ihre ersten Begründungen gehabt hat.

Hier soll es um Aspekte der Analyse, um Frageperspektiven und Forschungshorizonte gehen. Die Analyse der „schrägen Kamera“ greift gemeinhin in drei Richtungen aus, deren Kompatibilität allerdings zu prüfen ist:

- psychologisch, weil es um Bildwahrnehmung normaler und verkanteter Bilder geht;

- ästhetisch und mit Blick auf Komposition, weil der verkantete Blick ästhetische Sonderbedingungen herstellt und auf bildtheoretische Elementaria verweist; außerdem verweist die Poetik der schrägen Kamera unmittelbar auf die ästhetische Kategorie des Exzentrischen, wie sie in den Bildprogrammen der 1920er Jahre diskutiert wurde;

- funktional, weil die Verkantung mit textuellen Strategien wie Subjektivisierung, Symbolisierung und Dramatisierung zu tun hat.

2. Wahrnehmung

Grundlegend für ein Verständnis verkanteter Filmbilder ist die Rückführung der Bildwahrnehmung auf den Gleichgewichtssinn (engl. balance; Einstellungen mit Schräglage der Horizontlinie werden darum auch gelegentlich unbalanced shots genannt). Ein Sinn, der die physikalische Schwerkraft (engl. gravity oder auch force of gravity) als Erfahrungstatsache umsetzt. Schwerkraft und Gleichgewichtssinn definieren den Normalzustand des Lebens.

Aus dem Gleichgewicht zu geraten: das ist das Verlassen der Normalität. Der Schwindel ist ein Anzeichen dafür, daß man aus dem Lot geraten ist.

Ein erster Hinweis auf die Normalität des nichtverkanteten Bildes sind Spiele mit dem Horizont, auf dem normalerweise Bilder aufgerichtet sind. Man denke an Schräglagen, die auf Straßenschildern repräsentiert sind, die Steigungen oder Gefälle indizieren (meist vereindeutigend verbunden mit einer Prozentangabe). Stillschweigend vorausgesetzt ist der Horizont als Null-Linie (oder genauer: die Übereinstimmung von Horizont und Unterkante des Schildes). Die meisten Kamera-Orientierungen im Raum thematisieren die Null-Linie selten oder gar nicht. Links- und rechts-, auf- und abzuschwenken und dabei einen Gegenstand in der Horizontale oder von oben nach unten abzutasten (oder umgekehrt), geschieht im Gleichgewichtssystem der dargestellten Welt. Der Horizont bleibt eine stillschweigende Bestimmung der Lage des Körpers im Raum, der Lage der Kamera und der damit synchronisierten Lage des Zuschauers.

Für die Rezeptionsleistungen ist dies die vielleicht elementarste Beziehung, die den Bildraum mit dem Zuschauerraum verbündet: Der Horizont des Zuschauers und der Horizont des Bildes stimmen schlicht überein. Der illusionierte Raum der Diegese ist begehbar im gleichen Schwerkraftsystem wie dem, in dem der Zuschauer agiert. Zumindest an dieser Stelle haben Diegese und Zuschauerraum einen gemeinsamen Punkt: Diegetische Welt und repräsentierende Mittel basieren auf einer gemeinsamen physikalischen Welt, die fundamental mit der Raumlage des Zuschauers koordiniert ist. Auch das Bild beachtet einen naturalistischen Horizont als Nullinie - naturalistisch, weil es der Horizont des Kinosaals ist. Der diegetische Horizont steuert das Urteil, ob eine Ansicht verkantet oder normal aufgenommen ist, und sein Bezug ist die Unterkante der Leinwand (also etwas Nicht-Diegetisches). Schon Arnheim nimmt die Horizontlinie des Kinobildes und die vertikale Aufrichtung der Leinwand auf der Horizontlinie des Zuschauerraums als eine Verankerung der gesamten Raumwahrnehmung im Aufbau der Diegese.

Tatsächlich bleibt das Bewußtsein des äußeren Schwerkraftsystems bei der Besichtigung eines Films erhalten. Beispiele kann man im Ensemble der Bildes des schwankenden Horizonts finden. Am Beispiel: Schwankt das Schiff, oder schwankt die Kamera? In Filmen wie MUTINY ON THE BOUNTY (1935) sehe ich, daß die Kabine des Segelschiffs offenbar auf einer Schaukel montiert war, weil die Mäntel am Haken gegen die Neigung des Schiffes schwingen. An den Objekten kann ich ablesen, daß Schwerkraft im Spiel war. Wäre diese Eigenbewegung der Mäntel nicht gewesen, könnte ich nicht entscheiden, ob Schiff oder Kamera in Bewegung gewesen waren. Beachte die kleinen Details - wie schaukeln die Beine, wie schwingen aufgehängte Dinge, schwappt vielleicht die Flüssigkeit in den Gläsern der Männer?

Der Horizont bleibt so ein vermittelndes Element, das die äußere Situation des Kinos mit der imaginären Raum- und Handlungswelt des Films verbindet und die diegetische Realität(sillusion) an die Leibrealität des Zuschauers zurückbindet. Die Horizontlage ist ein Leib-Element, das den Bildern strukturell innewohnt.

Die Aufnahme einer Abhangfläche wirkt auch deshalb nicht als abfallend, weil kein Schweregefühl den Betrachter über Oben und Unten informiert. Es ist nicht mitfühlbar, ob die Kamera gerade oder irgendwie schief gestanden hat, deshalb nimmt man, solange der Inhalt nichts anderes sagt, die Projektionsfläche als vertikal an (Arnheim 1979, 46).

Enthält das Bild keine verläßlichen Hinweise auf die Horizontlage, unterstellt der Zuschauer die Nullform. Enthält es widersprüchliche Hinweisreize (cues) (wie z.B. ein schiefer Turm und eine Figur ohne gemeinsame Grundlinie, so daß die relative Lage von Turm und Figur nicht beurteilt werden könnte), entstehen Wahrnehmungsirritationen und -probleme, die nach Lösung verlangen. Möglicherweise gibt es bei Porträts Unterschiede zwischen Aufnahmen en face oder en profil: Die Frontalaufnahme scheint stabiler auf die Horizontlinie ausgerichtet zu sein und diese somit stabiler zu induzieren.

3. Bild und Komposition

Die Schräglage des Bildes im Fotografie und Film ist vollkommen artifiziell. Neigt man in der Realität den Kopf, kippt das Bild nicht, das Netzhautbild wird in die Normallage „zurückgerechnet“.

Bordwell äußert in seinen Bemerkungen zum Filmraum einmal, daß es zwei auffallende Ausgangsbeobachtungen gebe: Zum einen die aus der Ranaissance stammende Bemühung um die Zentrierung des Bildes, was dazu führe, daß die Gesichter abgebildeter Figuren meist im oberen Drittel von Bildern angesiedelt seien (1985, 50f). Zum anderen „the principle of horizon-line isocephaly, which guarantees that figures‘ heads run along a more or less horizontal line“ (1985, 85). Isokephalie ist ein Stilprinzip aus der bildenden Kunst, das besagt, daß die Köpfe in gleicher Höhe, also auf einer horizontalen Linie angeordnet sein sollten.

In einem Werbefilm für Schöller-Eiskrem sieht man die Nahaufnahme eines Mannes, der ein Eis in der Hand hält. Offenbar versucht ein anderer Mann zu seinen Füßen, ihm das Eis wegzunehmen. Dann rotiert die Kamera um 180° und fährt zurück, und man sieht die wirkliche Lage: Der Mann hängt aus einem Fenster, an seinen Beinen von einem anderen festgehalten. Die Rotation der Kamera ist sofort verständlich, und es ist sofort zu begreifen, daß der erste Teil des Filmes auf einer ”Kameratäuschung” basiert. Kann man daraus ableiten, daß die ”Kamera” als Konstruktionsprinzip des Bildes immer mitgedacht ist? Im Normalfall ist dieses unproblematisch und über wenige Voreinstellungen zu regulieren (der Hinweis auf die default values aus der Schematheorie erfolgt mit Bedacht): Die Kamera reproduziert die Welt aus der gleichen Subjektlage, wie wir auch das Alltagsleben wahrnehmen - der Himmel ist oben, die Schwerkraft ist mit dem Bild-Unten koordiniert. Werden die Voreinstellungen verändert, muß im Bildverstehen auf das Konstruktionsprinzip übergegangen werden.

Bildtheoretisch gesprochen ist die 180°-Verkantung ein Verfahren, das normalerweise solidarische Verhältnis von Bildträger und Bild zu entkoppeln - die Unterkante des Bildträgers und die Horizontlinie des Bildes stimmen überein. Im Normalfall ist die Schwerkraftlinie des Trägers zugleich also die Schwerkraftlinie des Bildes. Die Leinwand steht senkrecht, ihre Unterkante ist in der Waage. Das Bild bedient sich dieser Vorgabe. Wird aber die Kamera verkantet, stimmen die Waage von Leinwand und Bild nicht mehr überein, sie treiben auseinander. Verkantete Bilder produzieren eine oft nicht bewußt werdende Doppelwahrnehmung dessen, was man sieht. Der Effekt ist reflexiv auf das Bild gerichtet, es wird „als Bild“ greifbar.

Bildtheoretisch ist die schräge Kamera noch aus einem anderen Grund höchst interessant, scheint doch die Semantisierung der Bildlage auf eine komplexe Motivation hinzudeuten. Wir sind manchmal geneigt, gewisse Eigenschaften des Filmbildes mit festen Bedeutungen aufzuladen. Es entstehen dann allgemeine Aussagen wie „Wenn man jemanden aus Untersicht zeigt, signalisiert man die Macht und Autorität der abgebildeten Person.“ Da wird zur verbalen Regel, was oft ganz andere Begründungen hat, das zeigt gerade die Literatur zur Kamerahöhe sehr genau. Eine ganze Reihe von Fällen ist denkbar, in denen Untersichtbilder auftreten: Der Photographierte ist sehr groß, ein Podest für den Kameramann nicht greifbar - Konsequenz: Untersicht; ich zeige ein subjektives Bild, das den Blick eines Kindes auf einen Erwachsenen nachahmt - in Untersicht; ich zeige das Monster oder den psychopathischen Killer, auf dessen Gesicht sich Flammen spiegeln - in Untersicht; ich zeige den König, der eine Rede an sein Volk hält - von unten, als stehe die Kamera mitten im Pöbel; ich zeige den Mann, der vom Berg herniedersteigt, den er bezungen hat - wiederum in Untersicht (nur durch die Kamera kann man andeuten, daß das Gelände abschüssig ist). Viele Fälle, viele Untersichten - mit ebenso vielen Begründungen und semantischen Effekten. Auf eine einzige Regel läßt sich das nicht reduzieren.

Zu Carol Reeds THE THIRD MAN (1949), der verkantete Kamera als durchgängiges Stilmittel einsetzt, in dem die Geschichte im Nachkriegs-Wien erzählt wird, hat es mehrfach geheißen, daß die Schräglage der Kamera ein allgemeiner Hinweis auf die Außer-Gewöhnlichkeit der Alltagsrealität sein - ein Hinweis auf eine Welt, die „aus dem Lot“ geraten ist (z.B. Schwab 1979, 55-57). Eine Aussage, die in dieser Art Verkantung und Bedeutung koordiniert, basiert auf einer verbalen Analogie: „A canted frame seems to mean that ‚the world is out of kilter‘“ (Bordwell/Thompson 1979, 118). Eine semantische Basis zum Verständnis der schrägen Kamera wäre also eine verbale Metapher und eine Bedeutungsübertragung. Die Verkantung würde als visuell-bedeutendes Klischee beschreibbar, als Bild-Topos, dem konventionelle Bedeutung zugeordnet werden kann. Dann würde die schräge Kamera aus dem Signifikationsmodus des Bildes herausfallen, weil sie einem eigenen rhetorischen Niveau der filmischen Artikulation zugehörte.

Es bleibt allerdings zu prüfen, ob die Semantisierung verkanteter Einstellungen eine Leistung der postrezeptiven Phase ist, erst nach der Erstbesichtigung zustandekommt. These könnte dann z.B. sein, daß wahrnehmungsauffällige Verkantungen erst im Gespräch fortentwickelt und diskursiviert werden. Gespräche dieser Art finden statt, sie sind Strategien der Wahrnehmungserkundung. Metaphorisierungen und Symbolisierungen gehörten so nicht der primären, aktualgenetischen Aneignung von Filmen an, sondern zu einer zweiten Schicht der Bedeutungsgenerierung.

Nun sind die Regeln, denen die Verkantung in jeweiligen Filmen folgt, aber viel komplizierter. Verkantung sagt nicht immer: Die Welt ist nicht im Lot. Dann könnte man einen friedfertigen Film über Gartenzwerge allein durch das Mittel der Verkantung zutiefst verwirren. Die Bedeutungen der Verkantung - wenn sie denn überhaupt welche hat - entstehen im Kontext, sind auf den Kontext abgestimmt. Keinesfalls sind es „hard-and-fast meanings“ (Bordwell/Thompson 1979, 118), die man erwarten sollte, sondern komplexe Ineinanderfügungen verschiedener Elemente des filmischen Texts.

4. Funktionen

Erst im Kontext des jeweiligen Films kann entschieden werden, welche Funktionen ein filmisches Mittel erfüllt, wenn es denn überhaupt welche trägt. Manche dieser Funktionen sind rein formaler Art.

A canted framing may serve the narrative funktion of marking certain shots or sequences as distinctly different from the rest of the film (Bordwell/Thompson 1979, 120).

Die formale Absetzung scheint zugleich eine Elementarfunktion der Bilder der schrägen Kamera zu sein: Es geht um die Produktion von Differenz, von Absetzung mancher Filmteile gegen ihren Kontext. Bordwell/Thompson verweisen auf verkantete Einstellungen aus THE ROARING TWENTIES (1979; eine Abbildung ebd., 120), die Aufnamen des Alkoholhandels gegen die umgebenden Bilder absetzen. Hier ist also Verkantung eine Strategie, eine inhaltliche Größe von der Umgebung anderer inhaltlicher Größen abzusetzen. In diesen Verwendungen gehört die Verkantung zu den Mitteln, die Diegese visuell hervorzubringen.

In den 1930er und 1940er Jahren war es üblich, für Hollywood- oder Montagesequenzen eigens ”Montage-Einstellungen” mit wechselnd gekippter Kamera aufzunehmen, so daß man die Bilder rhythmisch teils nach links, teils nach rechts fallen lassen konnte. ”Montage-Sequenzen” finden sich heute vor allem im Werbefilm. Bilder mit Verkantung nach links, nach rechts und in normaler Lage werden da manchmal nach fast geometrischen Mustern montiert, so daß rhythmische Muster entstehen , die ganz auf Einstellungslänge und Kameralage aufsatteln und dabei wieder formal-musikalische Prinzipien der Akzeleration realisieren. Ein Beispiel ist der Film zu dem Männer Parfum ”Egoiste” (vgl. dazu Bullerjahn 1993).

Selbst dann, wenn andere Bedeutungen die gekippte Kamera zu überlagern scheinen, bleiben die formalen Anforderungen einer Dynamisierung der Raumlage in einem differentiellen Umgang mit Rechts- oder Links-Neigung der Kamera erhalten. Ein Beispiel sind die Schuß-Gegenschuß-Auflösungen in Carol Reeds THE THIRD MAN (1949): Die Bilder werden in verschiedene Richtung gekippt. Offenbar bedarf der Zuschauer der zentralen Achse, zu der die Bilder geneigt sind, um einen einheitlichen Raum synthetisieren zu können. Würde man alle Bilder ausschließlich nach links oder rechts kippen, wäre der Kontinuitätseffekt, der sich angesichts der Dialogsequenzen einstellt, dahin.

Neben diesen formal-ästhetischen Aufgaben, die die schräge Kamera erfüllen kann, tritt sie in zwei großen Funktionskreisen auf, die sie zugleich semantisieren: im Horizont der Strategien der Subjektivisierung und im Rahmen einer allgemeinen Dramatisierung.

Zunächst zu ersterem. Von den Schräglagen der Kamera, die im engen Sinne als „subjektive Aufnahmen“ durch den Kontext erschlossen und durch die Lage des Akteurs motiviert sind, gibt es andere Schräglagen, die nicht als POV-Shots motiviert sind und dennoch Subjektivität signalisieren. Wohl noch mehr als die Verkantung wird das Schwanken des Bildes dazu verwendet, einer meist bedrohlichen subjektiven Wahrnehmung - des Rausches, der Verwirrung, der Ekstase, des Kontrollverlusts etc. - Ausdruck zu geben. Das mag damit zusammenhängen, daß manche Drogen das Schwerkraftempfinden partiell außer Kraft setzen, was entweder als lustig oder aber als bedrohlich empfunden wird. Die schwankende Kamera korrespondiert mit der Erfahrung des Schwindels. Schon Arnheim wies darauf hin, daß die Beweglichkeit der Kamera eine ganze Reihe von subjektiven Empfindungen einer mimetischen Nachzeichnung durch das Bild öffne:

Wie sich einem Menschen „alles vor den Augen herum dreht“, Schwindelgefühle, Wirbel, Taumeln, Stürzen, Aufsteigen - all das ist durch entsprechende Handhabung der Kamera leicht zu produzieren (Arnheim 1979, 135).

Weil die Geschichten, die im Kino erzählt werden, zentriert sind auf die Handelnden, ist die vielleicht mächtigste Motivation, von der Normallage der Kamera abzuweichen, die Nachgestaltung einer subjektiven Wahrnehmung. Eine Figur liegt im Bett, die Tür öffnet sich, das Bild zeigt, was die Figur sieht: der Horizont ist um 90 Grad gedreht, steht senkrecht. In Trumbulls SILENT RUNNING (1971) ist der verletzte Held ohnmächtig zu Boden gegangen. Er erwacht, und man sieht einen der Hilfs-Roboter subjektiv aus der Sicht des liegenden Mannes. Die Kamera ist 90 Grad gegen die Schwerkraft verkantet. Nun beginnt aber die Kamera zu rotieren, richtet das Bild wieder auf die Schwerkraftlage aus. Es wird wieder „normal“, als wollte Trumbull signalisieren, daß der nach der Ohnmacht eintretende Kontrollverlust wieder rückgängig ist.

Stärker noch ist die Kontextabhängigkeit der verkanteten Kamera im zweiten großen Funktionskreis auszumachen, in dem sie steht - in dem einer allgemeinen Dramatisierung. Kress und van Leeuwen behaupten gelegentlich, daß Abweichungen von der Horizontallage Hinweise auf ein allgemeines „involvement“ der Kamera mit dem, was sie zeigt, sei (1996, 143). Der Hinweis scheint aber irreführend zu sein, weil es nicht um eine innere Beziehung zwischen Darstellung und Dargestelltem geht, sondern vielmehr (zumindest im Normalfall) um eine Kennzeichnung des dramatischen Rangs einer Szene. Die Schrägstellung der Kamera ist eine Hervorhebungstechnik, sie macht Bilder wahrnehmungsauffällig und stellt sie so gegen den Kontext, die Frage eröffnend, was diese Sonderstellung denn begründe. Hervorhebungen haben mit dem Akt des Zeigens zu tun, und wenn ein schrägstehendes Bild auffällig geworden ist, stellt sich natürlich die Frage, warum man das, was das Bild zeigt, in Schräglage zu sehen bekommt (ähnlich Kress/van Leeuwen 1996, 149). Schrägstehende Bilder haben so ein reflexives Moment, das auf den Akt des Zeigens und seine internen Sinnsteuerungen selbst verweist.

Einige Beispiele einer nicht als subjektiv motivierten Schrägstellung der Kamera: In THE QUICK AND THE DEAD (1995, Sam Raimi) rutscht die Kamera in dramatischen Aktionen in die Verkantung - als ein Mittel der Dramatisierung. In ANDERS ALS DU UND ICH (1957, Veit Harlan) dient die verkantete Ansicht dazu, Homosexualität zu markieren. Ähnlich ist auch Kleinfelds Ermordung in CARLITO‘S WAY (1993, Brian de Palma) in der einzigen wahrnehmungsauffälligen schrägen Einstellung des ganzen Films als dramatischer Höhepunkt gekennzeichnet. Es scheint hier, als solle das Bild die Rage des Mörders anzeigen - die Welt ist nicht mehr im Lot, weil zu starker Affekt die Normalität entkräftet. Dabei ist das Bild durchaus als ambig auszulegen:

(1) Die Schrägstellung der Kamera ist hier offenbar subjektiv motiviert, als Hinweis auf die empfundene Affektintensität des Täters, den das Bild zeigt.

(2) Daneben zeigt das Bild aber auch einen formal-symbolischen Hinweis auf die Unordnung der Welt.

(3) Das Bild fällt deshalb so auf und aus dem Rahmen, weil der Film sonst die Horizontale relativ streng beachtet. Bedrohlichkeit wird gelegentlich durch Untersichten signalisiert, nicht aber durch Verkantungen.

Angesichts dieser Doppelmotivierung der Schräglage des Bildes (Koordination mit dem Erregungszustand eines Akteurs; allgemeiner Hinweis auf die Unsicherheit der erzählten Welt) nimmt es nicht wunder, daß Schräglagen der Kamera immer wieder dazu verwendet worden sind, den Stress und die emotionale Belastung visuell auszudrücken, unter denen die Figur handelt. Die Szene, in der das Mädchen von Freddy Krüger gejagt wird (in NIGHTMARE ON ELM STREET, 1984) enthält zahlreiche verkantete Bilder. Und auch die Belagerung des Hauses, in dem die menschlichen Akteure in George Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD (1968) eingeschlossen sind, enthält zahllose verkantete Aufnahmen - als sollte ausgedrückt werden, daß eine Welt, die von Zombies verunsichert wird, eine Welt außerhalb der Sicherheit der Schwerkraft sei. Als visuelles Motiv wird die Verkantung auch in Max Ophüls‘ LOLA MONTEZ (1953) eingesetzt - gegen Ende gleitet die Kamera in die Schräglage, je mehr sich die Situation der Heldin zuspitzt und je näher sie dem Tode kommt. Vor dem finalen tödlichen Sturz aus der Zirkuskuppel schwankt das Bild sogar. Und auch in FATAL ATTRACTION (1987) ist die zunehmende Verwirrung der Heldin (Glenn Close) unter anderem durch Verkantungen des Bildes repräsentiert.

Allerdings ist die Schräglage nicht nur mit Negativem assoziiert, mit Verfolgung, Bedrohung, Angst und Verwirrtheit. In Reisefilmen z.B. werden Bilder von Badenden (und manchmal auch von Landschaften) sehr oft in Schräglage gezeigt. Messaris vermutet, daß dieses Aufnahmen dazu dienten, „turning away from the everyday world in order to marvel at the spectacle of nature“ (Messaris 1997, 24) sowie einen Wunsch zu aktivieren, am Ort des Bildes sein zu wollen - also gerade entgegengesetzte Affekte anzusprechen wie die, um die es im Horrorfilm geht. Auch hier ist die Schräglage aber ein Mittel der Heraushebung und Unterstreichung - das schräggestellte Sujet ist abgehoben vom normalen Kontext.

5. Semantik

Alle diese Bedeutungen sind optional. Die filmischen Mittel tragen in aller Regel keine festen Bedeutungen. Das gleiche Mittel kann in verschiedenen Kontexten ganz verschiedene Bedeutungsfunktionen erfüllen. Am Beispiel der schrägen Kamera:

- In manchen Umgebungen signifiziert die Lage der Kamera selbst etwas (wie die subjektive Lage eines Akteurs, dessen Blick als Subjektive wiedergegeben wird),

- in anderen sind sie koordiniert mit Elementen der Bedeutung (wie mit der Tatsache, dass die Handlung eine höchst unglückliche Wende nimmt),

- in wiederum anderen dienen sie etwa dazu, dem subjektivem Erleben von Figuren und ihrer Innenwahrnehmung des Geschehens Ausdruck zu geben (ohne dabei aus der Raumlage des Akteurs motiviert zu sein).

- In manchen Filmen signifizieren sie dagegen gar nicht, die Verkantung spielt dann keine Rolle, trägt keine erkennbare Funktion oder Bedeutung.

- In manchen Filmen wird die schräge Kamera stilistisch verwendet. Die zahllosen Verkantungen in der MTV-Dokumentarserie THE REAL WORLD sind Elemente eines schnellen, durch die optischen Welten der Videoclips induzierten Stils. Aber sie signalisieren keine Realität, die aus dem Lot geraten wäre, keine subjektive Wahrnehmung oder ähnliches.

So ist es mit anderen filmischen Mitteln auch - die Kontextabhängigkeit der signifikativen Leistungen findet sich auf allen Ebenen der filmischen Darstellung und Argumentation. Die schräge Kamera ist koordiniert mit anderen Elementen filmischer Bedeutung, ohne diese selbst zu tragen; sie ist gebunden durch die Solidarität der filmischen Mittel bei der Hervorbringung und Verdeutlichung einer Bedeutung, ohne dass es zur Herausbildung von filmischen Tropen (oder anderen Formen der fixierten Bedeutung) kommen müßte. Gelegentlich verfestigen sich sich diese Koordinationen; doch „sicher“ sind sie auf keiner historischen oder systematischen Stufe der filmischen Formenentwicklung.

Literatur

Arnheim, Rudolf (1979) Film als Kunst. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag.

Bordwell, David (1985) Narration in the Fiction Film. Madison, Wisc.: University of Wisconsin Press.

Bordwell, David / Thompson, Kristin (1979) Film art. An introduction. Reading, Mass.: Addison-Wesley.

Bullerjahn, Claudia (1992) Kulturelle Duftmarken eines Egoisten. In: Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie 9, S. 137-141.

Kress, Gunther / van Leeuwen, Theo (1996) Reading Images: The Grammar of Visual Design. London: Routledge.

Messaris, Paul (1997) Visual Persuasion: The Role of Images in Advertising. London: Sage.

Nilsen, Vladimir (o.J.) The cinema as agraphic art. (On a theory of representation in the cinema.) New York: Hill & Wang.

Schwab, Lother (1979) Der Identifikationsprozeß im Kino-Film. Analyse des Films DER DRITTE MANN. In: Didaktik der Massenkommunikation. 4. Methoden der Film- und Fernsehanalyse. Hrsg. v. Knut Hickethier u. Joachim Paech. Stuttgart: Metzler, pp. 24-62.