Druckansicht
Computergrafik und Informationsvisualisierung als Medien visueller Erkenntnis


Autor: Kirsten Wagner
[erschienen in: IMAGE 1: Bildwissenschaft als interdisziplinäres Unternehmen - Eine Standortbestimmung]

Schlagwörter: Informationsvisualisierung, Abbild, maschinelles Sehen

Disziplinen: Kulturwissenschaft, Computervisualistik


Bilderflut, neue Verfahren der Bildherstellung und des maschinellen Sehens, Kritik an der hergebrachten Abbild- und Repräsentationstheorie sind verschiedene Aspekte einer Krise, die das Bild und die Wahrnehmung erfasst hat. Zu den Symptomen dieser Krise gehören auch die aktuellen Anstrengungen, eine Bildwissenschaft zu etablieren, die, über die Disziplinengrenzen hinaus, eine allgemeine, auf einigen zentralen Axiomen beruhende Theorie des Bildes geben kann (vgl. Sachs-Hombach 2003).

Ob eine solche Bildtheorie sich durchsetzen wird, hängt nicht nur von der Plausibilität ihrer Argumentation ab, sondern auch von ihrer Fähigkeit, die vorhandenen bildtheoretischen Ansätze zu integrieren. Denn dass diese eigene Geltungsansprüche haben, zeigen die kontroversen Diskussionen, welches der eigentliche Zugang zum Bild sei: der semiotische oder der phänomenologische, der ikonologische oder der strukturalistische, der auf Repräsentation oder der auf Pragmatik abzielende. Hinzu kommen die einzelnen Disziplinen. Auch sie bringen jeweils spezifische Ansätze und Bildkompetenzen ein, die sich den Vorrang streitig machen.

Dabei sind die aktuellen Fragen an das Bild keineswegs neu, weder die Frage nach dem Wesen des Bildes noch die Frage nach seinen Wirkungen und Funktionen. Wenn diese Fragen wieder an Bedeutung gewonnen haben, so ist das nicht allein auf den Computer und die neuen Medien zurückzuführen. Die massenhafte, alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende Verbreitung von Bildern setzt früher ein. Neben Fotografie und Film ist hier das Fernsehen anzuführen. Bereits von diesen Bildmedien geht ein neues Interesse am Bild und seiner Stellung im System der Zeichen aus. McLuhans Medientheorie gibt dafür nur ein, wenn auch prominentes Beispiel. Fasziniert von den verheißungsvollen Bildbotschaften der Werbeindustrie und dem ‚Mosaikbild’ des Fernsehens, kündigt Marshall McLuhan der Buchkultur schon in den 1960er Jahren auf (vgl. McLuhan 1962). Wie kurz sein Diktum vom Ende der Gutenbergära auch greift, seine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Formen bildhaften Darstellens, Kommunizierens und Denkens, angefangen vom Fernsehbild über die hergebrachten Pikto- und Ideographien bis hin zu den mentalen Gedächtnisbildern der römischen Mnemotechnik, weist in vielen Facetten auf die gegenwärtig geführte Bilddiskussion voraus.

1. Die epistemische Funktion von Bildern oder von der Sichtbarmachung des

Unsichtbaren

Anschlüsse an diese Bilddiskussion bieten hier vor allem die jüngeren Überlegungen zur epistemischen Funktion von Bildern. Dass dem Bild bei der Generierung von Wissen eine entscheidende Rolle zukommt, steht inzwischen außer Frage. Den entsprechenden Beweis liefern die Aufzeichnungen und Visualisierungen von Phänomenen der Natur, die Skizzen und Grafiken, die eine Theorie überhaupt erst Gestalt annehmen lassen, die zahlreichen Sprachbilder bzw. Metaphern (vgl. dazu im Überblick Ferguson 1977, 827-836). Sie alle haben eine lange Tradition, und ihre Geschichte ist unauflösbarer Teil der Wissenschaftsgeschichte. Auf diesem Hintergrund können Bilder als Mittel der Erkenntnis betrachtet werden. Als solche bilden sie einen Gegenstand nicht nur ab, sondern bringen ihn mit hervor.

Die Bedeutung ästhetischer Prozesse für die Wissensgenerierung lässt zugleich die alten Grenzziehungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik hinfällig erscheinen. Wie die technisch-medialen Voraussetzungen der Bildproduktion und -rezeption ihrerseits diese Grenzen auflösen. Ein mit dem Computer erzeugtes oder bearbeitetes Bild, um nur ein Beispiel zu geben, hängt von einem Apparatesystem und Berechnungsverfahren ab, die über Jahrzehnte von Ingenieuren entwickelt wurden. Mit der Untersuchung dieser Herstellungs- und Gebrauchszusammenhänge von Bildern verschiebt sich auch die Fragestellung. Was ein Bild seinem Wesen nach ist, jene ontologische Frage scheint hier weniger wichtig als die Frage nach den praktischen Vollzügen, in die das Bild eingebunden ist und in denen es bestimmte Funktionen übernimmt und Bedeutung erhält.

Eine besondere epistemische Funktion von Bildern bzw. Bildmedien liegt dort vor, wo sie etwas ‚Unsichtbares sichtbar machen’. Damit ist das Aisthetisierungspotenzial generell von Medien angesprochen, das auch in der gegenwärtigen Medientheorie zunehmend Beachtung findet (vgl. hierzu Böhme 2004 sowie Krämer 2004, 129-133). Sybille Krämer führt hierzu aus: „Medien bringen zu Gesicht, zu Gehör ... (gr. aisthesis, das, was zu Gesicht kommt). Daher ist die Wahrnehmungsfunktion von Medien (...) grundlegend: Ihre kognitive und kommunikative Rolle zehrt von diesem medialen Aisthetisierungspotenzial.“ (Krämer 2004, 132.) Die Aisthetisierung geht allen anderen Funktionen voraus und übersteigt sie zugleich. Mit dem Wahrnehmbarmachen von etwas verbindet sich ein Überschuss, eine Art gestalterischer Mehrwert. Dafür stehen allein die Visualisierungen aus den Naturwissenschaften ein. Mikrofotografien etwa, die die chemisch-elektrische Erregungsübertragung zwischen zwei Nervenzellen veranschaulichen sollen und dabei wie die Farbfeldstudien der abstrakten Malerei anmuten.

Der klassische Topos von der Sichtbarmachung des Unsichtbaren lässt sich in Bezug auf die optischen Instrumente und Bildmedien wenigstens bis Galileo Galilei bzw. bis zum Teleskop zurückverfolgen. Francis Bacon hat ihn dahingehend ausdifferenziert, dass es verschiedene „Fälle der Erleuchtung“ gibt: u.a. solche, welche die „unmittelbare Tätigkeit der Sinne stärken und erweitern“, aber auch solche, die „das Unsinnliche auf das Sinnliche hinüberführen“, ferner diejenigen, die „die ständigen Prozesse oder die alles verknüpfende Reihe der Dinge und Bewegungen zeigen“, also einen zeitlichen und kausalen physikalischen Vorgang darstellen können (vgl. Bacon 1990, Bd. 2, S. 469). Instrumente, welche die unmittelbare Tätigkeit der Sinne unterstützen, sind für Bacon das Teleskop, das Mikroskop sowie Baken und Astrolabien zur Land- und Himmelsvermessung. Während mit dem Teleskop ein größerer Raum durchdrungen werden könne, sorge das Mikroskop dafür, dass etwas zuvor nicht Sichtbares wahrnehmbar sei, nämlich die Welt der Mikroorganismen. Hingegen erlauben die Baken und Astrolabien eine exakte Erfassung der Erde. Sie erweitern den Gesichtssinn nicht, richten und lenken ihn aber (ebd. 469 ff.). Die von Bacon angeführten Instrumente machen sichtbar, was der menschlichen Wahrnehmung unmittelbar nicht zugänglich ist, was jenseits der Wahrnehmungsschwelle liegt.

In dieser Funktion wurden das Teleskop und das Mikroskop von der Fotografie beerbt, mit der die zuvor flüchtigen, nur auf Linsen und Gläsern erscheinenden Bilder zugleich aufgezeichnet werden konnten. Das Spektrum des Unsichtbaren, das die Fotografie erschließen sollte, geht über Teleskop und Mikroskop hinaus. Wie sich das Unsichtbare überhaupt mit den Medien verändert und auch von den kulturellen und wissenschaftlichen Kontexten abhängt, in denen die Medien Anwendung finden. Mit der Fotografie jedenfalls wurden enzyklopädische Bildreihen angelegt, um über ein vergleichendes Sehen Typen zu erkennen: Typen von Physiognomien und Ausdrucksgebärden (Guillaume Benjamin Duchenne de Boulogne; Charles Darwin), soziale Typen (August Sander), Typen abnormen und besonders hysterischen Verhaltens (Jean-Martin Charcot). Daneben steht die Geisterfotografie, die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkam und Einblick ins Jenseits gab, insofern die weißen Schemen und Lichtgestalten auf den Fotografien den Verschiedenen zur Erscheinung verhalfen und so ihre Präsenz bewiesen. Diese Form der Geisterbeschwörung machte sich nicht nur kontingente Bildstörungen zunutze. Bewusst vorgenommene Eingriffe in den mechanisch-chemischen Abbildungsprozess kamen ihr ebenso zu Hilfe (zur Geisterfotografie vgl. insgesamt Krauss 1992).

In den opaken Körper wurde mit der Röntgenfotografie vorgedrungen, während die zunehmend kürzere Belichtungszeit die Momentaufnahme ermöglichte, so dass über automatisierte, durch elektrische Signale ausgelöste Reihenfotografien zum ersten Mal Bewegungsabläufe in einzelne Phasen aufgelöst werden konnten (Eadweard Muybridge; Étienne-Jules Marey; vgl. hierzu Oeder 1988, 204-210 sowie Prodger 2003). Inzwischen gehört es zu einer Anekdote der Fotogeschichte, dass die Momentaufnahmen sich bewegender Pferde die Maler darüber belehrte, dass bei einem galoppierenden Pferd niemals alle vier Beine gleichzeitig in der Luft sein können.

Was hierbei jeweils sichtbar gemacht und fixiert wurde, gehörte zur Welt, entzog sich jedoch der sinnlichen Wahrnehmung, damit auch dem menschlichen Zugriff und der Deutung. Es war zunächst nicht vorhanden. Hartmut Böhme hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die optischen Instrumente und Bildmedien die Grenzen des Sichtbaren immer weiter verschoben haben und auf diese Weise zahlreichen Phänomenen, Lebewesen und Gegenständen erstmals zur Existenz verhalfen (vgl. Böhme 2004). Vielleicht zeigt sich hier am deutlichsten, was es heißt, dass Medien nicht einfach nur eine Botschaft vermitteln, sondern Wirklichkeiten mit hervorbringen und gleichzeitig formen.

Wie die Fotogeschichte exemplarisch dokumentiert, wurden bestimmte Wirklichkeiten für die Kamera überhaupt erst inszeniert oder zumindest für sie hergerichtet. Die Eingriffe in den mechanisch-chemischen Abbildungsprozess bei der Geisterfotografie sind nur ein Beleg dafür. Um Hysterie im Bild festzuhalten, veranlasste Charcot seine Patientinnen – zum Teil unter dem Einfluss von Narkotika und Hypnose – solche affektiven Körpergebärden wie den hysterischen Bogen nachzustellen (vgl. hierzu Schade 1993, 461-484). Bei den physiognomischen Studien kam Elektrizität zum Einsatz, und zwar als Stimulus, um einzelne Nerven und Muskeln des Gesichts zu aktivieren. Eine nicht weniger durchgreifende Manipulation beschreibt die Aufbereitung von mikroskopischen Präparaten durch Schneiden, Einlegen, Färben. Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich Sichtbarkeit nicht auf das Bild selbst beschränkt. Sichtbarkeit hängt grundlegend von den technisch-medialen Bedingungen der Bildproduktion und den Manipulationen ab, die am darzustellenden Objekt vorgenommen werden. Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist die Interpretation des Bildes, wobei deren Gelingen wiederum eine Kenntnis der Bildproduktion und Objektmanipulation voraussetzt. Ein Vorwissen um das, was auf dem Bild in Erscheinung tritt, muss gegeben sein, damit es in weitere sinnstiftende Deutungsprozesse einbezogen werden kann. Die erste Röntgenfotografie blieb so lange unentdeckt bzw. wurde als ein Unfall fotografischer Bildproduktion gewertet, bis eine physikalische Erklärung für ihr Zustandekommen vorlag (vgl Geimer 2002, 313-341).

2. Die epistemische Funktion der Computergrafik

Angesichts dieser Beispiele aus dem Bereich der optischen Instrumente und Bildmedien drängt sich die Frage auf, was die neueren bildgebenden Verfahren, die auf der Computergrafik und digitalen Bildverarbeitung aufbauen, bereits sichtbar gemacht haben und noch sichtbar machen werden. Um hierauf eine Antwort geben zu können, müssten zunächst die zahlreichen Anwendungsgebiete der computer-basierten Visualisierung erfasst werden. Zu diesen Anwendungsgebieten gehören besonders die Biowissenschaften, in denen vom Computer berechnete und visualisierte Moleküle, Zell- und Genstrukturen den Bauplan des Lebens eröffnen sollen. Die Physik, die mit Hilfe des Computers natürliche Phänomene nachahmt und veranschaulicht, um so Einblick in die Naturgesetze zu erhalten, ist hier ebenfalls zu nennen. Tatsächlich werden die neueren bildgebenden Verfahren von nahezu allen Disziplinen genutzt (einen Überblick geben Dress / Jäger 1999). So wie sich auch im 19. Jahrhundert zahlreiche Wissenschaften der Fotografie zu Demonstrations- und Analysezwecken bedienten, von der Physiologie über die Anthropologie bis hin zur Kriminologie.

Dass die neueren bildgebenden Verfahren grundsätzlich etwas Unsichtbares sichtbar machen, hat mit Überzeugung schon Ivan Sutherland vertreten. Auf Sutherland geht mit Sketchpad nicht nur eines der ersten Grafikprogramme zurück (Sutherland 1963). Er hat ebenfalls das erste Head-Mounted Display entworfen, auf dessen Grundlage die Virtuelle Realität entsteht (Sutherland 1968, 757-764). Und beides ist von ihm in eine Tradition mit dem Teleskop und dem Mikroskop gestellt worden. Bereits in den späten 1960er Jahren argumentiert Sutherland also, dass mit dem Computer und der Computergrafik bisher unbekannte Welten erschlossen werden können, oder anders gesagt, dass wir es hier mit Medien visueller Erkenntnis zu tun haben. Er führt aus:

„Whereas a microscope enables us to examine the structure of a subminiature world and a telescope reveals the structure of the universe at large, a computer display enables us to examine the structure of a man-made mathematical world simulated entirely within an electronic mechanism. I think of a computer display as a window on Alice`s Wonderland in which a programmer can depict either objects that obey well-known natural laws or purely imaginary objects that follow laws he has written into his program.“ (Sutherland 1970, 57).

Sutherland macht zugleich Angaben darüber, um was für Welten es sich hierbei handelt. Es ist eine vom Menschen bzw. vom Programmierer erzeugte Welt, in der alles möglich sein soll, solange es nur den mathematischen Gesetzen gehorcht, auf denen diese Welt aufbaut. Mit der Nachahmung natürlicher Phänomene nimmt Sutherland dann auch schon eines der zentralen Anwendungsgebiete der computer-basierten Visualisierung in den Naturwissenschaften vorweg. Im Unterschied zu anderen Verfahren der Bildherstellung ist die Computervisualisierung indes kein einfaches Abbildungsverfahren mehr. Wenn Fotografie und Film noch dadurch charakterisiert sind, dass sie etwas aufzeichnen, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort befunden hat, dann gilt das für die Computervisualisierung nicht mehr. Die Darstellung eines Gegenstandes basiert hier auf einem physikalischen Modell, das zuvor von diesem Gegenstand abgeleitet und mathematisch berechnet worden ist.

Die praktischen Versuche mit dem Computer, die Sutherland zu der Überzeugung geführt haben, dass Teleskop, Mikroskop und Computer Displays verwandt sind und der Bildraum einem Wunderland entspricht, lassen sich recht genau bestimmen. Sie führen auf die Anfänge der grafischen Datenverarbeitung zurück. Wenn diese Anfänge im folgenden Abschnitt ausgebreitet werden, so auch um darzulegen, woraus das Computer Aided Design, die Virtuelle Realität und alle heutigen Grafik- und zum Teil auch die Bildverarbeitungsprogramme hervorgegangen sind.

Von der grafischen Datenverarbeitung ausgehend, thematisiert der letzte Abschnitt dann die Informationsvisualisierung. Die Informationsvisualisierung (information visualization) kommt als eigenständiger Ansatz der wissenschaftlichen Visualisierung (scientific visualization) in den 1980er Jahren auf. Bezeichnenderweise beansprucht auch die Informationsvisualisierung, etwas Unsichtbares sichtbar machen zu können. In diesem Fall sind es Aufbau und innere Struktur von Datenbeständen. Im übertragenen Sinne ist es die Ordnung des Wissens. Der entsprechenden Aisthetisierung der Datenbestände kommt nicht allein epistemische Funktion zu. Sie dient auch dem Zugriff auf die Datenbestände, ihrer Beherrschung.

2.1 Die Anfänge der grafischen Datenverarbeitung: zwischen Darstellungs-, Kommunikations- und Erkenntnismittel

Vereinfacht gesagt, geht die grafische Datenverarbeitung, die sowohl die Computergrafik als auch die digitale Bildverarbeitung umfasst, aus drei Ansätzen hervor: erstens der Radartechnologie, zweitens der Automatisierung der Konstruktions- und Zeichenpraxis, drittens der Automatisierung der visuellen Wahrnehmung. Diese Zusammenhänge lassen sich besonders deutlich am Lincoln Laboratory des Massachusetts Institute of Technology zeigen. Dort konvergierten in den 1950er Jahren mit dem Flugraumüberwachungssystem SAGE Radar- und Computertechnologie (zum Projekt SAGE (Semi-Automatic Ground Environment) vgl. Manovich 1996, 124-135 sowie Campbell-Kelly 1996, 165 ff.). Gleichzeitig wurde von Lawrence Roberts an der maschinellen Erkennung von dreidimensionalen Körpern gearbeitet (Roberts 1965, 159-197), während Sutherland in direkter Nachbarschaft zu Roberts Sketchpad programmierte. Der Medientheoretiker Lev Manovich hat bereits darauf hingewiesen, welche Bedeutung in den parallel laufenden Projekten von Roberts und Sutherland liegt. So ermöglichte die Verbindung beider Ansätze nicht nur die Darstellung dreidimensionaler Körper und räumlicher Szenen, sondern auch deren direkte Bearbeitung mit Hilfe eines Lichtgriffels und anderer Eingabegeräte. Im Resultat entstand daraus, was Manovich „Interactive Perspectivalism“ genannt hat (Manovich 1993, 143-147). Das heißt nichts anderes, als dass dem Betrachter zum ersten Mal die Möglichkeit eingeräumt worden war, Ansicht und Ausschnitt eines Bildes sowie die Bildgegenstände beliebig verändern zu können. Diese Interaktivität der elektronischen Bilder unterscheidet sie von allen anderen Bildern, wie auch Sachs-Hombach betont (Sachs-Hombach 2003, 233 ff.).

Hinter Roberts` Ansatz der maschinellen Erkennung dreidimensionaler Körper stand die Automatisierung der visuellen Wahrnehmung. Anfänge dazu waren bereits mit der Buchstabenerkennung gemacht (Selfridge 1960, 60-68). Ging diese jedoch von zweidimensionalen Vorlagen aus, eben den Textbuchstaben, dann wollte Roberts mit dem Computer gerade das räumliche Sehen mechanisch lösen. Dazu studierte er zunächst historische Perspektivtraktate. Sie sollten ihm Auskunft darüber geben, auf welche Weise sich das räumliche Sehen formalisieren lässt. Die eigentliche Lösung bot dann aber nicht die darstellende, sondern die analytische Geometrie, insofern sie erlaubte, die Bildprojektion von Körpern mathematisch auszudrücken und zu berechnen (vgl. hierzu auch Binkley 1987, 643-652 sowie 1989, 13-20). Denn das war genau, was der Computer konnte: Rechenoperationen ausführen. Wie sah Roberts` Verfahren im Einzelnen aus? (vgl. Abb. 1)

Abb. 1: Machine Perception of Three-Dimensional Solids: (a) Original picture, (b) differentiated picture, (c) line drawing, (d) rotated view, aus: Lawrence G. Roberts: Machine Perception of Three-Dimensional Solids, Ph.D. Thesis MIT 1963, Reprinted from Optical and Electro-Optical Information Processing, MIT Press 1965.

Als Vorlage dienten ihm Schwarzweißfotografien von geometrischen Körpern, die von einem Scanner eingelesen und in einem zweiten Schritt digitalisiert wurden. Aus den vorliegenden Bildinformationen wurden dann die Kanten und Eckpunkte der Körper abstrahiert. Sie lagen als listenförmige Beschreibung von Koordinatenpunkten vor, auf deren Grundlage sich nun wiederum Drahtgittermodelle der Körper erstellen ließen. Diese Drahtgittermodelle mussten dann lediglich noch auf einen Computerbildschirm projiziert werden. Über ein bestimmtes Rechenverfahren, die homogene Koordinatentransformation, konnte der Nutzer die abgebildeten Körper zugleich stauchen oder strecken, drehen und verschiedene Ansichten erzeugen.

Sutherlands Ansatz bestand hingegen in einer Automatisierung der Zeichen- und Konstruktionspraxis. Damit verband Sutherland drei weiterführende Ziele. Einerseits sollte der Ingenieur mit dem Computer Ideenskizzen ausführen können. Der Computer sollte also nicht nur die Rechenarbeit übernehmen, die bei Konstruktionsaufgaben anfällt, sondern auch die grafische Lösung solcher Aufgaben unterstützen. Wie hoch der grafische und bildhafte Anteil bei der Bearbeitung von konstruktiven Problemen ist, wurde mit der langen Bildtradition in den Ingenieur- und Naturwissenschaften bereits angegeben. Andererseits zielte Sutherland auf eine direkte Kommunikation zwischen Mensch und Maschine ab. Das umständliche Eintippen und Auswerten von langen Befehlsketten erschwerte die Mensch-Maschine-Kommunikation. Hier eine schnelle Skizze, dort eine kurze Notiz, das waren für Sutherland die effektiven Medien zwischenmenschlicher Verständigung, die er auch für die Mensch-Maschine-Kommunikation produktiv machen wollte. Drittens erhoffte sich Sutherland von der Computergrafik Einsicht in physikalische Vorgänge: „Sketchpad (is most useful) for gaining scientific or engineering understanding of operations that can be described graphically.“ (Sutherland 1980, 22) Die grafische Datenverarbeitung wird damit von Beginn an als ein Darstellungs-, Kommunikations- und Erkenntnismittel eingeführt.

Sutherlands Grafikprogramm Sketchpad ermöglichte das Erstellen von zweidimensionalen Zeichnungen, und zwar direkt über den Computerbildschirm (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: TX-2 operating area: Sketchpad in use, aus: Ivan E. Sutherland: Sketchpad – A Man-Machine Graphical Communication System. In: Proceedings of the Spring Joint Computer Conference, Washington D.C. 1964, S. 329-346.

Der mit einem Lichtgriffel ausgestattete Nutzer brauchte auf dem Bildschirm lediglich einzelne Punkte anwählen und zwischen den Punkten Linien ziehen. Die daraus erstellten Grafiken ließen sich beliebig verändern und mit bereits angefertigten grafischen Elementen sowie einer Sammlung geometrischer Grundformen, wie Kreis und Quadrat, kombinieren. Sich wiederholende grafische Elemente, ein Relais in einer elektrischen Schaltzeichnung etwa, mussten damit nicht mehr einzeln angefertigt werden. Auf Knopfdruck konnten sie in die Zeichnung eingefügt werden. Entsprechend praktisch erwies sich Sketchpad für repetitive Zeichenaufgaben. Die Informationen, die dem Computer zur Berechnung vorlagen, umfassten neben den einzelnen grafischen Elementen auch deren Beziehungen. Wurde bspw. ein Detail eines Bauplanes verändert, ließen sich zugleich die Auswirkungen dieser Veränderung auf den gesamten Bauplan darstellen.

Im Rahmen von Sketchpad experimentierte Sutherland darüber hinaus mit der Animation, sprich der ‚Belebung’ der mit dem Computer erzeugten Bilder. Mögliche Einsatzfelder sah er im Trickfilm und in der künstlerischen Praxis. Ein erster eigener pygmalionhafter Versuch belief sich auf die Darstellung eines Frauenkopfes, dessen Augenlider sich bewegen konnten (vgl. Abb. 3)

Abb. 3: Winking girl „Nefertite“ and her component parts., aus: Ivan E. Sutherland: Sketchpad – A Man-Machine Graphical Communication System. In: Proceedings of the Spring Joint Computer Conference, Washington D.C. 1964, S. 329-346.

Dieser Frauenkopf taucht bei Sutherland als „girl Nefertite“ auf (Sutherland 1980).

Aus der Zusammenführung von Roberts` und Sutherlands Ansätzen geht schließlich das Programm Sketchpad III (Johnson 1963, 347-353). hervor, mit dem die Darstellung und direkte Manipulation dreidimensionaler Grafiken möglich wurde. Das ist zugleich die Voraussetzung für die Virtuelle Realität, deren Pointe vor allem darin besteht, die projizierten räumlichen Szenen unmittelbar auf das Gesichtsfeld und die Kopfbewegungen des Betrachters zu beziehen. Dem Betrachter entsteht dadurch der visuelle Eindruck, sich selbst im Bildraum zu befinden (vgl. Abb. 4).

Abb. 4: Head-Mounted Display , aus: Ivan E. Sutherland: Windows into Alice`s Wonderland. In: IEEE Student Journal, Sept., New York 1970, S. 36-41.

Dass sich mit Sutherlands und Roberts` Programmen eine Automatisierung sowohl des räumlichen Sehens als auch der Konstruktions- und Zeichenpraxis verbindet, hat Ende der 1960er Jahre bereits Nicholas Negroponte erkannt. In seinem Buch „The Architecture Machine“ (Negroponte 1970) spannt er einen Bogen von den ersten Perspektivzeichnungen und Zeichenautomaten bis zur dreidimensionalen Computergrafik und Virtuellen Realität auf.

Mit dem Stichwort des „Interactive Perspectivalism“ (Manovich) ist ein wesentliches Potenzial der grafischen Datenverarbeitung schon angesprochen, nämlich etwas räumlich abbilden und über Eingabegeräte direkt bearbeiten zu können. Über die Animation kommt die Bewegungsdarstellung und so ein zeitliches Moment hinzu. Das heißt, dass ein vom Computer berechneter wie modellierter Gegenstand nicht nur räumlich dargestellt werden kann. Seine Veränderungen in der Zeit lassen sich ebenfalls abbilden. Wenn Francis Bacon von den „Fällen der Erleuchtung“ erwartet hat, dass sowohl das räumlich weit Entfernte und unendlich Kleine als auch „die ständigen Prozesse oder die alles verknüpfende Reihe der Dinge und Bewegungen“ (Bacon 1990, Bd. 2, 469) zutage gefördert werden, dann stehen Computergrafik und -animation genau dafür ein.

Über die Berechnung und Darstellung raumzeitlicher Gegenstände bzw. Phänomene eröffnen sich vollkommen neue Möglichkeiten der Naturnachahmung, über die zugleich neue Einsichten in die Natur gewonnen werden können. Die entsprechende Simulation der Natur macht sichtbar, was sich der einzelnen, räumlich wie zeitlich begrenzten Wahrnehmung grundsätzlich entzieht. Dazu gehören etwa Wachstums- oder Transformationsprozesse, die, um beobachtet werden zu können, einen Jahrhunderte währenden Beobachtungszeitraum voraussetzen, oder aber solche, die auf der Nano-Ebene der Materie angesiedelt sind und selbst mit mikroskopischen Verfahren unzugänglich bleiben. Beispiele aus der wissenschaftlichen Visualisierung der 1980er und 1990er Jahre liegen mit der Simulation von Pflanzenwachstum vor. Hier sollte u.a. gezeigt werden, wie sich die Flora eines Gebietes unter verschiedenen Umwelteinflüssen entwickelt (entsprechende Projekte sind dokumentiert bei Earnshaw, Wiseman 1992). Dazu wurden auch die so genannten evolutionären Algorithmen herangezogen (zur Geschichte und den Anwendungsgebieten der evolutionären Algorithmen vgl. Nissen 1997). Sie beschreiben eine Formalisierung der innerhalb der Genetik und Evolutionstheorie aufgestellten Entwicklungs- und Vererbungsmechanismen. Zunächst für die Optimierung von Computerprogrammen eingesetzt, haben die evolutionären Algorithmen inzwischen auch in der Architektur und Kunst (vgl. Grau 2001, 199-211) Anwendung gefunden.

Solche Berechnungs- und Darstellungsmöglichkeiten standen Ivan Sutherland noch nicht zur Verfügung, doch waren ihre Grundlagen in den 1960er Jahren bereits gelegt. Somit kann deutlich werden, warum Sutherland in der frühen grafischen Datenverarbeitung ein Medium visueller Erkenntnis ermitteln konnte, das dem Teleskop und dem Mikroskop verwandt ist. Zum Ort der Sichtbarkeit wurde dabei der projizierte Bildraum. In ihm ließen sich nicht nur raumzeitliche Phänomene darstellen. Die Nutzer hatten zugleich direkten Zugriff auf diesen Bildraum, konnten ihn und seine Gegenstände mit dem Lichtgriffel, später der Maus und dem Datenhandschuh verändern. Diese Werkzeuge der Hand sind Teil und symbolischer Ausdruck der Naturbeherrschung, die – wie schon bei Francis Bacon – auch bei Sutherland auf die Naturnachahmung und die Natureinsicht folgt.

3. Informationsvisualisierung: die Sichtbarmachung von Wissensordnungen

Als eigenständiger Zweig geht die Informationsvisualisierung wesentlich aus den Bell Laboratories und dem Forschungszentrum des Xerox Konzerns hervor (vgl. Abb. 5).

Abb. 5: Information Visualizer, aus: Stuart K. Card et al.: The Information Visualizer: An Information Workspace. In: ACM Conference on Human Factors in Computing Systems, New York 1991, S. 181-188.

Das Aufkommen der Informationsvisualisierung hat die grafische Datenverarbeitung zur Voraussetzung. Dabei schließt die Informationsvisualisierung unmittelbar an die wissenschaftliche Visualisierung an. Während dort jedoch die neueren bildgebenden Verfahren, Computergrafik, Computeranimation und Virtuelle Realität, eingesetzt werden, um physikalische Vorgänge und Phänomene der Natur abzubilden, geht es mit der Informationsvisualisierung um die grafische Darstellung von Datenbanken, und zwar von nach bestimmten Kriterien geordneten Datenbanken. Damit ist schon auf die zweite wichtige Voraussetzung der Informationsvisualisierung hingewiesen. Das sind Such- und Klassifikationsprogramme, mit denen sich die Datenbanken automatisch ordnen lassen. George Robertson und Stuart Card sprechen hier von Agenten, die Suchprozesse ausführen, Informationen bündeln und grafische Ordnungsmuster generieren.

Das Aufkommen der Informationsvisualisierung in den 1980er Jahren ist jedoch nicht nur auf dem Hintergrund der grafischen Datenverarbeitung oder intelligenter ‚storage-and-retrieval’-Verfahren zu erklären. Es kommt die Akkumulation von Daten hinzu, die mit dem Computer vollkommen neue Ausmaße erreicht hat und eigene Lösungen der Datenverwaltung einfordert. Symptomatisch ist, dass sich die Informationsvisualisierung zu einem Zeitpunkt herausbildet, als sich das Internet gesellschaftlich durchzusetzen beginnt. Immer mehr Daten können immer schneller verarbeitet, übertragen und gespeichert werden. Was sich zunächst nach zunehmender Leistungsfähigkeit anhört, bezeichnet tatsächlich eines der zentralen Probleme der modernen Datenverwaltung; wie schon Vannevar Bush im Zusammenhang mit dem Mikrofilm feststellen musste (vgl. Bush 1945, 101-108). Denn die im Mikroformat gespeicherten Daten sind direkt nicht mehr zugänglich. Buchstäblich auf kleinsten Datenträgern verschwunden, entziehen sie sich der sinnlichen Wahrnehmung. Es entziehen sich auch die Materialität und die Gestalt der von den Daten repräsentierten Wissensgegenstände sowie deren räumliche, zeitliche und semantische Kontexte. Also genau jene Aspekte des Wissens, die für seine Organisation bisher noch immer wesentlich waren. Allein dieser Faktor lässt die Verfügbarkeit des Wissens kritisch erscheinen.

Eine alternative Geschichte der modernen Datenverwaltung könnte zeigen, inwieweit ihre Entwicklung von einer Re-aisthetisierung und Re-kontextualisierung der Datenbestände gekennzeichnet ist. Die Informationsvisualisierung beschreibt hier nur einen Versuch. Konkreter Ausgangspunkt ist dabei die begrenzte Bildschirmfläche, auf der lediglich ein kleiner Ausschnitt dessen sichtbar gemacht werden kann, was die Computer an Daten verwalten. So ist denn auch bei den frühen Projekten zur Informationsvisualisierung vom „small screen problem“ die Rede (vgl. etwa bei Henderson / Card 1986, 211-243) . Die effektive Ausnutzung dieser Fläche wird über räumliche Darstellungsverfahren gelöst, die mit der dreidimensionalen Computergrafik auch in die Informationsvisualisierung Einzug gehalten haben. Die Vorteile räumlicher Darstellungsverfahren scheinen auf der Hand zu liegen. Mit der dritten Dimension lässt sich die Fläche, auf der die Daten präsentiert werden, in die Tiefe verlängern. Von den selbst verräumlichten Datenbeständen können verschiedene Ansichten erzeugt werden. Darüber hinaus eignet sich die Perspektive als Ordnungsverfahren, insofern die Tiefenstaffelung der Größenverhältnisse und die abnehmende Texturgenauigkeit eine hierarchische Anordnung der Datenbestände erlauben.

Eine besondere Perspektive, die Fischaugenperspektive (vgl. Furnas 1986, 16-23), findet für die Informationsvisualisierung früh schon Einsatz. Die Fischaugenperspektive ermöglicht die gleichzeitige Darstellung von Detail und gesamtem Datenbestand, wobei sich das Detail im Fokus befindet und also maßstabsgerecht wiedergegeben ist, während alles, was jenseits des Fokus liegt, zunehmend verkleinert und verzerrt erscheint. Ein vergleichbares Verfahren ist das ‚document lens’-Verfahren ( (vgl. Abb. 6), bei dem wie mit einem virtuellen Vergrößerungsglas ein einzelner Eintrag fokussiert wird, hier die Seite eines Dokumentes.

Abb. 6: Document Lens, aus: Ramana Rao et al.: Rich Interaction in the Digital Library. In: Communications of the ACM, Vol. 38, No. 4, New York 1995, S. 29-39.

Mit diesen Verfahren, die innerhalb der Informationsvisualisierung als „focus+context techniques“ (Rao u.a. 1998, 38) bezeichnet werden, bleibt der Zusammenhang, in dem der einzelne Eintrag einer Datenbank steht, immer präsent. Sie dienen damit der Re-kontextualisierung der Datenbestände. Augenfällig an den Perspektive- und Zoomverfahren der Informationsvisualisierung ist ferner, dass sie den hergebrachten optischen Instrumenten und Bildmedien entlehnt sind: der Malerei sowie den Gläsern und Linsen, der Fotografie, dem Film.

Wie auch die räumliche Ordnung und bildhafte Darstellung von Wissen keine Erfindung der Informationsvisualisierung ist, sondern eine altgediente Praxis der Wissens- und Gedächtnisorganisation beschreibt, die sich wenigstens bis zur römischen Mnemotechnik zurückverfolgen lässt. Bezeichnend genug hat die römische Mnemotechnik (zur römischen Mnemotechnik vgl. Yates 1966) innerhalb der computer-basierten Datenverwaltung eine besondere Rezeption erfahren. Die Übersicht der Information Visualizer (vgl. Abb. 5) verdeutlicht, inwieweit die Informationsvisualisierung an die lange Kulturgeschichte räumlicher Wissensorganisation anknüpft. Es sind Bildräume zu sehen, in denen das gesammelte Arsenal hergebrachter Ordnungsmuster ausgestellt ist: klassische Baumstrukturen, dezentrale Netzstrukturen, topisch organisierte Datenbestände, die zum Teil als Landschaft vergegenständlicht sind. Die Informationsvisualisierung steht auf ihre Weise für die „Geometrie des Verstandes“ ein, die Michael Evans schon angesichts der geometrischen, indes noch enzyklopädisch-kosmologisch begründeten Diagramme und Schemata der mittelalterlichen Manuskriptkultur festgestellt hat (vgl. Evans 1980, 32-55).

Was macht die Informationsvisualisierung neben dieser Geometrie des Verstandes sichtbar? Zunächst und allererst die vom Computer verwalteten Datenbestände, die der sinnlichen Wahrnehmung direkt nicht mehr zugänglich sind. Die Informationsvisualisierung folgt dem Gebot des „making perceptual“. Die Datenbestände sollen jedoch nicht nur eine sichtbare Gestalt annehmen. Ihr Aufbau und ihre innere Struktur sollen ebenfalls hervortreten: „Large sets of data are reduced to graphic form in such a way that human perception can detect patterns revealing underlying structure in the data more readily than by direct analysis of the numbers. (...) Information visualization attempts to display structural relationships and context that would be more difficult to detect by individual retrieval requests.“ (Robertson u.a. 1993, 65.) Auf einen Blick soll sich zeigen können, in welchen Zusammenhängen die einzelnen Einträge und der gesamte Bestand stehen. Es geht um die unsichtbaren Muster, nach denen sich das Wissen organisiert.

Über die offen gelegten Datenbestände kann verfügt werden. Zum einen weil sie sichtbar und darüber überhaupt erst ‚greifbar’ geworden sind. Zum anderen weil die Nutzer die grafisch dargestellten Datenbestände direkt manipulieren können, indem sie auch hier bestimmte Ansichten und Ausschnitte der Bildräume auswählen oder aber eigene Ordnungskriterien festlegen, nach denen sich die Datenbestände organisieren. Die Nutzer können somit ihre eigenen Ordnungen des Wissens herstellen. Im Kontext der Informationsvisualisierung tauchen sie entsprechend als Regisseure wie Akteure auf, die Einsicht in das vom Computer verwaltete Wissen haben und dieses zugleich nach eigenen Regeln inszenieren können.Sichtbarmachung und Beherrschung eines Phänomens stehen bei der Informationsvisualisierung in einem ähnlich engen Zusammenhang. An die Stelle der Natur tritt hier allerdings die Beherrschung des Wissens.

Jeder Sichtbarkeit sind Grenzen gesetzt. Dies gilt auch für die Informationsvisualisierung. Nur weil sie grafisch dargestellt und räumlich angeordnet sind, erklären sich die Datenbestände nicht schon von selbst. Die Bilder der Informationsvisualisierung müssen ebenfalls entziffert und interpretiert werden, um einen Sinn zu ergeben. Dazu ist hier ein besonderes Wissen um die Ordnungs- und Gestaltungskriterien notwendig, zumal die Wahl der Merkmale, Klassifikationsbegriffe, Organisationsstrukturen, Perspektiven, Formen und Farben grundsätzlich darüber entscheidet, was von einem Datenbestand sichtbar wird und was verdeckt bleibt. Darüber hinaus kann mit der grafischen Darstellung eine neue Komplexität entstehen, die nicht so sehr der Sichtbarkeit, wohl aber der Lesbarkeit der Datenbestände entgegensteht. Die Visualisierungen vernetzter Datenbestände geben dafür ein gutes Beispiel ab, so wenn die Abbildung gleichzeitig aller Einträge und ihrer Verbindungen von Ordnung in Chaos übergeht und dabei eigene ästhetische Strukturen ausbildet. Damit ist auf die andere Seite der Sichtbarkeit zurückzukommen: nämlich Sichtbarkeit nicht als Erkenntnismittel, sondern als autonomes ästhetisches Ereignis, das auf sich selbst verweist und eigene Formen generiert.

Literatur:

Bacon, Francis: Neues Organon, 2 Bde., hg. v. Wolfgang Krohn, Hamburg 1990.

Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980.

Binkley, Timothy: Computed Space. In: Proceedings of Conference of the National Computer Graphics Association, Washington D.C. 1987, S. 643-652

Binkley, Timothy: The Wizard of Ethereal Pictures and Virtual Places. In: Leonardo. Computer Art in Context Supplemental Issue, Cambridge/Mass. 1989, S. 13-20.

Böhme, Hartmut: Das Unsichtbare – Mediengeschichtliche Annäherungen an ein Problem neuzeitlicher Wissenschaft. In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004.

Bredekamp, Horst: Der Mensch als »zweiter Gott«. Motive der Wiederkehr eines kunsttheoretischen Topos im Zeitalter der Bildsimulation. In: Dencker, Klaus (Hg.): Interface 1. Elektronische Medien und Künstlerische Kreativität, Hamburg 1992, S. 134-147.

Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993.

Bucci, Eric J.: Genetic Algorithms and Evolving Virtual Spaces. In: Bertol, Daniela: Designing Digital Space. An Architect`s Guide to Virtual Reality, New York 1997, S. 237-257.

Bush, Vannevar: As We May Think. In: Atlantic Monthly, Vol. 176, No. 1, Boston/Mass. 1945, S. 101-108.

Campbell-Kelly, Martin / Aspray, William: Computer. A History of the Information Machine, New York 1996, S. 165 ff.

Cutting, Doug u.a.: Information Theater versus Information Refinery, Xerox PARC Technical Report SSL-89101, Palo Alto 1990.

Dress, Andreas / Jäger, Gottfried (Hg.): Visualisierung in Mathematik, Technik und Kunst, Braunschweig / Wiesbaden 1999.

Earnshaw, Rae A. / Wiseman, Norbert: An Introductory Guide to Scientific Visualization, Berlin u.a. 1992.

Evans, Michael: The Geometry of the Mind. In: Architectural Association Quarterly, No. 12, Oxford 1980, S. 32-55.

Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Berlin 2002.

Fairchild, Kim M. u.a.: SemNet: Three-Dimensional Graphic Representations of Large Knowledge Bases. In: Guindon, Raymonde (Hg.): Cognitive Science and its Applications for Human-Computer Interaction, Hillsdale/NJ 1988.

Ferguson, Eugene S.: The Mind`s Eye: Nonverbal Thought in Technology. In: Science, Vol. 197, No. 4306, Washington D.C. 1977.

Furnas, George W.: Generalized Fisheye Views. In: Human Factors in Computing Systems, Amsterdam u.a. 1986, S. 16-23.

Grau, Oliver: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2001.

Henderson, Austin D. / Card, Stuart K.: Rooms: The Use of Multiple Workspaces to Reduce Space Contention in a Window-Based Graphical User Interface. In: ACM Transactions on Graphics, Vol. 5, No. 3, New York 1986, S. 211-243.

Johnson, Timothy E.: Sketchpad III: A Computer Program for Drawing in Three Dimensions. In: Proceedings of the Spring Joint Computer Conference, Montvale/NJ 1963, S. 347-353.

Krauss, Rolf H.: Jenseits von Licht und Schatten. Die Rolle der Photographie bei bestimmten paranormalen Phänomenen – ein historischer Abriss, Marburg 1992.

Krämer, Sybille: Über das Zusammenspiel von „Medialität“ und „Performativität“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 13: Praktiken des Performativen, hg. v. Erika Fischer-Lichte u. Christoph Wulf, Berlin 2004, S. 129-133.

Maignien, Yannick / Virbel, Jacques: Encyclopédisme et hypermédias: de la difficulté d`être à la complexité du dire. In: Tous les savoirs du monde: encyclopédies et bibliothèques, de Sumer au XXIe siècle, Ausst.-Kat., Bibliothèque Nationale de France, Paris 1996, S. 466-472.

Manovich, Lev: An Archeology of a Computer Screen. In: Kunstforum International, Bd. 132, Köln 1996, S. 124-135.

Manovich, Lev: The Mapping of Space: Perspective, Radar, and 3-D Computer Graphics. In: SIGGRAPH ´93 Visual Proceedings ACM, hg. v. Thomas Linehan, New York 1993, S. 143-147.

McCormick, B.H. u.a. (Hg.): Visualization in Scientific Computing, ACM SIGGRAPH Computer Graphics, Vol. 21, No. 6, New York 1987.

McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962.

Negroponte, Nicholas: The Architecture Machine. Toward a More Human Environment, Cambridge/Mass. 1970.

Nissen, Volker: Einführung in Evolutionäre Algorithmen. Optimierung nach dem Vorbild der Evolution, Braunschweig / Wiesbaden 1997.

Oeder, Werner: Momentbilder. Über die fotografische Synchronisation von Zeit, Bild und Geschwindigkeit. In: Fotovision. Projekt Fotografie nach 150 Jahren, Ausst.-Kat., Sprengel Museum, Hannover 1988, S. 204-210.

Prodger, Phillip (Hg.): Time Stands Still. Muybridge and the Instantaneous Photography Movement, New York 2003.

Rao, Ramana u.a.: Rich Interaction in the Digital Library. In: Communications of the ACM, Vol. 38, No. 4, New York 1995, S. 29-39.

Roberts, Lawrence G.: Machine Perception of Three-Dimensional Solids, Reprint from Optical and Electro-optical Information Processing, MS-920A, Cambridge/Mass. 1965, S. 159-197.

Robertson, George G. u.a.: Information Visualization Using 3D Interactive Animation. In: Communications of the ACM, Vol. 36, No. 4, New York 1993, S. 57-71.

Robin, Harry: The Scientific Image. From Cave to Computer, New York 1993.

Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003.

Schade, Sigrid: Charcot und das Schauspiel des hysterischen Körpers. Die Pathosformel als ästhetische Inszenierung des psychiatrischen Diskurses – ein blinder Fleck in der Warburg-Rezeption. In: Baumgart, Silvia u.a. (Hg.): DenkRäume. Zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin 1993, S. 461-484.

Selfridge, Oliver G. / Neisser, Ulric: Pattern Recognition by Machine. In: Scientific American, Vol. 203, No. 3, New York 1960, S. 60-68.

Sutherland, Ivan E.: Sketchpad. A Man-Machine Graphical Communication System, Ph.D. Thesis, MIT, 1963, Reprint, New York 1980.

Sutherland, Ivan E.: The Ultimate Display. In: Proceedings of the IFIP Congress, Amsterdam 1965.

Sutherland, Ivan E.: A Head-Mounted Three-Dimensional Display. In: Proceedings of the Fall Joint Computer Conference, Montvale/NJ 1968, S. 757-764.

Sutherland, Ivan E.: Computer Displays. In: Scientific American, June, New York 1970, S. 57-81.

User Interface Research Group: CNN Report on the Information Visualizer, Xerox Palo Alto Research Center, Palo Alto 1991.

User Interface Research Group: Information Visualizer 1988-1995, Xerox Palo Alto Research Center, Palo Alto 1995.

von Card, Stuart K. u.a.: The Information Visualizer: An Information Workspace. In: ACM Conference on Human Factors in Computing Systems, New York 1991.

Yates, Frances A.: The Art of Memory, London / Chicago 1966.