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Was ist Bildwissenschaft? Versuch einer Standort- und Inhaltsbestimmung


Autor: Peter Schreiber
[erschienen in: IMAGE 1: Bildwissenschaft als interdisziplinäres Unternehmen - Eine Standortbestimmung]

Schlagwörter: Bildlogik

Disziplinen: Informatik


Wir gehen davon aus, dass Informatik diejenige Wissenschaft und Technik ist, die sich mit der materiellen Repräsentation von Informationen, deren Erzeugung, Speicherung, Verbreitung, Übermittlung, Transformation in andere Darstellungsformen und ihrer Rezeption beschäftigt, unabhängig davon, mit welchen biologischen oder technischen Systemen dies geschieht und unabhängig davon, ob die Informationen als (räumliche oder zeitliche) Signalfolgen, Bilder, Geräusche, chemische Reize oder in sonstiger Form vorliegen. Computer Science ist "nur" derjenige Teil der Informatik, der sich mit der Realisierung der genannten Prozesse durch Computer oder verwandte technische Systeme beschäftigt, wobei freilich diese Seite in letzter Zeit in ihrer Bedeutung alle anderen Aspekte in den Hintergrund drängt. Computer Science konnte es nicht geben, bevor nicht wenigstens die Idee des Computers geboren war. Informatik hingegen hat eine Vorgeschichte, die nicht nur bis in die Anfänge der Menschheit sondern sogar in prähistorische Biologie hineinreicht.

Unter dieser Voraussetzung sei Bildwissenschaft derjenige Teil der Informatik, an dem bildliche Information in irgendeiner Weise beteiligt ist. Sie hat es also mit der Erzeugung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Rezeption von Bildern zu tun, wobei es aus der Sicht der Informatik sinnvoll ist, unter Bild primär die von einem zweidimensionalen Rezeptor (insbesondere der menschlichen Netzhaut, einem Fotoapparat, einer Videokamera) rezipierbare Information zu verstehen, die dann sowohl von einem Bild im engeren Sinne als auch zum Beispiel von einer dreidimensionalen Szene erzeugt sein kann. Außerdem schließt Bildwissenschaft selbstverständlich das bewegte bzw. zeitlich veränderliche Bild ein. Beteiligung von bildlicher Information bedeutet, dass es in der Bildwissenschaft auch um die Transformation von bildlicher in nichtbildliche Information und umgekehrt sowie um die ”Übersetzung” von Bildern aus einer Bildsprache in eine andere Bildsprache geht.

Bildwissenschaft ist wie die gesamte Informatik in erster Linie ein Feld aktiver, der Gegenwart und Zukunft zugewandter Wissenschaft und Technik. Zu ihren Kerngebieten gehören u.a. Computergraphik und Bildverarbeitung samt allen Nachbar- und Spezialgebieten, Neuroinformatik und Hirnphysiologie, soweit sie die Verarbeitung optischer Reize betrifft, mit der gleichen Einschränkung die psychologisch und in ihren Methoden phänomenologisch orientierte Wahrnehmungstheorie, ferner alle Formen der Visualisierung von den klassischen Methoden der darstellenden Geometrie bis zur Visualisierung des Abstrakten (graphische Darstellung von Objekten und Sachverhalten aus Mathematik, Statistik, Naturwissenschaft,...). Ein noch im Anfangsstadium stehendes, aber zukunftsträchtiges Gebiet ist die Bildlogik, d.h. die Übertragung der Konzepte der traditionellen Logik auf den Fall des inhaltlichen und dann auch des kalkülmäßigen Schließens aus der Kombination von optischen und nichtoptischen Informationen, wie es fundamental für das Überleben der meisten höheren biologischen Organismen, insbesondere aber des Menschen ist und für die Zwecke der Robotik, aber auch einer zukünftigen höheren Prothetik, technisch nachzubilden sein wird. (Höhere Prothetik bedeutet den Ersatz von ausgefallenen Sinnesorganen oder Hirnfunktionen.) Bei dieser Übertragung erweisen sich deutlicher als vorher Defizite der traditionellen formalen Logik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. vorwiegend von Mathematikern für die Bedürfnisse der damaligen Mathematik geschaffen wurde und sich daher lange Zeit auf die Untersuchung des Schließens aus Aussagen auf Aussagen beschränkte, deren Wahrheitsbewertung obendrein fast ausschließlich nach dem Schema wahr-falsch vorgenommen wurde, was außerhalb der Mathematik - vorsichtig gesagt- weltfremd ist. Informationen und insbesondere bildliche Informationen können jedoch auch Prozesse (Handlungsabläufe) oder Fragen übermitteln und in der Regel sind die ihnen zugewiesenen Bedeutungen nur mehr oder weniger wahrscheinlich zutreffend. Bildlogik gliedert sich wie Logik allgemein in (Bild)syntax und (Bild)semantik. Ich vermeide absichtlich den schon eingebürgerten Begriff der Bildgrammatik, weil er sich allzu eng an die Paradigmen der ”linearen Sprachen” anlehnt und in dieser Form (induktive Beschreibung der Struktur von Bildern aus Elementarbestandteilen mittels Zusammensetzungsregeln) nur für bestimmte Typen von bildlichen Darstellungen greift. Unter Syntax verstehe ich allgemeiner jede Art von Bildbeschreibung ohne Bezug auf mögliche Bedeutung. Dies schließt dann vor allem die praktisch wichtigen Fälle der Strichzeichnung als endliches Ensemble (approximativ) mathematisch beschreibbarer Kurven, das photorealistische Grauton- oder Farbbild als zweidimensionale Helligkeits- und/oder Farbtonverteilung und deren Diskretisierungen als sehr große endliche Wertetabellen ein, aber auch den historisch wichtigen Fall der Beschreibung einer Figur als geometrische Konstruktion (z.B. mit Zirkel und Lineal). Auf dieser syntaktischen Ebene spielen sich viele Bildverarbeitungsprozesse ab: Maßstabsänderung, Drehen und Spiegeln, ”Übersetzung” aus einer Bildsprache in eine andere, Ermittlung von Konturen, Kontrastverstärkung, Umfärben,... Gegenstand der Bildsemantik wird das Schlussfolgern aus bildlicher Information als eine im Allgemeinen wesentlich von subjektiven und zeitabhängigen Wahrscheinlichkeiten beeinflusste Auswahl der Bildbedeutung unter Berücksichtigung des vorhandenen Voraus- bzw. Zusatzwissens sein. Ein bereits beherrschbarer Modellfall sind die ”Beweise ohne Worte” in der Mathematik (hauptsächlich Geometrie und elementare Arithmetik), in denen ein gewisses Bild zusammen mit einer genau fixierbaren Menge von Vorauswissen Einsicht in die Gültigkeit eines Theorems gibt. Übrigens tritt in der Bildsemantik in verstärktem Maße das vor allem aus den formalisierten Sprachen der Mathematik bekannte Phänomen auf, dass sich unter den möglichen Bedeutungen eines Bildes immer auch das Bild selbst befindet: Ornamente bedeuten in der Regel nichts anderes als sich selbst, Werke der so genannten konkreten Kunst definieren sich dadurch. Eine allen Bedürfnissen der Bildwissenschaft genügende Logik muss vorab die Syntax und Semantik von Prozessbeschreibungen und Fragen und deren Verflechtung untereinander und mit den Aussagen ebenso präzise aufklären, wie es die klassische Logik für die Aussagen getan hat. Für Prozessbeschreibungen ist dies infolge der Bedürfnisse der Computer Science inzwischen weitgehend geschehen (Syntax und Semantik von Programmiersprachen, dynamische Logik), nicht jedoch für Fragen.

Analog zum „Rechnen“ mittels bestimmter Formelsprachen und Kalküle, bei denen prozesshaft aus textlich gegebenen Anfangsinformationen gewünschte Resultate gewonnen werden, dient konstruktive und besonders darstellende Geometrie dazu, durch die Manipulation zweidimensionaler Informationsträger kalkülmäßig Information zu erzeugen bzw. zu transformieren. Während gewöhnliche konstruktive Geometrie zweidimensionale geometrische Objekte, die primär sich selbst bedeuten, manipuliert (ändert, ergänzt) und klassische darstellende Geometrie das zweidimensionale Bild als Kodeobjekt für schwerer zu handhabende räumliche Objekte nutzt, fasst verallgemeinerte darstellende Geometrie das reiche Spektrum von Methoden zusammen, nach denen abstrakte Objekte bzw. Sachverhalte bildlich so repräsentiert werden, dass gewisse Prozesse stellvertretend an den bildlichen Repräsentanten vollzogen werden können.

Das Aufblühen von Elementen einer Bildwissenschaft an vielen Orten der Welt, ausgehend von verschiedenen der genannten Problemfelder mit zur Zeit noch sehr differenten Motiven und Zielen ist sicher zum Teil durch den Computer und seine weltweite Vernetzung bedingt, aber auch dadurch, dass die weltweite Kommunikation einen starken Bedarf an nicht sprachgebundenen Verständigungsmitteln hervorbringt. Angesichts vieler technischer, wirtschaftlicher und politischer Interessen wäre es schädlich, den geistes- und sozialwissenschaftlichen Aspekten der Funktionen von Bildern und des Umganges mit ihnen auch nur einen niedrigeren Rang als den naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen zuzuweisen, geschweige denn sie ganz aus der Bildwissenschaft auszugrenzen. (Letzteres geschieht ja bekanntlich auch in der Mutterdisziplin Informatik nicht.) Zu den gegenwärtigen Kernfragen gehören hier meiner Ansicht nach juristische und ethische, also z.B. Urheberrecht und Persönlichkeitsschutz. Ebenso schädlich für die Zukunft der Bildwissenschaft sind aber auch Tendenzen, sie als eine überwiegend philosophisch und sozialwissenschaftlich ausgerichtete Disziplin unter Vernachlässigung bzw. Verdrängung der naturwissenschaftlich-technischen Aspekte zu profilieren.

Eine durchaus zentrale Rolle in der Bildwissenschaft spielt die Kunstwissenschaft und -geschichte, die von allen beteiligten Disziplinen die längste Geschichte und Erfahrung, aber auch das am weitesten ausgearbeitete Instrumentarium im Umgang mit den Bildern hat. Es ist erfreulich im Sinne der Bildwissenschaft, dass diese Disziplinen in jüngster Zeit Tendenzen zeigen, sowohl das ”profane Bild” (z.B. Werbegraphik) als auch das naturwissenschaftlich-technische Bild in ihre Untersuchungen einzubeziehen. Wichtig scheint mir aber auch die historische Komponente der Bildwissenschaft. Dafür gibt es mindestens drei Gründe: Zum einen produziert die gegenwärtige technische Leichtigkeit der Herstellung, Manipulation und Verbreitung von Bildern eine Bilderinflation, deren langfristige Folgen noch gar nicht abzusehen sind. Daher soll man nach der Funktion der Bilder in unterschiedlichen historischen Situationen, den Zusammenhängen zwischen Weltanschauung und Bildnutzung bzw. -bewertung, zwischen den Techniken der Bildherstellung und der Verbreitung und Nutzung von Bildern und dem Einfluss der Bildbedürfnisse auf die Weiterentwicklung dieser Techniken in vergangenen Epochen fragen. Zum zweiten bedient sich die gegenwärtige Bildproduktion immer umfangreicher aus einem historisch gewachsenen Fundus von Bildideen, Bildstilen und Bildern, die zu den verschiedensten Zwecken genutzt und auch missbraucht werden. Daher sollte jeder angehende Informatiker, der sich auf Bildinformatik spezialisieren will, historische Grundkenntnisse über die Bilderzeugung und Bildnutzung der Vergangenheit haben. Drittens schließlich gehört Bildinformation und der Umgang mit ihr, wie eingangs konstatiert, zu den ältesten Bestandteilen menschlicher Kultur. Demgemäß hat Bildwissenschaft eine überaus reiche Vorgeschichte, die es unter den neuen Gesichtspunkten zu erkunden und zu ordnen gilt. Das schließt zum Beispiel ein, dass die Geschichte von Naturwissenschaft und Technik aufgefordert ist, ihr historisches Bildmaterial nicht wie bisher fast nur illustrativ zu nutzen sondern seine Erzeugung, Verbreitung und Nutzung, aber auch seine ästhetischen Qualitäten zum selbständigen Gegenstand historischer Forschung zu machen.

Fazit: An der Bildwissenschaft sind viele Disziplinen beteiligt: Mathematik, Logik und Computer Science, Physik, Physiologie und Psychologie, Druck- Film- und Videotechnik, Philosophie, allgemeine Geschichte, Naturwissenschafts- und Technikgeschichte, Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie. Die Aufzählung ist sicher nicht vollständig, und um die Reihenfolge sollte man nicht streiten. Wichtig ist, dass etwas Neues entstehen kann, indem sie alle zusammenwirken.