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Filmforschung und Filmlehre in der Hochschullandschaft


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[erschienen in: Filmforschung und Filmlehre (Themenheft zu IMAGE 2)]

Schlagwörter: Filmkompetenz

Disziplinen: Medienwissenschaft, Filmwissenschaft, Pädagogik

Gastautor: Klaus Keil


Der Beitrag beschreibt die aktuelle Lage der Filmlehre in der Hochschullandschaft in Deutschland.

The article describes the recent development of film education at the German universities.

Wie wir wissen, soll Filmkompetenz „integraler Bestandteil jeder pädagogischen Ausbildung an den Universitäten werden“. Im wichtigen filmpolitischen Kongress der Bundeszentrale für politische Bildung und der FFA vom vergangenen Jahr wird ausdrücklich auf Filmkompetenz und nicht auf Medienkompetenz abgehoben. Denn wie es dort heißt, ist „der Film die Mutter aller audiovisuellen Medien: Seine Sprache – die eine Bildsprache, eine Ton- und Musiksprache und eine narrativ-dramaturgische Sprache ist – muss sozusagen als die „Alt-Sprache“ der Medienpädagogik begriffen werden, als Ursprung und Grundlage der audiovisuellen Grammatik“. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aus der damaligen Rede unserer Staatsministerin Christina Weiss zitieren. Sie sagte: „ … die Vermittlung einer Filmkompetenz, die ich als Teil einer übergreifenden Medienkompetenz verstehe, muss unmittelbar am Film ansetzen, im lebensweltlichen Nahbereich, bei den alltäglichen, den standardisierten, den durchformatierten Bildern. Nur wer gelernt hat, wie selbst die alltäglich scheinenden Bilder GEMACHT werden, kann ein eigenes Verhältnis zu ihnen entwickeln, kann abwägen, kann die Chance zur Distanz ergreifen. Dieses Vermögen wird heute immer wichtiger, wird inzwischen doch bereits das Selbstgespräch unserer Gesellschaft zum Gutteil über filmische Bilder vermittelt: über Nachrichten, über „Infotainment“ oder auch über Talkshows und Daily-Soaps, die längst den Charakter ethnologischer Langzeitstudien angenommen haben … “. Soweit Frau Dr. Weiss. Aber nicht nur bei den „standardisierten, durchformatierten“ Bildern des Fernsehens, insbesondere beim Kinofilm, der ja bewusst manipulieren will.

Eines der großen Missverständnisse unserer Zeit scheint mir darin zu bestehen, dass der Film, das Fernsehen, Video und DVD allein zur Unterhaltung, zur Information und zum Konsum gezählt werden. Die entscheidenden Fragen: Wie ein Film oder ein Video gemacht werden? – Warum welche Geschichten erzählt werden? – Warum wir darüber plötzlich traurig werden können oder wir uns vor Lachen ausschütten? – diese Fragen werden nicht gestellt, denn wie Christina Weiss es in ihrer zitierten Rede formuliert: „leidet Deutschland unter einer gesamtgesellschaftlichen Filmlese-Schwäche. Also nur wer etwas über die „GEMACHTHEIT“ von Bildern weiß, kann differenzieren, kann Absichten erkennen und kann also bewegte Bilder lesen.“

Weil ich von „Film- in der Lehrerausbildung“ nicht wirklich etwas verstehe, habe ich dieses Thema geändert in „Filmausbildung an Filmhochschulen in Deutschland“. Denn das ist eher mein Fachgebiet.

Wir haben in Deutschland eine äußerst heterogene Filmausbildungs-Landschaft. Es gibt allein sieben Filmhochschulen, bzw. -akademien: in Babelsberg, in Berlin, in München, Köln, Ludwigsburg, den Studiengang Film in Hamburg und die Hamburg Media School. Es sind sogar 8, wenn ich die Internationale Filmschule Köln hinzunehme. An Universitäten, Kunsthochschulen und Fachhochschulen können Sie in ungezählten Studiengängen Film studieren. (Allein in Berlin gibt es ca. 47 Möglichkeiten.) gar nicht zu sprechen. Sind in einem solchen unübersichtlichen Terrain so etwas wie Standards möglich - im Sinne einer gemeinsamen Sprache, im Sinne von gleich lautenden Definitionen und Vereinbarungen eine Form von Normierung, kurz gesprochen eine „Vereinheitlichung“? Die Antwort ist kurz und heißt ja.

Es gibt existierende und wünschenswerte Standards. Zu den existierenden gehören eine Vielzahl von Büchern – also Standardwerke – insbesondere über Dramaturgie und das Drehbuchschreiben, über die Inszenierung, den Schnitt und das Produzieren. Es gibt über die Bildsprache eine ganz herausragende DVD vom sehr geschätzten Kollegen Rüdiger Steinmetz. Es gibt noch mehr, es gibt natürlich ausgewählte Filme mit begleitenden Filmheften z.B. von der Bundeszentrale für politische Bildung …

Was wären dann wünschenswerte Standards? Dieses sehr große Thema kann ich jetzt nicht auffächern, sondern das ist ja insgesamt das Thema der Tagung. Aber ich möchte ihnen gerne ein Stichwort zum Thema nennen, nämlich „INTERDISZIPLINARITÄT“. Das heißt zunächst, dass der Film – und wenn ich von Film spreche, meine ich immer auch den Fernsehfilm – quasi janusköpfig ist. Er verkörpert immer zugleich Kommerz und Kunst. Die Interdependenzen der beiden Pole Mainstream- und Arthouse-Film sind mannigfaltigst und stets eine Frage des Akzentes, z.B. kann man sich „Good Bye, Lenin!“ als US-Mainstream vorstellen: mit Julia Roberts als Mutter, Brad Pitt als Hauptrolle Alex und Ostberlin digital designed … oder etwa als deutsches Drama: dunkel, schwer, tödlich, am Ende stirbt die Mutter … „Good Bye, Lenin“ ist aber so wie der Film geworden: ein kommerzieller Arthouse Film. Die Wechselwirkung von Qualität und Geld ist dabei besonders auffällig. Denn mit mehr Zeit kann ein Film z.B. sorgfältiger vorbereitet, inszeniert und fertiggestellt werden. Mehr Zeit bedeutet natürlich höhere Produktionskosten.

Es gibt aber auch noch einen zweiten Aspekt der Interdisziplinarität – nämlich „Nebenvorstellungen“. Diese betreffen das Verstehen und das Verständnis der anderen Bereiche einer Filmherstellung. Ich muss z.B. als Regisseur Grundbegriffe der Produktion verstehen. Ich muss wissen, welche Zwänge die Finanzierung eines Filmwerkes auslöst und warum eine Kalkulation einen Film so rechnet, wie sie ist und nicht anders. Ein Drehbuchautor muss wissen, was er schreibt. Etwa: „Der Rhein tritt über die Ufer, der Dom fällt in Schutt und Asche“ – Nur eine Zeile in einem Drehbuch, aber enorme Auswirkungen für die Realisation. Mit diesem Verstehen der Arbeits- und Verantwortungsbereiche der Anderen wächst Vertrauen. In diesem Vertrauen entwickelt sich eine Achtung und Würdigung der Arbeit der Anderen. So wächst Professionalität. Das ist auch ein Teil der Theorie. Die Wirklichkeit in der gesamten deutschen Filmausbildung sieht leider immer noch anders aus. Das Grundsatzproblem ist meiner Ansicht nach mangelnde Interdisziplinarität. Wie unterschiedlich die Filmausbildung an deutschen Filmhochschulen – 7 bis 8 hatte ich ja aufgezählt – sein kann, möchte ich exemplarisch an zwei Beispielen darstellen: nämlich der deutschen Film- und Fernsehakademie zu Berlin, der dffb, und der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Diese hat bisher 10 Studiengänge und wird ab Herbst dieses Jahres 11 haben. Sie ist nicht nur die älteste Filmhochschule in Deutschland, gegründet 1954, sondern auch die größte mit ca. 500 Studenten. Ein solch breites Fächerspektrum, 11 Studienfächer, spiegelt im Prozess der Herstellung eines Filmes alle Abteilungen und deren Zusammenspiel wider. Die dffb ist die kleinste Filmakademie, ca. 80 Studenten, gegründet 1966, mit drei Studiengängen (Regie, Kamera, Produktion) plus die Drehbuchakademie an der dffb. Alle Studenten an der dffb haben ein gemeinsames zweijähriges Grundstudium – eine Art Filmstudium generale. Systematisch aufgebaute Kurse führen in alle Sparten und Techniken des Filmemachens ein, also etwa Filmgeschichte, Dramaturgie oder Regie, Schauspiel und Kameraführung, in digitale Technologien oder in Organisations- und Marktstrukturen. Alle Studenten absolvieren in diesen beiden Jahren kleinere praktische Film- und Videoübungen, bei denen die Studenten in wechselnden Rollen agieren. Im zweijährigen Hauptstudium erfolgt dann die Spezialisierung in den jeweiligen Fächern Regie, Kamera oder Produktion. Der Studiengang für die Drehbuchstudenten ist ähnlich aufgebaut, da sie aber insgesamt nur zwei Jahre studieren, ist das Studium generale nur ca. 4 Monate. Aber immerhin lernen auch diese etwas über wirtschaftliche Zusammenhänge, über Inszenierungsstile, über Produktion ganz allgemein oder über z.B. den Dokumentarfilm.

Auch an der Hochschule für Film- und Fernsehen in Babelsberg üben die Studenten die Teamarbeit und das gegenseitige Verstehen, allerdings nicht in einem breiten gemeinsamen Grundstudium sondern in vielfältigen gemeinsamen Filmübungen. Man muss sich einmal vorstellen, welch gewaltiges Potenzial insbesondere in der Interdisziplinarität der 11 Studiengänge liegt: alphabetisch geordnet sind das folgende: Animation, AV-Medienwissenschaften, Filmmusik, Film- und Fernsehdramaturgie/ Drehbuch, Film- und Fernsehproduktion, Film- und Fernsehregie, Kamera, medienspezifisches Schauspiel, Montage, Szenografie und Ton. „Das besondere Anliegen der Hochschule liegt in der Verbindung von künstlerischen und wissenschaftlichen Studiengängen mit einem theoriegeleiteten praxisbezogenen Studium.“, wie es die Philosophie der HFF formuliert. Ich würde ergänzen: und technologisch-orientierte Studiengänge wie Kamera und Animation. Hier wird ein enorm breites Spektrum an Möglichkeiten/ Spannungen aufgeblättert. Es ist klar, dass sich diejenigen Studiengänge, die sich mit den Inhalten und der Herstellung von Filmwerken insgesamt beschäftigen also die Studiengänge Produktion, Regie, Dramaturgie, Animation und auch Medienwissenschaften sich in einer Auseinandersetzung der besonderen Art etwa mit Kamera, Montage oder Szenografie und Ton befinden und dass hier der Diskurs erheblich spezifischer und wirklichkeitsnaher geführt werden kann als etwa in der eher akademiehaft geführten dffb. Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile: An der dffb werden die Studenten sehr früh zueinander geführt, sozusagen filmsozialisiert, um später in der Spezialisierung dieses Grundverständnis möglicherweise wieder zu vergessen. Die Ausbildungsprogramme an der HFF beginnen sofort mit der Spezialisierung und führen die Studenten später in den praktischen Filmübungen zusammen. Dort wird eher permanent die Sozialisierung betrieben. Jedenfalls ist dieser Methodenstreit fast so alt wie das Zitat von Friedrich dem Großen „Jeder möge nach seiner Facon selig werden“. Entscheidend jedenfalls ist der Gedanke der Interdisziplinarität. Von der Qualität der Lehrenden, von deren Leidenschaft (oder auch nicht), von deren Charisma (oder nicht), von deren Zuwendung zu den Studenten (oder nicht) hängt sowieso alles ab. Bei dem künftig einzuführenden Modularsystem der Bachelor- und Master-Grade bin ich mir nicht sicher, ob sie eine Stärkung oder Verwässerung der Interdisziplinarität bewirken werden. Sicher aber ist, dass es dadurch eine Vergleichbarkeit, keine Vereinheitlichung, aber eine Vergleichbarkeit der einzelnen Module erzeugen wird, was hilfreich ist.

Ich hatte zu Beginn von Standards und einer Vereinheitlichung gesprochen, davon, dass man dieselbe professionelle Sprache sprechen muss, um zu verstehen, was der Andere meint. Ein Ansatz dazu könnte aus vielfältigen und substanziellen Gründen der Filmkanon sein. Und zwar in der Kombination etwa mit der DVD von Rüdiger Steinmetz und z.B. mit dem so genannten Standardlektorat der Film/Medienboard Berlin-Brandenburg. Während meiner Zeit dort beim Filmboard wurde das Standardlektorat entwickelt, weil es international eine hohe Bedeutung hat. Bei uns jedoch nicht: 70 Prozent der Film- und Fernsehproduzenten in Deutschland arbeiten nicht mit einem Lektorat!

Mit Lektoraten werden Stoffvorschläge gefiltert und qualitative Merkmale eines Stoffes benannt. Es geht um das Einschätzen von Stoffpotenzial, welches schnell und zuverlässig für ganz verschiedene Berufsgruppen wie Produzenten, Regisseure, Verleiher, Förderer oder TV-Redakteure, beurteilt werden muss. Ein detaillierter Fragenkatalog vermittelt Transparenz und Know-how und legt die Basis für eine gemeinsame Sprache bei der Verständigung über Stoffe, Inhalte und bei deren Einschätzung. Sie können dieses Standardlektorat auf der Homepage der Medienboard herunterladen und Sie werden u. a. Fragen finden, die sie schon immer über ein Drehbuch wissen wollten. Genau in der Sprache formuliert, die die professionellen Filmleute verwenden und deren Bedeutung eindeutig ist. Da geht es um dramaturgische Komplexe wie Struktur, Figuren, Plot, u. a. Also z.B. Fragen zum „emotionalen Thema“, etwa: worum geht es der Hauptfigur in Wirklichkeit? Kennen wir ihr tiefer liegendes emotionales Bedürfnis? Oder etwa die ganz einfache Frage zu den Figuren/ „characters“: Sind diese Figuren/ Charaktere glaubwürdig? Oder die ebenso einfache Frage bezüglich der Struktur: Gibt es einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss für die Geschichte? Und so gibt es weitere Fragen zum Dialog, zur Visualität, zur Originalität, zum Marktpotenzial, zu Auswertungschancen, zu Zielgruppen, insgesamt, die wie ein Raster auf ein Drehbuch, aber auch auf einen Film angewendet werden können. Dies sind nur einige Möglichkeiten. Wir müssen das Vorhandene nutzen. Bei der DVD von Prof. Steinmetz wird dies deutlich. Solche, bereits vorhandenen großartigen Lehr- und Lernmittel müssen wir nutzen.

Was wollen wir mit all dem erreichen? Wir wollen damit Bilder lesen lernen, Erzählmuster erkennen. Wir wollen vor allen Dingen wissen, mit welchen Mitteln emotionale Wirkung im Film erzielt wird und damit Manipulation. Denn genau das will Film: unsere Gefühle manipulieren, aber hinterher müssen wir unbedingt relativieren können. Wir brauchen dazu den geschulten, filmkritischen, aber sachkompetenten Blick. Wir müssen uns im Klaren sein, dass die GEMACHTHEIT von Bildern heute kaum noch vom authentischen Abbild der Wirklichkeit zu unterscheiden ist. Das müssen wir lernen und vermitteln … dazu brauchen wir filmkompetente Lehrer!