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Entmaterialisierte Blicke – Phänomenologische Betrachtungen im Zeitalter des digitalen Kinos


Autor: Michael Albert Islinger
[erschienen in: Die schräge Kamera. Formen und Funktionen der ungewöhnlichen Kameraperspektive in Film und Fernsehen (Themenheft zu IMAGE 1)]

Schlagwörter: Filmwahrnehmung, Leiblichkeit

Disziplinen: Filmwissenschaft, Phänomenologie


In der Filmwissenschaft ist es weit verbreitet, die Gestaltung von Filmen hinsichtlich der verwendeten Kameraperspektiven, Einstellungsgrößen und deren Besonderheiten zu beschreiben. Bei dieser Zugangsweise wird unweigerlich der kreative Prozess zwischen Regisseur, Kameramann und dem übrigen Drehstab thematisiert, obwohl dieser bei der Aufführung im Kino nicht beobachtet werden kann.
Die Filmphänomenologie klammert den Bezug zur Herstellung aus und beschreibt ausschließlich die Phänomene bei der Wahrnehmung eines Films.

In der Filmwissenschaft ist es weit verbreitet, die Gestaltung von Filmen hinsichtlich der verwendeten Kameraperspektiven, Einstellungsgrößen und deren Besonderheiten zu beschreiben. Bei dieser Zugangsweise wird unweigerlich der kreative Prozess zwischen Regisseur, Kameramann und dem übrigen Drehstab thematisiert, obwohl dieser bei der Aufführung im Kino nicht beobachtet werden kann. Selbst wenn Filmwissenschaftler die Dreharbeiten beobachten würden, könnten sie daraus keine Schlüsse über den fertig geschnittenen Film ziehen. Verwendet man also den Begriff der Kameraperspektive als Beschreibungskriterium, so abduziert man von den spezifischen Größenverhältnissen der Gegenstände im Bild und deren Bewegung sowie der Trennung zwischen aktuell sichtbarem und gegenwärtig unsichtbarem durch den Bildkader den mutmaßlichen Produktionsablauf der jeweiligen Einstellung. Die Filmphänomenologie klammert den Bezug zur Herstellung oder wenn man es so ausdrücken will auf die Genesis des Films aus und beschreibt ausschließlich die Phänomene bei der Wahrnehmung eines Films. Daher kann aus Sicht der Phänomenologie die Frage nach den Formen und Funktionen schräger oder ungewöhnlicher Kameraperspektiven im Film nicht ohne einige Vorbemerkungen grundlegender Natur beantwortet werden. Es gilt zunächst zu klären, welche besondere Erscheinungsqualität mit diesem Phänomen gemeint ist und was in der situativen Erfahrung der Filmwahrnehmung überhaupt als schräg oder ungewöhnlich aufgefasst werden kann. Insbesondere die jüngsten Entwicklungen des digitalen Kinos können hier zu einer Klärung beitragen, weil sie durch die Irritation des Neuen die Aufmerksamkeit für Phänomene schärfen, die auch an analog hergestellten Produktionen zu beobachten sind.

Die unsichtbare Kamera und die Leiblichkeit des Blicks

Der Begriff der Kameraperspektive bezeichnet zunächst die Relation zwischen einem Ort, von dem aus gesehen wird und einem Gegenstand oder auch einem Ensemble von Gegenständen, der von diesem Ort gesehen wird. Gewöhnlich wird dieser Ort in der Filmwissenschaft als Position der Filmkamera adressiert, welche technisch betrachtet in ihrer Funktion mit der Camera obscura vergleichbar ist, weshalb die von ihr produzierten Bilder den Gesetzen der monokularen Zentralperspektive entsprechen. Daher definieren auch Filmbilder aufgrund der geometrischen Regeln, den Ort von dem aus abgebildet wird, wenngleich dieser Ort nicht sichtbar und nicht Teil der Repräsentation ist. Mit dem Begriff der „Kameraperspektive“ wird der Ort von dem aus gesehen wird näher bestimmt als Apparat und Materialität der Filmkamera. Für eine filmwissenschaftliche Untersuchung, die den Produktionsprozess des thematisierten Films in den Mittelpunkt rückt, also etwa beschreibt durch welche technischen und handwerklichen Operationen der Kameramann und der Regisseur bestimmte Effekte erzielen, scheint der Begriff „Kameraperspektive“ eine durchaus sinnvolle Verwendung zu finden.

Bei den meisten filmtheoretischen und filmphilosophischen Arbeiten ist das Interesse jedoch anders gelagert. Entweder wird der Film der Betrachtung eines souveränen und objektiven Wissenschaftlersubjektes ausgesetzt, welches die Möglichkeit einer Betrachtung des Filmes unabhängig von dessen Produktion aber zugleich auch Rezeption unterstellt. Oder man versucht im Sinne des „audience turn“ zu beschreiben, wie ein bestimmter Film oder Filme im Allgemeinen auf das Publikum wirken. Beide Varianten haben bezüglich der Kameraperspektive eines gemeinsam: Die Kamera ist nicht sichtbar. Weder dem wissenschaftlichen Blick noch dem „empirischen Kinobesucher“ erscheint eine Kamera, noch ist sie über irgendeinen Umweg als Stätte der Bildproduktion mit Sicherheit anzugeben. Zwar gibt es viele Filme die in einem Akt der selbstreflexiven Wendung eine Kamera oder gar einen ganzen Drehstab im Bild zeigen, doch handelt es sich dabei nie um diejenige Kamera, welche das aktuell sichtbare Bild aufnimmt. Die Kamera ist ebenso wie unsere Augen als notwendige Bedingung des Sehens selbst nicht sichtbar. So evident der Befund der unsichtbaren Kamera auch ist, in der Terminologie der Filmtheorie wird ihm bis heute nicht ausreichend Rechnung getragen. Die Rede von der Kameraperspektive arbeitet daher stets mit einer Unterstellung, die als solche jedoch nicht thematisiert wird. Man bezieht sich mit diesem Begriff auf das Phänomen, den Ort des Sehens, den Standpunkt der aktuell sichtbaren Präsentation rekonstruieren zu können und sogar Bewegungen dieses Blickpunktes sehen und beschreiben zu können. Was für den Begriff der „Kameraperspektive“ gilt, betrifft in gleichem Maße Begriffe wie „Kamerafahrt“, „Handkamera“ und „Kameraschwenk“. Auch diese Begriffe beziehen sich auf die Produktion von Filmen, nicht aber auf die Erfahrung bei deren Rezeption. Das Phänomen des bewegten Blickpunktes im Film mit der Unterstellung einer Kamerabewegung zu beschreiben, bedeutet, sich metaphorisch auf ein sichtbares Phänomen zu beziehen.

Man mag nun einwenden, dass der Begriff der „Kameraperspektive“ in der Terminologie der Filmwissenschaft fest etabliert ist und er zudem eine empirische Tatsache zum Ausdruck bringt, nämlich dass Filmbilder in einer Kamera belichtet werden, die in einem räumlichen Verhältnis zu der abzubildenden Szene steht. Dies ist unbestritten für die allermeisten Filmproduktionen der letzten hundert Jahre mit Ausnahme von Zeichentrickfilmen zutreffend, ändert aber nichts an der Evidenz der unsichtbaren Kamera bei der Filmwahrnehmung.

Um die eben formulierte Kritik am Begriff der Kameraperspektive zu stützen, werden sich die folgenden Beschreibungen auf die gegenwärtige Kinokultur beziehen, die vermehrt von digitalen Technologien geprägt ist. Am deutlichsten wird dies an Blockbuster-Produktionen aus Hollywood, die in diesen Überlegungen weder einen festen Kanon bilden, noch durch deren exemplarischen Charakter zu bedeutenden oder künstlerisch besonders wertvollen Filmen erhoben werden sollen. Der Grund für die Konzentration auf industriell für ein Massenpublikum produzierte Spielfilme liegt ausschließlich in der technischen Perfektion, die hier in Computeranimation und Digital Compositing erreicht wird. Meiner Ansicht nach stellen diese zunächst nur technischen Erfindungen auch für die Filmphilosophie neue Fragen und Probleme ontologischer und epistemologischer Art. Konnte man bisher die Kamera als Stätte der Bildproduktion sicher annehmen und seine theoretischen Beschreibungen an ihr orientieren, gilt es nun verstärkt, die am analogen Filmmedium gebildeten Konzepte und Begrifflichkeiten zu reflektieren. Für die Problematisierung von Kameraperspektiven bedeutet dies, dass die Bezugnahme auf die Kamera nicht nur eine Unterstellung ist, die sich in der Praxis der Filmproduktion verifizieren oder falsifizieren lässt, sondern lediglich eine metaphorische Beschreibung des sichtbaren Phänomens der Perspektivität bedeutet. Es gibt nun zwei Wege, wie man dem kameralosen und daher entmaterialisierten Wahrnehmen der computeranimierten Filme auf theoretischer Ebene entsprechen kann.

Man kann sich erstens darauf verständigen, dass computeranimierte Filme sich phänomenal nicht grundlegend von analog photographierten Filmen unterscheiden und daher den Begriff der Kameraperspektive beibehalten. Man spricht dann das sichtbare Phänomen, dass es immer einen Ort gibt, von dem aus gesehen wird, über die Metapher der Kamera an, als könnte man den Entstehungsprozess der Bilder beobachten. Dies hat den Vorteil, dass die gewachsene und differenzierte Rhetorik, die an der Materialität der Kamera gebildet ist, nicht verändert werden muss und dennoch ihre Aussagekraft behält. Denn wie sich leicht beobachten lässt, hat die digitale Filmproduktion nicht notwendig qualitative Konsequenzen für die Wahrnehmung von Filmen. Das Erleben von Perspektivität und Ortsveränderung bleibt davon weitgehend unangetastet. Somit bleibt die Metaphorik der Kamera für die Beschreibung von filmischen Wahrnehmungsverläufen durchaus sinnvoll, nur gilt es dabei zu reflektieren, dass die Rede von Kamerafahrten, -schwenks und -perspektiven auf einer stillschweigend akzeptierten Unterstellung beruht und nicht mehr als ein Sprachbild ist.

Der zweite Weg um der entmaterialisierten Filmwahrnehmung auf theoretischer Ebene zu entsprechen, besteht darin, sich an das in der Filmwahrnehmung gegebene zu halten und diese Phänomene zu beschreiben. Man verzichtet damit auf Unterstellungen, welche die Herkunft und die Ursache der Bilder auf der Leinwand betreffen. Was die jüngste Vergangenheit der Filmproduktion zeigt, sind zu einem großen Teil künstliche Welten, die erst durch die wachsende Perfektion der Computeranimation darstellbar wurden. Hier wird vor allem das Fehlen von Menschen auf der Leinwand zum sicheren Indiz für die Digitalität, die an Filmen wie A BUGS LIFE (USA 1998, John Lasseter/Andrew Stanton), ANTZ (USA 1998, Eric Darnell/Tim Johnson), TOY STORY (USA 1995, John Lasseter), ICE AGE (USA 2002, Carlos Saldanha/Chris Wedge) und MONSTERS INC (USA 2001, Peter Docter/David Silverman/Lee Unkrich) jedem offensichtlich wird. Dabei ist die hier zutage tretende Differenz zu analog produzierten Filmen, vom Zeichentrickfilm gut bekannt, dem die genannten Filme stilistisch und narrativ stark angenähert sind.

Unter filmphilosophischen Gesichtspunkten sind eher die Produktionen interessant, welche die Differenz analog-digital auf phänomenaler Ebene zum Verschwinden bringen. Dies geschieht vorwiegend durch das Verfahren des Digital Compositings, einer Technik, die es erlaubt, analog gefilmte Realszenen mit computeranimierten Figuren und Kulissen zu verschmelzen. Dieses Verfahren hat mittlerweile eine solche Perfektion erreicht, dass viele Spezialeffekte wie Stop-Motion Animation dadurch verdrängt wurden. Mit Perfektion meine ich, dass man diesen Filmsequenzen nicht ansehen kann, dass sie ihre Sichtbarkeit Computerprogrammen verdanken. Die Hardware und Software bleibt im Kino ebenso unsichtbar wie Kamera und Filmstreifen. Das Urteil, computeranimierte Gegenstände zu betrachten, ist entweder durch ausserfilmische Informationen gebildet oder entstammt dem Vergleich mit unserer lebensweltlichen Erfahrung. Es wird dann geschlossen, dass das aktuell Sichtbare nicht der Erfahrungswirklichkeit entspricht oder es sich um Gegenstände und Figuren handelt, die nicht existieren können. Der unmittelbaren Wahrnehmung ist diese Differenz jedoch nicht zu entnehmen. Die freie und für den Zuschauer nicht transparente Kombination von gefilmten Realszenen und computeranimierten Elementen, die in Filmen wie STAR WARS: EPISODE I+II (USA 1999 u. 2002, George Lucas), SPIDER MAN (USA 2002, Sam Raimi), MINORITY REPORT (USA 2002, Stephen Spielberg) und PANIC ROOM (USA 2002, David Fincher) beobachtet werden kann, zeigt eine phänomenale Indifferenz der Techniken der Bildproduktion. Was diese Filme mit allen herkömmlich-analog gefilmten Produktionen teilen, sind visuelle Phänomene, Arten der Bewegung im Blickfeld, welche für die Problematik der Kameraperspektive zwei Schlussfolgerungen zulassen: erstens ist es den Filmbildern nicht anzusehen, ob eine Kamera an ihrer Entstehung beteiligt war und zweitens hat jede Filmwahrnehmung eine leibliche Situation in ihrer Welt.

Existentielle Bilder – Die Phänomenologie der Filmwahrnehmung

Für eine phänomenologische Reflektion über die Filmwahrnehmung wie sie hier praktiziert wird, bedeutet die erste Folgerung, dass der Begriff der Kameraperspektive zwar ein Phänomen bezeichnet, welches weiterer Überlegungen bedarf, er aber einem anderen Bezugssystem entstammt (er hat eine materialistisch-technologische Referenz), das in phänomenologischen Überlegungen notwendig ausgeschlossen bleibt. Ganz dem Grundsatz Edmund Husserls folgend, „dass alles was sich der Intuition originär darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken in denen es sich gibt“ (Husserl 1980, 51), muss die Frage nach der technischen Entstehung von Filmen vollständig ausgeklammert werden und stattdessen beschrieben werden, wie die Filmwahrnehmung selbst uns erscheint. Was in der Filmwahrnehmung nicht sichtbar ist, kann auch nicht zu einem Gegenstand der Beschreibung werden.

Dennoch gibt es stets einen Ort, von dem aus wahrgenommen wird und der sich nach den Gesetzen der Perspektive in das Bild als Feld des Sichtbaren einschreibt. Es gibt also ein Außen des Bildes, das nie gesehen wird und doch eine bildkonstituierende Funktion einnimmt. Dieser Ort, der in einer instrumentellen Auffassung vom Kino mit der Kamera besetzt wird, ist in vielen Filmtheorien eine vakante Schlüsselposition, welche vor allem in der psychoanalytisch geprägten Filmtheorie als Ziel diverser Identifikations- und Partizipationsleistungen des Zuschauers beschrieben wird (vgl. Aumont et alii 1999, 182-238). Auch für die phänomenologische Filmtheorie ist dieser unsichtbare Ort der Wahrnehmung ein Ort von Besetzungen eigener Art, jedoch nie Gegenstand einer Identifikation des Zuschauers. Mit der Antwort auf die Frage, wie und wodurch die phänomenologische Filmtheorie den Ort von dem aus wahrgenommen wird besetzt, ist auch eine genuin phänomenologische Deutung des Begriffs der Kameraperspektive und der Funktion des damit angesprochenen Phänomens in der Filmwahrnehmung verbunden.

Die Phänomenologie des Films hat eine fragmentarische und keineswegs systematisch sich entwickelnde Geschichte und kann nicht auf einschlägige Texte der Hauptvertreter Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Roman Ingarden oder Maurice Merleau-Ponty rekurrieren, wie es bei der Phänomenologie der Wahrnehmung oder des Bildes der Fall ist. Wenn das Medium Film Eingang in phänomenologische Deskriptionen findet, wie in Merleau-Pontys Aufsatz „Das Kino und die neue Psychologie“ oder Roman Ingardens weitgehend unbekannten, zuerst 1949 in der „revue international du filmologie“ veröffentlichten Aufsatz „le temps, l’espace et le sentiment de réalité“, so sind damit kaum Impulse für die Filmtheorie noch für die Phänomenologie verbunden. Die weitgehende Zurückweisung phänomenologischer Gedanken der Filmtheorie, die noch in Gilles Deleuzes „Kino 1 – Das Bewegungsbild“ widerhallt, beruht auf einer verkürzten Lektüre von Husserls Bildtheorie, der in dieser Verkürzung eine naiv angenommene, vollständige Transparenz des Bildes unterstellt wird. Der zweite Angriffspunkt für eine Kritik ist die Neigung der Phänomenologie, alle Erscheinungen und daher auch den Film an der natürlichen Wahrnehmung zu messen, die stets Wahrnehmung eines Subjekts In-Der-Welt ist.

Was die Phänomenologie zur Norm erhebt, sind die ‚natürliche Wahrnehmung’ und ihre Bedingungen. Nun sind diese Bedingungen existentielle Koordinaten, die eine ‚Verankerung’ des wahrnehmenden Subjekts in der Welt definieren, ein In-der-Welt-sein, eine Öffnung zur Welt, die sich in dem berühmten ‚alles Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas’ ausdrücken wird. (Deleuze 1997, S. 85)

Die von Deleuze hier vorgetragene Kritik lässt sich aber auch dazu nutzen, die vermeintlichen Schwächen der Phänomenologie angesichts des Kinematographen in eine Stärke umzukehren. Denn der Vorwurf von Deleuze entkräftet sich, sobald man vor dem Begriff „Wahrnehmung“ das Adjektiv „natürlich“ streicht. Und in der Tat ist mit dem von Merleau-Ponty geforderten Primat der Wahrnehmung weder verbunden, dass diese stets gleich bleibenden, natürlichen Konditionen unterliegen muß, noch dass die Wahrnehmung über allen Bewusstseinsmodi steht. Worauf Merleau-Ponty hinweisen will ist, dass die Wahrnehmung nicht durch Modelle und Analogien erklärt werden kann und als weltkonstituierende Bewusstseinsleistung hingenommen werden muss. Es scheint vielmehr so zu sein, das der Vorwurf von Deleuze, die Phänomenologie verbleibe in vorfilmischen Bedingungen, indem sie der natürlichen Wahrnehmung ein Vorrecht gibt und daher die kinematographische Bewegung im Vergleich zu ihr immer als Verzerrung erscheinen müsse (1997, 85), an einer nicht voll ausgebildeten phänomenologischen Filmtheorie gebildet ist. Eine völlig neue Ausdeutung findet das Primat der Wahrnehmung und deren notwendig leibliche Verfassung in der Filmtheorie der amerikanischen Philosophin Vivian Sobchack. Diese befasst sich nicht mit der wie auch immer gearteten Natürlichkeit der Wahrnehmung und weist stattdessen der Leiblichkeit des wahrnehmenden Subjekts eine Schlüsselposition in ihrer Filmphilosophie zu. Sie entwickelt diese in einem expliziten Anschluss an die „Phänomenologie der Wahrnehmung“ von Merleau-Ponty. Bemerkenswert ist, dass gerade die Perspektivität, also die Beobachtung, dass wir Gegenstände und die Lebenswelt stets nur von einer Seite sehen, während alle anderen Seiten als Horizont offener Möglichkeiten gegeben sind, als Beweis für die leibliche Situation in der Welt angeführt wird. Merleau-Ponty hierzu: „Immer sehen wir nur von irgendwoher, ohne daß aber das Sehen in seine Perspektive sich einschlösse“ (Merleau-Ponty 1966, 91). Der Leib ist Medium und Bedingung der Wahrnehmung, ohne selbst in ihr zu erscheinen. Die Perspektive erscheint beim Sehen nicht als geschlossenes System, weil gerade ihr Nullpunkt unsichtbar bleibt, ganz analog zur Filmkamera, die ebenso wenig auf der Leinwand sichtbar wird. Durch die Wahrnehmung treten wir in Beziehung zur Welt und sind mit ihr in einer existentiellen Situation verflochten. Das heißt mit jeder Wahrnehmung ist ein Bewusstsein von dieser leiblichen Situation in der Welt verknüpft. Daher kann es auch bei der Wahrnehmung der Filmbilder im Kino nie zu einer Identifikation mit diesem Blick kommen. Gemäß der intentionalen Struktur der Wahrnehmung beschreibt Sobchack das Sehen als Korrelation zwischen der Ausübung des Blicks die sie „viewing view“ nennt und dem visuellen Feld und den Objekten darin, welches sie als „viewed view“ bezeichnet (1992, 204-209). Zu unterscheiden ist demnach ein sehender Blick der sich zur Welt verhält und eine gesehene (An)-Sicht in der sich Sinn und Bedeutung der Welt Für-Mich entfalten. Einfach ausgedrückt ist damit die untrennbare Relation zwischen dem Sehen und dem Sichtbaren gemeint. Diese intentionale Korrelation korrespondiert nach Sobchacks Ansicht nicht nur mit dem Sehen des Zuschauers sondern auch mit der Wahrnehmung des Films. Die Bewegungsbilder auf der Leinwand sind sowohl der sichtbare Ausdruck der Wahrnehmung des Films als auch das Objekt der Wahrnehmung des Zuschauers. Auf diese Weise überlagern sich im Kino zwei Wahrnehmungsakte, die autonom von einander stattfinden. So bleibt dem Zuschauer stets die Freiheit, sich von der in die Bilder eingeschriebenen Intentionalität leiten zu lassen oder aber seine Aufmerksamkeit auf andere Gegenstände zu richten oder auf die Art und Weise zu achten wie diese andere Intentionalität sich zur Welt verhält.

Die logische Folge für Sobchack ist daher, dass der Begriff der „Filmwahrnehmung“ eine Äquivokation ist, dass es bei der Wahrnehmung des Films einen genitivus objectivus und einen genitivus subjectivus gibt. Um es auf den Punkt zu bringen: wir sind nicht und wir glauben nicht, Subjekt der vom Film gemachten Wahrnehmung zu sein. Stets bleibt unsere eigene leibliche Situation unvereinbar mit jener Leiblichkeit, die für diese sichtbare und doch fremde Wahrnehmung das Medium war. Einen Film zu sehen bedeutet, dem sichtbaren Ausdruck der Wahrnehmung eines anderen zuzusehen. Doch gilt es hier präzise zu sein. Sobchack würde nicht so weit gehen, dem Film ein menschliches Bewusstsein oder einen menschlichen Körper zu unterstellen, was auch völlig absurd wäre. Sie beschreibt jedoch phänomenologische sehr genau, dass durch die leibliche Verfassung der unserer Kinoerfahrung vorgängigen Filmwahrnehmung, intentionales Verhalten, Subjektbewegung und Aufmerksamkeitsverschiebungen ausgeübt und durch deren sichtbaren Ausdruck für uns erfahrbar werden.

Der Film macht Sinn, weil er uns die Welt nicht zeigt, ohne uns die ‚verkörperte Intentionalität unseres Zur-Welt-Seins’ zu geben: die lebensweltlich-leibliche Situiertheit eines Bewusstseins, das im notwendigen Bezug zu ‚etwas’ steht, vielmehr: sich bewegt. (Robnik 2002, 248)

Der Film leistet somit etwas, was dem Menschen ausschließlich bei der Betrachtung von Bewegungsbildern zugänglich ist. Er ermöglicht die sinnliche Wahrnehmung der subjektiven Wahrnehmung eines anderen, die ebenso intentional und leiblich erscheint.

Die zwischenmenschliche Erfahrung von Intersubjektivität ereignet sich ausschließlich über sichtbares Verhalten und Ausdruck des anderen Leibes, dem man daraufhin intentionales Verhalten und Bewusstsein unterstellt, dafür aber keinen unmittelbaren Zugang zu dessen Wahrnehmen, Denken und Fühlen hat.

In phänomenologischer Reflexion zeigt sich das Sehen […] als auf die Welt gehefteter Blick, und eben daher vermag es für mich den Blick eines Anderen zu geben, kann jenes Ausdrucksmittel, das wir ein Gesicht nennen, Träger einer Existenz sein, so wie meine eigene Existenz getragen ist von dem Erkenntniswerkzeug, das mein Leib ist. […] Auf die gleiche Weise verstehe ich den Anderen. Auch hier finde ich nur die Spur eines Bewusstseins, dessen Aktualität sich mir entzieht […]. (Merleau-Ponty 1966, 403)

Wie Merleau-Ponty ausführt, versteht man den Anderen durch die Medialität seines Leibes, die ihn zur Sprache und zu Gesten befähigt und ihm ein intentionales Verhalten zur Welt ermöglicht. Dabei kann man durch aus eine Gegenwart mit anderen Menschen teilen und über ein gemeinsames Objekt der Wahrnehmung kommunizieren, unmöglich aber kann die Welt des Anderen zur Welt-für-mich werden, nie kann die Welt wie der Andere sie sieht und seinen Leib wahrnimmt, einem so erscheinen wie die eigene Wahrnehmung. In der intersubjektiven Begegnung zweier Menschen sind wahrnehmbar alleine sein Leib und seine Ausdruckshandlungen, unterstellt werden dagegen seine Innenwahrnehmung, sein Bewusstsein und sein Denken.

Die These Vivian Sobchacks von einer doppelten Subjektivität und Leiblichkeit der Filmwahrnehmung wirft natürlich auch die Frage nach der Natur dieses anderen Subjektes auf, oder verlangt zumindest nach einer genaueren Beschreibung dieser besonderen Erfahrung von Intersubjektivität. Was dem Zuschauer im Kino erscheint, kann weder bloß als Bild, noch als Bewusstsein bezeichnet werden. In ihrer Filmphänomenologie vergleicht Sobchack den sichtbaren Ausdruck des Films mit einem sogenannten „introceptive image“(1992, 123). Zu diesem introceptive image, der innerleiblichen Wahrnehmung, werden die Wahrnehmung der Leibesbewegungen aber auch die Gesamtheit der perzeptiven Felder und damit auch das visuelle Feld, welches in Husserls Wahrnehmungstheorie eine wichtige Funktion ausfüllt, gerechnet. Die Filmerfahrung vermittelt Intersubjektivität ausschließlich über die Visualisierung eines solchen „introceptive image“. Der metaphorische „Leib“ des Films, das Ensemble aus Kamera, Filmstreifen und Projektor, bleibt für den Zuschauer völlig unsichtbar. Filmerfahrung bedeutet nach Sobchack ausschließlich die Begegnung mit einem „introceptive image“, welches als Produkt einer leiblichen Wahrnehmung und eines intentionalen Verhaltens wahrgenommen wird. Somit ermöglicht das Filmmedium eine Erfahrung von Intersubjektivität, die nur im Kino möglich ist und welche die Umkehrung der zwischenmenschlichen Kommunikation darstellt.

In this sense, the basic correlation between film and spectator transcends a central invariant impossibility of non-cinematically mediated experience: that one subject can never directly experience the introceptive vision of another. (Fisher 1999, 39)

Die Erfahrung, einen Film zu sehen, wird weniger davon bestimmt, Körper und deren Handlungen von außen zu betrachten als vielmehr den Sinn leiblicher Wahrnehmung in einer innersubjektiven Situation zu erleben. Für den Zuschauer wie für den Film gilt, was Merleau-Ponty über die Situation in der Welt schreibt:

Das Subjekt aber ist in Situation, es ist selbst nichts anderes als eine Möglichkeit von Situationen, weil es seine Selbstheit nur verwirklicht als wirklich Leib seiendes und durch diesen Leib in die Welt eingehendes. (Merleau-Ponty 1966, 464)

Für eine Hermeneutik der Leiblichkeit

Es ist nun möglich den Beitrag der Filmphänomenologie zur Problematik der Kameraperspektive zu formulieren: Jeder Film ist die Realisierung möglicher Situationen, die durch einen Leib wirklich werden und durch diesen Leib in die Welt eingehen, ohne dass dieser Leib sichtbar wird. Daher liegt die besondere Aufmerksamkeit der Filmphänomenologie auf der Leiblichkeit der Wahrnehmung, sowohl der des Films, die auf ihre Bewegung und ihre Beziehung zum Sichtbaren hin untersicht wird, als auch der des Zuschauers, die für das Verstehen des filmischen Ausdrucks die notwendige Voraussetzung bildet.

Die schräge Kamera oder allgemeiner ungewöhnliche Kameraperspektiven sind zunächst pointierte Momente im Film, welche die Aufmerksamkeit auf die leibliche Situation der Wahrnehmung lenken, wenngleich dies für den Zuschauer nicht immer thematisch wird. Schräge Perspektiven werden vor allem in Actionszenen oft gar nicht als solche erkannt und wahrgenommen, was sowohl an einer schnellen Schnittfrequenz oder an der Darstellung von besonders drastischen Ereignissen liegen kann. Doch wenn Phänomene wie Dutch Tilt oder Froschperspektive als Destabilisierung oder als unnatürliche Wahrnehmungen erscheinen, so geht daraus hervor, dass mit den sichtbaren Bildern auf der Leinwand auch die leibliche Situation der Filmwahrnehmung mitaufgefasst wird. Nimmt man sie als ungewöhnliche Situationen wahr, dann deshalb, weil sie eine markante Differenz zur Wahrnehmung des Menschen bilden. Wie Maurice Merleau-Ponty und Jean Mitry gleichermaßen herausstellen, gibt es in unserer natürlichen Wahrnehmung im Grunde keine schrägen Perspektiven, weil alles Gesehene auf die Position des Leibes, insbesondere des Kopfes bezogen ist. Wenn wir unseren Kopf zur Seite neigen, führt dies nicht zu einem „Kippen“ der Welt, es sind eben wir, die sich kippen. Weiterhin berufen sich beide auf ein Experiment Wertheimers, bei dem Probanden eine Brille tragen mussten, die alles im Gesichtsfeld um 45° gedreht erscheinen ließ. Wie Merleau-Pontys und Mitry es beschreiben, kam Wertheimer zu dem Ergebnis, dass die Probanden ihre Wahrnehmung zunächst seltsam und verstörend empfinden, doch schon nach wenigen Minuten sich an die veränderte Horizontale und Vertikale anpassen (vgl. Merleau-Ponty 1966; Mitry 2000).

Beide ziehen aus diesem Experiment interessante Schlüsse. Mitry schließt daraus, dass schräge Perspektiven wie Dutch Tilt bedeutungslos sind, weil sie lediglich als gekipptes Bild erscheinen, unsere Wahrnehmung dieses Kippen aber ausgleicht und somit die subjektive Raumorientierungslage nach einer kurzen Anpassungsphase von drei bis vier Minuten an die veränderte Horizontneigung angepasst ist (2000, 220). Mit kurzen Versuchsfilmen konnte Mitry darüber hinaus nachweisen, dass im Kino weniger die Neigung des Horizontes im Bild für die Zuschauer als Orientierungsgröße dient, sondern vorwiegend die Neigung des Bildkaders.

Merleau-Ponty erklärt die von Wertheimer festgestellte Anpassung mit der Konstruktion eines virtuellen Leibes, der sich vom fleischlichen Leib des Subjektes lösen könne und die Situation des Bildes bewohnen könne, sofern das Subjekt sich handelnd im Bild verankert.

Worauf es für die Orientierung des Schauspiels ankommt, ist nicht mein Leib, so wie er faktisch ist, als Ding im objektiven Raum, sondern mein Leib als System möglicher Aktionen, ein virtueller Leib, dessen phänomenaler ‚Ort’ sich durch seine Situation und Aufgabe bestimmt. (Merleau-Ponty 1966, 291)

Da aber beide, Mitry und Merleau-Ponty die von Wertheimers Experimenten nachgewiesener Anpassungsdauer von drei bis vier Minuten bekräftigen, kann eine derartige Anpassung der Raumorientierungslage in keiner Weise die Funktion und Wirkung schräger Kameraperspektiven für die Filmwahrnehmung aufklären. Kein Film, der nicht zu wahrnehmungspsychologischen Versuchszwecken, wie bei Mitry beschrieben, gedreht wurde, verbleibt über mehrere Minuten in einer geschrägten Einstellung, Meist sind es nur wenige Sekunden, die eine solche Einstellung andauert und gibt es längere geschrägte Einstellungen wie man sie in Handkamerasequenzen findet, so sind diese nicht konstant in ihrem Raumniveau. Ist aber die Schrägung selbst einer Bewegung unterworfen, kann es auch nicht zu einer Anpassung der Raumorientierungslage des Zuschauers an die Schräge des Bildhorizonts kommen. Ein vorläufiges Fazit muss daher lauten: Es gibt schräge Einstellungen und diese werden oft auch als Abweichung und Diskontinuität empfunden. Es ist jedoch sehr fraglich, ob damit auch stets eine besondere Bedeutung verbunden ist und wenn dies der Fall ist, welche Bedeutung die schrägen Einstellungen haben. Ausgeschlossen erscheint jedoch, dass derartige Aufnahmen beim Zuschauer ein Gefühl der „Schräge“ oder der „Destabilisierung“ hervorrufen. Den Weg zu einer Hermeneutik der Schrägen Kamera weist Merleau-Pontys Konstruktion eines virtuellen Leibes.

Wie bereits dargestellt vollführt und präsentiert der Film nach Sobchack in seiner Doppelnatur als Sehender und Sichtbarer zugleich, eine Wahrnehmung, die der Zuschauer aufgrund seiner leiblichen Situation notwendig als die Wahrnehmung eines anderen Subjekts begreift. Der Film als Agent einer, aufgrund seines leiblichen In-der-Welt-Seins, keineswegs omnispräsenten und allwissenden Wahrnehmung, erfährt seine Welt in den Grenzen seiner leiblichen Situation. Ganz analog zur menschlichen Wahrnehmung ist es dem Film möglich, sich im Raum zu bewegen und damit seine Situation zu verändern. Ebenso möglich ist zudem Bewegung nicht im Sinne von Ortswechsel sondern im Sinne einer Lageänderung. So wie der menschliche Körper ein System unendlicher Bewegungsmöglichkeiten ist, kann auch der Film seine relative Lage zum Raum verändern. Die Bedeutung schräger Perspektiven ist somit in den Leibesbewegungen zu suchen, die man vor jeder Reflektion und theoretischer Beschreibung versteht. Was es bedeutet, schräg zu stehen, zu schwanken, die Balance zu verlieren oder zu fallen, weiß der Zuschauer, ohne die Gesetze der Perspektive zu kennen. Die Schräge ist daher weniger eine Eigenschaft der Bilder, sondern eher ein Zustand des wahrnehmenden Subjekts. Es lässt sich somit keine allgemeingültige Bedeutung verkanteter und schräger Einstellungen im Film angeben, der Sinn dieser ungewöhnlichen Wahrnehmungsverläufe muss in einer individuellen Hermeneutik singulärer Filme gesucht werden.

Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildete die zunächst nur technische Revolution, die das Kino derzeit durch die digitalen Technologien erfährt. Im Vordergrund stehen dabei teilweise digital animierte Filme, die phänomenal nicht von analogen Produktionen unterscheidbar sind. Diese Veränderungen der gegenwärtigen Filmkultur sollen nun mit der Problematisierung der ungewöhnlichen Kameraperspektiven im Film zusammengeführt werden. Ungewöhnlich ist eine Perspektive, oder um den Aspekt der Bewegung stärker zu betonen ein Wahrnehmungsverlauf, nur dann, wenn es auch gewöhnliche Blickpunkte oder eben Wahrnehmungen gibt. Doch was sollte das Maß des Gewöhnlichen sein, welche Variation der der Norm erscheint bereits als Abweichung und damit ungewöhnlich und welche nicht? Wie sollte eine Differenzierung von gewöhnlichen und ungewöhnlichen Wahrnehmungen geleistet werden, wenn nicht entgegen der Forderung von Gilles Deleuze an der Norm der natürlichen Wahrnehmung? Hier hätte man aber das Problem nur von einer Instanz auf die nächste verschoben, weil sich für die natürliche Wahrnehmung ebenso wenig angeben lässt, was noch zu ihrer Norm zu rechnen ist und was als Abweichung gelten kann. Es könnte an dieser Stelle hilfreich sein, das Ungewöhnliche weder an der Perspektive, noch an der Wahrnehmung festzumachen, sondern an eine Entwicklung der Leiblichkeit des Films gekoppelt zu betrachten.

Der frühe Film kannte keine Bewegungen des Leibes und seine Wahrnehmung schien an einen Ort gefesselt zu sein. Demgegenüber musste die entfesselte Kamera, wie sie der Starkameramann der Ufa Karl Freund Mitte der 1920er Jahre zur Perfektion brachte, als höchst ungewöhnlich erscheinen. Sicher wurden damit auch neue Perspektiven in die Filmwahrnehmung gebracht, das wirklich ungewöhnliche war jedoch eine scheinbar grenzenlose Beweglichkeit des Filmleibes. Ein Blicken und Wahrnehmen, dem sich durch apparative Verbesserungen nach und nach der Himmel, das Meer und das Hochgebirge erschlossen und dies durch seine eigene Beweglichkeit. Schon die Entfesselte Kamera erlaubte Wahrnehmungsverläufe des Films, die dem Menschen wegen seines materiell andersartigen Leibes nicht möglich sind. Jeder ungewöhnliche Wahrnehmungsverlauf ist aber nur für eine bestimmte Zeit ungewöhnlich, er hört auf eine Abweichung von der Norm zu sein, wenn ihn das Publikum aufgrund von Gewöhnung als gewöhnlich wahrnimmt.

Die digitalen Technologien machen heute einen ebenso markanten Bruch mit dem Gewöhnlichen erfahrbar, wie ihn die Entfesselte Kamera in den 1920er Jahren darstellte. Es soll daher in Analogie dazu von einer entmaterialisierten Wahrnehmung die Rede sein. Der Leib des Films hört auf, eine materielle Verankerung in seiner Welt zu haben und damit ist nicht Immaterialität von Bits und Bytes gemeint. Es soll damit eine phänomenale Entmaterialisierung des Leibes thematisiert werden, die es in bestimmten, ungewöhnlichen Wahrnehmungsverläufen unmöglich macht, deren Subjekt eine materielle Leiblichkeit zu unterstellen. Das digitale Kino setzt eine Wahrnehmung in Werk, die Materialität penetriert und durchdringt, weil sie selbst immateriell geworden ist. Ein beinahe paradigmatisches Beispiel für die entmaterialisierte Wahrnehmung ist David Finchers klaustrophobischer Thriller PANIC ROOM, in dem Mutter und Tochter in ihrem eigenen Haus von Einbrechern terrorisiert werden. Der sogenannte Panikraum ist eine scheinbar sichere, undurchdringliche Rückzugsmöglichkeit, die dem Schutz der Bewohner dienen soll. Tatsächlich erweist sich dieser Raum resistent gegen die unterschiedlichsten Gewalteinwirkungen durch Schlagbohrer, Vorschlaghammer, einer Gasexplosion und nicht zuletzt einer psychologischen durch die Einbrecher, welche die sich im Panikraum versteckenden Meg (Jodie Foster) und Sarah Altman (Kristen Stewart) zum öffnen der Stahltür bewegen soll. Worauf es hier ankommt ist, dass PANIC ROOM das Motiv der Penetration, der Durchdringung von Materialität auch in seiner Wahrnehmung widerspiegelt. Das Eindringen der drei Einbrecher in die großzügige Stadtvilla wird durch eine lange Einstellung visualisiert, die noch gewöhnlich in ihrem Ausgang, in ihrem Wahrnehmungsverlauf in das Haustürschloss ein- und wieder ausdringt, durch den Henkel einer Kaffeekanne fliegt und sogar mehrfach Wände und Decken durchdringt. Die Bewegung des Filmleibes ist dabei gleichmäßig schwebend, dabei aber auch selektierend, gerichtet und antizipierend, kurzum: Dieser Wahrnehmungsverlauf ist in hohem Maße intentional und so wie die Bewegung des Leibes gewissen Handlungen der Protagonisten vorangeht auch protendierend. Gleichzeitig aber gibt es keine Hindernisse für diesen Blick, der unaufhaltsam in die Welt eindringt, ohne sich mit ihr zu verbinden oder Spuren seiner Anwesenheit zu hinterlassen.

Die Entfesselte Kamera wurde beweglich wie auch der Mensch in seinen Wahrnehmungsverläufen einen beweglichen Leib bewohnt. Die starke Analogie zwischen menschlicher und filmischer Wahrnehmung bestand nicht zuletzt darin, dass beide eine leibliche und damit auch materiell verankerte Situation in-der-Welt „bewohnen“. Mit der entmaterialisierten Wahrnehmung des digitalen Kinos entstehen völlig neue Möglichkeiten für Situationen und damit auch Wahrnehmungen. Für den Zuschauer resultiert daraus eine enorme Irritation, die sich nur durch dessen Annahme erklären lässt, dass der Leiblichkeit der Filmwahrnehmung auch ein materieller Körper angehört. Durchbricht und durchfliegt der Filmleib Gegenstände von solider Materie, ist es nicht mehr möglich die Wahrnehmung des Films mit der Wahrnehmung des Menschen zu vergleichen, es entsteht damit eine neue Kultur der Wahrnehmung, die nicht nur ungewöhnlich ist, sondern darüber hinaus ein perzeptives Erleben eigener Art präsentiert. Eine der vorrangigen Aufgaben der Filmphänomenologie sollte darin bestehen, eine Hermeneutik der filmischen Leiblichkeit zu praktizieren, welche das begriffliche Instrumentarium der Filmtheorie und besonders der Narratologie des Kinos erweitern und ihr neue Impulse liefern könnte

Literatur:

Jacques Aumont, Alain Bergala, Michel Marie und Marc Vernet, Aesthetics of Film, Austin: University of Texas Press 1999.

Gilles Deleuze, Kino 1, Das Bewegungsbild, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997.

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Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Hamburg: Meiner 1992.

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