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Abbildung als Mutter der Wissenschaften


Autor: Heribert Rücker
[erschienen in: IMAGE 1: Bildwissenschaft als interdisziplinäres Unternehmen - Eine Standortbestimmung]

Schlagwörter: Abbildung, Anderes, Dimensionalität, Erkenntnis, Geist, Hermeneutik, Mensch, Metaphysik, Mythos, Objekt, Physik, Seele, Sein, Selbstreferenz, Subjekt, Universalienstreit, Wahrheit, Widerspruchsfreiheit, Wissen

Disziplinen: interkulturelle Hermeneutik, Philosophie, Religionswissenschaft, Anthropologie, Wissenschaftstheorie


Eine allgemeine Bildwissenschaft wird sich mit den beiden traditionellen Fragen nach der Möglichkeit von Abbildung und umgekehrt nach der Erkenntnis des Originals auseinandersetzen müssen. Die „technische“ und die „semantische“ Denkrichtung scheinen einander zu ergänzen. Keine von ihnen kommt ohne die andere aus.

Inhalt

Wissenschaft als Abbildung
Zur Geschichte der Abbildung
Der wissenschaftliche Filter
Das Bild der Abbildung
Das Subjekt der Objektivität
Wissenschaften
Das Selbstporträt
Kreativität gründet außerhalb der Wissenschaft


1. Wissenschaft als Abbildung

Unterscheiden wir den Abbildungsbegriff sinnvoller Weise von der Kopie, dann stellt der Abbildungsprozess eine Spezialisierung dar: Eine relativ höhere Dimensionalität wird im Material einer relativ niederen Dimensionalität „abgebildet“. Das ist ein Vorgang, der zu unterscheiden ist vom Endergebnis, d.h. vom Bild. Abbildung und Bild sind zwei verschiedene Begriffe.

Wer eine Abbildung realisieren will, muss auf das Original reflektieren. Wer nach der Bedeutung eines Bildes fragt, muss das Bild analysieren. Folglich differenzieren wir hier zwischen drei Begriffen: (a) „das Original“, (b) „der Prozess der Abbildung“ und (c) „das Bild“. Eine weitere Kategorie kommt noch hinzu: der Maler bzw. Betrachter des Bildes.

Mit der Frage nach dem Original und der Einbeziehung des Malers wird zugleich das Verhältnis zu bedenken sein, das zwischen Wissenschaft und Bild besteht. Ist die Bildrelation ausschließlich Objekt von Wissenschaft? Oder ist Abbildung umgekehrt das Subjekt-Sein von Wissenschaft, ihre eigene Unterwerfung unter die speziellen Prinzipien einer Abbildung? Ist Wissenschaft also selbst ein Abbildungsprozess, ist das Wissen (die sog. Realität) ein Bild?

2. Zur Geschichte der Abbildung

Die ältesten Schriftzeugnisse belegen den anscheinend uralten Gedanken, die handwerkliche Tätigkeit sei eine Abbildung und die Herkunft von Mensch und Welt verdanke sich diesem umfassenden Prinzip. So gilt die Welterschaffung kulturübergreifend als eine dem Töpfern vergleichbare Tätigkeit mit dem Ziel der Abbildung, wie sie der Mythos beschreibt.

Wird der Mythos in den Logos abgebildet, so entsteht Wissen - keine Kopie, sondern ein Filtrat: die Wahrheit des Mythos. Infolgedessen richtet sich die Frage nach dem Mythos auf das Original der Abbildung.

So wie jede Abbildung eine Spezialisierung ist, die bestimmten Filterkriterien gehorcht, so handelt es sich bei dem Wahrheitsfilter um das absolut gehandhabte logische Widerspruchsverbot. Es vermag zu gewährleisten, was wir „Erkenntnis“ nennen. Ihr Gerüst ist ein Netz von entschiedenen einfachen Alternativen: Sein oder Nicht-Sein.

Viele Jahrtausende vor Aristoteles und in vielerlei Kulturen gibt es begriffliche Sprache, die keine absolute Geltung logischer Widerspruchsfreiheit kennt. Seit den alten Griechen aber bringt die Erkenntnis ein Wissen hervor, das erstens begriffliche Sprache voraussetzt und diese zweitens gemäß logischer Widerspruchsfreiheit weiter entwickelt, aufbaut und zu einem geschlossenen System verschränkt.

Allerdings stehen wir mit der begrifflichen Sprache nicht am Anfang. Ähnlich wie frühe Kulturen, so beginnen auch - wie jedermann weiß - kleine Kinder mit einer Sprache, die Wahrnehmungen mittels Lauten benennt. Man befrage nicht die Namen nach ihrer Bedeutung, sondern akzeptiere sie als Chiffren für konkrete Erlebnisse! Nach gleichem Muster zeigen frühe Schriften die Gestalt Tausender kleiner Bildchen, ohne dass eine übergeordnete Logik oder Systematik festzustellen wäre. Sowohl sprachlich als auch schriftlich stellt der Übergang zur Begrifflichkeit bzw. zur Buchstabenschrift eine ungeheuere Leistung dar – eine Abbildung in einen Horizont, der sich begrifflich konstituiert. Wer den Unterschied des Benennens gegenüber dem Namen versteht, wie er z.B. für religiöse Traditionen (1) charakteristisch ist, - wer die Bedenken versteht, die sich bei der Einführung der Buchstabenschrift in China stellen, findet sich in jener Wirklichkeit wieder, die der begrifflichen Abbildung als Original dient.

Noch ein Schritt davor: Auch die Namensprache ist eine Abbildung, weil jedwede lautliche Darstellung der menschlichen Sinneseindrücke einen Abbildungsvorgang darstellt. Wie verbalisieren wir Gefühle, Hautreizungen, Töne, Gerüche, Geschmack? Wir wissen, wie entfernt akustische Wahrnehmungen (Musik) von jeder begrifflichen Realitätsbeschreibung bleiben! Jede Sprache bildet ab! Ihr Original ist „Wirklichkeit“ – eine solche, die wir sprachlich (!) erst und ausschließlich als begriffliche Welt zu vermitteln pflegen und deren Wahrheit wir darüber hinaus an die (nur begrifflich existierende) logische Widerspruchsfreiheit knüpfen. Wissenschaft ist eine Abbildung. Mythos oder z.B. Musik sind andere Abbildungen, weniger spezialisierte, aber dennoch „Weltbilder“. Der Bildbegriff ist hier durchaus nicht auf den visuellen Bereich beschränkt.

Weltweit gehen kulturelle Traditionen noch einen Schritt weiter: Der endliche Mensch gilt als ungeteiltes Ganzes selbst als Abbild einer übergeordneten Dimensionalität. Er zeichnet ein Bild von einem „Original“, das gar nicht ohne die Abbildung zu Wort kommt! Sein Zeugnis vom Original stellt dann eine Konsequenz dar, die sich als Ziel der Schöpfung oder als Sinn bzw. Auftrag des Lebens, d.h. als ethische Orientierung bezeichnen lässt!

In solcher ethischen oder orientierenden Gestaltung des Lebensraumes formt sich jede Tätigkeit in der Absicht, das Leben schenkende Original abzubilden. So verfolgt auch die Erkenntnis zunächst dieses Ziel, wenn sie nach der Wahrheit des Mythos fragt.

Jahrhunderte lang hat sich deshalb Wissenschaft als Abbildung von Wirklichkeit verstanden, - haben selbstverständlich auch Physiker als Ziel ihrer Tätigkeit die Abbildung des Kosmos genannt! Aus dieser Intention ist z.B. der für unser Realitätsverständnis fundamentale Zeitbegriff entstanden. (2) Auch die aktuelle Wissenschaftstheorie spricht von den „Abbildungsprinzipien“ einer physikalischen Theorie. Entsprechend hat die Suche nach einer Vereinigung der großen physikalischen Theorien zum Ziel, die ganze Wirklichkeit in einer umfassenden Theorie abzubilden. (Die Physik steht hier stellvertretend für einen verbreiteten Wissenschaftsbegriff.)

Eine der zentralen Intentionen abbildender Techniken verfolgt seit Jahrzehnten die Abbildung des Menschen mittels „Computer“. Hat man bisher schon vom „Denken“ des Computers gesprochen, so begibt man sich gegenwärtig an die Konstruktion „semantischer Computer“. Sie sollen nicht nur Fakten sammeln, bereitstellen und kombinieren können, sondern irgendwie auch den koordinierenden Bedeutungshorizont des menschlichen Denkens „abzubilden“ vermögen.

Die gesamte Technik bildet Aspekte des Menschen ab – nicht anders, als das Aquarell ein gedankliches Original abbildet, das sich im Kopf des Malers bereits als ein Abbild (z.B.) einer Landschaft eingestellt hat.

In jedem Fall sind dabei verschiedene Ebenen zu unterscheiden, die sich in „dimensionaler“ Rangfolge schachteln und beschreiben lassen. Wie der Bildhauer gewöhnlich eine multidimensionale Welt in dreidimensionaler Gestalt abbildet und der Ausstellungskatalog die dreidimensionalen Werke wiederum in zweidimensionaler Darstellung (Foto) abbildet, so lässt sich jede Abbildung als dimensionale Beschränkung auf eine je niedere dimensionale Stufe beschreiben.

3. Der wissenschaftliche Filter

Das Bild „Wissenschaft“ ist gekennzeichnet durch logische Widerspruchsfreiheit. Vom Menschen findet sich in ihm nur wenig, nämlich ausschließlich, was sich in widerspruchsfreier Begrifflichkeit fassen lässt. Ob das „viel“ oder „wenig“ ist, darf man das Bild nicht fragen, denn alles, was es über ein Original auszusagen vermag, ist es selbst. In den Kategorien des wissenschaftlichen Menschenbildes gesprochen, ist „der Mensch“ prinzipiell der ganze Mensch. Fragen wir uns also selbst, ob wir in einem Abbild von uns aufgehen. Aber die Antwort ist längst gefallen: Kein Bild ist das Original. Es bildet nur ab, – in niederdimensionaler Gestalt, – unter Verlust von „Information“.

Die Unmöglichkeit des „Rückweges“ gehört zu den fundamentalen Prinzipien des Bildes wie jeder Technik: Ein PC-Anwender lernt schnell, wie er aus einem farbigen Bild ein solches in Graustufen erzeugen kann, - und ebenso, dass dann die umgekehrte Umwandlung des Schwarz-Weiß-Bildes in Farbe nicht mehr möglich ist.

Lernen wir weiter: Dem Graustufenbild fehlt die Information für seine farbliche Gestaltung. Aber der Computer, der die Transformation vorgenommen hat, besitzt diese Informationen auch nach der Umwandlung noch. Er kann deshalb das bunte Bild wieder liefern. Allerdings erstellt er es nicht aus dem Graustufenbild, sondern greift auf seinen Speicher zurück! Der Computer besitzt höhere Dimensionalität als sein Werk, weshalb er seine Werke organisieren kann. Zu was das Werk nicht fähig ist, vermag doch sein Autor. Das Bild besitzt keine Möglichkeit, sein eigenes Original wieder „auferstehen“ zu lassen; denn ihm fehlt aufgrund der in seiner Entstehung liegenden Spezialisierung die zu einem „Rückweg“ notwendige Kategorie. Aber der Maler kann das Bild wieder als Abbildung des Originals wahrnehmen! Allgemein formuliert: Es gibt keinen Rückweg, aber ein Zurück zum Weg!

Es ist grundsätzlich der Mensch kraft seiner dem Bild überlegenen Dimensionalität, der das Bild als Abbild eines Originals „verstehen“ kann. Dann spricht das ebene Bild vom Raum, obwohl es selbst nicht „Raum“ ist. Ohne einen „Betrachter“ besteht das Bild ausschließlich aus systeminternen Relationen, welche ihre eigene Konfiguration nicht aus sich selbst herzuleiten erlauben.

Relevant werden diese Überlegungen, wenn der Mensch als Bild (und nicht als Maler) bedacht wird, und weiterhin dann, wenn der Bildbegriff generell für alle menschlichen Werke und d.h. auch für die Erkenntniswerke der Wissenschaft steht. Im ersten Fall erklärt sich, warum den Menschen keine Kategorien zur Erkenntnis eines ihnen überlegenen Schöpfers zur Verfügung stehen. Und zweitens bleiben auch Erkenntnis und Wissen an die „zweidimensionale“ Werkebene gebunden und besitzen mit ihren Kategorien keine Informationen von der höheren Dimensionalität ihres menschlichen Malers oder gar von dessen Herkunft.

Wenn Wissenschaft also selbst Abbildung ist, dann enthält ihre Reflexion auf Abbildung eine Selbstreferenz, welche jegliches Wissen unmöglich macht. Aristoteles „verbietet“ deshalb – um Wissen zu schaffen - den Bezug eines Begriffes auf sich selbst. Zur Vermeidung des Scheiterns entwickelt er seine Metaphysik, auf derem Fundament Wissenschaft bis heute baut.

Auch der „Trick“ der Metaphysik besteht im Konzept der Abbildung. Metaphysik ist die Kunst, die Relation zwischen Schöpfer und Geschöpf auf die Arbeitsfläche des Geschöpfes abzubilden. Dabei wird diese Relation in das Verhältnis von (wieder-)erkennendem Geist und abbildender Materie transformiert, welches dann die gesamte Wirklichkeit umfasst. Philosophiegeschichtlich ist dies die aristotelische „wahrheitsgemäße“ Lesart des platonischen Denkens. Da die Fragen nach Sinn und Ziel nun systemintern gestellt und konfiguriert werden können, führt das so entstandene Werk des Menschen nicht zu logischen Widersprüchen. Auf dieser Basis konnte die abendländische Geistestradition Erkenntnis und Wissen schaffen: nicht nur über das durch menschliche Sinneswahrnehmungen entstandene Weltbild, sondern auch bezüglich Herkunft, Sinn und Ziel der Menschen. Die Folgen solcher polaren Abbildung des Ganzen in die Bildebene hinein prägen noch das heutige Realitätsverständnis in prinzipieller und meist unbedachter Weise.

Zwar scheint die wissenschaftliche Bildebene alle vor ihrer Entstehung angesprochenen Themen zu beinhalten: die ganze Wirklichkeit im Horizont von Erkenntnis und Wahrheit. Ihr ist diesbezüglich keine Unvollständigkeit nachzuweisen. Keine Frage scheint unter den Tisch zu fallen – unter die Werkebene des Menschen. Aber das sich darüber beugende Subjekt, das sich auf diese Weise alles unterworfen hat, fehlt selbst im alles enthaltenden Wahrheitshorizont.

Der an die Stelle des Anderen getretene Geist (der Erkenntnis) hat dadurch eine universal gültige und konkurrenzlose Position eingenommen. Jeder Widerspruch wird zum Kontrahenten der Wahrheit und somit „unwahr“. In dieser Schattenseite allen Wissens gründen Fremdenfeindlichkeit, Lernunfähigkeit und Orientierungslosigkeit der Wissensgesellschaft. Denn Streben nach Wissen ist eine Marginalisierung alles Anderen und Fremden. Und die eigene Absolutheit des Bildes kennt ohne ein Anderes keine Orientierung für das Ganze. Die Wahrheit ist sich selbst Orientierung. Das System ist geschlossen und prinzipiell von innen nicht zu öffnen.

Das ist eine neue Formulierung für die Unfähigkeit des Bildes, zu seiner eigenen Herkunft zurückzufinden. Das Bild weiß weder von der Abbildung, noch von seinem Original. „Bild“ und „Abbildung“ scheinen nun Synonyme zu sein.

Ein Bild besagt streng genommen gar nichts über sich selbst hinaus. Ohne menschliche Wahrnehmung tut sich nichts. Dennoch reagiert das menschliche Sehvermögen (oder das Vermögen eines der anderen Sinne) im organischen Zusammenspiel mit dem menschlichen Bewusstsein auf ein Bild so, dass das Bild einen höherdimensionalen Raum eröffnet. Gerüche, Klänge, Farben und Linien, ... Sie alle zeigen höherdimensionale Welten, wenn Menschen die niederdimensionalen Konfigurationen wahrnehmen, obwohl diese Welten nicht im Bild sind.

Was im Prozess der Abbildung aufgrund der Beschränkung auf die wenigen Dimensionen des Bildmaterials verloren gegangen ist (Dimensionen, Kategorien, Informationen), all das kann „plötzlich“ aufgrund der Rezeption durch einen Menschen „wieder da“ sein. Man nennt es dann „Bedeutung“. In diesem Sinn gibt es kein Bild, das ohne den Menschen auskommt. Wo vom Bild und von seiner Bedeutung die Rede ist, da wird vom Menschen gesprochen. Insofern kann es keine allgemeine Bildwissenschaft ohne eine zentrale Reflexion auf das Verhältnis von Mensch und Bild geben. Eine ausschließliche Analyse des entstandenen Bildes gelangt prinzipiell nicht zur Bedeutung und somit auch nicht zum Bild.

4. Das Bild der Abbildung

Wissenschaftlichkeit schleppt als ihre Basis ein metaphysisches Erbe mit, dem transzendentale Bedeutung zukommt: Sie handelt von einer Abbildung jener Abbildung, als welcher sich der Mythos versteht.

Zuvor hatte die Welt als endliche Abbildung eines (allen endlichen Kategorien gegenüber) Anderen gegolten. Man musste in die Geschichte schauen, um Kunde von ihrem Bauplan und ihrer Bestimmung zu erhalten. Gegenüber dem „Ewigen“ war ALLES ein komplexes Bild mit gleichberechtigten Aspekten und Kategorien. Dieses Bild war als Ganzes dimensional begrenzt auf sein endliches Material – auf „Lehm“ oder „Staub“, wie es in der Bibel (Gen 2,7) heißt, und reichte deshalb nicht an die Herkunft des Menschen heran. Jede Hervorhebung bestimmter Aspekte als Leitbild (= „Gott“) stand bald in Konkurrenz zu anderen Göttern, so dass die weltweite Suche nach einer gemeinsam gültigen Orientierung zum ethischen Auftrag wurde, der auf der Grundanschauung wurzelte, der Mensch sei ein Abbild eines Originals.

Jetzt aber findet der Mensch diese Abbildungsrelation auf der Bildfläche vor seinen Augen. Ein besonderer Aspekt dieser Entwicklung betrifft die Seele. Hatte sich der Mensch zuvor als organisches Ganzes mit Leib, Herz, Geist, Gemüt u.v.a. als Abbild seiner „Seele“ verstanden, welche eine Bezeichnung für das Original war, das er in seiner Individualität abbildet, so lässt sich die Reihenfolge „Anderes / Seele / Geist / Körper“ beobachten. Nun aber tritt der Geist als wahrheitsgemäße Abbildung des Anderen an die oberste Position. Als sein Abbild fungiert der Körper. Dem Anderen nachgeordnet - d.h. zwischen Geist und Körper - vermittelt nun die Seele, so das sich als neue Reihenfolge ergibt: „Geist / Seele / Körper“. Während also die Erwähnung der Seele zuvor den gedanklichen Wechsel zu einer höheren Dimension und zu deren pluriformer Abbildung beinhaltet hatte, verbleibt der Seelenbegriff jetzt auf der Bildfläche und dem erkennenden Geist unterworfen. Die Wissenschaft von der „Psyche“ spiegelt darum ein mehrfachen Filtern unterworfenes Realitätsverständnis wider.

Durch die dem Verschluss in den Wahrheitshorizont zuzuschreibende Umkehrung nimmt die Stelle des Anderen der Geist und somit das begriffliche Wissen ein, während auf der konkret-materiellen Welt der Auftrag lastet, den Geist abzubilden. Befragte man also zunächst die Geschichte über das Andere, so fragt man nun nach der geistig-begrifflichen (!) Bedeutung des Geschichtlichen. Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung eines Bildes ist im Horizont der Begrifflichkeit zu suchen, in der allein logische Wahrheit zu finden ist. Wissenschaften klären darüber auf, was im Bild dargestellt ist!

Die beschriebene Umkehrung bildet die kardinale Problemstellung der Geistes- und Dogmengeschichte des ersten christlichen Jahrtausends, bis sich darüber das westliche vom östlichen Christentum trennt. Aus diesem Grund kennt die orientalische Christenheit keine Theologie im abendländischen Sinn; diese sei irrelevant.

Gegen den „Ersatz“ des Anderen durch den begrifflichen Geist, d.h. gegen die wissenschaftliche Abbildung richtet sich nun die prinzipielle Kritik, die von Vertretern anderer Kulturen gegen die „westliche“ Theologie und Wissenschaft vorgetragen wird. Die fremdkulturellen Denkwege beziehen sich auf das Bild, weil sie Orientierung in der Perspektive suchen, welche sich dem Menschen eröffnet, wenn er das Bild betrachtet. Im Westen aber dient die Wahrnehmung des Bildes als didaktischer Prozess zur Vermittlung der geistigen Wahrheit und Gesetzlichkeit. Weil dabei der dimensionale Horizont nicht verlassen wird, geht den didaktischen, pädagogischen und anthropologischen Bemühungen, den Menschen bzw. Jugendlichen auf den Rahmen der Erkenntnis zu (er-)ziehen, jede externe Orientierung verloren.

Solcherart verabsolutierter Aufklärung erscheint es nicht nur „unwissenschaftlich“, sondern auch „naiv“, den Anderen oder die andere Kultur als Geheimnis zu achten und über die Vielfalt der Geschöpfe und die Liebe eines Schöpfers auch zu dem, was sich den Seinskategorien nicht fügt (vgl. die „östliche Ikone“), zu staunen. Deshalb wächst zusammen mit der Aufklärung als Reaktion auf sie zugleich auch der Protest gegen ihre Einseitigkeit, wie er in der breiten Palette je „moderner“ Kunst (von Mozart bis Beuys) einen originären höherdimensionalen Sinn eröffnet, den der Kunstbegriff nicht fassen kann.

Offensichtlich ist die Tagesschau nicht die Welt, sondern ein niederdimensionales Bild, das durch den Menschen als niederdimensionale Abbildung eines höherdimensionalen Originals verstanden wird. Ist der betrachtende Mensch jedoch in der zweidimensionalen „visuellen Gesellschaft“ aufgewachsen und hat man ihn erfolgreich zum wissenschaftlich denkenden Erwachsenen erzogen, dann droht ihm die Fähigkeit zum Verstehen des Bildes abhanden zu kommen.

Andere Kulturen kritisieren das „Vergessen“ und mahnen ein „Gedenken“ an. Doch werden sie nicht verstanden, weil solches der abendländische Wahrheitsbegriff nicht zulässt: Die wissenschaftliche Abbildung gesteht dem höherdimensionalen „Verstehen“ keinen Sinn zu, weil sie selbst den Sinn in ihrem eigenen logisch widerspruchsfreien Horizont vorgibt. Jede höherdimensionale Sinnfindung widerspricht dem Anspruch des vorgegebenen Sinnes bzw. relativiert die Wahrheit (des Bildes) und gilt im Horizont des Bildes folglich als unwahr! Aus dem „Gedenken“ der höheren Dimensionalität wird mittels Abbildung in die Wahrheitsebene z.B. die „Erinnerung“ von Fakten. (Aus der höherdimensionalen Seele ist die Psyche im Bild-Inneren geworden.)

5. Das Subjekt der Objektivität

Es ist die Aufgabe des Malers, sich auf sein Gemälde zu konzentrieren. Dabei wird der Maler durch die untergeordnete Gesetzmäßigkeit des Bildes methodisch gezwungen, dem niederdimensionalen Medium mit seinen Gestaltungskräften gerecht zu werden. Je mehr er den durch die Bildkategorien eröffneten Möglichkeiten freien Lauf lässt, desto unabhängiger wird das Bild vom Original. Demgemäß hat sich die wissenschaftliche Abbildung einen weiten Freiraum bis hin zur totalen Ablösung von jedem Abbildungsgedanken erarbeitet.

Zugleich lässt sich jedoch in der Perspektive anderer Kulturen beobachten, wie sich der Maler in der „westlichen“ Zivilisation nicht nur methodisch, sondern in seinem eigenen Selbstverständnis selbst dem Wahrheitshorizont seiner Werke unterwerfen lässt. Er ist selbst zum Sub-jekt (3) der Wahrheit – zum Objekt seiner Erkenntnis - geworden.

Das lässt sich geschichtlich nachvollziehen, weil der Wahrheitsbegriff aus dem Verständnis wahren Geschehens hervorgegangen ist. Für jede fremdkulturelle Gemeinschaft galt die im Überleben bewährte Abbildung des Anderen als ein wahres Geschehen, welches das Verhalten zu orientieren vermag. In der Transformation des Anderen in die Sphäre geistigen Erkennens aber wird aus der Abbildung des Anderen die Repräsentation der Erkenntnisbasis, d.h. der absoluten Widerspruchsfreiheit. Wissensgesellschaft orientiert sich folglich (und öffentlich verantwortet letztlich) an der logischen Wahrheit. Weil Realität also ausschließlich sein kann, was dieser Wahrheit genügt, ist das „Material“ des Realitätsbildes das absolute Sein. Insofern stellt Wissenschaft eine Abbildung der Wirklichkeit im Material des Seins dar.

Über zwei Jahrtausende hat der Realitäts-Maler eine hervorragende Arbeit geleistet. Bis heute wird das Bild immer größer und differenzierter. Aber der Maler selbst ist nicht darin. Zwar enthält das Bild viele Darstellungen von Menschen, aber doch eben nur Abbilder: „den Menschen“. Das Bild zeigt das Subjekt, das mit den Objekten handelt, das aber deren Kategorien unterworfen wurde. Das objektive Bild weiß nichts vom individuellen Maler, der das Bild malt.

Die Konsequenz der metaphysischen Abbildung ist also nachhaltig: Während die Bildfläche einen allumfassenden oder universalen Anspruch impliziert, bleibt zugleich der Mensch - wie der Maler - außerhalb seines Gemäldes. Der Mensch, der den analysierenden Scheinwerfer hält, bleibt selbst in dessen Schatten. Der Mikroskopierer ist auf dem Objektträger nicht zu finden. Das ist eine Charakteristik desjenigen Bildes, das sich Wissenschaft nennt.

6. Wissenschaften

Eine weltweit verbreitete Überzeugung betrachtet den Menschen als den Schöpfer seines Weltbildes. Entsprechend meint der Begriff der Welt nicht die höherdimensionale Wirklichkeit, sondern ein durch menschliche Filter (z.B. die Sinne) gewonnenes spezielles Abbild: „Wir machen die Zeit.“ Deshalb ist es immer ein endliches durch Menschen hergestelltes „Gemälde“, das in endlicher Sprache auch über die Menschen und ihre Bestimmung spricht. Es zu erforschen dient der Orientierung (= Gottesbegriff) der menschlichen Gemeinschaft.

Unter Nutzung des absoluten logischen Widerspruchsverbots als Filter der Abbildung entsteht die Voraussetzung für Wissenschaft, im Einzelnen nachzuweisen anhand der Wissenschaftsgeschichte, z.B. der Theologie. Gerade ihr kommt fundamentale Relevanz zu, weil sie die für alle Wissenschaften zentrale Strategie, mit dem Fremden oder Anderen bei deren Abbildung in den Wahrheitshorizont hinein umzugehen, geschichtlich vorgezeichnet hat.

Bei Vergegenwärtigung der angesprochenen Abbildungsstrukturen und der urmenschlichen Außenperspektive lassen sich die theologischen Ansätze und Entwicklungen als Bestrebungen erkennen, die biblische Botschaft in den Horizont der Wahrheit hinein abzubilden. Infolgedessen tritt die akademische Verteidigung der Wahrheit solcher Abbildungen in den Vordergrund des (abendländisch-) christlichen Bekenntnisses. Was sich aus dem Abbildungsvorgang, aber nicht in der Bildebene rechtfertigen lässt, führt innerhalb dieser zum „Dogma“. Wann immer auf die Ohnmacht menschlicher Erkenntniswerke (z.B. durch Luther) hingewiesen wird, beginnt unverzüglich die wissenschaftliche Abbildung in den Wahrheitshorizont. Das Andere kommt infolgedessen in der Wissensgesellschaft nicht zu Wort. Es wird durch die Wahrheit verdrängt. (4)

Solche Abhängigkeit des Weltbildes von dem durch Forscher verwendeten Abbildungsfilter betrifft nun keineswegs nur die geisteswissenschaftlichen Vorreiter der Wissensgesellschaft. Selbst die kosmische Gültigkeit der (natur-)wissenschaftlichen Realitätszeichnung unterliegt den gesetzmäßigen Strukturen der Abbildung. Diese These wird durch verschiedene wissenschaftstheoretische Abhandlungen des letzten Jahrhunderts (von K. Gödel bis J. Schröter ) (5) gestützt, wenn man sie in „externer“ Perspektive liest – d.h. unter Berücksichtigung ihrer systeminternen Bedingtheiten. Eine in entsprechender Außenperspektive gelesene Analyse der Physik als Paradewissenschaft kann demonstrieren, dass sämtliche konstitutiven Daten von Physik und Chemie auf menschlichen Abbildungsvorgängen beruhen und dass Quanten und physikalische Konstanten sich ähnlich wie Dogmen aus der Spezialisierung auf Widerspruchsfreiheit ergeben. (6) Wahrheit entsteht prinzipiell als Abbildung, die sich infolgedessen überall in den Wissenschaften wiederfinden lässt und durch moderne Verständnisweisen des Abbildungsbegriffs nur interpretiert wird. Der Mechanismus reproduziert sich mit charakteristischer Eigendynamik, wenn auch je kontextgemäß bzw. dem „Material“ des Bildes entsprechend.

Da jeder Rezipient eine Botschaft prinzipiell auf seine je eigene Weise aufnimmt, liegt es nahe, jede Objektivation als einen Abbildungsvorgang zu betrachten. In diesem Sinn basieren die verschiedenen Wissenschaftszweige auf Abbildungsvorgängen, so dass sie in Entwicklung, Struktur und Gesetzmäßigkeit zu verfolgen und als Resultate strukturell vorgezeichneter Mechanismen und Filter zu erkennen sind. Grundsätzlich gilt, was J. Schröter mit Bezug auf die Physik betont hat, auch für die Wissenschaftlichkeit insgesamt: Wenn die physikalische Theorie „ontologie-invariant“ ist, dann sind die Wissenschaften „wirklichkeits-invariant“.

Dass sich wissenschaftlich dennoch ein absoluter Anspruch auf universale Gültigkeit des bewiesenen Realitätsbildes halten (bzw. beweisen) lässt, resultiert allein aus der Unmöglichkeit des Rückweges vom Bild zum Original: Die Bilderfläche ist unendlich, obwohl - in der Perspektive der dritten Dimension betrachtet - prinzipiell begrenzt. (7)

7. Das Selbstporträt

Wahrheit als Repräsentation logischer Widerspruchsfreiheit kennt menschliche Selbstreflexion ausschließlich innerhalb der Abbildungsebene als Relation zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Geist und Materie. Die originale menschliche Selbstreflexion bleibt dem Urteil der Wahrheit verschlossen bzw. gilt als unwahr bzw. naiv.

Doch das fehlende Verständnis des Bildes für den Vorgang seiner Herkunft kennzeichnet nicht den Maler des Bildes! Aufgrund seiner Fähigkeit des Malens überragt er alle seine Werke. Ist Erkenntnis sein Werk, dann kann Erkenntnis ihn selbst nicht einholen. Während er der Erkenntnis Sinn zu verleihen vermag, verbleibt doch die Erkenntnis in der Ebene seiner Werke.

Das ist die Charakteristik aller Wissenschaft: Sie bildet die höhere Dimensionalität des Menschen in der Wahrheitsebene ab und erhält dabei nur ein menschliches Werkstück. Alle durch die wahrheitsgemäße Abbildung des Menschen gezeichneten Relationen realisieren sich im Bildbereich. Folglich ist die sog. „Realität“ nichts als ein bestimmtes – ein freilich oft sehr nützliches - Abbild der Wirklichkeit.

Gemäß ihrer eigenen Logik muss dieses Realitätsbild einen Universalitätsanspruch anmelden. Gemäß der Logik der Abbildung aber kann der Maler um die Relativität seiner Werke wissen. Und trotzdem hat sich in der „westlichen“ Zivilisation diese Perspektive nicht halten können: Obwohl sich der Mensch als Maler der speziellen Eigenschaft seiner wissenschaftlichen Erkenntniswerke bewusst sein könnte, bleibt die westliche Zivilisation durch die umgekehrte Unterwerfung der Gesellschaft unter die Logik ihrer Werke charakterisiert.

Sicherlich gibt es keine Wahrheit über der Wahrheit. Aber diese Tautologie schließt keinen Standpunkt menschlichen Bewusstseins außerhalb der Erkenntniswahrheit aus! Denn Wahrheit ist immer das Filtrat des gesellschaftlich favorisierten Filters. Wenn der Gott der abendländischen Geistesgeschichte das absolute Sein ist, dann ist der Filter die absolute logische Widerspruchsfreiheit, auf deren Wegen wissenschaftliche Erkenntnis ihren Gott in verschiedenen Materialien repräsentiert. Dieser ihr Gott wird durch die Systemstruktur des Werkes repräsentiert; er orientiert die Struktur des Bildes, aber nicht die Intention des Abbildungsvorgangs. D.h., die Wissensgesellschaft reduziert ihr Menschenbild auf das Selbstporträt und verliert dadurch die Orientierung.

8. Kreativität gründet außerhalb der Wissenschaft

Ein Wissenschaftler ist bestrebt, die Wissenschaften auf ein Prinzip, ein Gesetz, eine wissenschaftliche Information zurückzuführen. Doch folgt er damit der metaphysischen Methode, die wissenschaftliche Bildebene als wahrheitsgemäßes Bild der ganzen Wirklichkeit zu deuten. Dieser Trick vermeidet, mittels des niederdimensionalen Werkzeugs von einer höheren Dimensionalität eines Originals sprechen zu müssen und dadurch in einen logischen Widerspruch bzw. in ein Scheitern der Erkenntnis verstrickt zu werden. Er eröffnet Macht (was die abendländische Beschränkung auf Erkenntnis begründet).

Ohne diesen metaphysischen Ansatz ist Erkenntnis begrenzt, grenzt das Wissen an Nicht-Wissen. Denn das Bild besitzt einen Maler, welcher den Kategorien des Bildes nicht zugänglich ist, und der demjenigen Forscher, der sich auf die Bildkategorien beschränkt, ein unerreichbares Geheimnis bleibt.

Mit diesem Gedanken begegnen wir dem Kern des Bilderstreits, der die abendländische Geistesgeschichte während zwei Jahrtausenden erschüttert hat. Der irritierende Skandal, dass das Bild über den wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff hinaus führe, findet in allen Wissenschaftsbereichen seinen realitätsbildenden Niederschlag, indem er zur Quadrierung des Kreises herausfordert: Was ist die Wahrheit der Herkunft der Wahrheit? Fasziniert durch das „Geheimnis des Bildes“ folgen Theologie und Philosophie und explizit Kunstgeschichte und Ästhetik diesem Wissensdurst, indem sie die bestaunte Größe der Abbildung unter das Joch der Wahrheit zu beugen versuchen. Indem sie sich der Wissenschaftlichkeit unterwerfen, reproduzieren sie ihr Thema immer aufs Neue, verlieren aber, was sie fasziniert, aus dem Auge. Denn nicht das Bild führt über sich hinaus, sondern der Mensch steht jenseits des Bildes in unendlichen Dimensionen! Wer ihn ausklammert, findet das „Geheimnis des Bildes“ nie!

Das ist die Kritik der „Bilderfreunde“ an den „Bilderfeinden“, der fremdländischen Kulturen am „westlichen“ Globalismus. Der Leser dieser Zeilen nimmt hier unmittelbar am „Bilderstreit“ teil! Er versteht, warum nicht der Bilderstreit „mittelalterlich“ ist, sondern allein seine damalige Lösung, die in der abendländischen Verbannung der Andersdenkenden bestand. Heute haben wir die vornehme Aufgabe, geeignetere, d.h. friedensfähige Wege zu finden.

Ein Verständnis des Bilderstreits lässt die ungeheure Tragweite der Frage nach einem Theorierahmen für eine allgemeine Bildwissenschaft bewusst werden. Im strengen Sinne von Erkenntnis kann der hier dargestellte Entwurf nicht als Theorierahmen gelten, weil er über Dimensionen spricht, welche die Möglichkeit von Theorie als Spezialisierung enthalten, aber nicht deren Gegenstand sind. Wenn eine umfassende Theorie des Bildes angezielt wird, dann verhindert die Selbstreferenz die strenge Wissenschaftlichkeit.

Weil also allein das in den Wahrheitshorizont hinein abgebildete Bild sich widerspruchsfrei einer Theorie unterordnen lässt, wird eine allgemeine, die verschiedenen Auseinandersetzungen mit Bildern versammelnde Bild-Wissenschaft eine eigene und ganz neue Disziplin darstellen müssen, welche zugleich den Anspruch des „abendländischen Weltbildes“ in Frage stellt, da sie den Wahrheitshorizont als einen solchen speziellen Bildträger werten muss, der als nützliches Werkzeug eine logisch widerspruchsfreie Abbildung der höherdimensionalen menschlichen Wirklichkeit erlaubt.

Obwohl eine systemexterne Position keinen direkten Beitrag zur systeminternen Kooperation darstellt, geht der Bildbegriff nichtsdestoweniger auf das Verb „abbilden“ zurück, so dass sich eine allgemeine Bildwissenschaft nicht auf historisch wie systematisch weniger bedeutsame Aspekte beschränken darf. Sie muss z.B. auch fähig sein, das Bild „Physik“, „Weltbild“ oder „Realität“ zu thematisieren. Auch hier gilt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Kreativität ist ein Abbildungsprozess, in dem die Fülle der höheren Dimensionalität den niederdimensionalen Bereich innovativ gestaltet. Es ist deshalb die Offenheit des Künstlers (Forschers) für höhere Dimensionen, die ihm neue Möglichkeiten der Abbildung auf die Ebene der Bilder gestattet. Solche neue Abbildung bzw. neue Spezialisierung übertrifft die Neukonfiguration des (systeminternen) Alten (d.h. die technische Entwicklung) in prinzipieller Weise und charakterisiert, wozu Wissenschaftlichkeit keinen Zugang kennt: das menschliche „Genie“.

Unser Ansatz impliziert ein menschliches Bewusstsein, das geschichtlich und logisch der Wahrheit der Erkenntnis vorangeht und sie als ein spezielles Unternehmen bewertet. Er impliziert den Menschen als Maler aller Theorien. Er impliziert eine Differenz zwischen der Wurzel der Erkenntnis und der erkannten Wurzel. Er ist auf diese Weise fähig, vielfältige Bilder zu akzeptieren und einen interdisziplinären Strukturrahmen zu benennen, welcher außer den Gesetzen der Abbildung nichts beinhaltet und jeder Spezialisierung die Freiheit lässt, die je eigene Grenzenlosigkeit in Freiheit zu nutzen.

Der Wahrheitshorizont aber ist selbst ein Abbild und kennt als solches seine Entstehung nicht. Er bleibt gefangen und orientierungslos im Horizont seiner selbst. Eine allgemeine Bildwissenschaft vermag er nicht zu steuern. Aber umgekehrt erhält er einen Platz als Bild im Geschehen der Abbildung, wenn wir Menschen es lernen, methodisch strenge Wissenschaft zu betreiben, ohne uns selbst den Gesetzmäßigkeiten dieser Methodik zu unterwerfen. Wir brauchen also dringend ein neues Wissenschaftsverständnis, welches die Wissenschaft als Methodik ernst nimmt, aber nicht als Gesetz über dem Menschen verabsolutiert.

Als Konsequenz bedarf unsere Wissensgesellschaft einer zweiten Aufklärung darüber, dass menschliches Reflektieren mehr beinhaltet als nur die Erkenntnis. Das menschliche Bewusstsein versammelt alle Spezialisierungen gemäß der Abbild-Hermeneutik als niederdimensionale Bilder einer höheren Dimensionalität, welcher der Maler selbst angehört.

Bildwissenschaft wird sich auf diese Weise als ein wesentlicher Baustein in das Menschheitsprojekt eingliedern, das im 21. Jahrhundert geschichtlich ansteht: die Versöhnung mit dem menschlichen Bewusstsein „vor-westlicher“ Kultur durch Aufklärung der Aufklärung.

Am Ende stehen wir wieder vor der klassischen und wissenschaftlich nicht entscheidbaren Frage, ob das Bild eine sinnliche Darstellung begrifflicher Wahrheit, oder ob Wahrheit eine begriffliche Abbildung höherdimensionaler Wirklichkeit sei: Ist eine allgemeine Bildwissenschaft „Bilderfeind“ oder „Bilderfreund“? Für den Bilderfreund ist die Abbildung die Mutter der Wissenschaften.