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Die Kunst des Handelns und das Leiden - Schmerz als Bild in der Performance Art


Autor: Helge Meyer
[erschienen in: IMAGE 2: Kunstgeschichtliche Interpretation und bildwissenschaftliche Systematik]

Schlagwörter: Schmerz, Performance Art, Bewegungsbild

Disziplinen: Kunstwissenschaft, Philosophie


Feeling pain is a personal physical experience, but according to Elaine Scarry, hearing about pain can be treated as synonymous with doubt. The experience of physical pain itself cannot be communicated to the outside world. Although the wounds as signs of pain are visible to the observer, they cannot convey the phenomenon, the sensation of pain, per se. In this thesis I will claim that by using performance as an art form it is possible to develop images of pain, both physical and psychological, and to communicate these images to an observer. Physical pain is often not only accepted as part of a performance but an integral, challenging component of it. Painful actions are used to produce images as well as to induce borderline states of ecstasy in the performers and to some degree in the audience. Christian Keysers’ mirror cell theory claims that there are areas of the brain that can trigger empathy when painful, gruesome images are observed. According to Keyers, the observer’s empathic feelings directly match those of the physical victim. In my work I investigate different artistic approaches that deal with images of pain such as temporally long performances (Alastair MacLennan, Marina Abramovic, et al.) as well as short and sharp images of self-inflicted wounds (Jamie McMurry, Zbiegniew Warpechowski, et al.) By analyzing the images produced by these performers and by connecting their works to theories from diverse fields such as philosophy, psychology, and medicine, I will back up my main thesis:
The immediate production of images in front of a live audience enables performance art to generate a believable representation of physical and emotional pain.

Mein Dissertationsvorhabens trägt den Arbeitstitel ”Handeln und Leiden - Schmerz als Bild in der Performance Art”. In meiner Untersuchung bemühe ich mich, die Performance, insbesondere die Performance, in der Schmerz das zentrale Motiv darstellt, unter den Aspekten des Bildes zu untersuchen. Der vorliegende Text bezieht sich auf einen Vortrag, den ich so in Magdeburg bei der Tagung ”Kunstgeschichtliche Interpretation und bildwissenschaftliche Systematik” im November 2004 gehalten habe

Der erste Teil wird einen kurzen Einblick in die Definition von Schmerz geben: Was ist Schmerz? Was sind seine physiologischen und psychologischen Aspekte? Im zweiten Teil werde ich eine kurze Erläuterung des Bildbegriffs geben, den ich für die Kunstform der Performance Art als verwendbar ansehe. Im letzen Teil des Vortrags werde ich einige Künstler vorstellen, die Schmerz als Bild in ihrer Arbeit verwenden. Ich werde versuchen, eine kurze Analyse ihrer Beweggründe zu liefern.

Schmerz- ein menschliches Phänomen

„Schmerz (...) ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“

Schmerz ist eine zentrale Empfindung des Menschen. Als Warnsignal zeigt er im akuten Auftreten Verletzungen und Störungen des Körpers an und ist somit sinnvoll. Er weist auf die Notwendigkeit eines Schonverhaltens für den Organismus hin. Friedrich Strian bezeichnet ihn in seinem Buch „Schmerz: Ursachen-Symptome-Therapien“ als „spezielle Wahrnehmung bei Bedrohungen der Integrität des Organismus.“

Die Möglichkeit Schmerz empfinden zu können, ist wichtig für uns als Menschen. Es ist eine essenzielle Emotion. Auch die kleinste Erfahrung von Schmerz ist hilfreich, um unser Verhalten zu korrigieren oder uns ein Warnsignal zu senden. Ohne diese Signale würden wir nicht realisieren, wann unsere Körper verletzt werden. Somit könnte die kleinste unbemerkte Wunde durch Entzündungen zu einem ernsthaften Gesundheitsproblem werden. Personen, die unter Schmerzunfähigkeit leiden, leben in steter Gefahr. In ihrer Kindheit ist ihnen ein unbeschwertes Spiel verwehrt, da die Gefahr, sich ernsthaft zu verletzen ohne die Folgen abwägen zu können, stets präsent ist. Es existiert keine Angst vor Verletzungen, kein Gefühl für Situationen, die schmerzhaft enden könnten. Schmerz kann somit als hilfreich beschrieben werden und ohne Zweifel als eine Charakterisierung von Menschsein.

Schmerz ist das Resultat biochemischer Prozesse. Die Sensation beginnt in Zellen, Nozizeptoren genannt, welche auf Verletzungen reagieren, indem sie elektronische Nachrichten an eine Region im Rückenmark senden. Hier, in dieser ”Einfahrt” des Schmerzes senden Neurotransmitter und andere Chemikalien ein Signal an das Gehirn - das unmittelbare Empfinden einer schmerzhaften Sensation. Das Gehirn interpretiert die Nachricht und reagiert mit der Entsendung einer Armee von Schmerzkillern wie Endorphinen und anderen Chemikalien, um den Schmerz niederzuringen. Wie diese Spieler interagieren, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab: Unter anderem davon, wie ernst der Schmerz ist oder ob eine akute Bedrohung besteht. Selbst die persönliche Gemütslage ist hier ein entscheidender Faktor. Befindet man sich in einer akuten Gefahrensituation oder in einem professionellen sportlichen Wettkampf, wird das Gehirn höhere Mengen an Schmerzkillern aussenden, um die Beschwerden zu dämpfen, so dass man aus der Gefahrenzone gelangt oder genügend Leistung erbringen kann, um zu gewinnen.

Schmerz ist nicht nur eine Irritation, die auf verschiedenen Wegen innerhalb des Körpers auf neuronaler Basis versandt wird, sondern eine komplexe Emotion, deren Charakter nicht nur auf der Intensität der Irritation basiert, sondern auch auf der Situation, in welcher Schmerz empfunden wird. Am wichtigsten ist die affektive und emotionale Situation des Individuums. Schmerz als körperliche Irritation ist das Gleiche wie Schönheit als visueller Stimulus: beides sind individuelle Erfahrungen.

Ich bin sicher, dass diese Sichtweise auf Schmerz ebenso eine starke Rolle in Bezug auf die Verwendung von schmerzvollen Bildern in der Performance spielt.

Das folgende Zitat von Albert Einstein erscheint mir in diesem Zusammenhang bedenkenswert: „Alles, was von den Menschen getan und erdacht wird, gilt der Befriedigung gefühlter Bedürfnisse, sowie der Stillung von Schmerzen.“ Die Stillung von Schmerzen wird hier als ein Grundanliegen menschlichen Handelns beschrieben. Warum setzen sich Künstler also freiwillig dieser Belastung aus?

Neben der geschilderten physiologischen Komponente des Schmerzes, steht für meine Arbeit der weitaus kompliziertere Aspekt der emotionalen und kognitiven Bedeutung von Schmerzwahrnehmung und Schmerzerleiden im Vordergrund.

Elaine Scarry bezeichnet den Schmerz in ihrem Buch „Der Körper im Schmerz“ als Paradoxon zwischen Gewißheit und Zweifel:

„Für einen Menschen, der Schmerzen hat, ist der Schmerz fraglos und unbestreitbar gegenwärtig, so daß man sagen kann, „Schmerzen zu haben“ sei das plausibelste Indiz dafür, was es heißt, „Gewißheit zu haben“. Für den anderen indes ist dieselbe Erfahrung so schwer faßbar, daß „von Schmerzen hören“ als Paradebeispiel für Zweifeln gelten kann. So präsentiert der Schmerz sich uns als etwas Nichtkommunizierbares, das einerseits nicht zu leugnen, andererseits nicht zu beweisen ist.“

Einerseits ist diese Aussage, selbst aus medizinischer Sicht, ein überdenkenswerter Ansatz, andererseits möchte ich jedoch behaupten, dass es möglich ist, bis zu einem gewissen Maß die Auswirkungen beziehungsweise die emotionalen Folgen von Schmerzen zu kommunizieren. Scarry sieht eine, wenn auch unzulängliche, Möglichkeit darin, Schmerz in Sprache zu übersetzen. Beispielsweise in Berichten von Amnesty International, die sich mit den Erlebnissen und dem Leiden von Folteropfern beschäftigen und in einigen Texten von Schriftstellern wie Marguerite Duras. Doch nach ihrer Auffassung ist all dies unzureichend: Der körperliche Schmerz zerstört die Sprache geradezu.

„Er versetzt uns in einen Zustand zurück, in dem Laute und Schreie vorherrschen, deren wir uns bedienten, bevor wir sprechen lernten.“

Ich gebe Scarry in gewisser Hinsicht recht: Sprache erscheint unzureichend, um die Erlebnisse und die körperlichen Sensationen zu beschreiben, die Schmerz in einem Menschen auszulösen vermag. Die Verkettung emotionaler Bedrängnis und physisch empfundener Qual scheint zu komplex für ein sprachliches Äquivalent. Die sprachliche Objektivierung gelingt nach Scarrys Auffassung deshalb nicht, weil der Schmerz kein Objekt hat:

„Die moderne Philosophie hat uns an den Gedanken gewöhnt, daß unsere Bewußtseinszustände mit Objekten in der äußeren Welt verknüpft sind, daß wir nicht einfach „Gefühle haben“, sondern Gefühle für jemanden oder etwas; (...) Im Unterschied zu allen übrigen inneren Zuständen besitzt der physische Schmerz keinen Referenten. Er ist nicht von oder für etwas. Und gerade weil er kein Objekt hat, widersetzt er sich mehr als jedes andere Phänomen der sprachlichen Objektivierung.“

Doch die Performance Art bewegt sich auf einem Ausdrucksniveau, welches eine Bildsprache benutzt und seine Wurzeln eher im vorsprachlichen Bereich hat oder sich vielmehr abseits und „zwischen“ den Worten als Text entwickelt.

Die Künstler suchen nicht nach einer Objektivierung. Sie arbeiten mit dem Leib und erschaffen eine eigenständige Realität, eine originäre Bildwelt, welche eventuell auf mimetische Weise zitiert, jedoch nicht gespielt wird. Dies meint, dass die Künstler einen Weg finden, den Leib als Ausdrucksmittel einzusetzen. Denselben Leib, der den Schmerz erträgt, der die schmerzvollen Ereignisse psychisch verarbeitet. Der Leib wird zum Referenten der sichtbar gemachten Attribute des Schmerzempfindens. Dies ist, meiner Meinung nach, der einzige Weg, die Schmerzempfindung eines leidenden Menschen in den Bereich des Sichtbaren zu bringen. Deshalb behauptete ich, dass Schmerz in der Aktionskunst durch Verbildlichung kommuniziert werden kann.

Das Bild in der Performance Art

Nach meiner Überzeugung kann die Performance Art als Übersetzungskunst unterschiedlichster Disziplinen angesehen werden, die sie in einer Art Ballung zu anschaubaren kulturellen Phänomenen in Bewegungsbildern zu verdichten imstande ist. Das Werkzeug, mit dem die Performancekunst diese Übersetzung vornimmt, ist der Körper des Performers im Zusammenspiel mit den Komponenten Zeit und Raum.

Durch den Einsatz dieses Werkzeugkomplexes finden die Performer Eingang in die Empfindung des Betrachters und sind in der Lage, kulturell wirksam zu handeln.

Nur wenn sich die Zeit des Betrachters mit der Zeit des Performers deckt, wenn die Anwesenheit des Zuschauers als Ko-Präsenz in der Performance gegeben ist, kann es zu der Begegnung kommen, die die Besonderheit des Bildbegriffs in der Performance Art prägt. Empfindung und Wahrnehmung von Zuschauer und Performer geschehen parallel in einer gemeinsamen Erfahrung von Dauer. Die Körperlichkeit der Kunstform spielt eine immense Rolle in ihrer Wahrnehmungsweise: Die Verkörperung einer Bildidee und die Darstellung menschlichen Handelns verweisen immer auf den Leib. Die Begegnung der Körper des Performers mit dem Körper des Zuschauers in geteiltem Raum und geteilter Zeit, macht eine Form der Empathie möglich: Das Wissen um die Verwandtschaft im Besitzen eines Leibes macht die Bilderfahrung zu einer Besonderen. Erst durch den Leib kann es zur Bewusstwerdung von Welt kommen. Hierzu Emmanuel Levinas: „Das Subjekt steht dem Objekt gegenüber, und es ist mit von der Partie; die Leiblichkeit des Bewusstseins an der Welt, die es konstituiert; aber diese Leiblichkeit geschieht in der Empfindung. Die Empfindung ist beschrieben als das, was „am“ und „im“ Leib empfunden wird, als das, wodurch in aller sinnlichen Erfahrung „der Leib mit dabei ist.“

Ohne Leiblichkeit, keine Objekterfahrung! Edmund Husserl beschreibt diese Erfahrungen als „Empfindnisse“. Durch jene wird die Beziehung zum Objekt „verleiblicht“. Den Leib bezeichnet Levinas in Folge allerdings nicht nur als „Lagerstätte und Träger“ der Empfindnisse, sondern als „Organ der freien Bewegung, Subjekt und Sitz kinästhetischer Empfindungen“. Dadurch erlangt das Subjekt Mobilität. Erst durch den Leib gelingt es dem Subjekt, Realität für sich zu erfahren. Die Wirklichkeit wird in Form von Gesichtspunkten wahrgenommen, die das Subjekt frei einnehmen kann:

„Das Subjekt bewegt sich in eben dem Raum, den zu konstituieren es im Begriff ist. Das Subjekt hält sich nicht in der Unbeweglichkeit des Absoluten, wo das idealistische Subjekt seinen Platz hat; es findet sich hineingezogen in Situationen, die sich nicht in Vorstellungen auflösen, die es sich von diesen Situationen machen könnte.“

Das Subjekt handelt mit dem Leib, es erarbeitet sich Situationen und verkörpert diese Handlungen in Bildern. Damit wird dem Menschen als Träger einer Art kulturellen Gedächtnisses eine wichtige Rolle in der Übertragung von Bildern beigemessen. Es ist den technischen Bildmedien nicht gegeben, die in ihnen dargestellten Bilder dynamisch zu verwandeln. Erst die subjektive Umdeutung, das Vergessen oder die Neuinterpretation durch die Einverleibung der Bilder macht sie zu einem Teil der Kultur. Hier liegt für mich ein wichtiger Aspekt in Bezug auf das Bild in der Performance: Zum einen ist der Performer selbst als Leib in der Aktion und produziert durch seine Arbeit ein Bild, geprägt von seinen subjektiven Vorstellungen. Diese vermitteln sich dem Künstler selbst durch die Empfindnisse, die der Performer in seiner Aktion durchlebt. Er handelt leiblich und erarbeitet sich in der Situation eine bildhafte Darstellung. Da die Performance immer ein Prozess ist, der nicht in letzter Konsequenz geplant werden kann, wird der Performer oftmals hineingezogen in die Situation. Seine Vorstellungen sind nur bis zu einem gewissen Grad erfüllbar, er begibt sich in ein Risiko, ohne exakt zu wissen, was er als Subjekt letzten Endes aus der Aktion gewinnen wird. In Bezug auf das Thema meiner Arbeit, den Schmerz, bekommt dieser Aspekt noch eine besondere Brisanz: Der Grad der Selbstgefährdung ist nicht in jedem Fall überschaubar. Der körperliche Schmerz wird in vielen Performances nicht nur in Kauf genommen, sondern regelrecht herausgefordert. Die Verwendung von schmerzhaften Handlungen dient hier zur Produktion eines Bildes, aber auch zur Herstellung von ekstatischen Grenzzuständen bei den Performern und teilweise auch beim anwesenden Publikum.

Eine wichtige Frage ist also auch, ob Schmerzperformances eingesetzt werden, um (wie bei antiken Tragödien) eine soziale Gemeinschaft zu reinigen, also eine kathartische Funktion zu übernehmen. Ein besonderer Schwerpunkt meiner Arbeit bezieht sich somit auch auf die ästhetische Gestaltung, also die Auswahl, Herstellung und ikonographische Herkunft von Bildern der Aktionen:In der Kunstgeschichte tauchen selbstverständlich bereits vor der Performance Art Schmerzdarstellungen auf, die eine metaphorische Ebene besitzen: Die Darstellung des sterbenden Jesus am Kreuz bezieht sich im Christentum auf eine Kultur der Buße. Das ausgehaltene Leiden als Glaubenstest oder als Strafe für die Erbsünde der Menschheit spielt hier ebenfalls eine Rolle.

Die Azteken brachten in ihren Menschenopfern den wütenden Göttern ein Maß an Schmerz, dessen Intensität den Zorn der Götter besänftigen sollte. Der Schmerz verließ hier die persönliche Ebene und wurde zu einem öffentlichen Akt. Hier taucht das Motiv des Stellvertreters auf, welches ebenfalls bei den Flagellanten zu finden ist, die sich beispielsweise im Mittelalter selbst geißelten, um die Pest als vermeintliche Strafe Gottes von der Gemeinschaft abzuwenden. Ein Motiv, welches auch in manchen Performances in den Augen der Künstler eine Rolle spielen mag.

Die Künstler

Nach meiner Ansicht handelt es sich bei den Body-Art-Phänomenen innerhalb der Performance nur in den wenigsten Fällen um eine vordergründige Produktion von Effekten oder sensationellen Situationen. Vielmehr wird dem eigentlich „sprachlosen“ Schmerz eine anschaubare Dimension gegeben. Gina Pane hat mit ihren Körperaktionen nach eigener Aussage versucht, gegen eine Welt zu protestieren, in der alles betäubt ist. Ihre feministisch geprägten Aktionen revoltierten gegen die Macht, die durch Unterwerfung unter Maskierungsvorschriften auf den weiblichen Körper wirkte und wirkt. Damit entzieht sie sich dem gesellschaftlich vorgefertigten Rollenklischee der Frau als Objekt. Diese Form der Autoaggression ist bei Pane zwar als künstlerische Handlung exponiert, verweist aber auf, auch heute noch, aktuelle Probleme wie Magersucht oder andere bewusste Verletzungen wie das Zerschneiden von Armen und Beinen oder das Abziehen der Haut.

Nach Hans Peter Dreitzel sind solche Handlungen ein ”suchtartig betriebener Krieg gegen den eigenen Körper (...) dessen paradoxes Ziel der Ausbruch aus einem Gefängnis der Taubheit gegenüber den als unerträglich erlebten Leiden der eigenen Biographie ist.”

Gina Pane hat eine Stellvertreterfunktion übernommen, um mit ihrem Körper die Funktionen von spezifisch weiblich erlebter Unterdrückung zu repräsentieren.

Eine andere Verwendung von Schmerz oder ”endurance”-Aktionen ist der Wunsch, zu einer „peak-experience“, zu einem ekstatischen Außer-sich-sein zu gelangen. Der Verlust der Identität in diesem emotionalen Grenzland widerspricht dem Gefühl der Entfremdung, dem sich das Individuum in einer totalitären, von Normen kontrollierten Gesellschaft oder in einer, sich immer stärker, virtualisierten Welt gegenübersieht.

Es geht vielmehr um das ganz bei sich sein, wobei hier die Grenzerfahrung dieses individuellen Gefühls auf rein körperlicher Ebene stattfindet und somit der Körper wieder als erste und letzte Evidenzbasis aller Erfahrung empfunden werden kann. Durch Angst-, Risiko-, oder Schmerzsituationen werden diese Gefühle auf einmalige Art gesteigert. Marina Abramovic nutzte dieses Konzept in verschiedenen Arbeiten, wie z.B. in ”Freeing the Body”, in welcher die Künstlerin 8 Stunden lang zu den Trommeln eines Musikers tanzte. Auch Künstler wie Stelarc machen sich Erfahrungen von Naturvölkern zunutze, um gänzlich andere Konzepte mit ähnlichen Bildaussagen zu diskutieren. In seinen ”suspensions” (Aufhängungen) zitiert der Künstler sogenannte ”Sonnentänze” indianischer Herkunft, will aber vielmehr auf eine Analyse der Fähigkeiten menschlicher Haut und deren Bedeutung für den Cyborg, den technologisch erweiterten Menschen, hinaus. Ein Konzept, welches angesichts neuester Versuche, das menschliche Gehirn mit Computerchips zu koppeln, von besonderer Aktualität ist. Der Aspekt des Publikums und die Beziehung zwischen Beobachter und Künstler sind ein nächster Schwerpunkt meiner Untersuchung. Die Zuschauer einer Schmerzperformance sind einem besonderen Stress unterworfen. Sie wechseln gedanklich zwischen der Rolle des passiven Beobachters, beziehungsweise des Voyeurs und der Rolle eines Teilnehmers, also dem involvierten Betrachter, hin und her.

Der Neurologe Christian Keysers fand heraus, dass sich in unserem Hirn sogenannte ”Spiegelzellen” befinden, die imstande sind, angesichts der Erlebnisse anderer, Mitgefühl bei uns auszulösen, welches dem erlebten Gefühl von beispielsweise Schmerz gleichkommt. Das bedeutet, dass das Gehirn uns im Falle der Beobachtung einer Schmerzperformance suggerieren kann, es sei unser eigener Schmerz. Neben dieser neurologischen Tatsache existiert jedoch auch eine ethische Involviertheit: Wann entscheiden wir als passive Zuschauer, unsere Rolle aufzugeben und in ein schmerzvolles Geschehen einzugreifen?

Als Marina Abramovic 1974 in ihrer Performance ”Rhythm 5” inmitten eines brennenden Sterns aus Sauerstoffmangel ohnmächtig wird und Gefahr läuft, zu verbrennen, greift das Publikum ein und befreit sie aus der Gefahrenzone. Eine Entscheidung wurde vom Publikum getroffen. Das Publikum wird in der Schmerzperformance generell in eine Reflexion über seine eigene Rolle als Zeuge eines gewalttätigen Aktes hineingezogen: Es entsteht ein ständiger Perspektivenwechsel, bei welchem einerseits die Rolle des Opfers emphatisch eingenommen wird und andererseits aus der Täterrolle auf die Situation geblickt werden kann. Das Täter und Opfer in der Rolle des Performers verschmelzen, da dieser sich freiwillig in die schmerzvolle Situation gebracht hat, macht die Handlungsoptionen um so komplizierter.

In anderen Fällen spielen Performer mit den ethischen Grundsätzen einer Gesellschaft, um soziale oder politische Aussagen treffen zu können: Der indonesische Künstler Yoyo Yogasmana benutzt für ihn schmerzvolle Aktionen, bei welchen er sich in die Hände des Publikums begibt, um die Gewaltbereitschaft einer Gesellschaft aufzuzeigen oder zu untersuchen. Er lässt sich in ein kompliziertes Geflecht aus Seilen binden und übergibt dem anwesenden Publikum die Kontrolle der Seile. Sein Leib befindet sich also buchstäblich innerhalb einer moralischen Zerreissprobe. Für Yogasmana ist seine Arbeit geprägt von der politischen und sozialen Situation Indonesiens. Seiner Meinung nach haben die Menschen in seiner Heimat begonnen ”stärker über die wirtschaftlichen Belange nachzudenken, als darüber, was es heisst, menschlich zu sein.” Die Distanzierung ist seiner Erfahrung nach soweit fortgeschritten, dass Morde für wenige Dollar begangen werden. Es ist dem Künstler aus diesen Gründen nahezu zu gefährlich, seine Arbeit im eigenen Land aufzuführen, da der mangelnde Respekt vor seinem Leben garantiert zu lebensgefährlicher Strangulierung führen würde. Yogasmana ist ein aktuelles und klares Beispiel für eine eindringliche Bildlösung, die gesellschaftliche Relevanz für sich beansprucht und dies unter Einsatz persönlichen Schmerzes darstellt.

Literatur:

Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, 3. unveränderte Auflage, Freiburg im Breisgau, München: Alber 1992

Ernst Pöppel: Lust und Schmerz. Über den Ursprung der Welt im Gehirn, Sammlung Siedler: Berlin 1993

Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, S. Fischer Verlag: Frankfurt am Main 1992

Friedrich Strian: Schmerz: Ursachen-Symptome-Therapien, München: Beck 1996

Michael Zenz und Ilmar Jurna (Hrsg.): Lehrbuch der Schmerztherapie. Grundlagen, Theorie und Praxis für Aus- und Weiterbildung, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1993