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Imitationen – mehr Schein als Sein?


Autor: Kai Buchholz
[erschienen in: IMAGE 3 (Ausgabe Januar 2006)]

Schlagwörter: Imitation, Ähnlichkeit

Disziplinen: Designtheorie, Philosophie, Kulturgeschichte


Being iconic signs, pictures usually stand in a particular relation of similarity to the objects they represent. Although similarity hence plays a major role within the discipline of image science, the peculiar properties of this similarity relation cannot be easily defined. The following philosophical investigation into the nature of a different form of similarity, namely imitation, will shed some new light on the concept of similarity within image science, thereby contributing to a better understanding of this difficult concept.

Abstract in Deutsch:

Einleitung

Natürlich: Design kann verführen. Es kann missbraucht werden, um ahnungslose Kunden in einen Kaufrausch zu stürzen, von dem am Ende (neben der immer häufigeren Privatinsolvenz) nur das schale Gefühl innerer Leere zurückbleibt. Es kann von einer Mode zur nächsten hetzen und die Menschen mit künstlichen Welten von fragwürdigem ästhetischen und praktischen Wert umzingeln.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Gerade die ›gediegene‹ deutsche Tradition der Produktgestaltung von Peter Behrens bis Dieter Rams wollte immer auch ein Heilmittel sein gegen die Wunden der Moderne, gegen Technikwahn und Konsumterror. Dem entfremdeten Menschen in der entzauberten Welt Würde und Lebenssinn zurückzugeben – das war ihr Ziel. Charakteristisch für das deutsche Design ist also weniger die schöne Glitzerwelt der Schaufensterauslagen und Versandhausprospekte als vielmehr die Utopie einer Gesellschaft mit menschenwürdigen Lebensverhältnissen. Dass es bei einem solchen Anspruch nicht ohne ideologische Scheuklappen zugehen konnte, ist fast selbstverständlich. Die mit dem utopischen Ansinnen einhergehenden Auswüchse von ästhetischem Dogmatismus sollten jedoch niemanden dazu veranlassen, das ganze Projekt ›Design‹ gleich für gescheitert zu erklären und enttäuscht ad acta zu legen. Im Gegenteil. Irgendeine Form müssen wir unserer Lebenswelt ja geben. Da wäre es unvernünftig, sich pikiert zurückzuziehen und die Gestaltung der Umwelt dem Zufall zu überlassen. Nach vielen gescheiterten Utopien (Stichworte ›Geschmack im Alltag‹, ›Wohnmaschine‹, ›Gute Form‹) stellt sich heute allerdings ernsthafter denn je die Frage nach den Kriterien für gelungene Gebrauchsgegenstände. Wo genau verläuft der goldene Mittelweg zwischen Geschmacksdiktat und Beliebigkeit? Am Beispiel der Imitationen, die für den Bildwissenschaftler von besonderem Interesse sind, lassen sich einige Elemente zu dieser Diskussion beitragen, wird diese Objektklasse doch von allen Vertretern der Zunft einstimmig als Gipfel der Geschmacksverirrung rigoros abgelehnt.

Was wird imitiert?

Wovon genau die Rede ist, wenn man im Zusammenhang guter und schlechter Gestaltung von Imitationen spricht, hat Egon Friedell im dritten Band seiner Kulturgeschichte der Neuzeit sehr anschaulich beschrieben. Er bezieht sich dabei auf die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die als Epoche der beginnenden Industrialisierung mit ihrer fabrikmäßigen Massenware den Ursprung der bis heute andauernden Imitationskultur bildet: “Jeder verwendete Stoff will mehr vorstellen, als er ist. Es ist die Ära des allgemeinen und prinzipiellen Materialschwindels. Getünchtes Blech maskiert sich als Marmor, Papiermaché als Rosenholz, Gips als schimmernder Alabaster, Glas als köstlicher Onyx. Die exotische Palme im Erker ist imprägniert oder aus Papier, das leckere Fruchtarrangement im Tafelaufsatz aus Wachs oder Seife. Die schwüle rosa Ampel über dem Bett ist ebenso Attrappe wie das trauliche Holzscheit im Kamin, denn beide werden niemals benützt; hingegen ist man gern bereit, die Illusion des lustigen Herdfeuers durch rotes Stanniol zu steigern. Auf der Servante stehen tiefe Kupferschüsseln, mit denen nie gekocht, und mächtige Zinnhumpen, aus denen nie getrunken wird; an der Wand hängen trotzige Schwerter, die nie gekreuzt, und stolze Jagdtrophäen, die nie erbeutet wurden. Dient aber ein Requisit einer bestimmten Funktion, so darf diese um keinen Preis in seiner Form zum Ausdruck kommen. Eine prächtige Gutenbergbibel entpuppt sich als Nähnecessaire, ein geschnitzter Wandschrank als Orchestrion; das Buttermesser ist ein türkischer Dolch, der Aschenbecher ein preußischer Helm, der Schirmständer eine Ritterrüstung, das Thermometer eine Pistole. Das Barometer stellt eine Baßgeige dar, der Stiefelknecht einen Hirschkäfer, der Spucknapf eine Schildkröte, der Zigarrenabschneider den Eiffelturm. Der Bierkrug ist ein aufklappbarer Mönch, der bei jedem Zug guillotiniert wird, die Stehuhr das lehrreiche Modell einer Schnellzugslokomotive, der Braten wird mittels eines gläsernen Dackels gewürzt, der Salz niest, und der Likör wird aus einem Miniaturfäßchen gezapft, das ein niedlicher Terrakottaesel trägt. Pappendeckelgeweihe und ausgestopfte Vögel gemahnen an ein Forsthaus, herabhängende kleine Segelschiffe an eine Matrosenschenke, Stilleben von Jockeykappen, Sätteln und Reitgerten an einen Stall. Diese angeblich so realistische Zeit hat nichts mehr geflohen als ihre eigene Gegenwart.”


Abb. 1: Gusseisener Ofen in Form einer Ritterrüstung, aus: Dekorative Kunst, 12 (1909)

Friedells Schilderung macht deutlich, dass ein Hauptbetätigungsfeld der nachahmenden Gestaltung die Materialimitation ist. Es geht dieser Form der Imitation in der Regel darum, mit künstlichen Mitteln und Substanzen die Anmutung und den Anschein eines natürlichen Materials zu erwecken. Dieser Trend hat sich nicht etwa abgeschwächt, sondern mit der zunehmenden Verwendung der verschiedenen Kunststoffe und -fasern eher verstärkt. Man denke nur an die diversen PVC-Bodenbeläge, die Marmor, Fliesen und Parkett vortäuschen, oder an die selbstklebenden Folien, die mit Holzmaserung oder fotografierten Kacheln bedruckt sind. Neben Kunstleder, Kunstpelz, Kunstrasen, Kunsthaarperücken, falschen Wimpern und falschen Bärten sowie den in den letzten Jahren zunehmend angebotenen Geräten der Unterhaltungselektronik mit silberfarbenen Kunststoffgehäusen, die den Eindruck hochwertigen Metalls hervorrufen sollen, gehören auch die weit verbreiteten durchbrochenen Sets aus weißem Papier, die gerne zwischen Kuchenstücke und Tortenplatten gelegt werden und die sich als Spitzendeckchen tarnen, in diese Kategorie.

Fließende Übergänge bestehen zwischen Material- und Objektimitationen. Auch Objektimitationen gaukeln zwar fremde Materialien vor, aber in einer so umfassenden Art und Weise, dass – ähnlich wie bei der Mimicry des Wandelnden Blatts oder der Schwebfliege – die Illusion eines gänzlich anderen Gegenstandes entsteht. Dies trifft auf falschen Schmuck, falsche Zähne, Plastikblumen (vgl. Abb. 2), Schokoladenzigaretten und Wasserpistolen zu oder auch auf die Nachbildung von Esswaren in den Auslagen der Lebensmittelgeschäfte und auf Kunststoffhüllen zur Aufbewahrung von Videokassetten, die den Anschein erwecken sollen, sie seien kostbare Bücher mit Ledereinband. Es liegt auf der Hand, dass Objektimitationen eine gewisse ontologische Nähe zu Modellen (Modelleisenbahnen, Architekturmodellen etc.), computergenerierten Cyberwelten und anderen bildhaften Darstellungen aufweisen. Allerdings besteht auch ein entscheidender Unterschied zwischen solchen pikturalen Objekten und Imitationen: Während Bild und Abgebildetes zwar in einer Ähnlichkeitsbeziehung zueinander stehen, jedoch nicht ununterscheidbar sein dürfen, wollen sie ihr Abbildungsverhältnis nicht aufs Spiel setzen, ist die Ununterscheidbarkeit vom Original (selbst, wenn sie nicht erreicht wird) gerade das eigentliche Ziel des Imitierens. An zwei Arten von Objektimitationen wird dieses Ziel besonders offensichtlich: am Falschgeld und an ›naturgetreuen‹ Kopien von Unikaten wie Gemälden oder anderen Kunstgegenständen. Bilder leben dagegen von ihrer jeweiligen – vom Abgebildeten unterschiedenen – Prägnanz, Bestimmtheit und atmosphärischen Wirksamkeit.


Abb. 2: Blumenbouquet aus synthetischem Material, Foto: Heinz Hefele Fotodesign, Darmstadt

Eine weitere Kategorie von Imitationen bilden die Stilimitationen: Gegenstände, die sich des formal-stilistischen Vokabulars vergangener Epochen bedienen. Besonders auffällig werden diese Stilsurrogate dann, wenn sie an Objekten auftreten, die es in der Zeit des betreffenden Stils noch gar nicht gegeben hat (wie bei Musiktruhen mit Rokoko-Ornament oder bei rustikal verkleideten Kühlschränken in altdeutschem Stil). Die Genauigkeit, mit der bei der Stilimitation (vgl. Abb. 3) vorgegangen wird, kennt zahlreiche Abstufungen.


Abb. 3: ›Stilvolles‹ Barock-Arbeitszimmer in Schleiflack (1993), Werbeanzeige (ohne Quellenangabe)

Waren viele Hersteller von historisierenden Möbeln im 19. Jahrhundert daran interessiert, ›stilechte‹, auf historischer Forschung gegründete Einrichtungsgegenstände zu schaffen, so begnügte sich der insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg gepflegte Neohistorismus damit, Elemente vergangener Stile nur noch anzudeuten und frei miteinander zu kombinieren. Zahlreiche postmoderne Gebrauchsobjekte setzen diesen eklektizistischen Neohistorismus der wilhelminischen Ära fort und veranschaulichen in ihrer bruchstückhaften Gestaltungsweise, dass zwischen Stilimitation und Stilzitat keine klare Grenze verläuft.

Ein Phänomen, das insofern mit der Stilimitation eine Ähnlichkeit aufweist, als auch ihm das Kopieren einer bestimmten ›Lebensart‹ eignet, ist die Imitation von Markenartikeln, die in unserer konsumorientierten Neidgesellschaft weite Verbreitung gefunden hat. Polohemden von Lacoste, Rolex-Uhren und Hermès-Handtaschen gehören zu den begehrten Luxus- und Statussymbolen, die einschließlich des gut sichtbar angebrachten Firmenlogos in Billiglohnländern nachgemacht und zu Spottpreisen feilgeboten werden. Etwas subtiler gehen diejenigen Produzenten vor, die von der vorbildhaften Marke nur einige Elemente übernehmen, wie der No-name-Hersteller, der an seinen Sportschuhen statt der üblichen drei Adidas-Streifen gleich vier anbringt. Diese diskrete und juristisch unbedenkliche Form des Nachahmens kommt übrigens auch dem Kunden zugute: Italienurlauberinnen mussten nämlich jüngst für den Kauf einer nachgemachten Gucci-Handtasche 3.333,- Euro Strafe zahlen, für den Kauf einer vergleichbaren Brille sogar 10.000,- Euro.

Aus praktischen Erwägungen lassen sich – je nach dem Gegenstand der Imitation – insgesamt also mindestens vier verschiedene Imitationsklassen voneinander unterscheiden: Materialimitationen, Objektimitationen, Stilimitationen und die Imitation von Markenartikeln.

Warum wird imitiert?

Bevor die so voneinander unterschiedenen Formen der Imitation daraufhin beurteilt werden können, ob sie im Sinne einer gelungenen Gestaltung unserer Lebenswelt als positiv oder negativ zu bewerten sind, stellt sich die Frage, warum derartige Imitationen überhaupt erzeugt und gekauft werden, was die Motive und Beweggründe für die von Friedell so bezeichnete “Lust am Unechten” sind. Dabei lassen sich nicht alle Fälle über einen Kamm scheren.

Bei der Materialimitation werden in der Regel kostspielige Materialien durch preisgünstigere nachgeäfft, damit sich auch der weniger Begüterte mit scheinbar kostbaren Dingen umgeben und dadurch einen Hauch von Luxus genießen oder sich den Anschein einer gewissen Wohlhabenheit geben kann. Die meisten Autoren, die sich geschmackskritisch mit dem Phänomen der Imitation auseinandersetzen, unterstellen in solchen Fällen als Hauptmotiv fast immer das Geltungsbedürfnis und nicht einen etwaigen Genuss an der Illusion. Für Paul Schultze-Naumburg ist es zum Beispiel der Wunsch zu “imponieren”, Hilde Glenewinkel spricht von “Schaustellung” beziehungsweise “Scheinvornehmheit”, und Jupp Ernst, der Entwerfer der Afri-Cola-Flasche, sieht “Schwulst, Prunk und Sentimentalität” am Werke, wenn Konsumenten zum Materialimitat greifen. Auch im Zusammenhang mit der Stilimitation wird oft die Absicht angeführt, mehr scheinen zu wollen als man ist. Die Geschmackserzieher warnen hier mit erhobenem Zeigefinger davor, die eigene Behausung mittels Stilmöbeln in eine “reduzierte Fürstenwohnung” verwandeln zu wollen, und empfinden es als verschroben, dass sich der “kleine Büroangestellte” Stühle zulegt, “als wenn er Ludwig XIV. wäre und einem Hofstaat vorzustehen hätte”. Neben das Motiv, prunken zu wollen, das sich in der Regel auch hinter dem Erwerb einer nachgemachten Rolex oder einer falschen Hermès-Tasche verbirgt, stellt Joseph August Lux in seinem Buch Der Geschmack im Alltag (1910) einen weiteren Beweggrund für die Imitation natürlicher Materialien und vergangener Stile. Er vertritt die Auffassung, dass mit diesem Hilfsmittel der Eindruck erweckt werden solle, maschinell hergestellte Güter seien in Handarbeit gefertigt. Hier tritt ein eklatanter Widerspruch zwischen moderner Produktionsweise und romantischer Sehnsucht nach traditionellen Lebensformen zu Tage: Die Kälte der technischen Welt erzeugt einen Wunsch nach manuell gefertigten Gebrauchsgegenständen, den die industrielle Massenproduktion mit pseudohandwerklichem Ramsch zu befriedigen versucht. Von Anfang an hielten die modernen Designer diese perverse, widersinnige Strategie für verfehlt und stellten deshalb die mittlerweile klassisch gewordene Forderung nach Materialgerechtigkeit (d. h. nach einer Übereinstimmung von Entwurf, Material und Fertigungsverfahren) auf.

Auf ihrer reich bebilderten Homepage (www.sunrise.de) führt die Kunstpflanzenfabrik Sunrise GmbH in Frankfurt am Main für den Gebrauch imitierter Objekte völlig andere Gründe an: “Sunrise-Pflanzen: kein Gießen und kein Düngen! Sunrise-Pflanzen brauchen weder Licht noch Wasser! Sunrise-Pflanzen bleiben immer grün und verlieren keine Blätter! Sunrise-Pflanzen gehen niemals ein! Sunrise-Pflanzen sehen immer schön aus und sorgen für ein angenehmes Ambiente!” Hier wird mit handfesten praktischen Vorteilen argumentiert.


Abb. 4: Künstliche Zimmerpflanze, Foto: Heinz Hefele Fotodesign, Darmstadt

In vergleichbarer Weise loben Hersteller von PVC-Böden oft (hierin übrigens der Bewunderung ähnlich, die die Bauhäusler für das Linoleum hegten), dass diese ›pflegeleicht, hygienisch und abwaschbar‹ seien, Kunstpelzproduzenten werben mit dem Schutz der Pelztiere, und falsche Wimpern seien eben deutlich länger und damit eindeutig schöner als echte. In einem Prospekt stellt auch die Gebrüder Garvens GmbH & Co. KG stolz die praktischen Vorteile ihrer Kamine mit elektrischem Leuchtfeuer heraus: “Elektro-Kamine fortschrittlich wie unsere Zeit! Mit vielen Pluspunkten: ohne Qualm, ohne Asche, ohne Smok, ohne Ruß, ohne Schornstein, ohne Arbeit. Einfach hinstellen und schalten.” Kein Wunder also, dass die Kamine dem Hersteller ein “Ausdruck neuzeitlicher Wohnkultur” zu sein scheinen und dass derselbe Prospekt selbstbewusst schwärmen kann: “In jedem Falle sorgt das naturgetreu nachgebildete Holzfeuer, welches vom natürlich brennenden Holz kaum zu unterscheiden ist, für die so gemütliche Kamin-Atmosphäre und wird Ihnen und Ihren Gästen nette Stunden bereiten.” (vgl. Abb. 5)


Abb. 5: Werbepräsentation des elektrischen Kunststoff-Kamins Berlin mit “naturgetreu nachgebildetem Holzfeuer”, 2004, Prospekt der Gebrüder Garvens OHG, Grehberg

Neben sozialem Prestigestreben und praktischen Erwägungen lässt sich auch ein gewisses spielerisches Moment als Motiv für den Umgang mit Imitationen anführen. Dass ein Gegenstand so aussieht wie ein anderer Gegenstand, der er in Wirklichkeit gar nicht ist, hat die Menschen seit jeher fasziniert. Der trompe l’œil-Effekt in der Malerei oder der brennende Wunsch vieler Vertreter des Faches ›Künstliche Intelligenz‹, einen täuschend echten Menschen herzustellen, sind dafür schlagende Beispiele. Die Lust an der Illusion prägt auch die Verkleidungspraxis des Karnevals: Es befreit und bereitet Vergnügen, mit Hilfe falscher Bärte, Masken, Kunststoffdegen und anderer imitierender Accessoires in eine neue Rolle zu schlüpfen und probeweise ein fremdes Leben zu führen. Ähnliches gilt für Scherzartikel wie Aschenbecher in der Gestalt menschlicher Totenköpfe, denn es ist wohl weniger die Lust am Unechten als vielmehr eine besondere Form des schwarzen Humors, die jemanden Gefallen daran finden lässt, seine aufgerauchte Zigarette in einem künstlichen Totenschädel auszudrücken. Möglicherweise kann man sogar so weit gehen, Friedells kritisches Urteil über das späte 19. Jahrhundert – dass diese “angeblich so realistische Zeit” nichts mehr geflohen habe als ihre eigene Gegenwart – ins Positive zu wenden (vgl. Abb. 6).


Abb. 6: Nymphenburger Porzellanschale mit holzartiger Maserung und scheinbar mit Nägeln aufgehefteten Kupferstichen, aus: Dekorative Kunst, 12 (1909).

Es könnte auch etwas Entlastendes haben, sein Leben in unechten, auf Schein hin angelegten Requisiten zu verbringen, da man sich dann immer in gewisser Weise auf einer Theaterbühne bewegen würde und nie befürchten müsste, irgendwann einmal vom Ernst des Lebens überfallen zu werden. Ein solches Leben könnte sogar mit besonders intensivem Erkenntnisgewinn verbunden sein, hätte es doch etwas von einem wissenschaftlichen oder handwerklichen Modell, mit dem sich Ereignisse vorhersagen, Handlungsentscheidungen erleichtern, Hypothesen bestätigen oder wichtige Zusammenhänge erkennen lassen. In allen anderen Fällen scheint Erkenntnisgewinn jedoch gerade keine wesentliche Eigenschaft von Imitationen zu sein, denn eigentlich gehört zu ihren Kennzeichen eher die oberflächliche Täuschung und nicht die gezielte Simulation, die – wie bei einem Modell oder einem Bild – tiefere Einsichten ermöglichen soll.

Gelungen oder geschmacklos?

Die Vertreter des anspruchsvollen Designs lehnen die Verwendung von Imitationen bei der Gestaltung der Gebrauchswelt strikt ab. Die Kriterien und Argumente, die sie an dieser Stelle anführen, sind zunächst meist allgemeiner Art. Es heißt, Imitationen seien falsch, unehrlich und künstlich. Damit bewegt sich die Ablehnung der Designer sowohl auf einer ontologisch-erkenntnistheoretischen als auch auf einer moralisch-ethischen Ebene: Einerseits böten Imitationen kein Sein, sondern bloßen Schein, keine Wahrheit, sondern Falschheit, andererseits sei ihre Verwendung Betrug, verbunden mit einer unredlichen, verurteilungswürdigen Täuschungsabsicht.

Indem die Imitationskritiker das Wahre gegen das Falsche, das Echte gegen das Unechte, das Ehrliche gegen das Unehrliche und das Natürliche gegen das Künstliche hochhalten, orientieren sie sich an haargenau denselben Werten, mit denen auch die Lebensreformer – von der Nacktkultur über die Reformpädagogik bis zum Jugendstil – ihre grundsätzliche Kritik an der werdenden Industriegesellschaft begründeten. Die Vertreter des Jugendstils wandten sich damals im Bereich der Innendekoration sowohl gegen den Historismus als auch gegen den Naturalismus, sowohl gegen die im 19. Jahrhundert aufblühenden Geschichtswissenschaften als auch gegen die gleichzeitig mit bedeutenden technischen Erfolgen aufwartenden Naturwissenschaften, sowohl gegen rückwärtsgewandte Romantik als auch gegen fortschrittstrunkene Industrialisierung.

Ihre Kritik am Historismus umfasste zahlreiche schlagkräftige Argumente gegen die Imitation vergangener Stile. So führt zum Beispiel August Endell 1902 in seinem Aufsatz Originalität und Tradition die folgenden Erwägungen gegen die Stilimitationen ins Feld: “Schon unser äusseres Leben ist von dem früheren tausendfältig verschieden durch die andere Art unseres Verkehrs, des Geschäftslebens und nicht zum wenigsten unserer entwickelten Beleuchtung. Wichtiger sind: die gänzlich andere soziale Schichtung, das eigentümliche Tempo unseres Lebens und die grundverschiedene Art unserer Lebens-Bilanz und unseres Glückes. All das verlangt nach eigenem Ausdruck.” Diese wichtige Einsicht Endells, dass die Formen der Gebrauchsgegenstände zu den jeweiligen Formen des menschlichen Lebens und Handelns passen sollten, ergänzt Peter Behrens um eine Kritik an der historisierenden Bühnenpraxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er betont, dass der Blick auf die Vergangenheit zwar wichtig sei, dass es bei der Inszenierung eines historischen Dramas aber darauf ankomme, mittels einer abstrahierenden und rhythmisierenden Ästhetik die zeitlosen und aktuellen Ideen des klassischen Stoffes herauszuarbeiten und so den lebendigen Menschen im Zuschauer anzusprechen anstatt die Bühne mittels Stilimitation zu einem sterilen Museum umzufunktionieren.

Während sich die Vorbehalte gegen den Historismus in einer Ablehnung des Stilimitats niederschlugen, führte die distanzierte Haltung der Jugendstilkünstler gegenüber dem Naturalismus und der industriellen Massenware zum Kampf gegen die Materialimitation. Der englische Kulturtheoretiker und Vordenker des Jugendstils John Ruskin war beispielsweise nicht nur einer der Hauptkritiker der industriellen Produktionsweise, sondern auch ein heftiger Gegner von Materialimitationen. Dem handwerklich gefertigten Gebrauchsobjekt gibt er deshalb den Vorzug vor dem industriellen Massenprodukt, weil hier ein Mensch etwas von seinem lebendigen Atem und seiner beseelten Hand in den hergestellten Gegenstand lege. Für ihn ist die menschliche handwerkliche Arbeit mit einer gut gelesenen und tief gefühlten Dichtung zu vergleichen, die Arbeit der Maschine dagegen mit denselben Versen, wenn ein Papagei sie vorträgt.

In eine ähnliche Richtung wie Ruskins Argumente weisen auch Walter Benjamins Gedanken zum Status des Kunstwerks in der Industriegesellschaft. In seinem wegweisenden Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) macht Benjamin darauf aufmerksam, dass die industriellen Reproduktionsverfahren eine grundlegend veränderte Wahrnehmung der Kunst bewirkten. Die trügerische Vervielfältigung einzigartiger Gemälde mit Hilfe fotomechanischer und anderer Methoden führe zu dem, was Benjamin die “Zertrümmerung der Aura” nennt (vgl. Abb. 7). Durch diesen rohen Umgang mit den subtilen Feinheiten der Kunst gehe der Sinn für die Einmaligkeit des Werkes verloren – ein Verlust, der das Wahrnehmungsverhalten innerhalb der modernen Gesellschaft insgesamt kennzeichne: Nicht mehr das Einmalige, sondern das Gleichartige werde zum Fokus des Interesses.


Abb. 7: Werbeprospekt für billig reproduzierte “Gemälde berühmter Meister”, 2004, Prospekt der Gebrüder Garvens OHG, Grehberg

Dieser Gedankengang liefert auch für die Beurteilung von Imitationen neue Gesichtspunkte: Die auf Folie gedruckte Holzmaserung oder Marmorstruktur wird tausendfach in identischer Weise reproduziert (vgl. Abb. 8-10). Sie ist kein natürliches Material, das von seiner langjährigen Entstehungsgeschichte erzählen könnte, sondern ein Abklatsch, der die oberflächliche und gedankenlose Wahrnehmung befriedigen soll. So verstanden, verschiebt Benjamins Einsicht die Frage nach dem Wert von Imitationen innerhalb der Kultur der Gebrauchsgegenstände von einer Geschmacksfrage zu einem Problem der menschlichen Lebensweise. Und von diesem Punkt aus fällt dann auch die Beurteilung nicht mehr schwer: Wenn Imitationen dazu führen, dass die Feinheit der sinnlichen Wahrnehmung gefährdet wird, dass das aufmerksame Gespür für das Konkrete, Besondere, Lebendige und Gegenwärtige verlorengeht, dass, wenn man es so ausdrücken will, die Bedeutung des Menschen und des Menschlichen zurückgedrängt und entwertet wird, dann sind Kunstrasen und computergenerierte Blumen tatsächlich abzulehnen.


Abb. 8 bis 10: PVC-Klebefolie Holzmaserung, Marmor und Riffelblech


Eine frühere Fassung dieses Beitrags ist erschienen in: Im Designerpark, hg. von K. Buchholz & K. Wolbert, Darmstadt 2004, 82-87.


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