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Die Einheit der Kunst und die Vielfalt der Bilder


Autor: Franz Reitinger
[erschienen in: IMAGE 1: Bildwissenschaft als interdisziplinäres Unternehmen - Eine Standortbestimmung]

Schlagwörter: Bildformen, Stilgeschichte, Kunstgattungen

Disziplinen: Kunstgeschichte


The distinction made by Hans Belting between a history of artworks and a history of images opened up a range of new perspectives to the field of image research in the early 1990s. And yet, his distinction had a crucial disadvantage. Belting's attempt to think this difference in historical terms and to project it upon a general sequence of styles and epochs led him to the conclusion that the Middle Ages were, what he called, an era of image production. Belting sharply delimited this era from early modern and modern times which he believed to be dominated by artistic theory. With his theses, Belting led medieval studies in early Christian imagery wings, while, on the other hand, Belting's two eras have proved to be a burden that since than weighed heavily upon modern image research. As this article shows, the dominance of academic art doctrines over modern image production was by no means all-embracing. It is, nonetheless, true that the academic system of arts was largely responsible for driving out the majority of images from a general aesthetic discourse. It is the purpose of this article to point at the conclusions that are to be drawn from these details for a new science of images.

Bildwissenschaft nimmt sich heute als ein heterogenes Feld an intellektuellen Aktivitäten aus, die über verschiedene Disziplinen verstreut an verschiedenen Orten und Institutionen stattfinden und an unterschiedliche Vorgaben und Zielsetzungen gebunden sind. Nicht minder gilt dies für die historische Bildforschung mit der Folge, dass wir heute kaum noch in der Lage sind, das neuzeitliche Bildaufkommen in seiner Gesamtheit zu überblicken und uns theoretisch wie praktisch davon eine adäquate Vorstellung zu machen. Während ein begrenzter Kanon von Kunstwerken über lange Zeit die ungeteilte Aufmerksamkeit von Professoren und Studenten erhielt, waren es immer nur einige wenige Spezialisten, die sich über alle Fachbereiche der Geisteswissenschaften verstreut jener Mehrheit von Bildern zuwandten, die durch den Rost der Kunstgeschichte fielen. Heute sind einzelne Philologen mit der Erforschung von Titelkupfern und Emblemen, Publizisten mit der Erforschung von Flugblättern und Karikaturen, Historiker mit Landkarten, Bildmünzen und Plakaten, Pädagogen mit visuellen Lehrmittelbehelfen, Kinderbuchillustrationen und Spielvorlagen, Volkskundler mit populären Bilddrucken und Ephemera und - last, but not least - auch Kunsthistoriker mit Thesenblättern und neuerdings auch Diagrammen befasst.

Ein vergleichbares Bild bietet sich, wenn wir auf die anderen Fakultäten blicken. Theologische Hochschulen beherbergen mittlerweile Ihre eigenen kunsthistorischen Institute, die sich der Erforschung des christlichen Bildererbes verschrieben haben, und auch Juristen, Mediziner und Techniker haben längst damit begonnen, an einer Bildgeschichte ihrer eigenen Disziplin zu schreiben. Große medizinhistorische Sammlungen wie die National Medical Library in Bethesda am Nordrand von Washington/D. C. oder das Wellcome Institut in London brauchen heute den Vergleich mit keiner bildhistorischen Sammlung zu scheuen.

Nicht zuletzt dank der Bemühungen der Münchener Burda-Akademie gibt es inzwischen für die theoretischen Disziplinen einer neuen Bildwissenschaft etwas wie eine gemeinsame Diskussionsplattform. Vergleichbare Bestrebungen sind auf dem Feld der historischen Bildforschung vorerst nicht erkennbar. Im Gegenteil, einzelne Disziplinen wie die Kartographen sind erneut dabei, sich auf so genannte ”Kernkompetenzen” zu besinnen. Indes stellt die Aufsplitterung der bildhistorischen Ansätze nicht einfach das Ergebnis eines Prozesses der fachlichen Spezialisierung dar. Viel eher spiegelt sich in ihr die Faktizität historisch gewordener Disziplingrenzen wider, welche die verschiedenen bildhistorischen Aktivitäten zu einem Schattendasein am Rande von Großfächern verdammen. Obgleich die verschiedenen Forschungsansätze zusammengenommen ein imposantes Panorama neuzeitlicher Bildforschung ergäben, haben sie unter den aktuellen Bedingungen ihrer Isolierung und Partikularisierung keine Chance, je die kritische Masse zu erreichen, um öffentlich als ”Bildforschung” aufzutreten und als solche wahrgenommen zu werden. Die wenigen Verlagshäuser, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen Schwerpunkt zur historischen Bildforschung in ihrem Programm hatten, sind verschwunden oder haben ihr Profil geändert. Große Kunstverlage wie das ”Weltkunst”-Konsortium haben der Bildforschung bislang, soweit ich weiß, kein Portal geöffnet. Von sich Reden machen einige Digitalisierungsprojekte. Allerdings ist mit derlei Projekten per se noch keine intellektuelle Auseinandersetzung mit den jeweils edierten Bildformen garantiert, solange es an übergreifenden, die einzelnen Ansätze zusammenführenden Diskursen und an einer historischen Rahmentheorie fehlt, die über eine Geschichte bloßer Bildtechniken hinausgeht.

Eine Vielzahl von Leitfäden variiert seit mehr als hundertfünfzig Jahren den Stoff der abendländischen Stilgeschichte. Ein praktisches Handbuch zur historischen Bildforschung indes, in dem über den historischen Verlauf und die räumliche Verbreitung der geläufigsten Bildtypen und -funktionen, über ihre charakteristischen Merkmale und spezifischen Ausprägungen, ihre Leitthemen und Motive sowie ihre wichtigsten Vertreter, nachzuschlagen wäre, gibt es nicht. Während europaweit eine dreistellige Anzahl von Kunstzeitschriften die Rede von der Kunst am Leben erhält, ist vor einigen Monaten die erste Nummer der bislang einzigen bildhistorischen Zeitschrift im deutschsprachigen Raum aus der Taufe gehoben worden.

Die Diaspora der neuzeitlichen Bildforschung mag zu einem gewissen Teil auf Selbstverschulden beruhen. So ist es angesichts weltanschaulicher Gegensätze schwerlich denkbar, Vertreter der christlichen Ikonographie mit denjenigen, sagen wir, der Karikaturforschung oder der Sexualwissenschaft, trotz gewisser Berührungspunkte, an einen Tisch zu bekommen. Die eigentlichen Ursachen sind meines Erachtens indes woanders zu suchen. Man sollte meinen, daß die Kunstgeschichte in besonderem Maße dazu ausersehen wäre, als Dachdisziplin einer im umfassenden Sinne historischen Bildforschung zu gelten, und manch einer wird sich vielleicht fragen, warum dem offenbar nicht so ist. Tatsächlich hat es den Anschein, daß zwischen dem Aufstieg der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert und dem Verschwinden der Bilder aus dem Diskurs um die Kunst ein enger historischer Zusammenhang besteht.

Wir möchten im folgenden auf zwei Hauptursachen für das Verschwinden der Bilder näher eingehen, nämlich die Etablierung des Systems der bildenden Künste und die hegemoniale Stellung des Tafelbildes.

Die Ausbildung eines eigenen Systems der bildenden Künste geht bis in die Zeit der Renaissance zurück. Selbige erfolgte in einem Zeitraum von nicht ganz dreihundert Jahren und kam erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu ihrem Abschluss. Das neue System der bildenden Künste war aufs Engste mit der Gründung akademischer Institutionen verknüpft, vermittels derer der jeweilige Landesherr die Kontrolle über die ausufernde Bildproduktion ausübte. Bereits in den Akademieschriften der Maler Giovanni Paolo Lomazzo und Federigo Zuccari begegnet uns die Tripelallianz von Malerei, Skulptur und Architektur, die den Künsten eine ausreichend breite Basis bot, um über gesellschaftliches Gewicht zu verfügen und sich im Wissenssystem des beginnenden Absolutistismus dauerhaft zu verankern. Die Einbindung der Architektur in ein System der Künste war ein Erbe Vitruvs gewesen, dessen Zehn Bücher über die Architektur der Renaissance zu einer ersten kunsttheoretischen Grundlage verholfen hatten. Hatte die Architektur in den ersten Akademieschriften noch überwiegend legitimatorische Aufgaben zur Rechtfertigung der Malerei als Kunst übernommen, so sollte sie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, etwa bei André Felibien, zur ersten Kunst inter pares aufsteigen. Offiziell kam das Primat der Architektur in der Position des Protektors der Akademie zum Ausdruck, der zugleich auch oberster Leiter der Baubehörde war. Dennoch blieben Kunst- und Architekturakademie formal voneinander unabhängige Institutionen.

Zum common denominator des an der Architektur sich orientierenden Systems der ”beaux-arts” wurde nicht das Bild oder das Medium, sondern das Artefakt des vielfach als Secundum Deum oder Artifex gepriesenen Künstler-Schöpfers. Der Hinweis auf Jurgis Baltrušaitis ”Bilder im Stein” dürfte genügen, um die Verkürzungen eines solchen Werkbegriffs hinsichtlich der Natur des Bild- und Figurensehens aufzuzeigen. Dass sich Baukunst und Bildkunst, in dem besagten System nicht wirklich vertrugen, wird überdies schon an Abbé Batteuxs recht fragwürdigem Versuch von 1746 deutlich, den Imitationsbegriff von der Malerei und der Skulptur auf die Architektur zu übertragen, was letztlich nur über den Regress auf ein magisch-mythisches Weltbild gelingen konnte, das durch Analogiebildung zu einer Anthropomorphisierung der verschiedenen Gebäudeteile gelangte.

Zu den besonderen Effekten des Akademismus, die insbesondere die Malerei betrafen, zählte neben der Ausbildung eines begrenzten Kanons an historischen Meisterwerken die Hegemonialisierung des Tafelbildes, für welches das Französische anders als das Deutsche im ”Tableau” sogar über einen eigenen Begriff verfügt. Die Vorrangstellung, die man dem Tafelbild einräumte, führte dazu, daß die neuen mediengeschichtlich avancierten Techniken des Holzschnitts, des Kupferstichs und der Radierung konsequent für eine Vorlagen- bzw. Wirkungsgeschichte des Tafelbildes instrumentalisiert wurden. Aus dem akademischen Blickwinkel André Felibiens nahmen sich diese aus, als wären sie bloß ”des autres arts qui en dependent”. Der Malkunst wurde der freie Zugriff auf Inspirationsquellen jeglicher Art konzediert, während umgekehrt die Verwertung künstlerischer Ergebnisse in anderen Zusammenhängen einseitig als Abhängigkeiten verbucht wurden. Die Indienstnahme von Zeichnung und Bilddruck in der Vorzeichnung und im Reproduktionsstich machte den Kern dessen aus, was wir seit dem 19. Jahrhundert unter ”Künstlergraphik” verstehen. Ihr gegenüber wurden alle übrigen Bildformen und -formate, die der Bildinvention den Vorrang vor akademischen Regelfragen einräumten, in den Bereich der dekorativen Graphik abgedrängt oder zu Spezial- und Randformen des Bildes degradiert und marginalisiert.

Schon die Akademiegründungen unter Colbert waren gegen eine zeitgemäße, urbane Bildkultur gerichtet gewesen, wie Fréart de Chambrays Traité contre la peinture libertine von 1662 belegt. Fréarts Traktat ging zeitlich mit der politischen Liquidierung des Libertinismus am Beginn der Regierungszeit Ludwigs XIV parallel. Abraham Bosses Versuch der Gründung einer unabhängigen Akademie, das wohl früheste Beispiel für eine Sezession, wurde von der Akademie unterbunden, Bosse mit Spottgedichten bedacht und die ihm nahe stehende Fraktion um Claude Vignon und Sébastien Bourdon mundtot gemacht. Noch deutlicher tritt der versteckte Ikonoklasmus der Akademien im England des 18. Jahrhunderts zutage, wo die relativ spät erfolgende Gründung der Akademie als direkte Reaktion auf die von Bildsatiren und Karikaturen begleitete Liberty-Bewegung anzusehen ist, die sich der königlichen Zensur widersetzte und für allgemeine Meinungs- und Pressefreiheit eintrat.

Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich, bemerkte einmal Heinrich Wölfflin. Dem ist hinzuzufügen, daß in bestimmten Epochen weit mehr möglich war, als wir gemeinhin anzunehmen bereit sind. Wer sich jemals der Mühe unterzogen hat, die auf Mikrofilm vorliegenden Sammlungen an historischen und satirischen Drucken im British Museum, die Collection Hennin in der Bibliothèque Nationale, die von Wolfgang Harms und von John Roger Paas herausgegebenen Editionen zur deutschen Flugblattgraphik, die auf Mikrofiche erhältliche, durch Supplemente enorm vermehrte Zusammenstellung von Emblembüchern des Verlages InterDocumentation in Leiden, oder die im erscheinen begriffenen Bände des ”History of Cartography” Projekts der University of Michigan durchzusehen, wird bald zu dem Schluss kommen, dass die Dominanz akademischer Kunstdoktrinen über die Bildproduktion der Neuzeit alles andere denn umfassend oder gar ausschließlich war.

Längst vor der Zeit des Regierungsantritts Ludwigs XIV. war das klassische Tafelbild von einer neuen Medienwirklichkeit überrollt worden. Seit dem 16. und 17. Jahrhundert hatte sich in den urbanen Zentren Europas ein unabhängiger Markt für Bilddrucke mit einem breit gefächerten Angebot an Bildnissen, Flugblättern, Landkarten, Kalendern, Notenblättern, feinsinnigen Fächern und ausgeklügelten Spielen entwickelt, ein Markt für Einblattdrucke, lose Stichfolgen, gebundene Illustrationswerke, vielteilige Wandbilder und Papierobjekte, der seine eigene Dynamik entfaltete. Eine innovative Bildkultur mit zeitgemäßen Themen und Motiven wurde dabei in breite Bevölkerungsschichten getragen. Diese an den Bedürfnissen der Zeit sich orientierende Imagerie verband sich jenseits der adeligen Höfe und Akademien in lockerer Weise mit den zunehmend individualisierten Formen einer christlichen Ikonographie. Die Folge war eine erstaunlich weitreichende Ausdifferenzierung des Bildes nach Inhalten und Funktionen, der gegenüber die akademische Rangordnung der Bildinhalte schon damals als überholt erscheinen musste. Während andere anhoben, etwa das Auge einer Fliege oder das neue heliozentrische Weltbild zu visualisieren, produzierten die Künstler der Akademie immerfort Historien-, Porträt-, Tier-, Landschafts- und Stilllebengemälde. Wie erhaben nimmt sich dagegen Leibniz' Projekt eines ”Atlas universalis” aus, in dem alles enthalten sein sollte, ”was darstellbar und wissenswert ist.”

Die weitere Entwicklung des Systems der ”beaux-arts” zur im eigentlichen Sinne ”bildenden Kunst” wurde im Wesentlichen durch zwei Schritte bestimmt: der Trennung von Text- und Bildkünsten und der Ausgliederung eines Teils der Künste in den Bereich der ”angewandten Kunst”. Interessanterweise waren es Literaten und keine Künstler, die seit dem frühen 18. Jahrhundert auf eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Bild und Text drängten. Noch Etienne Maurice Falconet (1716-1791) konnte seinen Zeitgenossen einen pluralistischen Zugang zu den Bildern einräumen. Falconet zufolge konnte ein Bild sowohl aus der Sicht des Gelehrten, des Liebhabers wie des Künstlers betrachtet und seines Dokumentcharakters, seiner Sinnbildlichkeit oder seiner Machart willen geschätzt werden. Spätestens mit Lessing wurde das Publikum auf eine spezifisch künstliche Betrachtungsweise eingeschworen. Lessings rigorose Trennung von Bild- und Textkünsten war von allem Anfang an nicht bloß als analytische Unterscheidung gedacht gewesen. Offener und direkter hatte vor ihm der englische Schriftsteller Samuel Johnson ausgesprochen, worum es auch Lessing ging: Lieber, sagte Johnson, sehe ich mir das Bild eines Hundes an als alle allegorischen Gemälde zusammengenommen.

Historisch betrachtet wirkten Lessings Bemühungen um eine Grenzziehung zwischen den Kunstgattungen als normative Setzung, indem seine Epoche daraus weitreichende ästhetische Folgerungen ableitete. Die Stoßrichtung ging gegen die so genannte ”Ut picta poesis”-Formel, die seit der Renaissance das Zusammenspiel von Bild und Sprache regelte. Mit ihrer Beseitigung wurden ausgewachsene Äste vom Stammbaum des Bilderwissens abgeschlagen, ganze Bildkategorien aufgegeben. Das heißt nicht, daß diese zu existieren aufhörten. Die zeitgenössische Bildsatire der nachfolgenden Revolutionszeit und der Napoleonischen Kriege weist eher auf das Gegenteil hin. Im Lichte eines artreinen, gesäuberten, puristischen Kunstbegriffs erschienen diese jedoch mit einem Mal als Hybride, als Mischformen. Sie wurden diskreditiert und aus dem Diskurs um die Kunst ausgeschlossen. Man braucht nur an die traditionell enge Bindung etwa der niederländischen Maler an die Rederijkerskammern denken, um zu ermessen, das Lessings Urteil nicht allein die Bilder betraf, sondern ernsthafte Konsequenzen für kulturell eingespielte Bildpraktiken und, mehr noch, für die soziale Stellung des Malers als solche hatte. Die von Lessing begrifflich vollzogene Trennung führte schließlich aber auch zu einer unzutreffenden Beurteilung des Zeitfaktors in den bildenden Künsten selbst, was angesichts der schmalen Datengrundlage, auf der sich sein Befund gründete, kaum überrascht.

Nicht weniger folgenreich war die Spaltung von bildender und angewandter Kunst, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach englischen Vorbildern erfolgte. Da sich die angewandten Formen einer gewerblichen Kunstproduktion nun nicht mehr mit der Zweckfreiheit des bürgerlichen Autonomiegedankens vertrugen, wurden alle funktionalen Künste aus dem Bereich der ”Bildenden Kunst” ausgegliedert. Die dadurch geschaffene Demarkationslinie ging mitten durch die Bilder hindurch. Die bürgerliche Autonomiekunst setzte sich über die Tatsache hinweg, daß die Zweckbestimmung der Bilder die eigentliche Ursache für die Ausbildung einer vielfältigen Typenlandschaft gewesen war. So gehörte zu den Paradoxen der neuen Kunstauffassung, daß die unterschiedlichsten Bildtypen der Logik der Museumswand unterworfen und zu Tafelbildern umgemodelt wurden. Davon betroffen war längst nicht nur das Altarbild. Prozessionsfahnen, Tischplatten, Hochzeitstruhen und Ladenschilder, ja sogar Fächer wurden in eine orthogonale Form gebraucht, auf Keilrahmen aufgezogen und gerahmt. Die meisten zwei- oder dreidimensionalen Bildträger entzogen sich indes einer solchen Adaptierungspraxis mit der Folge, dass die neu entstehenden kunsthandwerklichen Sammlungen einen erheblichen Prozentsatz an Objekten aufnahmen, die Bildfunktionen ausübten. Darunter befanden sich nicht nur kleinformatige Gebrauchsgegenstände wie Taufteller und Kaminschirm, sondern auch bedeutende Bildformen wie Teppich und Glasgemälde, um die im Laufe mehrerer Jahrhunderte ein umfangreicher Bilderkosmos entstanden war. Der Kontext der angewandten Kunst, in dem sie sich wieder fanden, bewirkte, daß sie immer nur mit Hinblick auf ihre Technik und ihre Kunstfertigkeit, nie oder höchst selten jedoch auf ihre Bildlichkeit hin befragt und mit anderen Formen des Bildes in Relation gebracht wurden. Obgleich die Unterscheidung zwischen funktionaler und zweckfreier Kunst für die Architektur nicht ohne Relevanz war, hat die Allianz von Bild- und Baukunst darunter offenbar keinen Schaden genommen. Selbst noch im 20. Jahrhundert haben Ismen-Künste wie Futurismus und Konstruktivismus daran festgehalten.

Das neue System der Bildwissenschaft

Wir würden uns einer Illusion hingeben, wenn wir glaubten, wir könnten Kunstgeschichte wie bisher lehren und zusätzlich Bildforschung betreiben. Anstatt einer fortwährenden Einverleibung neuer Materien auf Kosten des bestehenden Wissens, sei im folgenden für eine konzeptionelle Neuorientierung der Kunstgeschichte im Sinne eines neuen Systems der Bildwissenschaft plädiert. Durch die Herabstufung der Architekturgeschichte zu einem stilkundlichen Propädeutikum würde die Skulptur ihre bisherige Bindegliedfunktion einbüßen und zu einem Eckpfeiler des neuen Systems werden, wie es ihrer Nähe zur dreidimensionalen Welt der Dinge einschließlich der Realien einer neuen Objektkunst entspräche. Die Malerei, genauer das zweidimensionale Bild, würde in die Mitte nachrücken und so in den Rang einer Kerndisziplin der neuen bildorientierten Geschichtswissenschaft gehoben. An Stelle der bisherigen Hegemonie des Tafelbildes träte eine breit gefächerte Typologie des Bildes, wie wir sie in Ansätzen etwa von Dagobert Frey, Wolfgang Brückner, Hans Belting und neuerdings Klaus Sachs-Hombach her kennen. Nach der anderen Seite hin könnte sich das neue System jenen Bildformen gegenüber öffnen, die bislang aus dem System der Künste ausgeschlossen waren. Den freigewordenen Platz würden mithin jene Bereiche belegen, die in einem Nahverhältnis zur Sphäre des Buches bzw. der angewandten Kunst stehen, darunter vermehrt funktionale und bewegliche Bildträger. Der Hauptakzent einer solchen Bildwissenschaft sollte nicht etwa auf einer reinen Typenlehre, sondern mehr noch auf dem Austausch und die Verschiebungen zwischen den verschiedenen Bildgattungen und -funktionen liegen. Nicht auf das angebliche Wesen des Bildes käme es dabei an, sondern auf seine Fähigkeit zur Expansion und Transgression. Bilder wären kein intelligentes Medium, wenn sie auf dem beharren würden, was sie angeblich sind. Besteht doch deren Raison d'être gerade im Gegenteil darin, daß sie mögliche Grenzen ausloten, in andere Wissensfelder eindringen und so letztlich über sich hinaus verweisen. Aufgabe einer künftigen Bildwissenschaft kann es demnach nicht sein, ängstlich an irgendwelchen selbst gesetzten terminologischen Grenzen zu verharren. Ihr obläge es im Gegenteil, den Ausprägungen von Bildlichkeit auch bis in die entferntesten Winkel nachzuspüren.

Das gesellschaftliche Prestige der Architektur ist hoch, das Ansehen der Bilder im Vergleich dazu beschämend gering: Sie gelten als aufdringlich und vulgär, allgemein verständlich und jederzeit ersetzbar. Wäre der Verzicht auf sie in einem neuen System der historischen Bildwissenschaft wettzumachen und wenn ja, wodurch? Man wird sich an diesem Punkt das Besondere an unseren ikonophilen Gesellschaften zu vergegenwärtigen haben. So gab und gibt es Gesellschaften, die keine ausgeprägte Bildkultur kennen oder nur in einer sehr reduzierten Form über eigene Bildtraditionen verfügen. Es ist von daher eher als historische Ausnahme anzusehen, dass die unterschiedlichen Bereiche des Lebens auch über eine eigene Anschauungsseite verfügen. Eine besonders wichtige Rolle fiel den Bildern in der Entwicklung der europäischen Kulturen zu, wo sie vielfach als Agenten der Geschichte im Sinne einer visualisierten Öffentlichkeit wirkten. Kennzeichnend für die Entwicklung des abendländischen Bildes ist die allmähliche Abkehr vom hieratischen Bild, das Macht symbolisiert oder repräsentiert, und die Hinwendung zu einem diskursiven Bild, das in seinen Ausprägungen alle Teile des gesellschaftlichen Lebens erfasst und durchdringt. Was die englische Wit-Kultur seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts vorexerzierte, fand selbst in weiten Teilen Europa erst Mitte des 19. Jahrhunderts und auch dann oft nur langsam Eingang. Einzig die Bildkultur Japans kann mit einer vergleichbar umfassenden Ausdifferenzierung von Bildthemen, -typen und -funktionen aufwarten.

Schon 1995 vertrat James Elkins die Auffassung, dass es gute Gründe gebe, die Kunstgeschichte als Teildisziplin einer allgemeinen Geschichte des Bildes zu betrachten, umso mehr als ”nonart images” oftmals komplexere Probleme der Repräsentation und Rezeption aufwerfen, als dies bei herkömmlichen Kunstwerken der Fall sei. Tatsächlich entspricht das von uns anskizzierte Modell einer historischen Bildwissenschaft bereits jetzt in hohem Maße den gegebenen Verhältnissen und damit auch den vorhandenen Möglichkeiten. Gibt es doch in den meisten deutschen und auch österreichischen Städten seit langem zwei, drei, ja bisweilen sogar vier Lehrstühle für Kunstgeschichte: einen an der Universität, einen anderen an der Kunstakademie und einen dritten an der jeweiligen technischen Universität oder Fachhochschule. Was zunächst als sinnlose Mehrfachbesetzung erscheint, ist de facto der Beleg dafür, dass die Trennung der Bereiche Bild, Architektur und Kunst praktisch längst vollzogen ist. Während bereits jetzt Architekturgeschichte zu einem hohen Grad von den technischen Hochschulen betreut und an den Kunstakademien eine sich am Begriff des Ready-Made und der Optik der Wunderkammern orientierende ästhetische Realienkunde unterrichtet wird, wäre es eigentlich nur ein folgerichtiger Schritt, wenn die Kunstgeschichte an den Universitäten daraus die Konsequenzen zöge und die Herausforderung annähme, als Dachdisziplin einer neuen historischen Bildwissenschaft zu fungieren.