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Pudowkins Experiment mit Kuleschow


Autor: Hermann Kalkofen
[erschienen in: IMAGE 5 (Ausgabe Januar 2007) ]

Schlagwörter: Kuleschow-Effekt

Disziplinen: Filmwissenschaft, Psychologie


In accordance with Groden & Kreiswirth 1997 may the Kuleshov effect – “the basis of film language” (Mitry 1998/1963) – be generously understood as “the inherent magic of the film medium itself, the creation of meaning, significance, and emotional impact by relating and juxtaposing individual shots”. The reality of such a Kuleshov effect sensu lato – “the meaning of a shot depends on its particular context” and “a change of the succession of shots in a sequence modifies the meaning of the individual shots and of the whole sequence as well” (Wulff 1993) – is virtually without doubt. The question remains, nevertheless, in what the interesting experiment which he, as Pudovkin told, carried out with Kuleshov, really consisted and whether the effect Pudovkin communicated, a Kuleshov effect sensu stricto, ever existed. „When considering the history of the reception of this experiment”, Möller-Nass wrote (n.d.), “the fact should stupefy, that there are such various descriptions and intepretations of that experiment”. ca. 40 descriptions disseminated up to January 2003 in the internet were classified, the configurations frequency-analyzed. The tradition of the „famous experiment” has seemingly since Pudovkin been subjected to processes of meaning attainment and meaning enrichment like those that have been reported in the 1930s by the British memory psychologist F.C. Bartlett: Creative psychology.

Abstract in Deutsch:

1. Der legendäre Kuleschow-Versuch

Am 3. Februar 1929 hielt Wsewolod Ilarionowitsch Pudowkin (1895-1954) vor der Film Society of London eine Rede mit dem Titel ”Types instead of Actors”. Die Society war 1924 von Sidney Bernstein und Ivor Montagu gegründet worden. Montagu (1) , Bankierssohn, Kommunist, Aristokrat in Personalunion, war dem sowjetischen Gast bei der Abfassung des englischen Texts der Rede behilflich gewesen. Sie erschien im selben Jahr in der von Montagu betreuten Edition der Pudowkinschen Schriften (Pudovkin 1929) (2) . Diese Ausgabe wurde erst 1961 auf Deutsch herausgebracht. Nun konnten deutsche Leser unter der Rubrik ”Filmtypen statt Schauspieler” erfahren, was im angelsächsischen Sprachraum schon lange bekannt war.
Der Gast eröffnet den Gastgebern, daß er seine Filmtätigkeit ganz zufällig begonnen, bis 1920 als Chemie-Ingenieur gearbeitet, und, obwohl er Kunst in anderer Form sehr liebe, den Film, um die Wahrheit zu sagen, mit Verachtung betrachtet habe; bei der Minderwertigkeit weitaus der meisten Produktionen jener Jahre kaum verwunderlich. Dann kam es zur Bekehrung; Pudowkin bekennt:

”Die zufällige Begegnung mit einem jungen Maler und Filmtheoretiker - Kuleschow (3) - ließ mich meine Ansichten vollständig ändern (4) . ... Aus der Gegenwart betrachtet, waren Kuleschows Ideen sehr einfach. Er sagte: 'In jeder Kunst gibt es erstens ein Material, einen Rohstoff, und zweitens eine dieser Kunst eigene Methode der Komposition dieses Materials. Der Rohstoff des Musikers sind die Töne; er komponiert sie in der Zeit. Der Rohstoff des Malers sind die Farben [, und] er komponiert sie im Raum auf der Leinwand. Aus was besteht nun das Material des Filmregisseurs, und welche Methoden gibt es zu seiner Komposition?' - Kuleschow war der Meinung, daß der Rohstoff der Filmarbeit aus Filmstücken und die Kompositionsmethode aus ihrer Zusammensetzung in einer bestimmten, schöpferisch entdeckten Reihenfolge bestehe. Er behauptete, daß die Filmkunst nicht mit dem Spiel der Darsteller und dem Aufnehmen der einzelnen Szenen beginne, dies sei erst die Vorbereitung des Materials. Die Filmkunst beginne in jenem Augenblick, wo der Regisseur daran ginge, die verschiedenen Filmstücke zu kombinieren und zusammenzusetzen. Je nachdem er sie in verschiedenen Kombinationen und verschiedener Reihenfolge zusammenfüge, erhalte er ein anderes Resultat (Pudowkin 1961 S. 197).”

Zur Probe dieser Lehre auf's Exempel veranstaltet Pudowkin mit seinem Publikum nun ein Gedankenexperiment:

”Stellen wir uns vor, wir hätten drei solche Stücke. Auf dem einen ein lächelndes Gesicht, auf dem zweiten dasselbe Gesicht, aber angstvoll blickend, und auf dem dritten eine Pistole, die auf jemand gerichtet wird. - Kombinieren wir nun die Stücke in verschiedener Reihenfolge, und nehmen wir an, als erstes würden wir das lächelnde Gesicht (5) , dann die Pistole und dann das angstvolle Gesicht zeigen; das zweite Mal käme das angstvolle Gesicht zuerst, dann die Pistole und dann das lächelnde Gesicht” (aaO S. 197-8).

Und was ist das gedankliche Versuchs-Ergebnis? ”Die erste Reihenfolge würde den Eindruck ergeben, daß derjenige, dem das Gesicht gehört, ein Feigling ist, in der zweiten Reihenfolge wäre er mutig” (aaO S. 198). Mach bloß ein lächelndes Gesicht. Das Beispiel sei gewiß primitiv, räumt Pudowkin ein, doch zeigten die neuen Filme,

”daß nur eine gute, schöpferische Komposition der Aufnahmestücke einen wirklich starken Eindruck auf den Zuschauer auszuüben vermag. Kuleschow machte mit mir zusammen einen interessanten Versuch” (aaO).

”Kuleshov and I made an interesting experiment” in Montagus Edition (Pudovkin 1961 S. 140); Pudowkins Experiment mit Kuleschow, den legendären Kuleschow-Versuch:

”Wir entnahmen irgendeinem Film verschiedene Großaufnahmen des bekannten russischen Schauspielers Mosjukhin. Wir wählten Aufnahmen, die keinen besonderen Ausdruck hatten, Großaufnahmen des unbewegten, ruhigen Antlitzes. Diese Aufnahmen, die einander sehr ähnlich waren, montierten wir mit anderen Filmstücken in drei verschiedenen Kombinationen (6) . In der ersten Kombination folgte auf die Großaufnahme des Schauspielers die Aufnahme eines Tellers Suppe auf einem Tisch. Ganz offensichtlich schaute Mosjukhin die Suppe an (7) . In der zweiten Kombination wurden [sic] dem Bild Mosjukhins die Aufnahme eines Sargs mit der Leiche einer Frau beigefügt; in der dritten folgte auf die Großaufnahme die Aufnahme eines kleinen Mädchens, das mit einem Teddybär spielt. Als wir die drei Kombinationen dem Publikum, dem wir unser Geheimnis nicht verraten hatten, vorführten, war die Wirkung ungeheuer. Das Publikum war von der schauspielerischen Leistung Mosjukhins hingerissen (8) . Man wies auf die tiefe Nachdenklichkeit (9) seiner Stimmung über der vergessenen Suppe hin, man war gerührt und bewegt über die Trauer seines Antlitzes angesichts der Toten und bewunderte das sanfte, glückliche Lächeln, mit dem er dem spielenden Mädchen zuschaute. Nur wir wußten, daß in allen Fällen der Gesichtsausdruck der nämliche war” (aaO S. 198-9).

Die kontextadäquate, anschauliche Variation des Invarianten [Gesichtsausdrucks] infolge von und dank der Montage ist die Pointe dieses Berichts über ein Experiment, das Pudowkin zusammen mit Kuleschow durchgeführt hätte. Sie ist den 42 Exemplaren eines Corpus von Beschreibungen des Kuleschow-Versuchs, das ich im Januar 2003 großenteils im World Wide Web zusammengesucht habe, gemeinsam: Anschauliche Variation des tatsächlich Invarianten. Bei allen Exemplaren ist der Schauplatz der Veränderung das Gesicht eines Mannes; in 27 Fällen wird die weitgehende Neutralität des Gesichtsausdrucks, in 8 weiteren die Identität der Bilder hervorgehoben. Wer war dieser Mann?

2. Erster Exkurs in die Schöpferische Psychologie

Pudowkin spricht vom bekannten russischen Schauspieler Mosjukhin; dieser 4stelligen Designation bedient sich eine weitere Beschreibung (Exemplar 06). Aus 12 Beschreibungen (Exemplare 02 04 07 10 18 22 23 29 30 31 35 40) geht hervor, daß Mosjukhin mit Vornamen Iwan heißt; daß er Russe ist, wird dann nicht eigens erwähnt, in zwei Fällen kommt hinzu, daß er zaristisches Matinée-Idol war (Exemplare 04 30). Eine Verwechslung tritt auf: in 2 Exemplaren (08 21) heißt der Akteur Georges Bidot. In 6 Exemplaren (12 17 19 38 39 42) ist der Askriptor schlicht /Mann/, /man/, /homme/. Bedeutungsverlust.
Exemplar 20 nennt als Entstehungszeit des Experiments die 1920er Jahre und 1920 frühesten hatte Pudowkins Biographem Marjamow zufolge dessen Zusammenarbeit mit Kuleschow begonnen. Jean-Claude Boudreault, der Exemplar-Autor berichtet, drei Gruppen Zuschauer hätten das irrwitzige Talent des Iwan Mosschukin, ihres von allen geliebten Nationalschauspielers bewundert (10) . Bei Leyda ist zu lesen, daß Mosschukin Herbst 1917 aus Moskau nach Odessa geflohen und 1920 von dort außer Landes gegangen sei (Leyda 31983 S. 112 u. S. 115).
Exemplar 26 zufolge handelte es sich für ”Koulechov” 1922 in jener revolutionären Zeit dagegen darum, den zaristischen Film in Gestalt eines seiner berühmtesten Repräsentanten (11) zu entmystifizieren (12) . Bei Leyda ist zu lesen, daß Mosschukin im Frühjahr 1917 in einem der wenigen Filme mit einem approximately revolutionary content die Hauptrolle übernommen habe (aaO 98-99).
Aus Exemplar 03 wiederum erfährt der Leser, daß der ”Soviet film teacher Lev Kuleshov in the early 1920's... an experiment with his good body Mosjoukine, a famous actor” durchgeführt habe (13) . Was das Zustandekommen der Aufnahmen Mosjukhins betrifft, so gibt es hier keinen Zweifel: Kuleschow selbst ”filmed Mosjoukine in close-up with the most neutral expression they {sic} guy could muster” (Exemplar 03). Daß es tatsächlich Kuleschow gewesen sei, der Mosjukhin aufnahm, geht auch aus Exemplar 26 (14) hervor. Bedeutungszuwachs. Ende des 1. Exkurses in die Schöpferische Psychologie.

In Pudowkins Londoner Bericht sieht das Publikum den filminternen Betrachter in drei Phasen. Sofern die Zahl der Phasen ersichtlich wird, in zwei Fällen (Exemplare 16 40) wird sie es nicht, sind es weit überwiegend drei (n=35), in vier Fällen (Exemplare 03 15 38 39) zwei, in einem Fall (Exemplar 14) vier. Die Repräsentation und damit Designation der Umwelt kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen.
Eindimensional-bipolar läßt sich eine Situation als entweder angenehm, /+/, oder unangenehm, /-/, designieren (15) , eine dritte Möglichkeit scheidet aus. Auf dieser basalen Ebene wird der Mosschuchin umgebende Kontext /Suppe/, /tote Frau/, /spielendes Kind/ durch die Konfiguration /+ - +/ erfaßt, mit 26 Fällen unter den 35 Exemplaren, die einen 3-phasigen Kontext aufweisen, mit Abstand das häufigste Muster. 8 mal vertreten ist die Konfiguration /+ + -/, einmal die Konfiguration /+ + +/ und sonst keine. Nicht nur in puncto Phasenzahl, auch wenn die Exemplare auf die Ebene der bipolaren Designation projiziert werden, ist die von Möller-Nass 1984 beklagte Variation der Beschreibungen zunächst gering.
Mit dreimal Plus vergleichsweise zu positiv ist Exemplar 07, in dem es heißt: ”Lew Kuleschow nahm eine Aufnahme vom Gesicht des Schauspielers Iwan Mosjukin und kombinierte sie mit anderen Aufnahmen: ein Teller mit Essen, ein Kind, eine Frau” - bis auf die Reihenfolge stimmt noch alles, dann jedoch: ”Obwohl es immer dasselbe ausdruckslose Gesicht war, entdeckten die Zuschauer in der Kombination in Mosjukins Zügen Hunger (mit dem Teller), ein Lächeln (beim Kind) und Lüsternheit (auf (16) die Frau)”. Dreifach Plus.
Die nächste Ebene der Designation ist die emotional-affektive. Die emotiven Askriptoren in Pudowkins Bericht sind tiefe /Nachdenklichkeit/ - in Salzen's Schema (Abb. 1) rechts oben im Feld /neutral/ unterzubringen - , /Trauer/ und /Glück/. Die /Lüsternheit/ oder /Lust/ in Exemplar 07 läßt sich in Salzens Schema (Abb.1) rechts unten lokalisieren.



Abb. 1: Klassikation der Emotionen anhand von acht Gesichtsbewegungs-Kategorien nach Salzen 1981 (Salzen 1981: 160)


Hier und in 24 andern Exemplaren ist es nicht tiefe /Nachdenklichkeit/, die der Anblick von Nahrung, nicht immer Suppe, hervorzurufen scheint, sondern /Hunger/. Verdorbene Nahrung, Exemplar 39, ruft /Ekel/ hervor. In Exemplar 03 erregt eine an Eisenbahnschienen gefesselte Frau (17) tiefes /Mitleid/. Hunger wird in 26 von den 31 Exemplaren, die außer den Affekten auch deren Auslöser benennen, ausgelöst. Hierzu ein

3. Zweiter Exkurs in die Schöpferische Psychologie

Die an Bartlett's Gedächtnisexperimente gemahnende Umkonstruktion von /Nachdenklichkeit/ zu /Hunger/ ereignet sich, verblüffend genug, bereits bei Pudowkin. Nach der Fertigstellung des Tonfilms >Der Deserteur<, 1933, spricht er gelegentlich einer Schilderung des Experiments mit Kuleschow, von dem er sich, inzwischen in die Kommunistische Partei der Sowjetunion eingetreten, nun distanziert, vom ”gierigen Appetit eines Hungrigen” (18) . Die Konstrukion des Hunger-Affekts wird von Sadoul und in acht weiteren Exemplaren übernommen, von denen eins (19) 2phasig ist (Exemplare 01 08 09 10 23 31 33 37 38).
In 18 von 25 Fällen ist der Affekt-Askriptor einstellig, in zwei von ihnen statt /Hunger/, /hungrig/, feiner /appétit/ (Exemplar 23), /gourmandise/ (Exemplar 22). Im Sinn der Schärfung des Affektprofils (20) liegt die Intensivierung. Auch bei Pudowkin 1933 (Exemplar 14) hat Mosschuchin nicht einfach Hunger (s.o.); bei SADOUL (Exemplar 01) zeigt er einen 'starken Ausdruck von Eßlust' (21) , in Exemplar 20 nicht auszuhaltender (23) Hunger. Die bedeutungschaffende Einbildungskraft widmet sich auch dem Auslöser des Hunger-Affekts. Nicht alle Exemplare nämlich lassen es mit einem zweistelligen Askriptor wie /Teller Suppe/, /Teller Essen/ ein Bewenden haben. In vier Exemplaren wird aus dem Teller eine Schüssel oder Terrine (Exemplare 02 09 37 38). 3stellig der Askriptor (Exemplar 14:) /voller Teller Suppe/, (Exemplare 07 21 42:) /Teller dampfende Suppe/ (24) (25) , (Exemplar 20:) /dampfende appetitliche Suppe/ (26) . Macht Suppe nicht genügend Appetit, so wird auch mehr aufgefahren: (Exemplar 23:) /Tisch voll appetitlicher Lebensmittel/ (27) (Exemplar 19:) /Tisch voll Kuchen und Nahrung/ (28) . Ende des 2. Exkurses.



Abb. 2: Rekonstruktion des Kuleschow-Experiments bei Richter 1928 (Richter 1981: 29)


Abb. 2 zeigt die (von Wulff 1993 wiedergegebne) Version des Kuleschow-Experiments, die nach Meinung von Hans Richter, dem bekannten Dadaisten, ”heute” - d.i. 1966 - ”am meisten citiert wird” (Dadek 1968 S. 142). Die Konfiguration /Hunger/, /Trauer/, /Lust/, das Richter-Profil, ist auch in diesem Corpus-Segment von 31 Exemplaren mit 12 von ihnen am stärksten vertreten.

Die Klassifikation der 31 Exemplare mit Affekt-Designation anhand der 7 emotiven Askriptoren (/Hunger/, /Trauer/, /Glück/, /Lust/, /Ekel/, /Nachdenklichkeit/, /Mitleid/) und ihrer Anlässe (/Essen/, /Leichnam/, /Kind/, /Frau/, /Buch/, /Aas/) ergibt 9 Cluster und das bedeutet einen erheblichen Anstieg der Variation. Die Konfiguration /Nachdenklichkeit/, /Trauer/, /Glück/, das Original-Pudowkin-Profil, ist 5 mal vertreten.

4. Dritter Exkurs in die Schöpferische Psychologie

Abbildung 2 stammt aus Richters Filmgegner von heute - Filmfreunde von morgen, 1929. ”Das >Kuleschow-Experiment<, das ich in meinem Buch ... abbildete,” schreibt Richter in einem Brief an Dadek , >>ist frei aus meiner Erinnerung an Gespräche mit Eisenstein und Wertoff >erfunden< worden. Das Material zu diesem >Experiment< habe ich aus meinem Film-Photo-Archiv, das ich damals besaß, zusammengesucht. Ich glaube nur der Teller ist authentisch entsprechend Kuleschow (...). Daß Pudowkin dieses Experiment allein oder mit Kuleschow unternommen haben sollte, war mir bis heute völlig unbekannt. Es scheint mir aber festzustehen, daß meine Version (29) nicht der originalen entspricht, sondern nur eine freie, dem Sinne nach korrekte Wiederholung des Experiments darstellt” (Dadek 1968 S. 142). Richters Kuleschow-Experiment ist ein Gebilde der Fantasie. Die laut Dadek 1963 von Mitry (30) publizierte Version entspricht dem Richterschen Gebilde bis auf den von Mitry, von meiner Designation nicht berücksichtigten Umstand, daß das Gesicht des männlichen Toten dem Boden zugewandt war. - Der Akteur in Richters Rekonstruktion ist übrigens nicht Mosschuchin, sondern der Freund und Mitarbeiter Werner Gräff. Und hier ein Bild von Mosschuchin (Abb. 3). Das (Abb. 4) ist Hans Richter, das (Abb. 5) Kuleschow und das (Abb. 6) Pudowkin. Ende des 3. Exkurses.


Abb. 3: MosschuchinAbb. 4: Hans Richter
Abb. 5: KuleschowAbb. 6: Pudowkin


Zu den Affekt- und Auslöser-Askriptoren zurück. Abb. 8 zeigt die Konfiguration für Pudowkin 1929, 5 mal vertreten, darunter die für die Pudowkinsche Hunger-Variante, 8 Fälle, darunter die für Richters Erfindung 1929.



Abb. 7: Klassifikation von 25 Exemplaren nach Auslösern und Affekten

Bipolar designiert sind die Typen identisch. Was die Affekt-Auslöser betrifft, so gibt es auf jeden Fall eine Leiche. Bei Pudowkin jeweils eine eingesargte Frau, bei Richter ein männlicher Toter.
Mit der Einbeziehung der Affekt-Auslöser sind wir auf der kognitiv-rationalen Ebene der Designation angelangt und erfassen nun auch Personen. Die Variation nimmt mit der Höhe der Designationsstufe zu. Die Zahl der Cluster steigt auf 12.



Abbildung 8:Klassifikation von 23 Exemplaren bei Einbeziehung der abgebildeten Personen: männlich, weiblich, kindlich, fettgedruckt für tot, die Klammer bedeutet einen Sarg männlich, weiblich, kindlich, fettgedruckt für tot, die Klammer bedeutet einen Sarg.


Die Exemplare 04 und 01 unterscheiden sich nur in zweierlei Hinsicht, von Exemplar 02 sind sie beide erheblich verschieden. Es gibt aber Übergänge. Mit der von Hans Richter besorgten Auswechslung der Vaterfreude durch die Lüsternheit ist ein lebendiges Kind entbehrlich geworden. Die Richter-Konfiguration hatte in Abb. 7 12 Exemplare, in Abb. 8 sind es 7. Wo sind die 5 andern geblieben?
In Exemplar 11, ein Cluster mit einem Exemplar (Abb. 8, Zeile 4) , wird das noch lebende Kind durch eine /halbnackte Frau/ ersetzt. In Exemplar 13, Repräsentant eines Clusters mit vier Exemplaren (Abb. 8, Zeile 5) kommt es zu einer Art Rollen¬tausch; die tote Frau im Sarg wird durch ein totes Kind ersetzt. Da hätten wir die 12 Exemplare aus Abb. 7 zusammen. Der Tote darf auch ein Mann sein (Abb. 8 , Zeile 6). Wird nun noch ein lebendes Kind durch eine lebende Frau - der Askriptor ist minimal (Exemplare 07 18:) /Frau/, maximal (Exemplar 22:) /halbnackte in einer vorteilhaften lasziven Pose auf einem Sofa ausgestreckte Frau/ - ersetzt, entsteht die Richtersche 'Versuchsanordnung'.
Schöpferische Psychologie. Wenn man, andrerseits, zum Beispiel wissen will, in welcher Reihenfolge genau die Bilder vorgeführt worden seien, erst Mosschuchin, dann die Suppe oder gerade umgekehrt, ob ein Publikum alle Phasen auf einmal zu sehen bekommen hätte oder nur eine Phase pro Publikum vorgeführt worden wäre, so hüllen sich die meisten Autoren in Schweigen. Ist die Bilder-Folge bei Pudowkin erst Mosschuchin, dann die Suppe, so findet sich das im Corpus in 12 von 42 Fällen, doch 26 Exemplare lassen die Sache in der Schwebe, 2 fangen mit der Suppe an und 2 sind der Meinung, die Objekt-Aktor-Kombinationen seien getrennten Publika vorgeführt worden und zwar in der Anordnung Aktor/Objekt/Aktor . Hier könnten die - negativ ausgegangenen - Replikationsversuche von Beller und Prince/Hensley nachgewirkt haben.

5. Beschluß

”Ich”, schrieb Möller-Nass 1984, ”wundere mich immer wieder, wie wenig kritisch die Theoretiker durch die Tatsache gestimmt sind, daß die Beschreibungen der {sc_Kuleschow-} Experimente und ihre Interpretationen mit einer fast an das Beliebige grenzenden Breite variieren”. In diesem Vortrag ging es zum einen darum die mittlerweile erreichte Breite dieser Variation zu zeigen und aufzuzeigen, daß die Streuung mit der Bestimmtheit dessen, was die Berichterstatter zu berichten wissen, zunimmt. Dies erste, gewissermaßen das taktische, Ziel ist einem strategisch-operativen, hier einmal mehr verfolgten untergeordnet: der völligen Diskreditierung des von Pudowkin (1929) kolportierten ”interessanten Versuchs mit Kuleschow”, zunächst im Hochschulbereich. Daß sich auch das erreichen ließe, mag allerdings bezweifelt werden, ist doch das fabelhafte Versuchsergebnis eine nachgerade olympische und insofern unsterbliche Ente.


Literatur

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Exemplare (Quellen)


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