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Die Welt im Kopf ist die einzige, die wir kennen! Dalis paranoisch-kritische Methode, Immanuel Kant und die Ergebnisse der neueren Neurowissenschaft


Autor: Beatrice Nunold
[erschienen in: IMAGE 5 (Ausgabe Januar 2007) ]

Schlagwörter: Salvatore Dali, Immanuel Kant, Lacan, paranoisch-kritische Methode, Neurowissenschaft, Vernunft, Kritik der reinen Vernunft, Irrationalität, Vexierbilder

Disziplinen: Philosophie, Kunstgeschichte


Dalis Critical-Paranoid Method can be understood as a consequence of Kants "Critique on Pure Reason". Paranoia produces Reality for us as like reasonable realizations. Dali anticipate theories of new Neuroscience about the informational clothing of the brain or the claim that we live in a imagine world.

Abstract in deutsch:

Motto:

Was mich von einem Verrückten unterscheidet ist, dass ich nicht verrückt bin. (Salvador Dali)

Der kritische Weg ist allein noch offen. (Immanuel Kant)

…letztlich [ist] jedes Zentralnervensystem von der Umwelt ‚isoliert’. (Gerhard Roth)


1. Einleitung

Der Surrealismus und das Werk Dalis, ins Besondere seine paranoisch-kritische Methode sind immer wieder unter dem Aspekt der Psychoanalyse Freuds, aber auch Lacans, betrachtet und analysiert worden. Zwei andere Blickwinkel scheinen mir nicht weniger spannend und beleuchten eine bisher wenig oder nicht beachtete Seite von Dalis Kunst und Denken:

a) Die paranoisch-kritische Methode als eine Konsequenz aus Kants Kritik der reinen Vernunft

b) Die paranoisch-kritische Methode und die Erkenntnisse der Neurowissenschaft

2. Die paranoisch-kritische Methode als eine Konsequenz aus Kants Kritik der reinen Vernunft

Der Surrealismus und die Psychoanalyse, auf die sich Dali und die Surrealisten so gern berufen wäre ohne Descartes Zweifel und Kants radikale Wende gar nicht möglich gewesen. Descartes zweifelte an allem, was er zu erkennen meinte, bis er den berühmten Punkt der Erkenntnis erreichte, an dem er nicht mehr zweifeln konnte. Er konnte nicht bezweifeln, dass er dachte. Aus diesem „Ich denke“ zog Descartes die Gewissheit seiner Existenz: „Cogito ergo sum“. Doch ab jetzt hatte die abendländische Philosophie ein Problem. Wie lässt sich die Existenz der Außenwelt beweisen. Wie komme ich von der Gewissheit meiner selbst zur Gewissheit der Außenwelt? Kant empörte sich:

„... so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und der allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns (von dem wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn haben) bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können.“ (KdrV, B XXXIX, Anm. B XL)

Das Problem der Erkenntnis der Außenwelt wird zu einem Kardinalproblem der Wissenschaft im Grunde bis heute. Das bürgerliche Subjekt erstreitet und verteidigt seine Autonomie gegen die theologisch begründete Unfreiheit. Descartes löste das Problem noch auf traditionelle Weise durch seinen Gottesbeweis. Gott stellt letztlich sicher, dass wir uns nicht über die Außenwelt täuschen. Kant fegte mit seiner Widerlegung der Gottesbeweise diesen letzten Notanker vom Tisch. Plötzlich war nicht mehr der Gegenstand der Erkenntnis das Problem, sondern die Erkenntnismöglichkeit des Gegenstandes. War bisher die Grundfrage der Philosophie, die bis dahin gleichbedeutend war mit Wissenschaft: Was gibt es? Oder: Was ist? So stellt Kant jetzt die Frage: „Was kann ich wissen? Was Kant hier anzettelte war eine Revolution, ein Umsturz. Nämlich die bisher unangefochtene Metaphysik, also die reine Vernunfterkenntnis a priori, also vor aller Erfahrung, gerät in die Kritik. Denn alle Erkenntnis aus reiner Vernunft muss zuerst durch die Kritik der reinen Vernunft hindurch. Kant erkannte für die Metaphysik und die Ontologie als der Lehre vom Sein des Seienden: „Der kritische Weg ist allein noch offen.“ (KdrV B 884)

Descartes hegte den starken Verdacht, dass die Welt einschließlich uns selbst nur ein schlechter Traum sein könnte. Kant pochte mit seiner zweiten Kopernikanischen Wende darauf, dass wir die Dinge nicht so sehen wie sie an sich sein mögen, sondern wie sie uns auf Grund unserer Anschauungsbedingungen erscheinen. Die erste Wende katapultierte den Menschen aus dem Zentrum des Kosmos, die zweite inthronisierte ihn zwar wieder im Zentrum der Welt, aber eben nur seiner Welt, wie sie ihm erscheint, nicht der wie sie unabhängig von seinen Erkenntnis- und Anschauungsbedingungen an sich existieren mag. Der Hochmut des Menschen, das Maß aller Dinge zu sein, bestätigte sich in alptraumartiger Weise. Gefangener seiner Systembedingungen ist er zwar Produzent, aber nicht Herr seiner Hirngespinste. Oder vielleicht doch?

Nach Kant ist nicht so wie die Ontologie bis dahin behauptet, dass sich unsere Weise zu erkennen nach dem Gegenstande richtet, sondern umgekehrt, unsere Erkenntnisweisen und -möglichkeiten bestimmen, was Gegenstand unserer Erkenntnis sein kann und was nicht. Reine Verstandeserkenntnis aus bloßen Begriffen ist nur möglich, wenn der „Verstand der Natur die Gesetze vorschreibt“ und nicht umgekehrt die Natur dem Verstande. (vgl. Proleg. § 36).

Kants Umsturz kam einer Katastrophe gleich. Heinrich Heine spricht nicht um sonst von Kant als dem „Alleszermalmer“. Dass sich die Natur, wie sie unabhängig von uns existiert nicht von uns ihre Gesetze vorschreiben lässt, liegt auf der Hand. Eine Unterscheidung wird notwendig, die Unterscheidung zwischen den Dingen an sich, oder wie sie an sich sein mögen und den Dingen für uns, wie sie uns erscheinen. D.h. Metaphysik als Inbegriff synthetischer Urteile a priori und Wissenschaft überhaupt sind nur möglich im Bereich möglicher Erfahrung, also von den Gegenständen als Erscheinung. Damit aber entfallen alle metaphysischen Aussagen als schlechterdings unbeweisbar, als bloßer Spekulatius, die sich nicht auf Erfahrungen stützen können (z.B. über die Seele, die Unsterblichkeit, die menschliche Freiheit, über Gott usw.) Kant erschütterte seine Zeitgenossen besonders mit seiner vernichtenden Kritik der Gottesbeweise. Heine verglich ihn mit Robespierre und behauptete, Kants Kritik der Gottesbeweise sei eine viel radikalere und folgenreichere Tat als die Französische Revolution: Die Franzosen haben nur einen König geköpft, aber

„…Immanuel Kant hat ... den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute.“ (Heine, SW, Hg. H. Kaufmann. Bd. IX 1964, 241).

Was aber hat das Ganze mit Dali und seiner paranoisch-kritischen Methode zu tun? Dali ging es nicht um Vernunfterkenntnis, sondern um die Eroberung des Irrationalen, so der Titel einer Schrift Dalis (1973). Es geht ihm also genau genommen um das, was Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft gerade ausklammerte, vor dem Kant graute. Dali macht sich auf, das zu erobern, vor dem Kant erschreckt zurückweicht (vgl. Heidegger: KPM, 115 ff.). Es ist Kant „X“, sein „transzendentaler Gegenstand“, das Andere der Vernunft, das Kant in die „Achtung für das Gesetz“ treibt, welches der Mensch sich selbst gibt, um sich in seiner Würde als autonomes Subjekt wieder zu finden — eine geradezu existenzialistische Wendung in seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten. In dem aber Kant das Bollwerk der Vernunft hochzog, schuf er erst jenes terra incognita, das unbekannte Land des Unbewussten in den verborgenen und verbotenen Zonen unseres Geistes, wo Ungeheuer siedeln. Denn Einstmals, gewissermaßen vor Kant als an der Erkennbarkeit der Außenwelt und an der Existenz Gottes nicht gezweifelt werden konnte, wohnten auch die Ungeheuer, die Dämonen da draußen. Sie waren Geschöpfe der Hölle. Kant hat nicht allein die Welt in den Kopf verband, sondern ebenso Hölle und Himmel. Es ist wie in den Märchen, in denen der Heldin oder dem Helden alle Schlüssel eines Schlosses ausgehändigt werden. Das Schloss ist der menschliche Geist. Die Schlüssel aber symbolisieren die Autonomie des aufgeklärten Subjekts, das frei über seine Verstandeskräfte verfügen kann, und sich aus seiner Unmündigkeit befreit hat und selbst zu denken wagt, so wie Kant es in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? forderte. Dann aber wird das Gesetzt erlassen, dem das Subjekt sich, um seine Würde zu bewahren, freiwillig unterwerfen soll. Es darf alle Türen öffnen und alle Zimmer seines Verstandes frei benutzen, nur eine Tür soll es auf immer verschlossen lassen. Dies ist die Tür zum Unbewussten, dem Anderen der Vernunft, dem Irrationalen, dem Naturhaften usw. Diese verbotene Tür aber erscheint dem Subjekt als die verheißungsvollste, als die goldene Tür. Und fordert es nicht die Aufklärung, dahinter zu schauen und das Verborgene ans Licht der Vernunft zu zerren? Das Subjekt steckt den Schlüssel ins Loch, dreht ihn um, stößt die Tür auf und wird ….zumeist wahnsinnig.

Doch weder Freud, noch Lacan, noch Dali, noch andere Pioniere des Unbewussten wurden verrückt. Und Dali behauptete von sich: „Alles, was mich von einem Verrückten unterscheidet ist, dass ich nicht verrückt bin.“

Auch hier gilt: „Nur der kritische Weg ist allein noch offen.“ (KdrV B 884) Dali schreibt in Die Eroberung des Irrationalen: „Paranoisch-kritische Aktivität bedeutet: spontane Methode irrationaler Erkenntnis, die auf der kritisch-interpretierenden Assoziation wahnhafter Phänomene beruht.“ Diese Phänomene „objektivieren sich lediglich a priori durch das Einschalten der Kritik“. (Dali 1935)

3. Die paranoisch-kritische Methode

In der ersten Hälfte 19. Jhds. stand Paranoia noch nicht wie heute allein für Verfolgungswahn, sondern allgemein für Wahnsinn. Paranoia stammt aus dem Griechischen von Para-nous. Nous ist die Vernunft, der Verstand und para meint gegen, wider. Paranous ist das, was gegen den Verstand, die Vernunft geht, das Widervernünftige, eben der Wahnsinn, das Ver-rückte. Der Wahnsinn ist nicht in dem Sinne irrational, dass er keine immanente Logik besitzt und vollständig unbegründet ist. Das Irrationale ist das Grundlose, das Abgründige. Ratio meint sowohl den Grund als auch die Vernunft. Das Vernünftige, Rationale ist das wohl begründete.

Doch nichts ist in sich so begründet und konsistent, wie ein solider Wahn. Vor Lacan gingen die Irrenärzte davon aus, dass bei Persönlichkeiten mit einer „paranoischen Konstitution“ der Wahn auf „Fehlurteilen“ gegründet war. In der paranoischen Interpretation wird versucht, den normalen, vernünftigen Mechanismen folgend, in ganz vernünftiger Weise, aber auf der Basis falscher Voraussetzungen zu einem Urteil zu kommen. Auf diese vernünftige Weise werden auf Grund falscher Voraussetzungen falsche Urteile gefällt, die Wahnbilder produzieren. Die Wahnbilder unterscheiden sich damit von der an sich vernünftigen Interpretation. Damals wurde auch von „vernünftigem Wahnsinn“ gesprochen (vgl. SDR, 262).

Hier wird so getan als sei die Tür zum Unbewussten nie geöffnet worden. Die Ärzte bewegen sich noch ganz kantisch auf den Pfaden der reinen Vernunft. Die Methode des Irren ist vernünftig, aber er irrt in den Voraussetzungen seiner Urteile und daher sind seine Urteile wohlbegründete Fehlurteile. Dem Wahn wird der Stachel genommen, er ist bloß ein Irrtum der ansonsten vernünftigen Vernunft. Der Wahn besitzt keine eigene Logik, keine eigenen Gründe und Begründungsmethoden. Kant könnte sich erleichtert zurücklehnen und tief durchatmen: Alles nur ein Irrtum der Vernunft, der auch innerhalb des Bollwerks der reinen Vernunft passieren, aber eben auch verstanden werden kann. Die Dämme zum Unbewussten bleiben stabil, die verbotene Tür geschlossen.

Lacan, der mit Dali in einem regen Austausch stand, arbeitete daran zu zeigen, dass es sich nicht bei dem Wahn um ein Fehlurteil handelt, sondern bei der herkömmlichen Theorie des Wahns. Er zeigt in Die paranoische Psychose und ihre Beziehung zur Persönlichkeit (1932) auf, dass die Interpretation ein Teil der Wahnbilder ist. Die Wahnbilder gibt es bereits vor der Interpretation, diese legt sie nur offen. Die Wahnbilder entstehen also nicht nachträglich durch die Interpretation. Er schreibt:

„Diese Phänomene, vor allem die Interpretationen, spielen sich im Bewusstsein ab, mit einer unmittelbaren, überzeugenden, auf Anhieb objektiven Bedeutung … Sie sind niemals Früchte irgendeiner überlegenden Ableitung.“ (Lacan 1975)

D.h. aber die Interpretationen des Verrückten sind ebenso objektiv wie die der reinen Vernunft Kants. Sie kann nur erkennen, was sie auf Grund ihrer Erkenntnisbedingungen erkennen kann. Also lediglich, wie die Dinge für uns sind, nicht wie sie an sich selbst sein mögen. Auch der ver-rückte Verstand schreibt der Natur ihre Gesetze vor. Er gehorcht dabei lediglich anderen Erkenntnisbedingungen als den als normal angesehenen. Da wir aber die Außenwelt, wie sie an sich sein mag, niemals erkennen können, können wir letztlich auch nicht beweisen, welche Interpretation, die normale oder die angeblich verrückte, die falsche ist.

Ungefähr zur gleichen Zeit (etwas früher) in der Lacan seine Theorie der Paranoia und Dali seine paranoisch-kritische Methode entwickelt schreibt ein Philosoph seine Habilitation. Martin Heidegger veröffentlicht 1927 Sein und Zeit. Darin nimmt er direkt zu Kant und dem Problem der Beweisbarkeit der Außenweg Stellung:

„Kant nennt es einen 'Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft', dass der zwingende und jeder Skepsis niederschlagende Beweis für das ›Dasein der Dinge außer uns‹ immer noch fehle. ... Der 'Skandal der Philosophie' besteht nicht darin, dass dieser Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, dass solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden.“ (SuZ, 203 — 205)

Die Heideggersche Lösung des Problems, bestand darin, das Problem der Beweisbarkeit der Außenwelt als Scheinproblem zu entlarven und so zum verschwinden zu bringen, indem er aufweist, dass Idealisten und Materialisten jeweils von denselben, lediglich im Vorzeichen variierenden falschen Voraussetzungen ausgingen, indem sie zwei unabhängig von einander existierende vorhandene Dinge, Descartes res cogitans und res extensa (ein denkendes Ding, Ich und ein ausgedehntes Ding, die Außenwelt) postulierten. Beide Vorhandene sind wie zwei Königskinder, die nach, dem alten Liede, zu einander nicht finden können. Dies gipfelt in der Aporie der Frage: Bestimmt das Sein das Bewusstsein (Marx/Materialisten) oder das Bewusstsein das Sein (Hegel/Idealisten). Marx selbst war hier sehr inkonsequent und hoffte wohl auf die hegelsche Dialektik, wenn er meinte, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankäme die Welt zu verändern. Wer also bestimmt hier was? Gegen Ende des 20. Jhd. variierte der Skeptiker Odo Marquard den marxschen Satz, die globale Öko-Katastrophe im Blick, dahingehend, dass er meinte, es käme jetzt nicht mehr darauf an die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen. Grund ist wieder die prinzipielle Unerkennbarkeit und Undurchschaubarkeit diesmal der Naturzusammenhänge (Systemkomplexität etc.) und der Weltverhältnisse, jetzt aber nicht mehr außer uns, sondern eingedenk unserer „Verwickeltheit ins Sein“ (Merleau-Ponty/Heidegger) und die daraus resultierende Unmöglichkeit einer gelingen könnenden Risiko- und Folgenabschätzung unseres Handeln. G. Anders spricht vom „prometheischen Gefälle“, das darin besteht, dass wir gar nicht wissen können, was wir anrichten können.

Lacan und Dali stehen auf der Schwelle zu einer weiteren Katastrophe, nicht nur einer weiteren politischen. Beide, trotz einiger Unterschiede, schreiben der Paranoia eine produktive Kraft und einen Realitätswert zu (DSR, 262 ff.). Lacan wendet sich damit gegen die These vom „neurologischen Automatismus“ und Dali gegen die Automatismustheorie seiner Surrealistenkollegen. André Breton formulierte:

„Reiner psychischer Automatismus, durch welchen versucht wird, mündlich oder schriftlich oder in irgendeiner Form den tatsächlichen Denkprozess auszudrücken. Das Diktat des Gedankens, frei von jeder Kontrolle durch die Vernunft, unabhängig von jeglichem ästhetischen oder moralischen Vorurteil.“ (Breton, 1. Manifest des Surrealismus, 1924)

Für Dali ist die Paranoia durch ihren aktiven Charakter das genaue Gegenteil. Die Paranoia ist Methode und Kritik. Sie besitzt eine präzise Bedeutung und eine sichtbare Dimension. Die Paranoia produziert ebenso Wirklichkeit für uns, wie die Vernunftserkenntnis nach Kant. Was ist Wahn, was ist Wirklichkeit? Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Dali schreibt:

„Eines Tages wird man zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traums. Um meinen Gedanken zu Ende zu führen, möchte ich sagen, dass das, was wir Traum nennen, als solches gar nicht existiert, denn unser Geist ist auf Sparflamme eingestellt; die Wirklichkeit ist eine Begleiterscheinung des Denkens – eine Folge des Nichtdenkens, eine durch Gedächtnisschwund hervorgerufene Erscheinung. Die wahre Wirklichkeit ist in uns, und wir projizieren sie nach außen durch die systematische Auswertung unserer Paranoia, die eine Antwort und Reaktion auf den Druck – oder Unterdruck der kosmischen Leere ist […] Im Übrigen drückt sich die Paranoia nicht nur durch eine systematische Projektion aus, sie ist auch ein gewaltiger Lebenshauch.“ (Perinaud 1978, 158 f.)

Das Problem, dass hier entsteht ist , dass es kein Mittel der Überprüfung zu geben scheint, ob das, was erkannt wird, auch das Wahre ist oder doch nur Lug und Trug. Durch Erkenntnis kann dieses Problem nicht gelöst werden, denn sie steht unter Generalverdacht. Es gibt einen blinden Fleck: Wir können nicht erkennen, dass wir erkennen. Entsprechend lautet die Grundfrage der Moderne: Was kann ich verstehen? Wittgenstein stellt fest: „Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.“ (PU § 123)

Galt die Welt in unserem Kopf bisher wenigstens als vernünftig, so konnte jetzt nicht mehr ohne Weiters davon ausgegangen werden. Wir können nicht erkennen, dass wir erkennen, aber auch nicht, dass wir Wahnbilder produzieren. In der Fremde des eigenen Kopfes gefangen haben wir keine verlässlichen Koordinaten, an denen wir uns orientieren können. Die Folge ist Konfusion, Verwirrung. Für Wittgenstein wird alle Philosophie zur Sprachkritik. Es geht nur noch um das Verstehen, nicht mehr um Wissen. Sprache können wir versuchen zu verstehen, die Sprache der Kunst oder der Wissenschaft oder auch des Unbewussten. Dali wählt die Sprache des Unbewussten und er sucht sie an den Scharnierstellen auf, wo die Bilder umklappen und der Interpretationsfuror beginnt.

Seit 1930 hat Dali den paranoischen Prozess als aktives Kompositions- und Produktionsprinzip beschrieben. Feste Bilder oder Figuren gibt es nicht. Es entstehen eine Art Vexierbilder „doppelte Vorstellungsbilder“, wie Dali sagt. Solche Bilder widersetzen sich dem Satz der Identität A=A. Etwas kann nicht zugleich es selbst und etwas anderes Sein. Eine Aussage kann nicht zugleich wahr und falsch sein, also etwa die Form haben: Dies ist ein Hund und dies ist kein Hund.

Im Vexierbild triumphiert die Nichtidentität über das Widerspruchsprinzip. Dali schreibt:

„Man muss sich klarmachen, dass es nur die Frage einer vehementeren paranoischen Intensität ist, um das Erscheinen eines dritten Bildes und eines vierten, und von dreißig Bildern zu erzwingen. In einem solchen Fall wäre es interessant zu wissen, was das erwähnte Bild nun wirklich darstellt, welches die Wahrheit ist: so stellt sich für den Verstand schließlich der Zweifel ein, ob man denken soll, dass die Abbilder der Wirklichkeit selbst nur ein Produkt unserer paranoischen Begabung sind.“ (Gorsen 1974, 422)

Ein Beispiel ist Endloses Rätsel, 1938 (Abb.1-7):

1. Strand von Kap Creus mit Boot und sitzender Frau, ein Fischernetz flickend,

2. Liegender Philosoph,

3. Gesicht eines großen, dummen Zyklopen,

4. Windhund,

5. Mandoline, Obstschale mit Birnen, zwei feigen auf einem Tisch,

6. Fabeltier.



Abb. 1: Dali, Endloses Rätsel, 1938, Öl auf Leinwand, 114.3×144 cm, Privatsammlung




Abb. 2-7: Descharnes 1997: 239


Angeblich soll das Bild auf die Verworrenheit der damaligen Zeit hinweisen. Es ist ebenso Ausdruck der von Wittgenstein etwa um die gleiche Zeit allgemein formulierten Konfusion. Niemand kennt sich mehr aus. Was können wir überhaupt noch verstehen? Was ist Wahn, was Wirklichkeit? Willkommen in Absurdistan!

Mag sein, dass Dalis Bewunderung für Hitler, Stalin, Franco und andere Diktatoren daher rührte, dass er in ihnen die produktivsten Paranoiker sah. Diese verwirklichten ihren Wahn, wenn auch auf grausamste Weise. Sie nötigten ihn den Menschen als „einzig mögliche und beste und wahrste aller Welten“ auf und verfolgten alle systematisch, die diesem Wahnsinn ihre eigenen Ideen, Welten, Wirklichkeiten oder auch ihre eigene Paranoia entgegensetzten. Dali gratulierte in einem Telegramm aus New York Franco zur Hinrichtung von Regimegegnern. Vermutlich waren Diktatoren für ihn so etwas wie paranoische Genies.

Lacan stellt eine Verbindung her zwischen dem „Genie und der anomalen Entwicklung der Persönlichkeit“. Er meint den Paranoiker. Er erkennt den „Wert der schöpferischen Imagination in der Psychose und die Beziehung zwischen Psychose und Genie“.

Dali, Bescheidenheit war nie eine seiner Tugenden, hielt sich selbst für das größte Genie aber eben nicht für Verrückt. Vermutlich hielt er sich für eine Art Metagenie, oder Metaparanoiker, für übergenial und überparanoid. insofern er nicht nur wie die für ihn genial Verrückten (Hitler, Stalin, Franco), die die Welt nach ihrem (Wahn)bilde formen wollten, aber gewissermaßen ihrem eigenen Wahn erlegen waren, ihn unreflektiert auslebten, während er, Dali, das paranoische Prinzip verstand und es frei handhaben konnte. Selbst die schlimmsten Diktatoren waren Sklaven ihres Wahns. Aber das ist nur ein Versuch Dalis Bewunderung für Diktatoren zu verstehen.

Dali demonstrierte in immer neuen Bildern und Skulpturen, dass er sein Handwerk verstand und die paranoisch-kritische Methode meisterhaft zu gebrauchen wusste. Er wollte die Wahnbilder ebenso genau und präzise zeichnen, wie sich uns unsere Wirklichkeit darstellt. Sie sollten sich uns als Wirklichkeitsäquivalent aufdrängen. Hier einige Beispiele, die zugleich die Mehrdeutigkeit dessen aufzeigen, was wir Wirklichkeit nennen (Abb. 8, 9, 10, 11, 12).



Abb. 8: Dali, Erscheinung eines Gesichts und Früchte am Strand, 1938, Öl auf Leinwand, 114,8 × 148,8, Wadworth Atneneum, Hartford, Conn. USA



Abb. 9: Dali, Das durchsichtige Scheinbild, des falschen Bildes, Öl auf Leinwand, 73,5 × 92, Albright Knox Art Gallery, Buffalo, New York



Abb. 10: Dali, Spanien, 1938, Öl auf Leinwand, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam



Abb. 11: Dali, Der große Paranoiker, Öl auf Holz, 62 × 62, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam



Abb. 12: Dali, Verzauberter Strand mit drei schwimmenden Grazien, Öl auf Leinwand, 65 × 81, Morse Charitable Trust, Petersburg, Florida

In Die Eroberung des Irrationalen (1935) schreibt er:

„Mein ganzer Ehrgeiz auf dem Gebiet der Malerei besteht darin, die Vorstellungsbilder der konkreten Irrationalität mit der herrschsüchtigsten Wut der Genauigkeit sinnfällig zu machen... Vorstellungsbilder, die vorläufig weder durch Systeme der logischen Anschauung noch durch rationale Mechanismen erklärbar oder ableitbar sind.“

Etwas früher hat Wittgenstein noch ganz Kant verhaftet bestimmt: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ (Vorw.T.) Ziemlich am Schluss des Tractatus stellt er fest: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (T. 6.522) Was sich aber zeigt, kann auch gezeigt werden, z.B. in Bildern, die ebenso präzise sind wie das Vernünftige, Sagbare klar ist. Dali ist gewissermaßen in einem medialen Vorteil gegenüber der Psychoanalyse, die das Nichtsagbare noch im Medium der Sprache einfangen muss. Aber:

„…um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein“ (Wittgenstein, T. Vorw.)

Von der Sprache aus betrachtet, wandelt sich das Unsagbare in Unsinn. Die Irren reden verrückt, irres Zeug. Aber im Bild präzise gebannt, wird das Unsagbare zur konkurrierenden Wirklichkeit und die ist, wie Wittgenstein sagt „alles, was der Fall ist“. Jetzt kann das Bild auch klar beschrieben werden. Wittgensteins Mystisches wird also nicht Unsinn bleiben, sondern zum klar Darstellbaren und Sagbaren, etwas über das wir reden können. Etwas, was der Fall ist, wie die Welt als die Gesamtheit der Tatsachen (vgl. T. 1 ff.), die nur in Sätzen bestehen. Was ist also Wirklichkeit, was Wahn oder Unsinn?

Psychologische Untersuchungen zeigen, dass wir uns nach unbewussten Kriterien entscheiden, ob es sich um Wirklichkeit oder Schein handelt. Dali erfüllt mit seiner altmeisterlichen, präzisen, beinahe hyperrealen Mahlweise die wichtigsten dieser Kriterien. Zitat:

„Den grundlegenden Eindruck von Wirklichkeit vermitteln die syntaktischen Kriterien, die mit den Sinnesempfindungen selbst zu tun haben. Danach werden Objekte um so eher als tatsächlich vorhanden angenommen, je heller sie gegenüber ihrer Umgebung sind, je kontrastreicher sie sich abheben, je schärfere Konturen sie aufweisen und je strukturell reichhaltiger sie sind (z.B. hinsichtlich der Oberfläche, der Farbe, der Gestalt).“ (Roth 2001, 322 f.)

Damit kommen wir zum zweiten und abschließenden Teil und der Frage, was die Neurowissenschaft zu Dali und seiner Paranoisch-kritischen Methode und den hier ausgeführten Konsequenzen sagen würde?

4. Die paranoisch-kritische Methode und die Erkenntnisse der Neurowissenschaft

Die Neurowissenschaft bestätigt die Annahme Kants in auch für heutige Zeitgenossen noch beängstigender Weise. Danach bleibt die Realität, wie sie außer uns sein mag, für uns unerkennbar. Die Welt in der wir Leben wird als eine imaginierte Welt verstanden, die allein in unserem Kopf existiert, als Konstruktion unseres Gehirns. Der Neurobiologe Gerhard Roth formuliert dies wie folgt:

„Manche Menschen sagen, wenn sie dies zum ersten Mal hören: ‚es ist, als werde einem der Boden unter den Füßen weggezogen’. Das ist richtig — wir leben in einer imaginierten Welt, aber es ist für uns die einzig erlebbare Welt.“ (Roth 2003, 48)

Unser Gehirn ist nach Roth ein informationell geschlossenes System. D.h. es hat keinen direkten Kontakt zur so genannten Außenwelt. Was wir Wahrnehmen ist kein mehr oder weniger genaues Abbild der Wirklichkeit, sondern wird aktiv von unserem Gehirn produziert (vgl. Nunold 2004). Unsere Sinnesorgane liefern unserem Gehirn keine direkten Informationen. „…letztlich [ist] jedes Zentralnervensystem von der Umwelt ‚isoliert’.“ (Roth 2001, 93) Roth beschreibt die Funktion der Sinnesrezeptoren und –organe:

„… sie müssen die mehr oder weniger spezifischen Einwirkungen von physikalischen und chemischen Umweltreizen in Ereignisse umwandeln, durch die Nervenzellen in ihrem Aktivitätszustand verändert (d.h. erregt oder gehemmt) werden können. Die Sinneszellen übersetzen das, was in der Umwelt passiert, in die ‚Sprache des Gehirns’ nämlich in die Sprache der Membran- und Aktionspotentiale, der Neurotransmitter und Neuropeptide. Diese Sprache besteht aus chemischen und elektrischen Reizen, die als solche keinerlei Spezifität haben, also neutral sind. Die ist das Prinzip der Neutralität des neuronalen Codes,…“ (Ebd.)

Ich kann hier die Komplexität unsers Wahrnehmungsprozesses nicht im Einzelnen darstellen. Das Bild, oder die Wirklichkeit, die in unserem Kopf entsteht, ist nach Roth das Ergebnis eines komplizierten „Verrechnungsprozesses“, der sich nach Kriterien vollzieht, die zum Teil angeboren, zum Teil frühkindlich erworben sind oder auf späteren Erfahrungen beruhen und nicht unserem Willen unterworfen sind (vgl. ebd., 125). Das Gedächtnis fungiert dabei als „Bindungssystem für die Einheit der Wahrnehmung“ (ebd., 263).

Roth illustriert dies am Beispiel eines Bildes, das den Betrachtenden ohne jedes Vorwissen als völlig ungestaltet erscheint (Abb. 13).



Abb. 13: Roth 2001, 262, Abb. 42


Erst als Roth begann, die Details der gezeigten Figur genau aufzuzeigen, waren die Versuchspersonen binnen weniger Minuten dazu in der Lage, die Darstellung zu identifizieren. Allerdings konnten 10% der Personen auch dann nichts erkennen. Einigen half eine „inhaltlich scheinbar nur lose mit der Darstellung verbundene Äußerung“ wie „Franziska von Almsik“, die gemeinsam in einem Werbespott mit dem Dargestellten Wesen im Fernsehen aufgetreten war (vgl. ebd., 261 f.).



Abb. 14: Das Bild verschwindet, 1938, Öl auf Leinwand, 56 × 51 cm, Privatsammlung


Dali hat sich mit dem Phänomen der Wahrnehmung, ins Besondere des Sehens intensiv beschäftigt. Ein Resultat dieser Beschäftigung ist ein Bild mit dem Namen Das Bild verschwindet (Abb. 14). Er schreibt:

„Sechs Jahre lang habe ich mich in systematischen Studien mit den Problemen des Sehens befasst, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir nur einen sehr kleinen Einblick in die psychologische Bedeutung eines solchen Phänomens bekommen haben. Wir sehen das, für das wir Gründe haben, es zu sehen, vor allem das, was wir glauben zu sehen. Ist die Vernunft oder der Glaube getrübt, dann sehen wir etwas anderes. Die visuellen Reaktionen lassen sich in dieser Hinsicht steuern. Sie können durch rein psychologische Effekte gebündelt oder wirr durcheinander, also gestört, ausgestrahlt werden, um Begriffe des Radios zu gebrauchen. Meine langen Nachforschungen bringen mich zu der Überzeugung, dass selbst dort die psychologische Tarnung kein leerer Wunschtraum ist. Das ist eine Forschungs- und Erfahrungssache des Laboratoriums. Ich werde mich hier nicht über dieses Thema auslassen, aus Gründen, die schnell verständlich werden angesichts meiner Überzeugung, dass es sich hierbei um Sachen handelt, die im Bereich des Krieges von zweckbetonter Bedeutung sind.“ (S. Dali, in: Oui 2, Denoel, Paris 1971)

„Wir sehen das, für das wir Gründe haben, es zu sehen ...“ Diese Gründe ergeben sich aus unseren bisherigen Erfahrungen. Die Konstruktion unseres Gehirns zu dem, was wir Wahrnehmen, ergibt sich aus bisher Erfahrenen, also nicht zuletzt aus unserer Gedächtnisleistung. Diese Konstruktion wird nicht willentlich herbeigeführt. Dali erkennt darin sehr genau die Möglichkeiten und die Gefahr der Manipulation. Denn ein besonders starkes Wirklichkeitskriterium ist für uns die intersubjektive Bestätigung. Ereignisse oder Dinge, die von mehreren Personen betätigt werden, gelten als glaubhaft, als real. Auf diesem Kriterium basiert das Prinzip der Zeugenaussagen, aber auch das Prinzip der intersubjektiven Bestätigung in der Wissenschaft. Doch ist diesem Wirklichkeitskriterium immer zu trauen? Roth verweist auf Gruppenpsychologische Experimente und schreibt:

„Aus Gruppenpsychologischen Untersuchungen ist bekannt, dass eine Person, die normalerweise ihren Sinnen traut, unter starkem Druck der Gruppe (deren Mitglieder sich zum Beispiel ‚gegen’ ein weiters Mitglied verabredet haben) bereit ist, widersinnige Deutungen von Wahrnehmungserlebnissen zu akzeptieren (Asch 1955; Watzlawick 1976). Gruppen tendieren dazu, nicht nur einheitliche Ideologien zu entwickeln, sondern auch einheitliche Wahrnehmungen. Wir sehen im Allgemeinen die Welt so, wie wir gelernt haben, wie sie sein soll.”(Roth 2001, 324)

Abschließend stellt er fest:

„Das Gehirn trifft die Unterscheidung über den Wirklichkeitscharakter erlebter Zustände auf Grund bestimmter Kriterien, von denen keines völlig verlässlich arbeitet. Es tut dies in selbstreferentieller Weise; es hat nur seine Informationen einschließlich seines Vorwissens zur Verfügung und muss hieraus schließen, womit die Aktivitäten, die in ihm vorgehen, zu tun haben, was sie bedeuten und welche Handlungen es daraufhin in Gang setzen muss.“ (Ebd.)

Auf diese Weise lassen sich Massenwahn, ideologische Verblendungen und Gleichschaltungen erklären. Dali konnte dies zu seiner Zeit in den politischen Katastrophen des 20. Jhd. unmittelbar studieren. Und wir wissen dies, im Zeitalter totaler medialer Vermittlung ebenfalls und sind zugleich Opfer von Meinungsmache und Wahrnehmungsgleichschaltung. Das fatale ist, dass wir unsere Verblendungen meist nicht bemerken und nur in seltenen Glücksfällen über diese stolpern und noch seltener bereit sind, gewohnte Sichtweisen zu revidieren. Hier liegt auch der Grund dafür, dass unsere Vorurteile sich zumeist bestätigen. Zwei weitere Beispiele Dalis machen deutlich, wie unser Gedächtnis für Formen, aber auch für Inhalte und unser auf unsere Erfahrungen und Interessen gestütztes Glaubenwollen bei der Interpretation von Bildern mitarbeitet (Abb. 15).



Abb. 15: Sklavenmarkt mit unsichtbarer Büste Voltaires 1940 (Öl auf Leinwand, 46.5×65.5, Museum St. Peterburg, Floria/USA)


„Mit ihrer geduldigen Liebe schützt mich Gala vor der spöttelnden, von Sklaven wimmelnden Welt. Gala zerstört in meinem Leben das Bild Voltaires und alle möglichen Spuren an Skepsis. Als ich dieses Bild malte, habe ich ständig das Gedicht von Joan Salvat-Papasseit rezitiert, das da endete mit folgenden Worten: Die Liebe und der Krieg das Salz der Erde.“ (S. Dalí, zit. in: R. Descharnes, Dalí de Gala. Edita, Lousanne 1962)

Dali verwendet ein „Raum-Zeit-Konzept“. Würden die Personen auf dem Bild auch nur die kleinste Bewegung ausführen und das Bild zu einem anderen Zeitmoment die Menschengruppe fixieren, wäre das Gesicht verschwunden. 1971 wurde der Effekt anhand dieses Bildes in der Zeitschrift Scientific American beschrieben. Angeblich wurde Dali durch die Betrachtung der Büste Voltaires des französischen Bildhauers Houdon inspiriert. Die Büste erscheint durch die Platzierung der beiden holländischen Händler. Der untere Rand der Felsenöffnung bildet den oberen Rand des Kopfes. Die Gesichter der Händler werden zu Augen, ihre Kragen zur Nase und Wangen. Ein zweites Doppelbild entsteht auf der Fruchtschale, die Birne wird zur Hügellandschaft und der Apfel zum Po des Mannes – eigentlich eine perspektivische Unmöglichkeit.



Abb. 16: Aus: „Le Surréalisme au sevice de la revolution“, Paris Nr. 3, Dez. 1931, MITTEILUNG: Paranoisches Gesicht


Ein weiters Beispiel zeigt Abb. 16:

„Während ich eine Studie zeichne, bei der mich lange Überlegungen über die Gesichter von Picasso, besonders über die schwarze Periode, verfolgt hatten, suchte ich in einem Stapel von Papieren eine Adresse und werde dabei von der Reproduktion eines Gesichts überrascht, das, wie ich glaube, von Picasso stammt, ein völlig unbekanntes Gesicht.

Plötzlich verschwindet dieses Gesicht, und ich werde mir der Täuschung? bewusst. Die Analyse des paranoischen Bildes, um das es sich handelt, ermöglicht mir, durch symbolische Interpretation alle Gedanken wieder zu finden, die der Vision des Gesichts vorangegangen waren.

André Breton hatte dieses Gesicht als das de Sades interpretiert, was einem ganz besonderen Interesse Bretons im Hinblick auf de Sade entsprach.

In den Haaren des fraglichen Gesichts sah Breton eine gepuderte Perücke, während ich darin ein Stück unbemalter Leinwand sah, wie es bei Picasso häufig vorkommt.

Salvador DALI“

Dali war bei allem Größenwahn und seiner ganz persönlichen Paranoia und bei aller Exaltiertheit seines Denken nicht nur auf der Höhe seiner Zeit, der neueren Philosophie und damit auf der Höhe der Erkenntnistheorie, sondern nahm vor der Mitte des 20 Jhds. in seinem Denken und Schaffen Theorieansätze vorweg, wie sie erst am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jhd. virulent wurden.

Unsere Wirklichkeit mag kein genaues Abbild der „wahren Realität“ sein, sie ist aber nicht vollständig fiktiv. Vermutlich wären wir sonst längst ausgestorben. Wir erkennen ein unseren menschlichen Systembedingungen entsprechendes 4-dimensionales Bild. Diese Bild ist unsere Wirklichkeit, in ihm leben wir und sind zugleich ein Teil von ihm. Wir sind gewissermaßen und im doppelten Sinne immer schon im Bilde. Nietzsche, der damals Unzeitgemäße, sprach davon, dass wir nur Krieger auf einer Leinwand seien. Unsere Wirklichkeit ist für alle Menschen zwar keine Identische, aber doch ähnlich genug, dass wir uns im Allgemeinen untereinander verständigen können. Alle menschlichen Gehirne und Nervensysteme funktionieren im Prinzip gleich. Im Kleinen aber haben wir alle schon erfahren, dass unterschiedliche Menschen dieselbe Situation verschieden erleben, wahrneh-men und interpretierten. Von einem Wahn aber unterscheiden sich diese variierenden Wirklichkeiten dadurch, dass nichts so Konsistent ist wie eine Wahnwirklichkeit, die ein Totalerklärungsmuster aufweist. Zufälle und Unerklärliches, ebenso wie nicht zum Weltbild Passendes können nicht akzeptiert werden. Ein Wahn kann nicht nur Menschen mit den üblichen Geisteskrankheiten, mit irgendwelchen Psychosen befallen. In wahnhaften Wirklichkeitssystemen können große Gruppen von Menschen leben und sich gegenseitig in ihrem Wahn bestätigen. Wir kennen dies aus der jüngsten Geschichte (Nazizeit, DDR, Stalinismus usw.). Und wir können dies immer wieder bei allen möglichen politischen und religiösen Fundamentalismen und bei Sekten. Gemeinsam ist allen Wahnvariationen ein Totalerklärungsanspruch und Intoleranz gegen alles und alle, was oder die nicht ins Welt- bzw. Wahnbild passen. Toleranz beruht drauf, unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen zulassen zu können. Toleranz findet ihre Grenze, wo Freiheit und Würde der Menschen missachtet werden. Folter, Unterdrückung, die Missachtung von Menschenrechten, Grausamkeiten jeder Art gehören nicht zur Folklore eines Volkes oder einer Gruppe und sind keine schützenswerten Kulturgüter oder Lebensformen. M.a.W. Jeder und jede hat das Recht auf ihre eigene Wirklichkeitskonstruktion und das Recht, diese auch zu leben, solange er oder sie nicht die der anderen und damit auch die anderen bedroht. In diesem Sinne könnte der berühmte Satz von Rosa Luxemburg: „Freiheit ist auch immer die Freiheit des anderen“ rekonstruiert werden.

Literatur

Salvador Dali — Retrospektive 1920 — 1890, Bonn 1994.

Robert Descharnes (1997): „Die Eroberung des Irrationalen“: Dali, sein Werk — sein Leben, Köln.

Immanuel Kant (KdrV): Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt/M. 1981.

Beatrice Nunold (2004): Freiheit und Verhängnis. München.

Gerhard Roth (2001): Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/M.

Gerhard Roth (2003): Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt/M.

Ludwig Wittgenstein (T.): Tractatus logico philosophicus, Fankfurt/M. 1963.

Ludwig Wittgenstein (PU): Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd.1, Frankfurt/M. 1997.