Druckansicht
Bildbewusstsein und ›willing suspension of disbelief‹. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Bildrezeption


Autor: Philipp Soldt
[erschienen in: IMAGE 5 (Ausgabe Januar 2007) ]

Schlagwörter: Bildrezeption, ikonische Differenz, Fiktionalität, Psychoanalyse, Imagination

Disziplinen: Psychologie, Psychoanalyse


The presented paper contributes conceptually from a psychoanalytic perspective to interdisciplinary image research, especially concerning perceptive processes. Originating from certain intense phenomena of image reception the relation of reality and fantasy comes into question. This is associated with the philosophical topic of the so called ›iconic difference‹. It is argued that the corresponding theoretical differentiation of image experiences in ›image‹ and ›tableau‹ can intrapsychically not be conceptualized as an ›either-or‹ but rather as a certain kind of ›at the same time‹. This is then elucidated as a certain interrelation of consciousness and the Preconscious as well as cognitive and emotional processes. The paper is completed with some considerations about the impact of the dynamic Unconscious on the reception of images.

Astract in Deutsch:

1. Einleitung: Psychoanalyse und Bild

In bildwissenschaftlichen Sammelbänden und Einführungsreferaten (vgl. z.B. Belting & Kamper 2000; Boehm 1994b; Majetschak 2005; Recki & Wiesing 1997; Sachs-Hombach & Rehkämper 1998; Sachs-Hombach 2003a, 2003b, 2005a, 2005b, 2005c; Schirra 2005; Schulz 2005) findet sich regelmäßig ein Kanon derjenigen Disziplinen, die am Projekt einer interdisziplinären Bildwissenschaft sinnvollerweise partizipieren (sollten). Auffällig ist, dass dabei die Psychoanalyse als eine Disziplin, die von Anfang an mit Bildlichkeit intensiv im Bunde ist, fast vollständig fehlt, was sicher überwiegend an den sich in den aktuellen Debatten auf-fallend bedeckt haltenden Psychoanalytikern selbst liegen dürfte.

Als einzige mir bekannte Ausnahme hat die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber (2006, S. 193) unlängst das Verhältnis der Psychoanalyse zur Bildwissenschaft reflektiert: ”Was kann die Psychoanalyse – als Wissenschaft des Unbewussten – zu einem transdisziplinären Bild-begriff beitragen? Wie Bilder – als faszinierende Phänomene in der äußeren Realität – sich in der inne-ren, seelischen Wirklichkeit niederschlagen, aber auch wie die idiosynkratische, innere Realität des In-dividuums die ›Anschauung‹, Wahrnehmung und das Verstehen von Bildern unbewusst bedingt, das sind klassische Fragestellungen der Psychoanalyse, die in den hundert Jahren ihres Bestehens zu einer Vielzahl verschiedener Konzeptualisierungen geführt haben.”

Der angesprochene Reichtum an ›Bildwissen‹, den die Erfahrungswissenschaft Psychoanalyse im Laufe ihrer Geschichte angesammelt hat, liegt jedoch dem interdisziplinären Diskurs nicht vor, er muss eigens zugänglich gemacht und eingebracht werden. Prinzipiell hat die Psychoanalyse ihre Kategorien an der Beobachtung und Analyse psychischer Prozesse gewonnen, allein auf diese sind sie anwendbar. Für einen psychoanalytischen Beitrag zur Bildwissen-schaft impliziert dies die Selbstbeschränkung auf das Feld der Bildrezeption, welche über bewusste und unbewusste psychische Prozesse vermittelt ist. Die Möglichkeit psychoanalytischer Konzeptualisierungen anhand einer bildwissenschaftlich relevanten Einzelfrage vorzuführen und einen konzeptuellen Beitrag zur Klärung bildrezeptiver Prozesse zu leisten, ist das Ziel dieses Beitrags. Bevor ich jedoch in mein Thema – Bildbewusstsein und ›willing suspension of disbelief‹ – einführe, möchte ich knapp mein bildtheoretisches Vorverständnis klären.

Innerhalb der philosophischen Debatte um Bild und Bildlichkeit, die unvermindert darüber im Gang ist, was Bilder ihrer Natur nach sind, lassen sich vor allem eine zeichen- und eine wahrnehmungstheoretische Position unterscheiden: »Während die semiotische Sicht Analogien zwischen bildhaften und sprachlichen Zeichen betont, koppelt die perzeptuelle Bildtheorie den Bildstatus primär an die Bildwahrnehmung« (Sachs-Hombach & Schürmann 2005, S. 113, vgl. a. Wiesing 2005, S. 17ff.). In eigenen Arbeiten zum Konzept eines Denkens in Bildern aus psychoanalytischer Sicht (vgl. 2005a, 2006a, 2006b), habe ich mich der ›mittleren Position‹ von Sachs-Hombach (vgl. z.B. 2003a) oder auch Seel (2000) angeschlossen, wonach Bilder sinnvollerweise als »wahrnehmungsnahe Zeichen« (Sachs-Hombach 2003a, Kap. 3) aufzufassen sind: Psychisch sind es eigens aus einem ganzen Pool sinnlicher Vorstellungen erzeugte Imaginationen, die – sowohl auf der Ebene des primär- als auch des sekundärprozesshaften Denkens – zu Zeichen für komplexe begriffliche Zusammenhänge werden, und mit denen Subjekte zu einem ikonischen – und damit ›gefühlsnäheren‹ – Bewusstsein innerer und äußerer Sachverhalte gelangen (vgl. ausführlicher a.a.O.). Das Verhältnis von inneren und äußeren Bildern habe ich an anderem Ort (2007) vorgeschlagen, als eines der Ermöglichung zu betrachten: Mitnichten wird das auf äußeren Bildern Dargestellte im Inneren lediglich vorgestellt (vgl. a. Belting 2001), entstehen also subjektive Abbilder objektiver Vorbilder. Vielmehr gilt es Bildrezeption als genuine Erzeugung eigener innerer anlässlich fremder äußerer Bilder durchsichtig zu machen. Die so zu beschreibende dialektische Beziehung zerbricht freilich im interessanten Fall kollektiv-neurotischer, z.B. kommerziell instrumentalisierter Bildphänomene, die dann doch wieder im Sinn einer mehr oder weniger unmittelbar sich durchsetzenden Abbildlichkeit darzulegen sind.

Mit dem damit angesprochenen Verhältnis von Innen und Außen ist auch die Frage nach dem Realitäts- bzw. Fantasiecharakter von Bildwahrnehmungen berührt, das Leuzinger-Bohleber (a.a.O., S. 194f.) in ihrem oben genannten Beitrag zur Bildwissenschaft thematisiert: ”Das Betrachten von Bildern kann uns in einen Zustand der rêverie, der Träumerei, versetzen, in dem wir in einem intermediären Raum zwischen Fantasie und Realität, Selbst und Objekt unsere Ontogenese, unsere idiosynkratische psychische Entwicklung nochmals durchlaufen – von primitiven, unstrukturierten psychischen Zuständen bis hin zum aktuellen seelischen Funktionieren des Erwachsenen. Diesen Prozess erleben wir im besten Fall als bereichernd, beglückend und wie eine seelische Erholung: Bilder leiten einen seelischen Resonanzprozess ein, in dem sich Türen zu früheren, existentiellen psychischen Zuständen, zum Unbewussten, öffnen. Wir lassen uns beim Betrachten der Bilder innerlich fallen, sind in sie versunken, vergessen Zeit und Raum und erleben dadurch einen seelischen Zustand der Ganzheitlichkeit, vielleicht sogar des Glücks. Dieser lustvolle und erholsame Zustand erinnert psychoanalytisch gesehen an frühe Verschmelzungszustände, in der Selbst und Objekt noch nicht als getrennt erlebt wurden.”

In dieser Darstellung eines Einsatzpunktes der Psychoanalyse wird offensichtlich der allgemeine Charakter von Bildwahrnehmungen, der keineswegs jedes Mal Türen zum Unbewussten öffnen, Zustände von Fallenlassen, Ganzheitlichkeit oder gar Glück beinhalten muss, unterlaufen zugunsten der Betrachtung faszinierender, künstlerischer oder jedenfalls solcher Bilder, die i.o. gemeinten Sinn die Imagination zu einer intensiven eigenen Tätigkeit anregen. Es scheint also, als würde sich die Psychoanalyse, wo sie sich für Bilder interessiert, nur auf einen Ausschnitt des Phänomens ›Bildlichkeit‹ beziehen und schon von daher nur bedingt etwas zu einer allgemeinen Theorie des Bildes beitragen können. Ich will im Folgenden zeigen, dass dem mitnichten so sein muss.

2. Problemstellung: Ikonische Differenz vs. Einheit der Bilderfahrung

Für meine Überlegungen ist die von Leuzinger-Bohleber vorgenommene Fokussierung auf regressive Phänomene der Bildrezeption gleichwohl ein guter Ausgangspunkt. Dass Bilder günstigstenfalls einen Raum eröffnen, in dem mehr oder anderes möglich ist als im allgegenwärtigen Bereich des praktischen Alltagshandelns, das ist als Sonderphänomen von Fiktionalität mit dem Konzept der »ikonischen Differenz« (Boehm 1994b, S. 29ff.) angesprochen und erscheint in vielfacher Variation innerhalb der bildphilosophischen Theoriebildung. Gemeint ist stets jene ›Doppeltheit‹ von Bildern, an denen sich zumeist etwas Dargestelltes von einer Darstellung unterscheiden lässt: »Die Wahrnehmung des Mediums seiner Darstellung und die Wahrnehmung des Objektes einer Darstellung in einem Medium« (Sachs-Hombach & Schürmann a.a.O., S. 116). Häufig wird in diesem Zusammenhang dasjenige, was im Deutschen mit dem einen Wort ›Bild‹ bezeichnet ist, in die zwei Begriffe ›tableau‹ für das materielle Bildobjekt und ›image‹ für den ideellen Bildinhalt differenziert (vgl. a. Böhme 1999, S. 8; Polanyi 1970, Shapiro 1970); Mitchell (1994, S. 4) unterscheidet entsprechend zwischen ›picture‹ und ›image‹. Psychologisch lässt sich vermuten, dass gerade durch dieses Bildern eigene Sehen von Etwas-in-Etwas (vgl. Wollheim 1980, S. 195) jene oben von Leuzinger-Bohleber bemerkte Intensität allererst möglich wird, dass die Möglichkeit des Eintauchens in den imaginären Raum, den ein Bild eröffnet, zumindest mitbedingt ist durch die jeweils sichtbaren Grenzen und Rahmungen dieses Raumes.

Mit diesem Konstatieren eines Auseinandertretens von ›tableau‹ und ›image‹ ist aber die Frage nach dem Verhältnis der beiden aufeinander bezogenen Dimensionen der Bildwahrnehmung noch nicht beantwortet, sondern erst gestellt. Wollheim (a.a.O, S. 199ff.), der das Phänomen in seiner »Zweifachthese« als »zweifache Aufmerksamkeit« erläutert, geht davon aus, dass beide Seiten subjektiv stets präsent bleiben: »Die These besagt, dass meine Aufmerksamkeit auf zwei Dinge aufgeteilt sein muss, wenn auch nicht zu gleichen Teilen, und ich habe für diese These im Disput gegen Gombrich argumentiert«. Gombrich (1960, S. 6) hatte in der Tat im Rahmen seiner Überlegungen zum Aspektsehen postuliert, ein Bild könne immer nur als ein Aspekt (image oder tableau) zur Zeit wahrgenommen werden. Betrachter sind ihm zufolge im Fall von darstellenden Bildern zu der von Wollheim vertretenen Zweifachheit gerade nicht in der Lage. Ohne hier im Einzelnen auf die empirischen Befunde des Für und Wider im einzelnen einzugehen, werde ich im Folgenden einen konzeptuellen Vorschlag machen, der eine Möglichkeit aufzeigt, wie beide Positionen, die jeweils für sich in Probleme führen, vereinbart werden können.

Der Zweifachheit- vs. Entweder-Oder-Disput berührt unmittelbar den eigentümlichen Zustand, den man ›Bildbewusstsein‹ nennen könnte. Weder kann es ja so sein – wie die radikale Wendung von Wollheim lauten müsste – dass beide Momente des Bildes stets gleichzeitig erlebt werden, da mit dem ständigen Bewusstsein von Etwas-in-Etwas und d.h. ja eines Bildes als Bild jedes Bild seine von Leuzinger-Bohleber herausgestellte illusionistische oder andersartige faszinierende Wirkung sogleich einbüßen müsste. Noch ist es eine befriedigende Erklärung zu sagen, ein bildbetrachtendes Subjekt hätte in jedem Moment zwischen zwei Aspekten zu wählen und damit gerade in keinem Moment jene eine besondere Erfahrung eines ›Als-ob‹, die uns angesichts von Bildern möglich ist.

3. Die sogenannte ›willing suspension of disbelief‹

In seiner kulturanthropologischen Schrift Totem und Tabu (1912/13, S. 111) sprach Freud von einer »wissenschaftlichen Phase« der Menschheit, die nach einer animistischen und einer religiösen Phase erreicht worden sei, und die ”ihr volles Gegenstück in jenem Reifezustand des Individuums [habe], welcher auf das Lustprinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht. Nur auf einem Gebiete ist auch in unserer Kultur die »Allmacht der Gedanken« erhalten geblieben, auf dem der Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, dass ein von Wünschen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung Ähnliches macht, und dass dieses Spielen – dank der künstlerischen Illusion – Affektwirkungen hervorruft, als wäre es etwas Reales. Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst [...].”

Dass jene ›Allmacht der Gedanken‹ in einer modernen Gesellschaft und psychischen Verfassung der Subjekte einzig auf dem Gebiet der Kunst wirksam sei, ist zu bezweifeln. Freud selbst nennt ja an anderer Stelle (1930a) das Fantasieleben; auch ist tendenziell die gesamte Welt der Bilder und kulturellen Darstellungen – einschließlich bestimmter (durch kulturelle Akte zu Kulturphänomenen gemachter) Naturansichten und -schauspiele – zum Terrain einer gelockerten Realitätsprüfung zu zählen. Bemerkenswert ist in dem Zitat die Wendung »als wäre es etwas Reales«. Jenes so tun »als wäre es etwas Reales« ist wirksam bei jeder Lektüre, die uns packt, sei nun das Packende Kunst oder Kitsch; bei jeder Geschichte, die uns einen Schauer über den Rücken jagt, obgleich wir doch wissen, dass es sich lediglich um eine Geschichte handelt; bei jeder tagträumerischen Fantasie, der wir uns mitten im Wachleben überlassen und die dennoch wirkt, als wäre sie real. Sich diesem Problem zu widmen, das von den psychoanalytischen Ästhetikern (z.B. Kris 1952; Holland 1968) in der Nachfolge von Coleridge (1817) als »willing suspension of disbelief« bezeichnet wird und heutzutage als die psychische Vorraussetzung von Fiktionalität angesprochen werden kann, ist für die Erhellung des eigentümlichen Zustandes der Bildrezeption m.E. unerlässlich.

Am Beispiel der Überlegungen von Holland lässt sich das Konzept entfalten und zugleich etwas über die Problematik psychoanalytischer Theoriebildung in Hinsicht auf interdisziplinäre Verständigung verhandeln. In seinem Buch The Dynamics of Literary Response (1968) widmet sich Norman N. Holland ausführlich dem Problem einer »willing suspension of disbelief «, das er auch als eine »special gesture of ›as if‹ (a.a.O., S. 63) bezeichnet und als »imaginative involvement« (a.a.O., S. 64) charakterisiert, um sogleich zu fragen, »what precisely is the nature of this involvement in which we invest or bestow life upon the fictitious characters of stage, page, or screen?« (ebd.). Holland kommt in Beantwortung dieser Frage relativ schnell auf Prozesse der Absorption, Selbstaufgabe und Verschmelzung zu sprechen: Leser, Zuschauer, Bildbetrachter etc. »begin to lose track of the boundaries between themselves and the work of art« (a.a.O., S. 66). In der Folge werden Konzepte wie die der Regression (»[...] returns us to our very earliest modes of thought« (a.a.O., S. 72)), der auf diese Weise wiedererreichten »Wahrnehmungsidentität« (a.a.O, S. 73) sowie der Matrix lustvoller Oralität als erlebnismäßige Grundlage ästhetischer Erfahrungen mit der für sie wesentlichen Erfahrungen der Absorption (a.a.O., S. 75ff.) bemüht: ”We are responding, therefore, from a level form our being which existed prior to the sense of another reality. We have partially returned to that original »all-embracing« feeling before the ego »separates off an external world from itself«. It is because part of us has regressed so deeply that we can easily make the concerns of a literary character our own of project our concerns onto him. […] Our ego boundaries between self and not-self, inner and outer, become blurred as we approach, in part, the undifferentiated state of earliest infancy” (a.a.O., S. 78).

Aufgrund einer Regression auf das Niveau einer frühen undifferenzierten Subjekt-Objekt-Einheit, die als Verschmelzung erlebt würde, wird nun die »willing suspension of disbelief« auf recht simple Art erklärt: »And we do – we become infants prior even to an awareness of ourselves as such, quite unable to disbelief« (a.a.O., S. 80).

4. Auflösungserscheinungen: Kritik psychoanalytischen Entdifferenzierungsmodell

Die Suspension des Unglaubens soll also in Wirklichkeit die Rückkehr zu einer Unfähigkeit des Unglaubens sein. Wie können aber dann eigentlich noch Kunstwerke oder andere Bilder in ihrer zumeist gestalteten Struktur von Einzelheiten überhaupt aufgefasst und verstanden werden, wie wäre es möglich, auch nur einer simplen Geschichte zu folgen, wenn man sich psychisch im »undifferentiated state of earliest infancy« bewegt, »prior even to an awareness of ourselves as such«? An dieser Stelle begegnen wir, so scheint es mir, einer Art psychoanalytischem Klischee: Intensive Resonanzphänomene sind immer schon auch Resonanzen in einem ganz anderen Sinn, das Wiederaufleben frühkindlicher Erfahrungsmodalitäten. Grundsätzlich wäre zu überlegen, warum für das Phänomen der »willing suspension of disbelief« eigentlich der Rekurs auf vorsprachlich-undifferenzierte Entwicklungsstadien nötig ist. Um etwas wie real zu erleben, müssen wir mit diesem Etwas nicht verschmelzen; mehr noch: wenn die Grenze zwischen Subjekt und Objekt tatsächlich regressiv aufgelöst wäre, könnten wir es gar nicht mehr als Etwas erleben. Genau dies ist aber der Fall: Wir erleben bei der versunkenen Bildbetrachtung eines Gemäldes von Poussin mglw. eine Situation, als wären wir es, die bei dem dargestellten Picknick mit unter dem Baum säßen. Allgemein: Die empfundene ›Wirklichkeit‹ einer fiktionalen Darstellung im Sinne ihrer Realitätshaftigkeit in unserem subjektiven Erleben ist nicht an regressive Entdifferenzierung gebunden. Aus ähnlichen Gründen hilft auch das von Holland in Anschlag gebrachte Konzept der Introjektion zum Verständnis des »imaginative involvement « wenig weiter: We have introjected the literary work; it has become a subsystem within our own egos« (a.a.O., S. 87); Literature, in a way, is a dream dreamed for us, which we then introject. The phrasing, »we are absorbed, « reverses the true state of affairs. We absorb it, making the literary work a subsystem within us (a.a.O., S. 89).

Mit einer Introjektion des literarischen Werkes – jedenfalls verstanden im psychoanalytischen Sinn des Wortes – würde dieses als ein äußeres Gegenüber komplett aus unserer Erfahrung verschwinden, welches wir im Lesen bewundern. In dieser Absicht einer Objektvernichtung setzten Subjekte den unbewussten Mechanismus der Introjektion jedenfalls ein. Verschmelzen wir wirklich mit dem Werk als Ganzem oder machen wir uns nicht vielmehr zeitweise die Perspektive eines Protagonisten zu eigen? Auch der Mechanismus der Identifizierung, der insofern mglw. das geeignetere Konzept wäre, verläuft aber per definitionem unbewusst und lässt auch seine Resultate, die gezielten Veränderungen von Objekt- und Selbstrepräsentanzen, unbewusst. Widerspricht dies aber nicht einerseits der Erfahrung, dass das, was außerpsychoanalytisch als ›Identifizierung mit dem Helden‹ bezeichnet wird, sehr wohl bewusstseinsfähig ist, und andererseits der Tatsache, dass bei einer »willing suspension of disbelief« die Suspension eben eine willentliche ist und mithin bewusst bleiben muss?

5. Bewusstseinsspaltungen als Verlegenheitslösung

Jedes Mal wenn Holland bei seinen Erklärungsversuchen des Phänomens auf Regressionen auf früheste Phasen rekurriert, beeilt er sich anzufügen, dies gelte nur für einen Teil der Person: »To some extend, we fuse with the literary work«, »we become infants prior even to an awareness of ourselves as such, quite unable to disbelieve. Or so we do in part« (a.a.O., S. 80, Hervorhebungen P.S.). An dieser Stelle wird es aber gerade interessant: Wenn wirklich emotional intensive bildrezeptive Prozesse konzeptuell an regressives Erleben gebunden werden sollen, dann muss mitgesagt werden, auf welche Weise ein dergestalt entdifferenziertes Subjekt gleichzeitig auf der Höhe seiner erwachsenen psychischen Vermögen bleiben soll, wie es genau zu verstehen ist, dass ein Teil der Person, des Ich, der Ichfunktion der Realitätsprüfung o.ä., simultan funktionsfähig bleibt. Diese Verhältnisbestimmung zwischen Regression und Progression, die einzig den besonderen Zwischenzustand jenes ›als-wäre-es-real‹ aufklären könnte, kann Holland nur durch eine postulierte Bewusstseinsspaltung lösen: »In effect, our minds are split in two« (a.a.O., S. 81). An einer anderen Stelle spricht Holland ganz ähnlich von einer »persistence of adult ego-functions along with an encapsulated regression to our earliest oral experience [...]« (a.a.O., S. 89, Hervorhebung P.S.). Dass die Regression eingekapselt ist, scheint wieder eher eine Frage denn eine Antwort zu sein, bzw. eine Metapher, die den entscheidenden Punkt gerade auslässt. Und soll ›eingekapselt‹ heißen, dass wir in einem Moment ein Verschmelzungserlebnis haben und im anderen nicht, da wir wieder die reale Situation ins Auge fassen?

Das jedenfalls ist die Auffassung, die auch Zepf (2006b, S. 163) nahe legt, wenn er sagt, bei solchen Prozessen würde »das begriffliche Denken aktiv in zwei semantische Stufen geteilt, zwischen denen das Subjekt oszilliert«. Das ist aber problematisch, denn die Erfahrung von Bildlichkeit mit ihrem Schein von Realität wird dann nicht mehr als genuine beschrieben, sondern als Resultante eines Wechsels, eines Hin und Her zwischen Fantasie und Realität. Das entspräche einem Rezeptionsverhalten, in dem wir uns als Betrachter gleichsam zwischendurch immer wieder klarmachen müssen, dass wir in Wirklichkeit nicht in einer arkadischen Landschaft, sondern in einem Museum befinden. Beim Betrachten von (suggestiven darstellenden) Bildern wachen wir aber nicht gleichsam immer wieder auf und korrigieren eine Täuschung wie einen geträumten Traum am Morgen, sondern befinden uns innerhalb eines kontinuierlichen Erfahrungsstroms, der nur ausnahmsweise durch einen shift unterbrochen wird, der eine distanzierende Reflexion einleitet. Ein solches Changieren bzw. Oszillieren, wie Zepf es anspricht, scheint mir möglicherweise auf einen besonderen Typus der Bildrezeption zu verweisen, wie er im Fall avancierter Kunst anzutreffen ist, wo z.B. mehrere Perspektiven so gegeneinander gestellt sind, dass eine durchgehende »willing suspension of disbelief« nicht aufrecht zu erhalten ist. Bei der Grundform von Bildlichkeit, die hier interessiert, verhält es sich anders: Abgesehen von (durchaus interessanten) Momenten, in denen das Bildbewusstsein gleichsam entgleist, ist der Modus des ›as if‹ durchgängig präsent, durchdringt das vermeintlich reale Erleben und macht es so allererst zu einem besonderen.

6. Fiktionalität in der Theorie der psychischen Repräsentanzwelt

Ich will im Folgenden skizzieren, wie im Rahmen der hier zugrunde liegenden Theorie der Repräsentanzwelt die mit einem Bildbewusstsein z.T. einhergehende sogenannte »willing suspension of disbelief« rekonstruiert werden kann. In der Tat scheint die Besonderheit bildlicher Wahrnehmung wesentlich daran gebunden zu sein, dass das psychische Geschehen sich zugleich auf zwei semantischen Stufen abspielt. Zepf (2006a, S. 235) erläutert zur Theorie der semantischen Stufen:

Die »Theorie der semantischen Stufen« [...] unterteilt die Sprache in »Objektsprache« und »Metasprache « (Klaus 1962, S. 44ff.; Lyons 1977, S. 24ff.; Quine 1940, S. 23ff.). Werden die Begriffe und Sätze verschiedener Abstraktionsstufen zum Untersuchungsgegenstand gemacht, ist die Sprache, in der sie formuliert sind, die Objektsprache, über die in einer Metasprache, der Sprache einer zweiten semantischen Stufe, nachgedacht wird. In den Begriffen und Sätzen der Metasprache werden dann Aussagen über die Objektsprache gemacht. Über die Sprache der zweiten Stufe wiederum kann in einer Sprache der dritten Stufe, über die dritte in einer der vierten Stufe usw. nachgedacht und geredet werden, wobei jedes Mal die Begriffe der nächsthöheren Stufe die Erkenntnismittel für die auf tieferer Stufe angesiedelte Sprache bilden (s. dazu Klaus 1962, S. 44).

Das hier zugrunde liegende psychologische Modell des Bewusstseins kann hier nicht in aller Kürze ganz wiedergegeben werden. Ich verweise auf die ausführlichen Darstellungen bei Zepf (2006a, Kap. 3). Zeichen verweisen auf Begriffe und machen auf diese Weise einzelne, im Umfang dieser Begriffe liegende Vorstellungen bewusst, und diese Zeichenprozesse können von einer höheren Stufe aus wiederum mit Zeichen verknüpft und als Exemplare in diesem Kontext abstrakterer Begriffe ausgewiesen werden. Von einer höheren Warte aus werden psychische Abläufe dann etwa als Teile der Tätigkeiten »ein Bild Betrachten«, »Fantasieren «, »Filmgucken« u.ä. identifiziert, bzw. in den Sätzen »ich betrachte ein Bild«, »ich fantasiere « oder »ich gucke einen Film« bewusst.

Die These ist nun, dass ein Subjekt unter der Bedingung, dass es auf einer höheren semantischen Stufe eine exakte Realitätsprüfung durchführt, diese auf einer unteren Stufe unterlassen kann. Anders gesagt: Die Ichfunktion der Realitätsprüfung muss – in allen Situationen – nur auf der jeweils höchsten semantischen Stufe durchgeführt werden, die ein aktueller psychischer Prozess beinhaltet.

Was ist nun eigentlich Realitätsprüfung? Holland (a.a.O., S. 81, Hervorhebung P.S.) zitiert Weisman, der – in Parenthese – einen eminent wichtigen Hinweis gibt: »Why do we not believe that the actor, in reality (that is, from every point of view), has committed murder on the stage?«. Zepf (2006b, S. 163, Hervorhebung P.S.) schreibt ganz ähnlich, das besondere kreative Denken verlaufe auf der ersten semantischen Stufe »unter Abstraktion von Aspekten der Realität«, d.h. nicht etwa abseits von ihr, sondern unter Absehung von manchen ihrer Bestimmungen. Realitätsprüfung heißt also entsprechend nichts anderes, als dass die Bestandteile einer wahrgenommenen oder gedachten Situation vollständig überprüft werden. (Fantasieren wäre dementsprechend kein unbegriffliches, sondern gewissermaßen ein unvollständiges begriffliches Denken, welches im Ablauf des Denkprozesses einzelne extensionale – und damit andere intensionale) Bestimmungen – außer acht lassen kann und sich statt dessen leiten lässt von emotiven Valenzen.) Die Funktion der Realitätsprüfung ist ein abstraktives Verfahren: Alle Aspekte einer gegebenen Situation müssen solange begrifflich identifiziert und wieder neu identifiziert werden, bis alle so entstehenden Aussagen sich unter einen Oberbegriff zusammenfassen lassen. Ich wache irgendwo auf und höre das Brüllen eines Raubtieres, was mich zu der spontanen Überzeugung gelangen lässt, mich in Gefahr zu befinden. Das Vorübergehen eines Mannes mit roter Nase, den ich als Clown identifiziere, lässt es zu, eine andere Abstraktion durchzuführen und alle Aspekte der Situation konsistent unter dem Oberbegriff ›Zirkus‹ zu fassen, was auch meine Emotion sofort verändert.

Diese unterm Konsistenzzwang stehenden Reflexionen können wie gesagt (teilweise) ausbleiben, wenn die Situation von einer höheren semantischen Stufe aus, auf der eine Realitätsprüfung erfolgt, als fiktionale erkannt worden ist. Bzw., die Realitätsprüfung der fiktionalen Situation wird dann als erfolgt vorausgesetzt, wenn die Realitätsprüfung auf der höheren semantischen Stufe ergeben hat, dass wir, da wir ein Bild betrachten, fantasieren etc., nicht zu handeln brauchen.

7. Die ikonische Differenz im Licht des Konzept des ›Vorbewussten‹

Wenn nun nicht wieder eine Spaltung der psychischen Repräsentanzwelt in zwei semantische Stufen, sondern vielmehr die Kontinuität des Bewusstseins über zwei semantische Stufen hinweg angenommen werden soll, muss deren Gleichzeitigkeit theoretisch rekonstruiert werden. Hierzu ist auf das Verhältnis von Vorbewusstem und Bewusstsein einzustellen. Freud (1900a) hatte in seinem ersten (topischen) Modell des Psychischen klar gemacht, dass das System des Vorbewussten – im Unterschied zum Unbewussten – nicht primär- sondern sekundärprozesshaft organisiert ist, was aus heutiger Sicht, in der Perspektive der Begriffstheorie, als begriffssymbolisches Denken konzeptualisiert werden kann (vgl. Zepf 2006a, Kap. 3).

Während jedoch bewusste, d.h. supraliminale psychische Akte an die Verbindung der jeweils aktualisierten begrifflich gefassten psychischen Repräsentanzen mit sprachlichen oder bildhaften Zeichen gebunden ist, bezieht sich das Konzept des Vorbewussten sinnvollerweise auf den viel weiteren Bereich jener begrifflich strukturierten psychischen Inhalte noch unterhalb dieser sigmatischen Relation, von dem jeweils nur ein kleiner Ausschnitt überschwellig, d.h. bewusst wird (vgl. zur Theorie des Vorbewussten ausführlich Soldt 2005b). Vorbewusst sind jederzeit viele verschiedene Vorstellungen gleichzeitig aktualisiert; nur das Bewusstsein erlaubt aufgrund seiner Bindung an sprachliche oder bildhafte Zeichen nur je einen (mehr oder minder komplexen) Bewusstseinsinhalt zur selben Zeit. In unserem Fall der Bildrezeption sind vorbewusst Vorstellungen auf zwei semantischen Stufen zugleich aktualisiert, von denen freilich nur jeweils eine zur Zeit bewusst ist. Wenn wir ein Bild betrachten, heißt das, ist unser Bewusstsein in der Tat in einem Moment allein beim im Bild Dargestellten und nicht gleichzeitig etwa auch beim Rahmen als Moment einer bildlichen Darstellung – und damit selbstreflexiv bei der Situation von uns als Betrachtendem. Der bewusste Wechsel der Aufmerksamkeit von der Ebene des Dargestellten zur Ebene der Darstellung ist in der Tat nur durch ein Oszillieren zu erklären, im Zuge dessen mal das eine und mal das andere sprichwörtlich ins Auge gefasst wird. Das Bewusstsein der tieferen semantischen Stufe ist gleichwohl nicht unabhängig bzw. unbeeinflusst von der Aktualisierung der höheren: Diese findet zwar nicht Eingang in die bewusste Kognition, sehr wohl aber in die bewusste Emotion.

Wie ist dies zu verstehen? Die Emotion, gibt jeweils Auskunft über das Gefüge jeweils simultan aktualisierter Vorstellungen zu einem gegebenen Zeitpunkt, stellt gleichsam eine vorbewusste Verrechnung aller in einer Situation aktualisierten Vorstellungen in ihrem Verhältnis zueinander dar. Das, was ich im Bild sehe oder im Kino an Szenen auf der Leinwand wahrnehme, mündet insofern direkt in eine emotionale Befindlichkeit, als eine Vielzahl von Vorstellungen evoziert werden, deren Verhältnis zueinander sich mir subjektiv darstellt in Gestalt eines sich einstellenden Gefühls. Normalerweise ist es mir prinzipiell möglich, dieses sich einstellende Gefühl auf seine Bedingungen hin zu befragen, d.h. jene Vorstellungen anzugeben und ihrem Verhältnis zueinander kognitiv zu untersuchen, die integral in das aktuelle Gefühl mündeten.

Entscheidend ist nun im Fall von Bildlichkeit, dass durch die aktualisierte Vorstellung »ich betrachte ein Bild«, »ich schaue einen Film« etc. selbst jenes Gefüge von Vorstellungen, das sich in der erlebten Emotion abbildet, verändert und damit auch die Emotion selbst eine andere wird. Es tritt sozusagen zum Gefüge der in einem Moment aktualisierten Vorstellungen mindestens eine – vorbewusste – Vorstellung hinzu, die dieses Gefüge insgesamt wesentlich verändert und damit ein anderes Gefühl erzeugt. Diese veränderte Qualität z.B. einer erlebten Angstemotion beim Betrachten eines ängstigenden Bildes bedingt das veränderte Realitätsgefühl. Kognitiv ist der Gehalt des betrachteten Bildes derselbe wie in einer realen Situation. Unter der Bedingung, dass ich bei der Betrachtung nicht den Fokus der Betrachtung zugunsten des Rahmens verändere, ist mein Wissen, dass es ein Bild ist, das ich betrachte, im aktuellen kognitiven Erleben nicht als solches präsent. Dies liefe ja auf das Postulat einer Bewusstseinsspaltung hinaus. Sondern indirekt in Form einer qualitativ veränderten Emotion. Auf diese Weise ist die rezipierte Szene mit einer real erlebten identisch und nicht identisch zugleich, ich kann sie erleben, als wäre sie real.

Nun wird auch im Nachhinein klar, dass es eben diese beruhigende, erheiternde, entlastende oder wie immer auch geartete Emotion ist, die mir gleichzeitig erlaubt, auf der aktuellen, d.h. unteren semantischen Stufe die Realitätsprüfung zu suspendieren: Ein Gefühl der Sicherheit grundiert gleichsam das Betrachten und lässt auf diese Weise erleben, dass insgesamt eine erfolgreiche Realitätsprüfung bereits stattgefunden hat.

Allgemein lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass das Vorbewusste und die Emotion aufs Engste miteinander verknüpft sind: Zeigt doch die emotionale Befindlichkeit in jedem Moment global die vorbewusste kognitive Aktivität an. In seiner Emotionalität erlebt das Subjekt den Reflex des fortlaufenden psychischen Gesamtgeschehens, von dem bekanntlich die bewusst registrierten Kognitionen nur einen kleinen Ausschnitt bilden. Anders gesagt: Das Verhältnis von Bewusstsein und Vorbewusstem hat seine Entsprechung im Verhältnis von bewusster Kognition und bewusster Emotion.

Beachtenswert im Hinblick auf die voranstehenden Überlegungen ist weiterhin, dass im Fall von präsentativ-bildlichen Darstellungen (einschließlich natürlich der Kunst) beide semantischen Stufen sinnlich gegenwärtig sind: die untere Stufe in Form des im Bild Dargestellten und die obere Stufe in Form z.B. des Rahmens eines Bildes. So, wie der Blick eines Betrachters vom Rahmen eines Bildes in das Bild selbst hinein wechselt und umgekehrt, nie aber beides gleichzeitig bewusst wahrnehmen kann, so ist auch der ›shift‹ vom Gesehenen zur Aktivität des Sehens selbst als Nacheinander zu beschreiben. Das Miteinander bzw. Ineins der beiden Ebenen ergibt sich vorbewusst und subjektiv vermittelt über die Emotion.

8. Entgleisungen des Bildbewusstseins

Von hier ausgehend ergeben sich interessante Möglichkeiten der Brechung durch die wahrnehmbare Irritation im Verhältnis der beiden semantischen Stufen. Dies ist etwa der Fall, wenn im Verlauf einer Inszenierung die Trennung zwischen Darsteller und Rolle (scheinbar) aufgehoben wird oder die Fiktionalität eines Textes prekär wird. Berühmte Beispiele hierfür wären etwa als Berichterstattung inszenierte Radiohörspiele über die Invasion von Außerirdischen (Orson Welles' »Krieg der Welten«) oder auch der fiktionale Kinofilm »The Blair Witch Project« von Myrick & Sanchez 1999 (USA), der sich durchgängig und geschickt als Dokumentation ausgibt. Holland (a.a.O., S. 99), der einige weitere Beispiele solch kunstvoller Verunsicherungen angibt, schreibt: ”Such effects are peculiarly unsettling. Why? They create an uncertainty in us as to whether the supported fiction we are reading or watching is really a fiction or a reality about a fiction. This is merely an intellectual puzzle, however. These books-within-books and plays-within-plays create a deeper, inner sense of uncertainty, an uncanny feeling such as seeing my reflection in a mirror move and act by itself would produce.”

Durch bestimmte Elemente des Textes oder Films wird das Ergebnis der erfolgten Realitätsprüfung in Frage gestellt, womit die Text- oder Filminhalte einen anderen Status und eine wesentliche andere Wirkung erhalten. Aber nicht nur auf diese Weise: durch bestimmte, dem Bild und seinem Kontext zugehörige Konstruktionen kann der eigenartige ›Als-ob-Zustand‹ des Bildbewusstseins außer Kraft gesetzt, d.h. von außen aufgehoben werden. Sondern auch von innen her, im Zuge von neurotischen Verwerfungen des jeweils subjektiven Repräsentanzengefüges: Angenommen ein betrachtetes Bild aktualisiert direkt eine verdrängte psychische Strebung und bewirkt somit eine sogenannte ›Wiederkehr des Verdrängten‹, dann löst dieses Ereignis – zusammen mit jenen anderen Vorstellungen, die mit der besagten komplexhaft assoziiert sind – keine Emotion aus, sondern einen Affekt. Dieser unterscheidet sich von jener nicht nur durch seine Intensität, sondern vor allem durch die Unmittelbarkeit seines Realitätsbezugs. Das hat damit zu tun, dass innerpsychische Abwehroperationen, mit denen sich die Psychoanalyse beschäftigt, den gewachsenen Zusammenhang von Vorstellungen untereinander zerreißen: Die Situation, deren subjektive Valenz im Affekt erscheint, wird also subjektiv deswegen nicht mehr ›wie real‹ sondern ›real‹ erlebt, da die ihr zugrunde liegende verdrängte Vorstellung vorbewusst nicht mit der Vorstellung »ich betrachte ein Bild« oder »ich fantasiere« verbunden ist. Das Gefüge der semantischen Stufen ist an dieser Stelle punktuell durchbrochen, wodurch das reflexive Bewusstsein eines ›Als-ob‹ nicht länger möglich ist.

Dies erklärt, warum jemand z.B. bestimmte bildliche Darstellungen bzw. brutale Filmgenres nicht ertragen und vermeiden muss: An diesen Stellen werden durch bestimmte Bilder abgewehrte psychische Strebungen gleichsam ausgelöst, die deswegen vorbewusst nicht mehr als bildhaft darstellend und insofern ungefährlich erlebt werden können, weil sie aus dem assoziativen Verkehr des psychischen Repräsentanzengefüges gezogen sind und insofern keine Verbindung mehr zur höheren semantischen Stufe und der dort situierten Vorstellung »ich betrachte ein Bild« haben. Das, was wie ein ausgestanztes Klischee wirkt, ergibt keine ängstigende Emotion mehr, sondern einen Angstaffekt, der auf keine Weise mehr durch Vorstellungen der Metastufe relativiert, bzw. modifiziert werden kann. (vgl. zu der hier angesprochenen Theorie der Neurose und der mit ihr verbundenen strukturellen Veränderungen des subjektiven Erlebens Soldt 2005a, Kap. I.3 und II.4).

Nicht punktuell an den Stellen je eigener seelischer Vernarbungen, sondern global aufgehoben oder gestört werden kann die »willing suspension of disbelief« in Zuständen der Ich-Regression. Diese wird damit nicht zur Bedingung, sondern zur negativen Bedingung des Bildbewusstseins: Unter bestimmte Umständen der Rezeption wie etwa Müdigkeit ist das Gefälle der semantischen Stufen nicht aufrecht zu erhalten. Wer etwa schon einmal einen Thriller im Dämmerzustand des Einschlafens verfolgt hat, wird am Aufschrecken bzw. an der alptraumhaften Verarbeitung des Gesehenen leibhaftig die Folgen einer ausgesetzten Realitätsprüfung bzw. der suspendierten Hierarchie der semantischen Stufen erlebt haben: Die gesehenen Szenen wirken nicht länger ›wie real‹, sondern ›real‹.

9. Fazit: Bildtheorie und Psychoanalyse

Ich habe mit Hilfe eines psychoanalytischen Modells der psychischen Repräsentanzwelt, des Konzepts der semantischen Stufen, des Vorbewussten und des Verhältnis des begriffs- und emotionssymbolischen Denkens das Konzept eines Bildbewusstseins vorgeschlagen, welches das von Gombrich postulierte Entweder-Oder ebenso umfasst – auf der Ebene des Bewusstseins – wie auch die von Wollheim postulierte Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung von ›image‹ und ›tableau‹ in Form eines »Sehen-in« – auf der Ebene des Vorbewussten, die wir indirekt: als Emotionen, erleben. Für den eng mit dem Phänomen der Fiktionalität verbundenen ›Als-ob-Status‹ vieler Bildbetrachtungen im Fall darstellender Bildlichkeit sind von psychoanalytischer Seite her weder regressive Entdifferenzierungen anzunehmen noch Bewusstseinsspaltungen und Oszillationen.

Am zuletzt knapp entwickelten neurotischen Fall einer tatsächlichen punktuellen Entdifferenzierung des individuellen Seelenlebens und der damit einher gehenden punktuellen Suspension nicht des Unglaubens, sondern des Bildbewusstseins ließe sich die besondere Relevanz und die besondere Zuständigkeit einer erst zu schreibenden psychoanalytischen Bildtheorie aufweisen: Da, wo die allgemeine Bildtheorie zur kritischen Bildtheorie wird und auf das Verhältnis der Bilder zum immer auch deformierten Subjekt einstellt, scheint mir die Psychoanalyse als kritische Theorie des Subjekts mit ihrer Konzeptualisierung individueller und kollektiver Abwehrprozesse einen wichtigen Beitrag leisten zu können.

Literatur

Belting, Hans (2001). Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Fink.

Boehm, Gottfried (1994a) (Hrsg.). Was ist ein Bild? München: Fink.

Boehm, Gottfried (1994b). Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders. (1994a), S. 11-38.

Böhme, Gernot (1999). Theorie des Bildes. München: Fink.

Coleridge, Samuel T. (1817). Biographia Literaria. Ed. by J. Shawcross, London 1975: Dent.

Freud, Sigmund (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419-506.

Freud, Sigmund (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419-506.

Gombrich, Ernst H. (1960). Art ans Illusion. A study in the psychology of pictorial representation. Princeton: Princeton University Press.

Holland, Norman N. (1968). The Dynamics of Literary Response. New York 1989: Columbia University Press.

Klaus, Georg (1962). Semiotik und Erkenntnistheorie. Berlin 1973: Deutscher Verlag der Wissenschaften.

Kris, Ernst (1952). Psychoanalytic explorations in art. London: George Allen & Unwin Ltd.

Leuzinger-Bohleber, Marianne (2005). Der Bildbegriff in der Psychoanalyse. In: Majetschak, Stefan (2005), S. 193-214.

Lyons, John P. (1977). Semantik Bd. 1. München 1980: Beck.

Majetschak, Stefan (2005) (Hrsg.). Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild. München: Fink.

Mitchell, William J.T. (1994). Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago: University Press.

Polanyi, Michael (1970). Was ist ein Bild? In: Boehm, Gottfried (1994a), S. 148-162.

Quine, Willard v.O. (1970). Mathematical Logic. Cambridge: Havard University Press.

Sachs-Hombach, Klaus (2003). Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Herbert von Halem.

Sachs-Hombach, Klaus (2005) (Hrsg.). Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sachs-Hombach, Klaus & Schürmann, Eva (2005). Philosophie. In: Sachs-Hombach, Klaus (2005), S. 109-123.

Seel, Martin (2000). Ästhetik des Erscheinens. München, Wien: Hanser.

Shapiro, Meyer (1970). Über einige Probleme in der Semiotik der visuellen Künste. Feld und Medium beim Bild-Zeichen. In: Boehm, Gottfried (1994a), S. 253-274.

Soldt, Philipp (2005a). Denken in Bildern. Zum Verhältnis von Bild, Begriff und Affekt im seelischen Geschehen. Vorarbeiten zu einer Metapsychologie der ästhetischen Erfahrung. Lengerich (Pabst).

Soldt, Philipp (2005b). Vorbewusstes und vorbewusste seelische Prozesse. Versuch einer konzeptuellen Klärung. Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 17, 211-237.

Soldt, Philipp (2006a). Das Verdrängte im Bild. Zum Verhältnis des bildlich-anschaulichen Denkens zum Unbewussten. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 21/1: 29-47.

Soldt, Philipp (2006b). Bildliches Denken. Zum Verhältnis von Anschauung, Bewusstsein und Unbewusstem. Psyche 6: 543-572.

Soldt, Philipp (2006c). Äußere und innere Bilder. Ein Beitrag zur Psychologie der Rezeption präsentativer Darstellungen. texte – psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik (im Druck).

Wiesing, Lambert (2005). Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Wollheim, Richard (1980). Objekte der Kunst. Frankfurt am Main 1982: Suhrkamp.

Zepf, Siegfried (2006a). Allgemeine Psychoanalytische Neurosenlehre, Psychosomatik und Sozialpsychologie. Ein kritisches Lehrbuch. Zweite erweitere und aktualisierte Auflage. Bd. 1. Gießen: Psychosozial.

Zepf, Siegfried (2006b). Allgemeine Psychoanalytische Neurosenlehre, Psychosomatik und Sozialpsychologie. Ein kritisches Lehrbuch. Zweite erweitere und aktualisierte Auflage. Bd. 2. Gießen: Psychosozial.