Druckansicht
Im Schatten der Utopie. Zur sozialen Wirkungsmacht von Leitbildern kultureller Transformation


Autor: Stephan Rammler
[erschienen in: Bild und Transformation - IMAGE 12 (Ausgabe Juli 2010)]

Schlagwörter: Kulturelle Transformation, apokalyptische und utopische Zukunftsvorstellungen, Narrative Zukunftsszenarien.

Disziplinen: Gesellschaftswissenschaften, Design, Designwissenschaften


Wo die lähmende Routine des apokalyptischen Diskurses nicht genügend inneren Schub erzeugt um vom Wissen zum Handeln zu kommen, vermag vielleicht die Vorstellung einer positiven Zukunft verlocken, den Weg von der Phantasie zur Änderung des individuellen Verhaltens und schließlich zur sozialen Bewegung zu beschreiten und politisch zu werden.
Dieser Artikel fragt nach der Wirkungskraft von Leitbildern für die Gestaltung der fundamentalen Transformation unserer modernen Kultur. Zu diesem Zweck wird der bislang wenig bestimmte Begriff der kulturellen Transformation diskutiert, die wahrnehmungs- und handlungsleitende Funktion von zukunftsbezogenen Narrativen reflektiert und in einem politiktheoretischen Zusammenhang betrachtet. Den Abschluss bilden Gedanken über Anforderungen an zukunftsbezogene Erzählungen, die Kontexte ihres Entstehens und der Methoden ihrer „Erzeugung“ und Kommunikation in interdisziplinären und partizipativen Prozessen.


Where the paralyzing routine of the apocalyptic discourse does not produce enough internal thrust to come from knowledge to action, perhaps the idea of a positive future can entice to travel the path from imagination to the change of individual behavior and ultimately to social movement and becoming political.
This article examines the effectiveness of guidelines for the design of the fundamental transformation of our modern culture. To this end, the previously little specific concept of cultural transformation is discussed, reflecting the perception and action-guiding function of future-oriented narratives, and viewed in a policy-theoretic context. It concludes with thoughts on requirements for future-oriented stories, the contexts of their development, and the methods of their "production" and communication in interdisciplinary and participatory processes.

1. Das schwierige Verhältnis von Apokalypse und Utopie

Das Weltretten ist heute ein schwieriges Geschäft. Ungeachtet der Tatsache, dass die Weltrettung angesichts einer eindrücklichen wissenschaftlichen Beweisfülle heute dringlicher wäre als jemals zuvor in der Geschichte – was ja, das soll nicht verschwiegen werden, noch jeder Apokalyptiker für seine Zeit behauptet hat, wenn auch auf geringerem empirischen Erkenntnisgrund als heute – bleibt eine gemeinsame Rettungsanstrengung aus. Auch die apokalyptische Rede, bislang unverzichtbar in unserem rhetorischen Repertoire, hilft da nicht viel weiter. Sie bleibt ein zahnloser Tiger, weil die Apokalypse gewissermaßen habituell geworden ist: In unserer Wahrnehmung des täglichen Weltgeschehens, in den Warnungen informierter Zeitgenossen und schließlich als Weltzustand per se. Die Apokalypse ist Alltag, die Katastrophe eine säkularisierte Erscheinung und die alltägliche Gewöhnung macht aus dieser mit der Utopie wahlverwandten, einst scharfen und oft zweischneidigen Waffe von Visionären und Utopisten ein doppelt stumpfes Schwert. Zweischneidig deshalb, weil die Siege der einst mit messianischem Pathos vorgebrachten Menschheitsträume, wie Enzensberger in seinen „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“ (1985) treffend zu bedenken gibt, von ihren Niederlagen mitunter schwer zu unterscheiden sind, was jedes sich der Apokalypse bedienende messianische Pathos heute zu Recht in gewisser Weise suspekt macht. Doppelt stumpf, weil neben der Apokalypse damit eben auch die Erlösung versprechenden Menschenträume systematisch verdächtig geworden sind. Das ist die Ironie der Rettung der Welt in Zeiten ihres schlimmsten Zustands. Nun muss hier die Frage offen bleiben, ob die Welt gerettet werden will, überdies überhaupt gerettet werden sollte und erst recht, was man diesem normativen Antrieb gegebenenfalls an Spaß und Freiheit alles unterzuordnen hätte - wahrscheinlich sehr viel weniger als befürchtet. Es geht, um das ebenfalls gleich zu Beginn zu klären, auch gar nicht um die Welt schlechthin und das absolute menschliche Überleben auf ihr – die Welt wird es weiterhin geben und auch Menschen darauf. Heute geht es im Kern um die zukünftige Verfasstheit des Menschlichen angesichts einer möglicherweise dramatischen Schrumpfung zivilisatorischer Möglichkeitsräume, um die Wünschbarkeit einer im Sinne der Bewältigung dieses Schrumpfungsszenarios zukunftsfähigen Gesellschaft und schließlich der Frage danach, was man denn dazu tun kann, wenn man denn etwas tun will und welche Mittel und Wege für dieses Ziel die richtigen wären.

Um Zeit zu sparen werden hier nun weder die üblichen empirischen Schwergewichte aufgefahren, um einmal mehr detailliert nachzuweisen, wie schlimm alles steht, noch erneut der zahnlose Tiger der Apokalypse in den Ring geführt. Man lese dieses, wenn noch Apokalypsebedarf besteht, an anderer Stelle nach. Im Gegenteil umkreist die hier verfolgte Argumentation mit aller historisch begründeten Vorsicht die soziale Wirkungskraft der „hellen Seite der Macht“: der konkreten Utopie. Wo die lähmende Routine des Weltuntergangs nicht genügend inneren Schub erzeugt um vom Wissen zum Handeln zu kommen, vermag vielleicht die Vorstellung einer positiven Zukunft verlocken, den Weg von der Phantasie zur Änderung des individuellen Verhaltens und schließlich zur sozialen Bewegung zu beschreiten und politisch zu werden. Noch einmal gibt der kluge Enzensberger warnend zu bedenken, dass wir, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen. Tatsächlich? Muss das immer so sein? Haben wir es neben dem Versagen der Apokalypse auch mit der Krise der positiven Utopien zu tun? Sollte man es aufgeben, sich Zukunft und zukunftsbezogene Politik überhaupt auszumalen und also, wenn überhaupt, allein noch dem verantwortungsbewusstem und zugleich demütigem und respektvollem Pragmatismus einer Politik der kleinen Schritte das Wort reden? Weil wir die Gesetze der Geschichte nicht kennen, weil die gesellschaftliche Evolution kein Subjekt kennt und deshalb unvorhersehbar ist? Die Antwort ist, wie alles was die Weltrettung angeht, kompliziert, ist Ja und Nein. Ja, weil Warnungen dieser Art aus den Erfahrungen der Geschichte heraus sehr ernst zu nehmen sind. Ja, weil die Haltung des Pragmatismus immer der Weg der ersten Wahl sein kann, also einer Haltung des experimentellen Ausprobierens von Spielräumen, die uns die vorgefundene Welt bietet ohne diese Welt sofort ändern zu müssen und zu können – und eben eine Änderung in eben diesen kleinen Schritten suchend, sich vortastend voran zu treiben. Nein, weil die Tatsache, dass das Verfolgen von Menschheitsträumen einer zukünftig besseren Welt oft in einer letztendlich schlechteren Gegenwart mündete, nicht beweist, dass dieses immer der Fall sein muss. Nein schließlich auch, weil die gescheiterten Menschheitsträume der Vergangenheit immer auf eine Ausweitung von zivilisatorischen Möglichkeitsräumen – meist im Sinne von materiellem Wachstum - zielten, während es heute schlicht um die Bewältigung einer gigantischen Schrumpfungsleistung geht. Vorstellungen einer innerhalb dieses Referenzrahmens des Erwartbaren positiv zu nennenden Zukunft haben wohl per se ein ungleich geringeres messianisches Potential der Verblendung und Verirrung. Wir sind also gewarnt, aber wir sind auch gefordert, sehr schnell zu neuen Leitbildern für unsere Gesellschaft zu kommen, die – zum ersten Mal in der Geschichte – zeigen müssen, wie zukünftig Wohlstand, Zufriedenheit, ja Glück möglich sein können auf einem sehr viel geringerem Niveau der materiellen Bedürfnissicherung.

Den Grundgedanken dieses Sammelbandes aufgreifend fragt dieser Artikel also nach der Wirkungskraft von Leitbildern für die Gestaltung einer solchen umfassenden Transformation unserer modernen Kultur. Dazu wird es zunächst nötig sein, sowohl den für den beschriebenen Zusammenhang bislang wenig bestimmten Begriff der kulturellen Transformation knapp zu diskutieren (Abschnitt 2), als auch über die grundsätzliche wahrnehmungs- und handlungsleitende Funktion von zukunftsbezogenen Narrativen zu reflektieren und als Bedingung für das Gelingen kultureller Transformation kurz in einem politiktheoretischen Zusammenhang zu betrachten (Abschnitt 3). Den Abschluss bildet eine Reflexion über Anforderungen an zukunftsbezogene Erzählungen, die Kontexte ihres Entstehens, Methoden ihrer „Erzeugung“ in interdisziplinären und partizipativen Prozessen und Möglichkeiten ihrer Kommunikation (Abschnitt 4).

2. Transformation findet statt: Zur Konvergenz gegenwärtiger Krisendimensionen

Der Ausgangsgedanke ist, dass die Konvergenz gegenwärtiger Krisendimensionen, also das vielfältig verflochtene Zusammenwirken ökologischer, ökonomischer und sozialer Prozesse im globalen Maßstab einen bislang noch völlig ungesteuerten und in vielerlei Hinsicht noch nicht einmal vollständig begriffenen sozialen und kulturellen Transformationsprozess erzeugt, der sich in seinem Verlauf und seinen Auswirkungen auf eine einfache Formel bringen lässt: Immer mehr Menschen leben auf immer engerem Raum, verbrauchen immer mehr Energie und Rohstoffe und erzeugen dabei immer mehr Emissionen und Altlasten. Während durch die Überbeanspruchung der Quellen und Senken der ökologische Metabolismus der Erde in den Grenzbereich irreversibler Systemschädigungen eintritt, werden durch Urbanisierung, demographischen Wandel, Ressourcenkonflikte und die Entnivellierung sozialer Lagen durch gesellschaftliche Exklusionsprozesse, Armut, ungleiche Reichtumsverteilung und ungleiche Verteilung klimabedingter Lebensrisiken zunehmend auch die Grenzen der geopolitischen und kulturellen Tragfähigkeit der sozialen Systeme erreicht. Mit James H. Kunstler (2005) könnte man also zugespitzt sagen, dass wir in eine Art „langen Notfall“ hineingeraten sind, dessen Verlauf schlicht empirisch betrachtet in kurzer Zeit zum Ende der Welt wie wir sie kennen führen könnte. Oder noch anders formuliert: Wir befinden uns im Übergang von der Weltrisikogesellschaft zu der Weltüberlebensgesellschaft. Die (Welt)Risikogesellschaft ist nach dem Soziologen Ulrich Beck (2007) durch von dieser Gesellschaft selbst produzierte Risiken im globalen Maßstab definiert. In Überschreitung dieser Definition könnte man die Weltüberlebensgesellschaft nun durch den Akt der weiteren Zuspitzung der reflexiven Modernisierungsfolgen auf die Überlebensfrage der menschlichen Zivilisation schlechthin definieren. Dieser Übergang von der Weltrisikogesellschaft zur Weltüberlebensgesellschaft findet genau dort und dann statt, wo und wenn Risiken in konkrete Gefahren und Bedrohungslagen umschlagen, wie es gerade der Fall ist. Es stellt sich angesichts dieser Herausforderung also die Frage, warum wir nicht handeln. Warum wir nicht tun, was wir wissen? Eine Antwort könnte sein, dass die Weltüberlebensgesellschaft durch einen Widerspruch der in ihren Ausmaßen psychologisch schier überfordernden äußeren Handlungsnotwendigkeiten einerseits und der inneren Handlungsbereitschaft andererseits charakterisiert ist, angesichts dessen die Menschheit bockt wie Burians Esel, der sich in der Mitte zweier gleich großer und gleichweit voneinander entfernten Heuhaufen partout nicht für einen von beiden entscheiden kann und schließlich verhungert, so das treffende Bild des Journalisten Andreas Zielke (2009) mit Blick auf die Erderwärmung. Wie ein Esel steht die Weltgemeinschaft vor dem Dilemma der Wahl zwischen zwei vermeintlich gleichermaßen unattraktiven Alternativen: Dem freiwilligen Verzicht auf das gewohnte oder – im Falle der Gesellschaften nachholender Modernisierung – erhoffte Wohlstandskonzept einer materiellen Wachstumsgesellschaft oder dem Absturz auf ein ökologisches und soziales Entropieniveau, das aus zivilisatorischer und menschlicher Sicht möglicherweise kaum mehr lebenswert sein könnte.

Angesicht dieser Sachlage spannt sich der Zukunftshorizont der Weltüberlebensgesellschaft zwischen den beiden idealtypischen Polen einer kulturpessimistischen Adaptionshaltung, also einer Anpassung an das nicht mehr Vermeidbare einerseits und einem kulturoptimistischen Machbarkeits-Apriori andererseits auf. Dieses geht davon aus, dass ein tief greifender und zügiger Systemwechsel hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaftsform machbar ist und dass es gelingen kann, jede weitere politische, ökonomische, technologische und kulturelle Entwicklung ab sofort an diesem obersten Ziel auszurichten. Wichtige Teilziele wären, in kurzer Zeit neue Technologien zu entwickeln und einzusetzen, aber zu begreifen, dass Technologie nur sinnvoll ist im Rahmen integraler und weltzentrischer Lebensstile, neue Formen des Wirtschaftens im stabilen Gleichgewicht jenseits der kapitalistischen Wachstumsökonomie zu finden, neue regionalisierte Formen des Wohnens, der Mobilität, der Energieversorgung, der landwirtschaftlichen Produktion und Ernährung zu entwickeln, Lebensqualität und Lebenszufriedenheit anders als allein durch materiellen Wohlstand zu definieren und schließlich die unwirklichen Maßstäbe der fossilen Epoche wieder auf ein menschliches Maß zu verkleinern, sinnvoll und friedlich zu schrumpfen und letztlich in einer Kultur der Dauerhaftigkeit, der Solidarität und Achtsamkeit zu münden. Eine solche umfassende kulturelle Transformation ist zu schaffen, so die Annahme. Sie basiert auf der kulturoptimistischen Annahme von Lernfähigkeit, der Möglichkeit konzertierten Handelns, der rechtzeitigen Verfügbarkeit technologischer Lösungen und neuer sozialer Konzepte und eben der Voraussetzung, dass die entscheidenden „Schalterpunkte“ irreversibler ökosystemischer und kultureller Veränderungen eben noch nicht hinter uns liegen.

Kulturelle Transformation wäre in diesem Sinne in erster Annäherung bestimmbar als der Versuch, ungewünschte und ungesteuerte Entwicklungen und Zustände durch weit reichende Veränderungen im tiefenstrukturellen Setting moderner Gesellschaften dauerhaft in erwünschte Entwicklungen und Zustände umzulenken. Der Kraft unserer Vorstellungen von Zukunft kommt bei diesem Anliegen möglicherweise eine besondere Bedeutung zu. Wenn Zukunftsvorstellungen als wichtige Elemente im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit verstanden werden, wie in Engführung mit der von Uerz (2006) in seiner fulminanten Arbeit über die Sozial- und Wirkungsgeschichte des zukunftsbezogenen Denkens ausgeführten Leitthese auch hier angenommen wird, so hat dieses entscheidende Auswirkungen auch für die Gestaltbarkeit der Gegenwart.

3. Transformation denkbar machen: Zur handlungsleitenden Funktion von zukunftsbezogenen Narrativen

Der Mensch ist wahrscheinlich das einzige Wesen, das in der Lage ist, zukunftsorientiert zu denken und gedanklich im Modus des Futur II - ich werde getan haben und gewesen sein - zu operieren. „Durch seine auf die Ferne gerichteten Organe und seine Fähigkeit zu verzögerten Reaktionen lebt der Einzelne in der Zukunft und kann sein Leben im Hinblick auf diese Zukunft planen“ (Mead 1968: S. 138, zit. nach Uerz, a.a.O.). Diese Fähigkeit zur Antizipation ist folgenreich in jeder Hinsicht. Sie macht die menschliche Spezies so erfolgreich und in vielerlei Hinsicht überlegen und sie ist dort, wo sie ihre Grenzen hat, strukturell problematisch. Denn natürlich kann Zukunft nicht mit letzter Sicherheit gewusst werden, weil sie nicht vorherbestimmt ist. Insofern ist das Zukünftige ein steter Stachel des Unvorhersehbaren, des Riskanten, der Sorge und deswegen in letzter Instanz eine individual- wie sozialpsychologisch verunsichernde Größe. Daher rührt das die Geschichte des Menschen begleitende Bedürfnis nach Reduktion von Kontingenz angefangen beim Orakel von Delphi über den eschatologischen Offenbarungsglauben der großen Weltreligionen bis hin zu den Prognosen und Szenarien der modernen, heute oft kommerziellen Zukunftsforschung. Wir sind nicht frei nicht zu handeln und weil wir wissen, das vieles von dem was zukünftig sein wird von Entscheidungen abhängt, die wir jetzt zu treffen haben, wollen wir Zukunft so gut wie möglich wissen, um Risiken minimieren zu können oder uns schlicht und einfach nur sicher oder auserwählt fühlen zu können. An diesem Dispositiv des Zukünftigen ändert auch die Tatsache nichts, dass in der heutigen Gesellschaft viel mehr als je zuvor von Entscheidungen abhängt, „die schon getroffen worden sind und nicht mehr revidiert werden können“, so Niklas Luhmann (Hagen 2009). Eine strukturell ähnliche Funktion haben die zukunftsbezogenen Erzählungen. Sie stiften Sinn als Leitbilder, als Visionen und schließlich auch dort, wo sie über den Umweg der Apokalypse - Unheil und Heil, Angst und Hoffnung miteinander verschränkend - auf die wahlverwandte Utopie verweisen, denn „ohne Katastrophe kein Millenium, ohne Apokalypse kein Paradies“ (Enzensberger: a.a.O.). Im narrativen Ping-Pong von Dystopie und Utopie spiegelt sich das fortwährende historische Wechselspiel zwischen dem Bewusstsein einer als unbefriedigend erlebten Realität und dem immer wieder neu inspirierten Willen zu ihrer Überwindung und Verbesserung. „Indem sie die Wahrnehmung und Deutung von Gegenwart mitstrukturieren, Handlungsplanungen beeinflussen und Handlungsimpulse setzen sowie sinnstiftend und gemeinschaftsbildend wirken können“, sind zukunftsbezogene Narrationen also nicht nur Produkte, sondern auch Faktoren im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit und können als Modus der gesellschaftlichen Selbstlenkung oder Selbststeuerung verstanden werden (Uerz: .a.a.O.). Zukunftsnarrative haben dabei eine leitbildhafte Orientierungsfunktion indem sich Akteure in ihren Wahrnehmungen und Kommunikationen auf einen gemeinsamen Horizont beziehen (Dierkes et al 1992). Sie finden sich zusammen, um im Schatten der Utopie gemeinsam an der Produktion oder der Abwendung einer projizierten Zukunft zu arbeiten. Welche Zukunft dabei vorhergesagt wird und welcher Vorstellung von Zukunft dabei nachgehangen wird, hat dabei entscheidende Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Deutung von Gegenwart, insofern diese von ihrem erwarteten weiteren Verlauf her beurteilt wird. So wie psychologisch betrachtet erwartete Zustände einen signifikanten Einfluss nicht nur auf das subjektive Erleben der Gegenwart haben, sondern über physiologische Prozesse tatsächlich auch im Sinne sich selbst erfüllender Vorannahmen wirken, wie von der psychosomatischen Medizin an den unterschiedlichsten Wirkmechanismen eindrucksvoll nachgewiesen (bspw. Placebo, Resilienzforschung, Angststörungen), könnte dieser Mechanismus in gewisser Weise auch für Kollektive gelten. These ist hier, dass die konkrete Vorstellbarkeit positiv-konstruktiver Leitbilder und Visionen – insbesondere im Hinblick auf das eigene individuelle Alltagsleben – ein ungleich größeres Mobilisierungspotential sowohl für individuelle Handlungsbereitschaft als auch die allgemeine Akzeptanzsteigerung von stark wirksamen politischen Maßnahmen – etwa zum Klimaschutz – zur Folge hat, als der heute in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschende Krisendiskurs. Der umwelt-, energie- und klimapolitische Diskurs in Deutschland ist heute gespalten. Während mehr als 50% der deutschen Bevölkerung wegen anwachsender Umweltprobleme nicht oder nur wenig beunruhigt ist, ist ein zunehmender Teil in einer Art Negativtrance katastrophisch-dystopischer Angstszenarien gefangen. Politik und verantwortlich empfindende Bürger handeln heute überwiegend aus der „push-Perspektive“ einer möglichst zu vermeidenden Krise, nicht jedoch aus der „pull-Perspektive“ der Möglichkeit einer tatsächlich machbaren und wünschenswerten zukünftigen Lebenswirklichkeit heraus. Die nachhaltigkeitsorientierte Gesellschaftspolitik – hier verstanden als die Gesamtheit der umwelt-, ressourcen- und klimapolitischen Strategien und Aktivitäten von Politik, Unternehmen und Bürgern – steckt deswegen in einer Sackgasse. Einerseits erschafft die Wissenschaft ein immer genaueres und auch drastischeres Bild von den Mechanismen und Folgen der Wirk- und Problemzusammenhänge anthropogener Umweltzerstörungen und den eigentlich notwendigen strategischen und instrumentellen Antworten darauf, andererseits gelingt es trotz immer besseren Wissens nicht, eine den tatsächlichen Problemdimensionen angemessene Politikoption zu entwickeln und umzusetzen. Vor allem gelingt es nicht, der Bevölkerung ein kulturelles Grundgefühl der Verantwortlichkeit und der Machbarkeit zu vermitteln und neben der staatlichen Politik vor allem den einzelnen Bürger als verantwortlich handlungsfähigen Akteur und Marktteilnehmer zu profilieren. Dabei wäre dies aber in doppelter Hinsicht notwendig: Zum einen ist eine den heutigen Herausforderungen angemessene gesellschaftliche Reaktion nicht mehr ohne die fundamentale qualitative Veränderung privater Lebensstile denkbar. Zum anderen sind das Bewusstsein für die grundsätzliche Machbarkeit und die individuelle Bereitschaft zu einer sozialökologischen Transformation in einer demokratischen Gesellschaft zentrale Voraussetzung für die politische Legitimität starker und wirksamer Strategien staatlicher Transformationspolitik. Anders gesagt: Die Politik weiß heute in vielen Bereichen recht genau, wie sie zu handeln hätte, kann dieses aber nicht umsetzen bzw. nur unter Inkaufnahme des Risikos politischen Machtverlustes angesichts einer Wahlbevölkerung, die die Notwendigkeit einer Transformation entweder nicht einsieht oder aber bereits so tief in einer lähmenden kulturpessimistischen Negativtrance apokalytischer Zukunftsangst und Hoffnungslosigkeit gefangen ist, dass ihr der finale und wenn noch möglich maximal lustvolle Ritt auf dem Vulkan allemal attraktiver erscheint als substantielle Bemühungen und Lebensstiländerungen. Diese fatale Mischung aus grundsätzlicher Problemeinsicht, Ratlosigkeit, falschen Hoffnungen, totalen Problemnegationen, relativierenden Problemverschiebungen, der Beharrungskraft von Verhaltensroutinen und Wertorientierungen und schließlich schlichten privaten Egoismen bestimmt heute weite Teile des ökologiepolitischen Diskurses und schmälert damit die Handlungsfähigkeit von Politik im Hinblick auf Legitimität ihrer Maßnahmen und von Unternehmen im Hinblick auf Zahlungsbereitschaft für zukunftsfähige Produkte ganz enorm.

Dieser Problemaufriss mündet nun im Desiderat einer am Ideal der nachhaltigen Gesellschaft ausgerichteten Zukunftskommunikation, die die bisherige, rein problembezogene Risikokommunikation ersetzt und die es mit Erzählungen eines gelingenden Wandels schafft, einen „Möglichkeitssinn“ (Musil 1994) im Sinne eines übergreifenden Konsenses und einer gesellschaftsweiten Innovationsmentalität in Bezug auf eine zukunftsfähige kulturelle Transformation zu erzeugen. Viel mehr als die etablieren Politikoptionen brauchen wir heute also möglicherweise Impulse für die Macht unserer Phantasie, denn diese geht der Politik voraus. Die Schwierigkeiten eines geforderten Wandels beginnen fast immer an den Grenzen der Vorstellbarkeit. Sie beginnen bei der Notwendigkeit das Neue zu denken und sich aus seinen Gewohnheiten und Routinen zunächst mental zu befreien. Erst diesem Schritt werden dann später überhaupt veränderte Handlungsweisen folgen können. Bislang fehlen uns Bilder, positive Visionen und Geschichten einer anderen, gelingenden Kultur. Es fehlt das innere Bild eines neuen Kontinentes, zu dem wir uns hinwenden können, und es fehlt eine Landkarte des Hinwegs. So ein inneres Bild, wie es in den „Amerikafahrern des Kopfes“ (Burckhart 1997: S. 158ff) lebendig war, lange bevor sie tatsächlich aufbrachen, um in der neuen Welt ein besseres Leben zu finden. Erst diese uns anleitenden, Kräfte bündelnden und motivierenden Bilder und Erzählungen einer besseren Welt könnten helfen, den Möglichkeitssinn entstehen zu lassen, den wir brauchen um uns auf wirklich tiefe Veränderungen einzulassen und uns den einen Heuhaufen attraktiver erscheinen lassen als den anderen und dem bockenden Esel Menschheit also eine Entscheidung ermöglichen.

4. Transformation und narrative Zukunftskommunikation

Wie kommen wir nun zu Bildern einer gelingenden Transformation, welche Formate dieser Bilder sind heute angemessen wie können sie kommuniziert werden? Zukunftsbilder gelingender Transformation sollten (a) narrativ und emotional anschlussfähig, (b) hinreichend konkret und detailreich, (c) konstruktiv und positiv, dabei aber nicht unrealistisch sein. Der französische Narrationsforscher Christian Salmon (2010) sieht in den USA und in Europa Anzeichen für einen „narrativist turn“, einen Paradigmenwechsel vom Vernunftargument zum Erzählen. Vor dem Hintergrund, dass die Grenzen rationaler Argumentation nirgends deutlicher werden als an der Lücke zwischen Wissen und Tun im Bereich zukunftsfähigen Verhaltens, spricht einiges dafür, an diesem allgemeinen Paradigmenwechsel anzuschließen und auch in der Zukunftskommunikation auf die bislang vor allem kommerziell instrumentalisierte Technik des „Storytelling“ zu setzen. Beispielsweise macht es einen Unterschied, ob in abstrakten Szenariostudien zur zukünftigen Energieversorgung mit Zahlen, Tabellen und anderen abstrakten Größen argumentiert wird, dass es möglich sein könnte, Deutschland mehr oder weniger umfassend mit regenerativer Energie zu versorgen, oder ob versucht wird, mit Hilfe narrativer Szenarien zu beschreiben, was diese Form der Energieversorgung für das alltägliche Leben der Konsumenten ganz konkret bedeutet. Gleiches gilt für die Mobilität und den Tourismus, für die landwirtschaftliche Produktion oder unsere Ernährungskultur. Es ist eine Übersetzungsleistung in die Lebenswelt, die narrative Alltagsszenarien in dieser Weise erbringen können. Aus der Innovationsforschung ist bekannt, dass Nutzer ihre Hemmungen und Vorbehalte gegenüber einer neuen Technologie meist sehr schnell ablegen, wenn sie in direkten Kontakt mit den Artefakten treten. So ist es zum Beispiel empirisch sehr gut nachgewiesen, dass eine signifikante Akzeptanzsteigerung gegenüber dem Elektroauto eintritt, wenn Nutzer direkte Erfahrungen machen und erleben können, welche Unterschiede, aber auch welche Ähnlichkeiten gegenüber der ihnen bekannten Fahrzeugtechnik bestehen. Gleichwohl die bekannten Einschränkungen der Elektrofahrzeuge unverändert weiter bestehen, lernen die Nutzer, dass diese Einschränkungen für ihre Lebenspraxis und Mobilitätsqualität oft kaum nennenswerte Verluste mit sich bringen, die durch die Vorteile oft sogar gut überkompensiert werden oder sie lernen, mit der strukturellen Fremdheit der Technologie gegenüber ihren etablierten Nutzungsroutinen zu leben und verändern ihre Gewohnheiten und mentalen Muster sukzessive. Ursprünglich als Defizite empfundene Eigenschaften werden in diesem Prozess umgedeutet und irgendwann nicht mehr als defizitär wahrgenommen. Es ist die grundlegende Strategie des strategischen Nischenmanagements in der Technologiepolitik, auf diese Weise soziale Erfahrungsräume für innovative Technologien zu schaffen. Diese Erfahrungsräume sind nun nichts anderes als eine Art „Lebensweltlich-Machung“, wie sie auch konkrete Alltagsszenarien in Annäherung erzeugen können. Visionäre Alltagsszenarien sind in diesem Sinne virtuelle soziale Erfahrungsräume. Natürlich sind Alltagsszenarien einer zukunftsfähigen Energie- und Mobilitätskultur weniger greifbar als ein nutzbares Produkt, andererseits sind sie ungleich konkreter als abstrakte Szenarioaussagen oder politische Programmatiken. Die Lehre, die sich daraus ziehen lässt, ist, dass die Kunst beim Erzeugen solcher Alltagsszenarien darin liegt, eine hinreichende Anschlussfähigkeit an die tägliche Lebenspraxis der Adressaten mit detailreichen zukunftsweisenden Beschreibungen zu verknüpfen, dabei realistisch zu bleiben und eben nicht phantastisch zu argumentieren, als ob das Paradies auf Erden unmittelbar bevor stünde. Im Wechselspiel von Vision und Gegenwärtigkeit gilt es eine emotionale Vertrautheit mit dem Zukünftigen zu erzeugen, die Bereitschaft anzuregen, selbst in dieses Wechselspiel einzutreten, auszuprobieren, gedanklich durchzuspielen und schließlich in einen stetigen experimentellen Grundmodus subjektiver Zukunftsoffenheit einzutreten. Eine solche konkrete und detailreiche „Lebensweltlich-Machung“ gelingt paradoxerweise in den bekannten Dystopien von Orwells „1984 bis hin zu McCarthys „Die Strasse“ oft gut, während positiv-utopische Varianten literarischer oder cineastischer Erzählungen einer gelingenden Transformation der fossil-industriekapitalistischen Kultur weitaus seltener sind. Eine große Ausnahme bildet bis heute der Roman „Ökotopia“ von Ernest Callenbach aus dem Jahr 1975, welcher trotz offenkundiger literarisch-ästhetischer Schwächen eine überaus starke leitbildhafte Funktion für die amerikanische und besonders die deutsche Umweltbewegung entwickeln konnte (Hermand 1991: S. 171). Dabei zeichnete sich dieser Roman insbesondere durch die detaillierten und sehr konkreten Beschreibungen des alltäglichen Lebens in einem fiktiven ökologischen Idealstaat an der amerikanischen Westküste aus. Mit Callenbachs Roman deutet sich ein Umschlag in der Geschichte der utopischen Literatur an. Er entwirft nicht mehr eine als Warnung zu verstehende Anti-Utopie, sondern schildert eine Welt, die als Spiegelbild innovativer Ideen betrachtet werden kann, als deren gemeinsamen Nenner man die umfassende gesellschaftliche Transformation verstehen kann. Nun ist die romanhafte, an klassischen Regeln der spannenden Darstellung und der Dramaturgie ausgerichtete Variante der Erzählung nicht die einzige Form der Zukunftsnarration, gleichwohl sie vielfältige Möglichkeiten bietet, Emotionalität, Konkretion, Detailreichtum und Reflexivität mit einem Spannungsbogen zu verbinden und in die Tradition des narrativen Grundrepertoires der Moderne immer wieder plausibel einzubinden. Ob Erzählungen, Kurzgeschichten, Drehbücher, Bühnenstücke und Inszenierungen, Comics, interaktive Computerspiele, Werbestrategien oder Internetkampagnen - insgesamt liegt hier noch ein offenes Feld des Experimentierens vor uns, neue Formen der konsistenten inhaltlichen Darstellung und Kommunikation von Alltagszenarien mit unterschiedlicher Anteilen und Mischungen von Aspekten wie zeitlicher Reichweite, thematischer Fokussierung oder gesellschaftstheoretischer Reflexivität für unterschiedliche Themenfelder und Zielgruppen zu entwickeln.

Ein ebenso offenes Experimentierfeld ist die Art der Erzeugung dieser Zukunftsnarrationen. Nach welchem Muster und mit welcher Technik können sie erzeugt werden und was sind die sozialen Kontexte ihrer Entstehung? An drei Beispielen wird im Folgenden illustriert wie im Labor für gesellschaftliche Transformation, einer Abteilung des Instituts für Transportation Design an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig diesbezüglich in verschiedenen Projekten zu sektoralen, regionalen und organisationalen Transformationsszenarien mit unterschiedlichen Formaten und inhaltliche Zuschnitten experimentiert wird.

(a) Ein sektorales Transformationsszenario am Beispiel der Energiekultur

Am Beispiel des Energiesektors sollen in diesem Fall neue Wege entwickelt und ausprobiert werden, bei breiten Teilen der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Möglichkeit einer tief greifenden gesellschaftlichen Transformation hin zu einer zukunftsfähigen Energiekultur zu schaffen. Mithilfe der Szenariotechnik werden dabei zunächst denkbare Entwicklungspfade einer regenerativen Energiekultur in Deutschland formuliert - wobei in interdisziplinären Teams von Sozial- und Geisteswissenschaftlern, Designern und Ingenieuren gearbeitet wird – und im nächsten Schritt zu Visionen und Alltagsszenarien weiterentwickelt. Im Unterschied zur üblichen Szenarioarbeit bilden Alltagsszenarien lebensweltliche Anschauungen davon, wie sich das tägliche Leben aus Perspektive des einzelnen Bürgers unter der Voraussetzung der Etablierung einer zukunftsfähigen Energiekultur gestalten könnte. So genannte Rohszenarien, also dichte Beschreibungen in Prosa und bildlichen Visualisierungen und erste Animationen sind das Ergebnis der Szenarioverdichtung durch Fachjournalisten, Schriftsteller, Designer und Künstler. In einem nächsten Schritt werden diese Rohszenarien dann in eine literarische Gesamterzählung umgesetzt. In dieser Rahmenerzählung wird eine attraktive Zukunftsvision entwickelt, das Bild einer Welt auf der Grundlage einer zukunftsfähigen Energiekultur. Verschiedene Ebenen und Erzählstränge thematisieren die unterschiedlichen Facetten dieser neuen Energiewelt, vernetzen die verschiedenen technologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Aspekte und Information miteinander und kleiden sie in ein dramaturgisch elegantes und fesselndes Gewand. Diese Aufgabe wird von einem versierten Autor übernommen, der angesichts der Komplexität der Aufgabe von einem zuarbeitenden, interdisziplinär zusammen gesetzten Autorenkollektiv begleitet wird. Schließlich wird diese Erzählung in ein Hörbuchformat und begleitende Visualisierung im Rahmen einer interaktiven DVD. Entwicklung einer Marketingstrategie umgesetzt.

(b) Ein regionales Transformationsszenario am Beispiel der Region Südostniedersachsen

Auch das Theater, so der Ausgangsgedanke dieses Projektes, ist ein ausgezeichnetes Medium der Produktion und Narration von Leitbildern einer anderen, gleichwohl gelingenden Zukunft. Da der Schauplatz von Veränderungen immer die konkrete Lebenswelt von Menschen ist, steht in diesem Projekt eine bestimmte Region, in diesem Fall der Großraum Südostniedersachsen, im Mittelpunkt. Diese Region ist – beispielhaft für jede Region – Ort der Problementstehung und Problembehandlung gleichermaßen. Hier werden die ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme der Gegenwart mit verursacht, hier werden sie in der Lebenswirklichkeit manifest und hier ist der Ort ihrer politischen, sozialen und kulturellen Bewältigung. Leitfragen sind, wie sich die abstrakte Realität von Klimawandel und Ressourcenverknappung, ökonomischen und demographischen Strukturwandel, Migration und Integration anderer Kulturen im Alltag der Region niederschlagen wird, welche Bilder dieser „Zukünfte“ ihrer gelingenden Bewältigung Dramatiker zeichnen, die in der Region beheimatet sind und schließlich wie diese „Zukünfte“ inszeniert, sozusagen „lebensweltlich gemacht“ werden können.

(c) Ein organisationales Transformationsszenario am Beispiel eines Automobilunternehmens im Jahr 2050

In einem dritten Projekt geht es darum, die Denkbarkeit der Transformation einer konkreten Organisation durchzuspielen. Angewendet werden wiederum die bereits beschriebenen Szenariomethoden, mit denen das gesellschaftliche Umfeld und der wahrscheinliche Zukunftsraum der Mobilität insgesamt erfasst werden. Im Anschluss daran wird eine mögliche Strategie des Unternehmens beschrieben, mit den erwartbaren Veränderungen im Zukunftsraum der Mobilität umzugehen und in organisationsspezifischen Change Management Prozessen umzusetzen. Basis der Szenarioarbeit sind wissenschaftliche Expertisen von Mobilitätsexperten, konkrete Designinnovationsprozesse zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und Produkte und Beratungsleistungen von Experten für die Entwicklung von Organisationen. Die literarische Umsetzung des Transformationsszenarios erfolgt in einem fiktiven Businessplan, Geschäftsjahresberichten und einer fiktiven Jubiläumsrede des beschriebenen Konzerns im Jahr 2050. Die Organisationsszenarien sollen als Bildungsmaterialien für die interne Management-Weiterbildung des Unternehmens eingesetzt werden.

Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung dieser Projekte werden einige bereits nach dem jetzigen Erfahrungsstand vorsichtig verallgemeinerbare Gemeinsamkeiten deutlich: Narrative Zukunftsszenarien sollten in interdisziplinären Team erarbeitet werden. Die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Kreativen erfordert von allen Seiten Disziplin, Kommunikationsbereitschaft und Offenheit, wird aber auch durch ein hohes Maß an Innovationsstärke belohnt. Schließlich ergeben sich auch Hinweise darauf, dass in Zukunft die „weichen“ Geistes- Sozial- und Kulturwissenschaften im Konzert mit den kreativ-gestalterischen Disziplinen ein besonderes Potential zur Beförderung sozialer Innovation und damit ein ungleich größeres „Weltrettungspotential“ entwickeln könnten als die „harten“, oft reduktionistischen natur- und ingenieurswissenschaftlichen Disziplinen, die mit ihren gängigen Modellen einer eindimensional technologischen Innovation die lange etablierten und systemisch hochgradig verwobenen technologischen, ökonomischen und kulturellen Pfadabhängigkeiten kaum überwinden können.

Kulturelle Transformation ist heute schon lange keine Frage mehr der technischen Machbarkeit allein – so wie sie in den Wissenschaften und Politik oft genug noch diskutiert wird –, als vielmehr des Zusammenwirkens von veränderten Leitbildern, gesellschaftlicher Innovationsfähigkeit sowie der Akzeptanz individueller Nutzer. „Gerade deshalb werden jene Menschen, die noch nicht der herrschenden Egozentrik verfallen sind, weiterhin grüne Utopien brauchen. Solche Werke sind in mancherlei Hinsicht die einzige Chance die uns bleibt. Weder ein zynischer Realismus noch ein wohlmeinender Reformismus kann uns vor der Gefahr der Irreversibilität retten. Was uns fehlt, sind detaillierte und zugleich Hoffnung stiftende Szenarien einer Welt, in der wir überleben können. Halten wir uns daher lieber an die grüne Maxime: Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen“ (Hermand 1991: S. 202).


Literatur

  • Beck, Ulrich (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main.
  • Burckhart, Martin (1997): Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt am Main, New York.
  • Dierkes, M., Hoffman, U., Marz, L. (1992): Leitbild und Technik. Zur Entstehung und Steuerung technischer Innovationen. Berlin.
  • Enzensberger, Hans Magnus (1985): Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang. In: Politische Brosamen. S. 225ff. Frankfurt am Main.
  • Hagen, W. (2009): Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Berlin.
  • Hermand, J. (1991): Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewusstseins. Frankfurt am Main.
  • Kunstler, James Howard (2005): The Long Emergency. New York.
  • Mead, G.H. (1968[1934]): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt am Main.
  • Musil, Robert (1994): Der Mann ohne Eigenschaften. 2 Bände. Reinbek bei Hamburg. Bd. 1: S. 16.
  • Salmon, C. (2010): Storytelling. Bewitching the Modern Mind. London, New York.
  • Uerz, G. (2006): Übermorgen. Zukunftsvorstellungen als Elemente der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. München.
  • Zielke, Andreas (2009): Schlimmer als Burians Esel. Klimapolitik: Radikaler Wandel für Wohlstandsbürger? In: Süddeutsche Zeitung vom 20.11.2009. S. 11.


Autor

    Prof. Dr. Stephan Rammler, geb. 1968, studierte Politikwissenschaften und Ökonomie. Promotion am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Seit 2002 Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, seit 2007 Gründungsdirektor des Instituts für Transportation Design - www.transportation-design.org. Arbeitsschwerpunkte sind die Mobilitäts- und Zukunftsforschung, Verkehrs-, Energie- und Innovationspolitik, Fragen kultureller Transformation und zukunftsfähiger Umwelt- und Gesellschaftspolitik. Seit 2009 ist er beauftragt, einen Forschungsschwerpunkt ”Kulturelle Transformationsprozesse” an der HBK Braunschweig aufzubauen.


Publikationen (Auswahl)

  • Rammler, Stephan (2010): Von der guten Form zur guten Gesellschaft -- Kritisches Design als Weltdesign?! In: Lerchen_feld, Magazin der HBK Hamburg, Nr. 05/2010, S. 19-24.
  • Schöller-Schwedes, Oliver/Rammler, Stephan (2008): Mobile Cities. Dynamiken weltweiter Stadt- und Verkehrsentwicklung. Münster. Monographie.
  • Rammler, S. (2001): Mobilität in der Moderne - Geschichte und Theorie der Verkehrssoziologie. Berlin.