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Dislokationen des Bildes – Bewegter Bildraum, haptisches Sehen und die Herstellung von Wirklichkeit


Autor: Tina Hedwig Kaiser
[erschienen in: IMAGE 11 (Ausgabe Januar 2010)]

Schlagwörter: Bildphilosophie, Filmtheorie, ästhetische Erfahrung, Aisthesis, Bild und Performativität, Sicht- und Unsichtbarkeit, peripatetisches Sehen, ästhetische Immersion, haptische Visualität

Disziplinen: Bild- und Filmwissenschaft, philosophische Ästhetik


Driving sequences in movies open up new modes of viewing beyond the traditional linear dramatical structure. In the niche of these images of the filmic ride one encounters a returning of the medium of cinema to its origins within a non-narrative experience of the image. They question our assumptions of space perception, image and haptic experience. In reflecting on these images, Walter Benjamins concept of ›aura‹ comes into play as well as debates about and concepts of seeing, visuality, aesthetic immersion and the picture as performative subject, as one can for example find in the works of theorists like Georges Didi-Huberman, Jean-Luc Nancy, Rudolf Arnheim and others.

Filme eröffnen in ihren Fahrtaufnahmen andere Sehweisen jenseits linearer Dramaturgien. In den Bild-Nischen der gefilmten Fahrt begegnet man einer Arbeit am Bild, die das Medium Film auf seinen Ursprung eines a-narrativen Bilderlebens zurückführt. Fragen nach der Raumwahrnehmung sowie nach Bild und Haptik werden hier neu aufgeworfen und verbinden sich mit Walter Benjamins Aura-Diskurs genauso wie mit bild- und filmwissenschaftlichen Debatten um Begriffe des Sehens und der Visualität, der ästhetischen Immersion sowie der Frage nach dem Bild als Akt bei Georges Didi-Huberman, Jean-Luc Nancy, Rudolf Arnheim und anderen.

[Titel]

1. Einleitung

»Und das, was wir bisher als Bild auf der Leinwandfläche zu sehen gewohnt waren schluckt' uns plötzlich in eine früher nie erblickte, hinter der Leinwand sich auftuende Ferne, oder es ›dringt‹ in uns mit einer zuvor nie so ausdrucksstark realisierbar gewesenen ›Heranfahrt‹.«(EISENSTEIN 1988: 201)

Die Fahrtaufnahmen des Kinos, als mehr oder weniger unbeachtete Erzählpausen des Bewegungsbildes, lassen sich als Varianten einer ästhetischen Wahrnehmung erkennen, die sich zuerst in den Stadtdiskursen Baudelaires, Benjamins und der Surrealisten geäußert hatten, und die insbesondere das Motiv des Vorübergleitens, des permanenten Bewegtseins, in der Masse und auf der Straße, praktizierten und beschrieben. In ihnen geht es um eine weitere Ausprägungen dieser Form der Wahrnehmung, die einstmals als Großstadtwahrnehmung des Flüchtigen in die Kulturdebatte Einzug hielt. Folglich sind dies Varianten einer kinetischen und mobilen Erfahrung, die das Kino auf seinen Ausgangspunkt der visuellen Bewegungsuntersuchung besinnen. Als einen Ausgang auch, der im Sehen dieses selbst und seine Körpergebundenheit spürbar werden lassen kann. Und die Fahrtaufnahmen nicht zuletzt auch als eine Variante ästhetischer Immersion erkennbar werden lässt (vgl. VOSS 2008).

Dies passiert insbesondere in Bildersequenzen, die sich den narrativen Funktionen des Erzählkinos entziehen und eine Art Nische innerhalb der filmischen Handlung schaffen. In Aufnahmen, die der Fortbewegung und insbesondere der Fahrt gewidmet sind, ist die Filmrezeption nicht allein eine optische, sie kann auch zu einer haptischen werden. Zum einen wird dabei »die Ästhetik der Immersion […] eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz« (BIEGER 2007: 9), zum anderen wird sie aber genauso ein Spiel mit der Erzeugung von Distanz.

Mit Hilfe des bewegten Offs im Film ergeben sich andere Schleußen des Sehens und der Aufmerksamkeit für den Betrachter. Wie es die Lücke als Schwarzbild oder als Zwischenraum für die Bewegung der einzelnen filmischen Bilder braucht, so braucht auch das bewegte Sehen verschiedene Fokussierungen und deren Leerstellen, um einen Raum – den Sehraum – zu konstruieren. Sehen war für Konrad Fiedler die Fähigkeit, dem Augeneindruck die räumliche Beschaffenheit der Natur abzulesen. Das Fiedlersche Fernbild wird bei Rudolf Arnheim zum bewegten Fernbild. In der Tiefenkonstruktion durch die Flächen hindurch wirkt bei Arnheim die Bewegung mit und erreicht eine Annäherung im Sinne eines nah wirkenden Raumbildes, das nicht mehr nur ferne Distanzfläche ist. Die Bewegung führt so den Raum in das flache Fernbild ein und erweitert es. Mit Riegl ließe sich sagen, dass sich hier optisch-fernsichtige und plastisch-nahsichtige Eigenschaften treffen. Der Gegenstand übernimmt dabei Formen eines Vorüberziehens oder Gleitens, die den Verweis auf die nächste Aufnahme, das nächste Bild bereits inhärent haben und zu zeitabhängigen Wechselwirkungen der Wahrnehmung von Figur und Grund führen.

Im Unterschied zu Gilles Deleuze, der einzig dem Kino des Zeitbildes offene und dergestalt noch mögliche, virtuelle Räume zuspricht, gibt es in den Fahrtaufnahmen die Möglichkeit, somit ein anders geöffnetes Bild zu sehen. Hier betritt man ein Paradoxon des Kinos, und eben auch des Genrekinos, das nicht allein sensationell wirken kann, sondern darüber hinaus in eine simultane Offenheit der formalen Bildarbeit und des Handlungsstrangs verweist: In seiner Intensität, in seiner Überbetonung der Bewegungsfolge zeigen sich Lücken des vermeintlich linearen Ablaufs und die Rezeption wird eine bildimmanente, die plötzlich auch abstrahiert wahrnehmen kann.

In dieser Nische der Wahrnehmung von Erzählkino, die leicht aller Zusammenhänge entrissen sowie vorsprachlich gesehen und empfunden werden kann, öffnet sich der Raum neu. Sein Bildfeld ist eines, das permanent entzogen wird. Der anwesende und abwesende Raum ist es, der hier Koexistenzen eingeht, und dies innerhalb und außerhalb des Bildfeldes. Die gefilmte Materie des Raumes wird als unabschließbar, kontinuierlich und unbegrenzt sichtbar. Das permanent anwesende Off fügt dem Bild eine neue Dauer und Potentialitäten hinzu.

Wenn Bernhard Waldenfels nun in seiner Phänomenologie der Aufmerksamkeit die Begriffe der Nahferne und der Fernnähe verhandelt (vgl. WALDENFELS 2004: 44 ff.), dann als jene, die eine zwischenmenschliche Situation, und dabei eine nahezu klassi¬sche der conditio humana, zu fassen vermögen. Sie beschreiben den Ein- und Ausschluss im Anderen als ein Vermögen und eine Situation der Schwelle. Wenn dies, als klassische Variante bekannter Sehnsuchtskonstruktionen und -konstellationen eines Textes, eine Übertragung in das bildliche und insbesondere filmische Geschehen, und dergestalt in seinen Sichtbarkeits- sowie Unsichtbarkeitsdiskurs, erhalten würde, wo ließen sich derartige Bilder ausmachen? Beziehungsweise wo ließen sich die Varianten einer Wahrnehmungskonstruktion des simultanen Nah- und Fernseins in Bildern verankern? Peripatetisches Sehen innerhalb filmischer Räume könnte hier ein Anknüpfungspunkt sein, sollte man bereit sein, sich auf folgende Bemerkung von Waldenfels näher einzulassen:

»Wenn es zutrifft, dass bildliche Momente auf irreduzible Weise all unsere Er-fahrungen durchdringen, so müssen sie bereits auf der Ebene der Wahrnehmung aufweisbar sein. Dies besagt nicht, dass wir Bilder wahrnehmen, wenn wir etwas wahrnehmen, wohl aber besagt es, dass wir immerzu ›in Bildern‹ oder ›durch Bilder hindurch‹ wahrnehmen, was wir wahrnehmen, und dies eben nicht nur dann, wenn die Bildfunktion ausgelagert und selbständigen Bildträgern anvertraut wird. Nehmen wir die perspektivische Brechung und Modulierung der Wahrneh¬mung, bei deren Entdeckung die bildenden Künste der Philosophie um einiges voraus waren. Hier stoßen wir auf Ansichten oder Aspekte, in denen etwas sich aus einem bestimmten Blickwinkel, im Zentrum oder an der Peripherie des Blickfeldes, in deutlichen oder verschwommenen Umrissen, aus der Nähe oder aus der Ferne darbietet. Nun gehören Seiten¬ansicht oder Nahperspektive ganz und gar der medialen Zwischensphäre an; denn sie lassen sich weder als dingliche Merkmale noch als mentale Zustände fassen, sondern nur als Zusammenspiel dessen, was erscheint, mit dem, dem etwas hier und jetzt erscheint. « (WALDENFELS 2004: 210)

Jean-Luc Nancy arbeitet dabei in seiner Evidenz des Films (2005) gegen eine vereinfachende Simulationskritik des Films ebenso an einer Verteidigung des Realismus des filmischen Bildes, ohne dabei jedoch auf eine Weltähnlichkeit des Bildes abzuheben. Es ist also kein in erster Linie indexikalischer oder ikonischer Weltbezug, von dem seine Theorie im Sinne einer Repräsentationsthematik handelt. Viel eher geht es um ein Definieren und Beweisen der Arbeit des Blickes mit dem Film – der Kamerablick als Herstellung und Eröffnung von Weltbezug. Das Bildergebnis im Sinne von Aufmerksamkeitsfragen wird dabei der Frage nach der Bildgenese gegenüber vorrangig behandelt. Kann letztere allerdings wichtige Einsichten für erstere liefern, was selbstverständlich der Fall ist, darf sie nicht außer acht gelassen werden. Doch genau jener Ausgangspunkt des Bildes als Spur des Realen kann nurmehr erste Stufe sein, die die Indexikalität und begehrende Bildwahrnehmung im Anfang bereits zueinander in Bezug setzt. Die Weltbezüglichkeit des Kinos ist nicht allein in einer schlichten Objekt-Bild-Beziehung gegeben. Die subjektive Seite des Blickes und die objektive Seite des Realen kommen anders als in der fotografischen Bildlichkeit zusammen. Diese kann letztlich nur einer der Ausgangspunkte sein:

»Nancys Realismus der ›Vision‹ begreift das Kino nämlich nicht als Medium einer Einschreibung von Welt, sondern als kommunikativen Verflüssiger ansonsten nicht (mit-) teilbarer Blicke auf die Welt, die sich im öffentlichen kinematographischen Erfahrungsraum einer komplexen Vermittlung öffnen.« (ROTHÖHLER 2006: 14)

Jede Einstellung erhält hier durch die nächste Verschiebungen und neue Sichtweisen innerhalb eines Raums. Durch die Distanz mithilfe der ästhetisch-medialen Welterschließung wohnt dabei dem Bild ein ganz eigenes Potenzial von Anerkennung und Aufmerksamkeit des Blicks inne. So wird die Rezeption eine aktive Erfahrung von Gegenwart, die in einer, wenn auch gebrochenen, Kontinuitätslinie zur Wirklichkeitserfahrung steht. Die Eröffnung von Welt enthält dabei immer auch zugleich die Unabschließbarkeit des Blicks auf sie. Die räumlichen Verschiebungen der bewegten Bilder werden dabei nicht nur Grundlage optischer Analysen, viel eher bedarf es hier genauso rezeptionsorientierter Untersuchungsmodelle. Der Diskurs der Bilder, ihre Einflüsse auf zeitgenössische Episteme, ihr performatives Potential dabei, und ihre psychogeographischen Wirkungen sind ausschlaggebend. Öffnung und Rah¬menüberwindung sind Tendenzen der aktuellen Bild- wie Raumproduktion, die sich daranmachen, starre zentralperspektivische Ausrichtungen gerade innerhalb eines monokularen Apparats zu überholen.

Die Arbeit an einer Stumpfheit der Bilder nach Roland Barthes findet sich ebenso in den filmischen Fahrtaufnahmen. In ihnen hört die Sprache als eindeutige Sinnschicht auf zu existieren und inmitten narrativer Strukturen blitzen plötzlich flüchtige Fragmente von Unzuordenbarkeit auf. Das Bild befindet sich hier in einem Jenseits offensichtlicher Sinnzusammenhänge. Es verweist inmitten von Lücke und Paradox der seriellen Struktur auf somatische Erfahrungsebenen. Es geht hier wie bei Godard um das Erhaschen flüchtiger Sinnschichten jenseits einer stabilen Rhetorik der Bilder. Eine willentliche Einfältigkeit, Sensationsstillung oder Verlangsamung der Bilder jenseits des Narrativen dient hier der Untersuchung von Wahrnehmungsmöglichkeiten mit Hilfe der Kamera.

Dieses Bild hat sein Mehr immer in der Bewegung, auch in jener seines flirrenden Stillstands, und wird schon lange nicht mehr als Abbild oder Kopie der Realität ver¬standen. Da die Wahrnehmung stark an die Aufmerksamkeit gebunden ist, unter¬schlägt sie in der Bildwahrnehmung oft das, was uns nicht interessiert oder im Sinne der Handlung nicht zu interessieren hat. Doch in besonderen Bild-Nischen werden wir von diesen effizienten Sehweisen abgelenkt. Unsere Aufmerksamkeit ist während ihrer Rezeption entweder überreizt oder sie stumpft ab. Derartigen Bildern, über die Fahrtaufnahmen hinaus, gilt es nachzugehen.

Denn genau hier kann dieses andere Sehen eines Außerhalb, eines Off, eines Darüberhinaus im Bild selbst vonstatten gehen. Sehen und Konzentration wird hier zur komplexen Angelegenheit. Im Nebensächlichen ergibt sich erst ein tatsächlich fließendes Moment. Hier diktiert keine Idee die Wahrnehmung, sondern vorreflexive Erfahrbarkeit rückt in den Fokus. Erst mit Hilfe der Lücken und Leerstellen zeichnen sich folglich neue Seh- bzw. Nichtsehöffnungen ab. Den Bildern ihre Fülle zurückgeben heißt also auch, ihnen ihr Nicht-Bildsein zurückgeben. Eine godardsche ›Errettung der Wirklichkeit‹ würde dementsprechend Kracauers Titel abändern zu einer ›Errettung des Lebens‹. Er versteht das Filmbild als Kampfansage an Regel¬mäßigkeit, eingefrorene Gesten und Klischees. Die Unregelmäßigkeit und nur die vermeintlich falsche Bewegung ist es, was zählt. Dergestalt wird der Film verstanden als ein »Labor des Lebens« (GODARD 1981: 127).

Benjamin hatte dies am Beispiel der Zerschlagung der Aura verdeutlicht. Bei ihm ist es der Schnitt und somit der Raum zwischen den einzelnen Einstellungen, der den Film ausmacht. Das Optisch-Unbewusste führte er als Zusatzkategorie ein: Es sollte etwas innerhalb des Bildrahmens sein. Die Kamera offenbarte hierin ein Bild der Welt, das dem bloßen Auge verborgen blieb. Es ist also eine dem Schnitt vorgelagerte Kategorie. Die Kamera selbst gerät somit in den Blickpunkt. Fahrt, Großaufnahme, Zeitraffer und Zeitlupe sind Beispiele dafür. Wichtig wird hier allerdings noch etwas anderes: Das Reproduzierte wird im Film auf eine ganz neue Weise aktualisiert. Es kommt dem Zuschauer entgegen. Und wird somit verfügbarer.

Dies schafft für Benjamin in Bezug auf eine Abbildung und dergestalt Neuschöpfung realer Eindrücke allein der Film. Er stellt Fragen nach der Organisation der Wahrnehmung innerhalb und mit seiner repräsentativen und materiellen Arbeit. Derartige formale Betrachtungsweisen, anknüpfend an die Wiener Schule um Riegl und Wickhoff, verbindet Benjamin nun mit einem Blick auf gesellschaftliche Veränderungen. Dass diese in den Entwicklungen der Wahrnehmung wurzeln, ist dabei wichtigster Ausgangspunkt. Der Verfall der Aura ist ein solcher. In diesem werden Dinge massenhaft nähergebracht und ihre Einmaligkeit dergestalt überwunden: ein Nachteil jedoch, der sich als Vorteil herausstellen kann. Wo Benjamin allerdings auf die Seite des Originals Einmaligkeit und Dauer rechnet, da kommt zur anderen Seite die Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit.

Zumal: Die Unnahbarkeit wird dabei reproduziert und seziert, dennoch erleidet sie nicht allein einen Abbruch, sondern viel eher eine Umwandlung. Ihre Faszination kann im Film auf andere Weise erhalten bleiben. Beziehungsweise in der Indexikalität des kinematographischen Bildes zwar gedoppelt in Erscheinung treten, aber dennoch gerade dadurch und schlicht massenhaft ihre Präsenz verteidigen und verdeutlichen. So werden letztlich nicht nur das Ding, die Erscheinungen der Welt und das Kunstwerk in der technischen Reproduzierbarkeit emanzipiert, sondern in ihren jeweils unterschiedlich zugedachten Aura-Begriffen neu definiert. Sie werden habhafter, populärer, begleitender und somit präsenter gerade in der Nicht-Präsenz. Der Benjaminsche Ausstellungswert tritt hier vor den Kultwert und drängt diesen zurück. Dadurch wird seine Rezeption qualitativ verändert. Die Kontemplation vor dem nah-fernen Einmaligen weicht der mehr oder weniger geschockten Zerstreuung vor der fernen, aber nahen Filmprojektion.

Für Benjamin begreift demnach nun die Kamera die Welt erweiterter als das bloße Auge. Er bezeichnet dieses erweiterte Sehen als eben jenes des Optisch-Unbewussten. Unterstützt wird dieses nun von der dem Film eigentümlichen Rezeption in der Zerstreuung. Assoziative Abläufe werden dabei verhindert, stattdessen kann ein permanenter Fixationskampf stattfinden. Die Schocks bedürfen einer gesteigerten Aufmerksamkeit. Doch gerade durch die Zerstreuung werden so neue Varianten der Apperzeption eröffnet. Taktile und optische Rezeptionsvorgänge kommen im Film an der Schnittstelle zwischen Aufmerksamkeit, Schock und aneignender Gewohnheit zusammen. Nicht nur Fixationssehen, sondern auch peripheres Sehen treten hervor und schaffen neue Räume.

Eine Überfülle an Abläufen und Bewegungen kann in diesen nun auftauchen. Immer dann, wenn etwas seine Übersicht und seine sequentielle Ordnung aufgibt, hier oftmals durch Geschwindigkeit, und dergestalt in »Unübersehbarkeitszustände« (SEEL 2003: 248) gerät. Die Krise der Sinne nimmt in diesen Filmformen mit der Steigerung der Desorientierung zu. Diese Bereiche nennt Martin Seel jene des Kino-Rauschens. Ein somatisches Sehen bricht sich hier Bahn und verdeutlicht eine Grenze der ästhetischen Wahrnehmung, die Seel nach Nietzsche als sinnlich-geistigen Taumel beschreibt.

Serge Daney (vgl. DANEY 1997: 617) unterscheidet dabei zwischen Bild und Visuellem: Das Bild unterhielte permanent eine Beziehung zum Anderen, während das Visuelle bloß der optischen Bestätigung von Machtvorgängen diene. So ist letzteres also eine Repräsentationsform mit Defiziten, die sich allein mit dem Abgebildeten zufrieden gibt und dergestalt die tatsächliche Differenz zwischen Bild und Sichtbarem leugnet.

Das Bild hingegen umgeht den totalisierenden Umgang mit Repräsentant und Repräsentat und verdeutlicht so, dass es nicht nur um sein Sichtbares geht, sondern dass auch das Nichtrepräsentierbare existiert. Im Bild wird hier also auch auf sein oder ein Anderswo verwiesen. In der Bewegung wird die Wahrnehmung mit ihrer eigenen Grenze konfrontiert, d.h., sie darf nicht mehr als unidirektionale Verbindungslinie zwischen einem Subjekt und einem Objekt gedacht werden, sondern sie ist in unzählige Richtungen geöffnet: Das ›nur auf die Bewegung blicken‹ entspräche einem Deterritorialisiertsein nach Deleuze und Guattari (vgl. DELEUZE; GUATTARI 1997: 382ff.).

Folglich der Blick auf ein variables und ungeformtes Sichtbares, das im Bild und im Außerhalb zugleich ist. Jedes Hier des Bildes denkt sein Anderswo dabei mit. Die zentrale Position wird dezentriert, denn jedes Anderswo weist nur auf ein weiteres Anderswo, setzt in der Bewegung der Serie des Heterogenen weitere Außerhalbs in Kraft. Folglich entstehen Dezentrierungsbewegungen, die das Bild mit seinem Sichtbaren und also mit seinem Unsichtbaren konfrontieren. Dislokationen und Schocks treten hier gleichsam auf. So funktioniert das Außen als unsichtbare Bedingung des Bildes und leitet nicht nur zur Differenz von Bild und Sichtbarem, sondern auch zur Differenz von Bild und Phantasma über.

Man denke noch einmal an Didi-Hubermans Bildsehen als Akt: als Bewusstwerdung einer einfachen puren Anwesenheit im Sinne einer Materiewahrnehmung und der Erfahrung des Einbrennens ihrer zugleich paradoxen und virtuellen Wirksamkeit. Das Lesen als Bedeutungssuche und Abstrahierungsleistung wird dabei vor einem Bild dem Schock als Spürbarwerden eines schlichten Daseins untergeordnet. Giorgio Agamben beschreibt in seinem unvordenklichen Bild den Gegenstand der ewigen Widerkehr inmitten der Frage nach der unmittelbaren Erfahrung eines Bildes (vgl. AGAMBEN 1990: 543). In Rekurrenz auf Nietzsches unauflöslichen Zusammenhang der erscheinenden Welt mit der Wirkung des Perspektivismus (AGAMBEN 1990: 547) versucht Agamben, das Scheinbare und das Erscheinende mit dem Perspektivismus Nietzsches zu denken:

»Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet. Jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d. h. seine ganz bestimmte Wirkung, seine Aktions-Art, seine Widerstandsart.« (AGAMBEN 1990: 547)

Jedes Zentrum birgt dabei seinen eigenen Perspektivismus und somit seinen eigenen Willen zur Macht, wollte es sich nicht lebensfeindlich gebärden. So geht es also um ein Werden, eine Fortentwicklung, einen permanenten Wandel im Leben und Erscheinenden selbst. Agamben will demzufolge auf das Paradoxon des Abbildes hinweisen, indem er die mögliche Fälschung im Sinne Nietzsches als etwas eigentlich unfälschbares versteht: »Es gibt kein Sein, dessen Abbild dem Werden aufgeprägt werden muss: das Sein entspringt der Prägung.« (AGAMBEN 1990: 548.) Das Abbild ist also schon immer bereits ein vorausgehendes. Eines, das dem, wovon es Abbild ist, genauso vorausgeht wie jenem, dem es sich einschreibt. Dies geht nur, wenn ein solches nicht auf etwas verweist, sondern wenn es schlicht im eigenen Selbstbezug existiert. Schellings Idee des Unvordenklichen bringt die hierin befindlichen Potenzen einer solchen Selbstaffizierung auf den Punkt: Passivität und Aktivität treten in einen Austausch zwischen potentia activa und potentia passiva. Als Bild, das nicht abbildet, kann es stärkstes Bild sein, genauso wie eine wiederkehrende, unerinnerte Erinnerung. Wo hier das Bild sich in seiner Wiederkehr selbst auslöscht, da macht es sich umso stärker. Seine Anwesenheitsleistung ist somit wie bei Didi-Huberman eine unfassbare paradoxe Wirksamkeit, die kaum zu greifen ist.

In den Fahrtaufnahmen fällt die Bildrezeption aus der eindeutigen Organisation und Übersichtlichkeit von Figur und Grund heraus und bringt Nah- und Fernsicht in neuen Austausch. Die multiplen Blickpunkte des Vorübergleitens erscheinen dabei in ihrer Nähe und Distanz zugleich. Ein simultanes Sehen von Schärfe und Unschärfe wird möglich.

Gerade in seinen Brüchen, Ausschnitten und Verwischungen konstituiert so das Kino Welt, und dies eben, weil es den unzentrierten Betrachter zulässt – inmitten einer Benjaminschen Zerstreuung. Dieses Nah- und Fern-Sehen zugleich, dass einmal die Fläche und einmal den Raum erkennen lässt, geht überraschenderweise mit Adolf von Hildebrands Beobachtungen konform. Nach Karl Clausberg fällt Hildebrands »ideales Fernbild, das als Kunstwerk dann auch wieder Nahbetrachtung erlaubte, […] erklärtermaßen mit der monokularen Kamerasicht in stehenden und bewegten Bildern zusammen.« (CLAUSBERG 1998: 70) Da wir den von Fiedler im Fernbild vermissten temporalen Prozess des Nahbildes im Film erhalten, geschieht hier eine besondere Annäherung von Nah- und Fernwahrnehmung in medialen Räumen. Das plastische Empfinden kommt hier mit der Distanzwahrnehmung zusammen, behält jedoch seinen Charakter der perspektivischen Durchgangssicht ebenso.

Wenn also in der Bildgeschichte nach Martin Jay eine Unterdrückung der Körperlichkeit zugunsten der Sehregime von der Renaissance bis in die Moderne stattgefunden hat (JAY 1994), könnte es dann gerade in den fühlbaren Raumbildern des Bewegungsbildes sein, dass die scopic regimes sich mit ihren eigenen monokularen Mitteln selbst überlisten? Und dies gerade zugunsten einer Rückerinnerung bzw. Rückkoppelung an den Körper, der sieht? Wo die Kamera noch für Béla Balázs das Auge mit in das Bild nahm, nähme hier der Körper die Augen gerade durch das Bild wieder zu sich selbst zurück. Wenn dies so ist, dann tritt in der Simultaneität des fernen Nah-Sehens und nahen Fern-Sehens der filmischen Fahrtaufnahmen eine Form von haptischem Sehen auf, die ästhetische Immersion und ihre bewusste Perzeption in Verbindung treten lässt und den narrativen Film auf seine eigentliche Bildarbeit hin neu öffnet


Literatur

  • AGAMBEN, GIORGIO: Das unvordenkliche Bild. In: BOHN, VOLKER (Hrsg.): Bildlichkeit. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990
  • BARTHES, ROLAND: Die Helle Kammer. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1989
  • BENJAMIN, WALTER: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1977
  • BIEGER, LAURA: Ästhetik der Immersion. Bielefeld [Transcript] 2008
  • BÖHM, GOTTFRIED (u. a.) (Hrsg.): Auge und Hand – Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext. München [Fink] 1997
  • CLAUSBERG, KARL: Dalís Narziß-Metamorphose. Paranoisches Spaltbild, Psychoanalyse-Illustration und Echo von Hirnasymmetrien?, S. 51-84. In: Bayreuther, Herbert u.a. (Hg.): Wahrnehmung Blick Perspektive. Münster [LIT] 1998
  • CRARY, JONATHAN: Aufmerksamkeit: Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2002
  • DANEY, SERGE: Vor und nach dem Bild. In: DAVID, CATHERINE (u. a.) (Hrsg.): politics/poetics. Das Buch zur documenta X. Ostfildern-Ruit [Hatje / Cantz] 1997
  • DELEUZE, GILLES: Das Zeitbild – Kino 2. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1999
  • DELEUZE, GILLES: Das Bewegungsbild – Kino 1. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1998
  • DELEUZE, GILLES; GUATTARI, FELIX: Tausend Plateaus. Berlin [Merve] 1997
  • DIDI-HUBERMAN, GEORGES: Vor einem Bild. München [Hanser] 2000
  • EISENSTEIN, SERGEJ: Über den Raumfilm. In: EISENSTEIN, SERGEJ: Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film. Leipzig [Reclam] 1988
  • GODARD, JEAN-LUC: Liebe Arbeit Kino. Rette sich wer kann (Das Leben). Berlin [Merve] 1981
  • HÖLTGEN, STEFAN: Ästhetische Immersion und Filmtheorie, ein kurzer Abriss. In: http://www.filmforen.de/lofiversion/index.php/t14140.html (abgerufen am 17.04.2009)
  • JAY, MARTIN: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought. Berkeley [Berkeley University Press] 1994
  • KRACAUER, SIEGFRIED: Theorie des Films – Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1985
  • MARKS, LAURA: The Skin of the Film. Durham NC [Duke University Press] 2000
  • NANCY, JEAN-LUC: Evidenz des Films. Abbas Kiarostami. Berlin [Brinkmann & Bose] 2005
  • RIEGL, ALOIS: Gesammelte Aufsätze. Wien [WUV-Universitätsverlag] 1996
  • ROTHÖHLER, SIMON: Alterität des Blicks. In: kolik.film 5, 2006, S. 13-17
  • SEEL, MARTIN: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2003
  • SOBCHACK, VIVIAN: The Address of the Eye – A Phenomenology of Film Experience. Princeton [Princeton University Press] 1992
  • VOSS, CHRISTIANE: Fiktionale Immersion zwischen Ästhetik und Anästhesierung. In: SACHS-HOMBACH, KLAUS; SCHIRRA, JÖRG; SCHWAN, STEPHAN; WULFF, JÜRGEN (Hrsg.): IMAGE, Ausgabe 8, Köln [Halem] 2008
  • WALDENFELS, BERNHARD: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2004
  • WIESING, LAMBERT: Phänomene im Bild. München [Fink] 2000