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Sternenkind. Vom Transformatorischen, Nützlichen, dem Fötus und dem blauen Planeten.


Autor: Rolf Nohr
[erschienen in: Bild und Transformation - IMAGE 12 (Ausgabe Juli 2010)]

Schlagwörter: Fötus, Satellitenbild, Diskurstheorie

Disziplinen: Medienwissenschaft, Kulturwissenschaft


Die Frage nach dem transformatorischen Potential der Bilder wird am Beispiel des Bildes vom blauen Planeten und den Föten-Bilder Lennard Nilssons und der Pränataldiagnostik nachgegangen. In einer diskurstheoretischen und ideologiekritischen Lesweise von sogenannten ›nützlichen Bildern‹ wird nach einem Bedeutungsüberschuss gesucht, an dem sich ein solcher (eigentlich unmöglicher) transformatorischer Moment festmachen lassen könnte.

The question of the transformative potential of images will be investigated by the example of the image of the blue earth, the fetal images by Lennard Nilsson, and pictures of the prenatal diagnosis. In an interpretation of so-called 'useful images’ driven by the methods of critical discourse theory and ideology critique the focus is placed to search for a ‘meaning surplus’ – which is a possible point to fix such an (actually impossible) transformational moment.

Der Ausgangspunkt dieses Hefts ist die Frage, welchen Stellenwert das technische Bild in einer positiven transformatorischen Entwicklung einnehmen kann. Die provokante Frage des Herausgebers ist es zudem, dass keine Bildtypen und Themengruppen für die Darstellung einer positiven kulturellen Transformation existieren. Außerdem geht er davon aus, dass zudem so gut wie keine Bildherstellungsmethoden zu identifizieren sind, die Zukunft angemessen (in Bezug auf kulturelle Transformationen) vermitteln könnten. Es geht dem Herausgeber also hier – kurz gesagt – um die Frage, ob ein Bild operationalisiert werden kann, ob es performant sein kann. Vermag ein Bild eine individuelle oder intersubjektive Wahrnehmung zu ändern, kann es eine Sensibilisierung für alternative kulturelle Wertesysteme evozieren?

Die Frage ist in ihrer Totalität und Generalisierung eher falsch gestellt. Niemand würde sie zunächst in ähnlicher Form an den Text stellen. Und wenn doch, so wäre sicherlich bald ein Konsens erreicht, dass es einen ausufernden Kanon von Schriften gibt, die eine positive kulturelle Transformation skizzieren, die Zukunft angemessen vermitteln. Von der politischen Philosophie und Utopie bis hin zu Science Fiction und Fantastik würde sich ein augenscheinlicher Korpus von Schriften aufzählen lassen, denen man ein solches Potential unterstellt. Ähnlich wäre die Frage nach der Operabilität und Performanz zu beantworten: Natürlich sind Texte in der Lage operationalisiert zu werden, Text und Schrift können performant sein.

Unterscheidet das Bild sich so radikal vom Text? Kann man ihm so einfach den komplexen Status des Textes absprechen? Natürlich hat die Bildwissenschaft viele der großen Problemfelder rund um das Bild und seine Inkommensurabilität mit dem Text aufgezeigt. Bilder sind nicht in der Lage mit einer komplexen Grammatik zu sprechen, Bilder beherrschen die Negation nicht, Bilder laborieren beständig im Rahmen einer ihnen zugesprochenen, aber krisenhaften Referenzialität. Zudem sind Bilder in einer visuellen Kultur inflationär, ihre massenhafte Zirkulation macht sie beliebig, austauschbar, die pure Quantität ihrer Vervielfältigung und Zirkulation lässt sie kaum mehr als distinkte Objekte hervortreten, sondern nur noch als Cluster.

Entscheidend scheint mir jedoch vor allem, dass Bilder wie auch Texte Teile von Diskursen sind. Entscheidend scheint mir ebenso, dass Transformationen nicht von einzelnen Texten oder Bildern, von distinkten und singulären symbolischen Formen ausgelöst werden, sondern zumeist durch diskursive und dispositive Dynamiken. Es mag eine schöne Metapher sein, dass ein Schmetterlingsflügel einen Orkan entfesseln kann – Bäumen werden aber nicht durch Schmetterlinge entwurzelt, sondern durch Stürme. Veränderungen, egal welcher Natur, sind in einer symbolisch-kommunikativen Gemeinschaft immer das Ergebnis von miteinander verschalteten und interagierenden, mäandrierenden Äußerungssystemen. Unter einer solchen Prämisse können wir dann ›nur‹ fragen, wie Bilder an (positiven) transformatorischen Prozessen beteiligt sind, wie sich gegebenenfalls bestimmte spezifische Aushandlungen an ihnen entzünden. Eine andere (grundsätzliche und hier nicht behandelbare) Frage ist es, wie solche Prozesse generell in Gang gesetzt werden, wie sich eigentlich eine positive Transformation definiert oder wer Transformation von Stasis definitorisch zu trennen vermag.

Zudem muss wohl deutlich sein, dass – egal wie wir uns hier konzeptionell entscheiden – nicht das Bild selbst Subjekte und/oder Gesellschaften transformiert, sondern die Bedeutung des Bildes; also die in einen visuellen Code eingetragene Sinnstruktur. Da Bilder aber nun keineswegs eindeutig decodierbare ›Bedeutungscontainer‹ sind, sondern ihre Bedeutung schlicht Aushandlungssache ist, müsste sich die Frage nach der Transformativität an das aushandelnde Subjekt beziehungsweise an seine intersubjektive Aushandlungsgemeinschaft richten. Zu guter Letzt wird deutlich, dass wir wohl eher danach fragenmüssten, wie Subjekte Bedeutungen so aushandeln, dass sie zu positiven gesellschaftlichen Transformationen führen.

Was aber im Rahmen eines solchen Denkens sicher richtig ist, ist nach Bildern zu suchen, die mit einer ›irgendwie‹ erhöhten Aushandlungsdynamik, -potentialität oder -fülle aufwarten. Zudem scheint es Bilder zu geben, die aus der beschleunigten und beliebigen Masse von Bildern hervorstechen. Im Folgenden sollen zwei dieser Bilder (oder besser: Bildmotive) diskutiert werden. Allerdings weniger unter einer Prämisse, inwieweit sie ›starke‹ Bilder sind oder ›ikonografischen‹ Charakter haben. Vielmehr interessiert hier die Frage, wie sie durch den Gebrauch, ihre Platzierung in einer aktuellen visuellen Kultur ihre Bedeutungsentfaltung organisieren, wie sie zu nützlichen Bildern werden. Beiden Bilderreihen ist jedoch eins gemeinsam: ein vorgeblich (mehr oder weniger) klar datierbarer Moment, an dem sie in das Bildgedächtnis unserer Kultur eintreten. Es soll im Folgenden um das Foto der im Weltall schwebenden Erde gehen, wie es erst die Raumfahrt möglich gemacht hat sowie um den in seinem Uterus schwebenden Fötus, wie er mit Lennart Nilssons spektakulären Fotos der Serie Ein Kind entsteht in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit trat. Und es soll nicht zuletzt auch um die Ähnlichkeiten dieser beiden Figuren miteinander gehen.



Abb. 1 - Kapselrückkehr, 20.7.1969“ (Bildquelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d6/Apollo_11_lunar_module.jpg, abgerufen 8.10.2010)



Abb. 2 - „Cover des LIFE-Magazine vom 30. April 1965: »Unprecedented photographic feat in color. Drama of Life before Birth. Living 18-week-old fetus shown inside its amniotic sac – placenta is seen at right«“ (Bildquelle: http://images.google.com/hosted/life


Das transzendente Sacrum

Diese beiden Bilder können als signifikante Stillstellungen im Diskurs gelten, die ganz offensichtlich eine ›Leuchtturmfunktion‹ in der ›Bilderflut‹ haben. Beide scheinen bestimmte Bedeutungsformationen zu beschwören. Um diese strukturelle wie inhaltliche Ähnlichkeit geht es auch Barbara Duden, wenn sie scheibt:

”Das zum Idol gewordenen Emblem [des Fötus] hat eine Stellung im gegenwärtigen Erleben, daß es nur mit einem anderen Bild, nämlich dem ›blauen Planeten‹ teilt. Wie die Satellitenaufnahme der Erde für ›das Leben überhaupt‹ steht, so steht der Fötus für ›ein Leben‹: wie die ›blaue Erde‹ für die Biosphäre steht und für den Fortbestand des globalen Systems, so steht der Fötus für den Fortbestand von Lebensprozessen. Im Zeichen dieser beiden Bilder wurde ›Überleben‹ zu einem Schlüsselwort: Individuelle, gesellschaftliche, ja globale Krisen müssen um jeden Preis ›überlebt‹ werden. An die mißverstandenen Konkretheit des schutzbedürftigen Fötus wird stillschweigend die universell-normative Bestimmung zum ›Überleben‹ angebunden”. (Duden 1994, S. 142)

In der Lesweise Dudens werden die Bilder zu zwei aufgeladenen und bedeutungsmächtigen ›Ikonen‹, beide aktuell wirksam und historisch verankert und variabel und funktionalisierbar. Sie sind dass, was im Folgenden als ›nützliche Bilder‹ charakterisiert werden soll. Neben vielen anderen Gemeinsamkeiten teilen diese beiden Bilder auch (und vor allem) ihre Abstammung aus einem wissenschaftlichen Bilderkanon. Ebenso verbindet sie die Tatsache, dass sie nicht ›einzigartig‹ oder ›original‹ sind, sondern vielmehr als Cluster, Linien oder Multiples innerhalb unserer Kultur vorhanden sind – in einer Art immerwährender Zirkulation und Oszillation. Beide Bilder stellen aber auch mehr dar als ›nur‹ Visualisierungen, die aus einem spezialisierten Wissenschaftsumfeld in eine populäre Medienzirkulation überführt wurden. Sie haben sich von ihrer spezialisierten Herstellung befreit, waren bereits im Moment ihrer Herstellung keine rein genuinen Spezialistentechniken. Es sind grundsätzliche Stillstellungen der Wahrnehmung und des Wissens um die Welt. In ihnen schwingt ein kollektives Wissen um das Kleine und das Große mit, die Herausforderung an das Subjekt sich mit seiner Herkunft auseinander zu setzen und Grenzen zu überwinden; sich selbst und den Raum, zu befragen. Kurz gesagt: beide Bilder sind schon existent bevor sie noch ›fotografiert‹ werden, beide Bilder sind im Moment ihres Entstehens schon keine reinen Wissenschaftsbilder mehr.

Das Bild des blauen Planeten – die leuchtend blaue Erdkugel vor der Schwärze des Universums – stammt unmittelbar aus dem Projekt der Raumfahrt her, ist verknüpft mit dem Projekt der Mondlandung ebenso wie mit den ersten Satelliten, ist aber als Vision schon den frühsten Utopien und Science Fiction-Phantasien eingeschrieben. Das Emblem des Fötus, sei es als Fotografie oder Ultraschallbild, weist auf seinen Ursprung in der Pränataldiagnostik und der Endoskopie; darüber hinaus kann diese Bilderlinie rückverfolgt werden bis in das Renaissanceprojekt der Körpererkundung, in die anatomischen Bilder eines Vesalius oder Da Vincis.

Und wie im Zitat Dudens schon angedeutet, befreit oder dekontextualisiert dieser Bilderkanon sich in seiner Aneignung im populären Feld radikal von seiner Abstammung – und dies nicht nur in Form des Fötus und des blauen Planeten. Ob wir von vornehmlich ›virtuellen‹ Erscheinungsformen ausgehen wie dem Apfelmännchen, fraktaler Geometrie, künstlich belebter Körper und Welten oder von länger tradierten Formen wie Bildern von Evolution und (Sozial-) Darwinismus, der Leiter der Doppelhelix, um ein Tausendfaches vergrößerte Fliegenaugen, Landkarten oder Röntgenbildern – diese Bilder eint ihre ursprüngliche Entstehung als epistemologische Werkzeuge, als wissenschaftliche, reduktive und ontologisierende Visualisierungen. Unter den nützlichen Bildern sind solche besonders wirkungsmächtig, die an (visuelle) Urmythen anknüpfen. Sie entfalten. ihre diskursive Wirkung weit über die metaphorische Ersetzung hinaus. Barbara Duden spricht in ihrer Analyse des Fötus-Bildes vom »transzendenten Sacrum« (Duden 1994); eine Umschreibung, die ohne Schwierigkeiten auch auf andere nützliche Bilder übertragen werden kann.

Wann immer aber die Rede und das Nachdenken auf solche ›Urmythen‹ kommen, wird zu fragen sein, welches der Ort ihrer Verhandlung ist. Lassen wir die Seite des Subjekts einmal außer Acht (also die nahe liegenden Formen der Jungschen Mythen, des Freudschen Unterbewussten und der Traumanalyse etc.), so werden wir uns zwangsläufig den (technischen) Medien zuzuwenden haben. Sie sind der Ort, an dem eine Gesellschaft diese Mythen und kollektiven Symboliken aushandelt und verwendet. Jede dieser Mythen (der blaue Planet, der Fötus) manifestiert sich zunächst im ›ersten‹ aller Medien: der Sprache. Ein Mythos oder ein ›transzendentens Sacrum‹ muss aussprechbar sein, um verstanden zu werden. Erst die Benennung des Dings und die Vereinbarung der Benennung zwischen den Subjekten machen es möglich, überhaupt an diesen Formen zu arbeiten, ihnen Bedeutung zuzuweisen oder abzurufen. Und in einer aktuellen und (nach-) modernen Kultur sind es die technischen Medien (also die Summe aller Kräfte, die an der technischen Reproduzierbarkeit der Welt und des Sprechens arbeiten), die die Verbreitung und Bearbeitung dieser Mythen organisieren. Dabei ist es wichtig, Medien nicht als durch singuläre und distinkte Äußerungen geprägt zu begreifen: die Stimme des Autors ist tot. Das Medium äußert sich – entdifferenziert – als ›Ganzes‹; das Medium ist ein Sprechen und Artikulieren und Zeigen als inhomogene aber geschlossene Form jenseits von technischen Differenzierungen (Fernsehen vs. Kino), Formaten (Nachrichten vs. Serien) oder unterschiedlichen kulturellen Adressierungen (Hoch- vs. Populärkultur). Nur wer Medien als ein kontinuierliches und umfassendes Artikulieren und Bearbeiten von kulturellen Bedeutungen versteht, kann nachvollziehen, wie sich innerhalb dieses Diskurses bestimmte Artikulationen ›quer‹ zu allen Differenzierungen und Wissensformationen stabilisieren können: wie die Mythen und Ikonen, die kollektiven Symboliken und Rhetoriken innerhalb einer Gesellschaft entstehen und wirken.

Blauer Planet

Um nun etwas präziser nach der Bedeutungsentfaltung und insbesondere den transformativen Einsätzen solcher Bilder zu fragen, müssen wir uns mit beiden etwas dezidierter und vor allem analytisch durchdringender auseinandersetzen. Beginnen wir mit dem Typus des blauen Planeten. Diese ›fotografischen‹ Ansichten des gesamten Erdballs vor der Schwärze des Weltraums beziehen sich maßgeblich auf die Satellitenfotografie, sie stammen somit aus einem technischen Bildgebungsverfahren , welches selbst in ein »großtechnisches System« (Joerges / Braun 1994) eingebettet ist: das der Raumfahrt. Solche technischen Sachsysteme haben zuallererst die Eigenschaft, das Materielle des Technischen immer zu überschreiten und somit zur Kulturtechnik zu werden. Was sie ›produzieren‹ ist nie nur ein technologisches Artefakt, sondern auch ein semiotischer Überschuss, der Kulturen temporär oder nachhaltig verändert. Im Falle des Satellitenbildes oder eines Fotos vom Mond aus auf die Erde (siehe. Abb. 1) wirkt dieser Überschuss zweifach: durch die Erhebung des sehenden Auges über die Begrenzung seiner Bodengebundenheit, die Peter Weibel (Weibel 1987) prägnant als »Entfesselung des Auges« (Ebd., 86f) bezeichnet hat (vgl. hierzu auch ausführlich Nohr) als auch über die Neuartigkeit des Bildes selbst, des bildgebenden Verfahrens, das diesen Aufstieg herstellt.

»Die Weltraumbilder haben einen neuartigen Status. Sie sind kein ›Bild‹ in dem älteren metaphorischen Sinn, wie es der Reichsapfel in der Hand des Herrschers war [...], auch kein Abbild, wie es, einem Spiegelbild vergleichbar, die Linsen in Teleskop, Mikroskop und Kamera zu erzeugen vermag, weder Bild noch Abbild, sondern - was ? Ein ›Puzzle‹ [...], ein ›Mosaik‹, komponiert, addiert und subtrahiert, errechnet und unserer Anschauungswelt nachträglich eingeformt: Synbilder« (Pörksen 1997: S. 45).

Was ist nun aber die Bedeutungsproduktion, die ein solches »Synbild« freisetzt?



Abb. 3 - „Blick auf die Erde, fotografiert während der Apollo13-Mission“ (Bildquelle: http://www.apolloarchive.com/apollo_gallery.html, Archivnummer AS13-60-8591)


Mit dem Schritt in den Weltraum und den ersten Schritten auf dem Mond hat der Mensch auch seinen eigenen Planeten in einen neuen Blick genommen. Der Mond erwies sich dabei zunächst im Vergleich zum neuen Blick auf die Erde als Enttäuschung (vgl. Sachs 1994: S. 306). In dem Moment, in dem die Menschheit in ihrer Geschichte den am weitesten ausgreifenden Schritt in den unbekannten Raum unternimmt, stellt sich ein merkwürdiges Innehalten ein. Dass der Blick zurück auf den Ausgangspunkt der Reise, die Erde, weitaus spannender und produktiver erscheint als der Blick nach vorne. Es setzt eine Sinnstiftung ein, die sich an diesen Blick und seine fotografische Umsetzung koppelt, die an der Umcodierung des Ausganspunkts arbeitet. Am ehesten lässt sich diese Sinnstiftung noch mit einem ›Blick auf das Ganze‹ zusammenfassen. Beim Anblick des ›verletzlich und klein‹ im dunklen Weltraum schwebenden Heimatplaneten, kulminiert ein Denkumschwung, der einerseits als Homogenisierung und andererseits als Imperativ der Bewahrung gelten kann: die Erde als Heimat ist eine verletzliche und fragile, ›schützenswerte‹ und homogene Entität. Diese Erkenntnis setzt sich auf mannigfache Weise um, sei es der (durch den NASA-Berater James Lovelock 1979 mit initiierte) Gaia-Gedanke (James Lovelock: GAIA - Die Erde ist ein Lebewesen, 1997), sei es der nachhaltige Umweltschutz oder globalisierend gedachte Kulturalismen (zu einer ausführlichen Analyse dieser Bedeutungsproduktion vgl. bspw. Adelmann).

Ein Foto aus dem Weltall ist immer aber nicht nur ein Blick zurück auf den Ausgangspunkt, er ist auch ein Selbstporträt: der Mensch ist inhärent vorhanden. Die »zeremonielle Verausgabung« (Sachs 1994: S. 312) des Wettlaufs in den Weltraum ist für ein solches Selbstporträt aber auch eine Anstrengung, die Distanz schafft. Der synoptische Blick des Satelliten und des Weltraumporträts der Erde rückt weit Entferntes zusammen, den Menschen selbst aber macht er unsichtbar. Dabei vollzieht der (militärische oder touristische Insgesamt und abstrakter steht die Satelliten- und Weltraumfotografie in einem Zusammenhang mit überwachenden, hegemonial-dominaten Blickpositionen, mit der Funktion von Überwachung und Kontrolle – wie uns auch aktuelle Diskussionen um GoogleMaps und GoogleEarth zeigen. Primär ist die Satellitenkarte oder das Luftbild eine Machtpraktik in dem Sinne, als sie eine Überwachungstechnologie ist, sie liefert repressiv funktionalisierbare Information über Körper und seine Position (vgl. Adelmann / Stauff 1997: S. 119f) Aufstieg des Auges eine Linie der Beobachtungsperspektive nach, die kulturgeschichtlich bereits vorentworfen ist. Der höchste Punkt im Raum ist der, der die beste Einsicht in die Landschaft garantiert (vgl. Lacoste 1990, S. 73ff) der die Verdeckung des Sichtbaren in der Tiefe aufhebt, dabei aber auch die subjektive dreidimensionale Landschaft zum objektiven, zweidimensionalen Raum der Kartographie reduziert. Das Satellitenauge ist allgegenwärtig und allwissend. Es ist a-perspektivisch, es überschreitet die Perspektive und das Panorama, synthetisiert Raum und Landschaft, es versammelt alle denkbaren Fluchtpunkte. Das Satellitenbild stützt eine systemische Wahrnehmung der Simultanität von weiträumigen Beziehungen: »Am Ende arbeitet das Bild vom blauen Planeten der vielschichtigen Realität des Menschen selbst entgegen, indem es ihn auf einen puren planetaren Biologismus verengt« (Wahlefeld 1999, S. 124).

Dem Blick auf den blauen Planeten wohnt nicht nur eine Interpellation inne, die einen beschützenden und bewahrenden Impuls setzt. Ein weiteres spezifisches Signum dieser Bilder ist ihre extrem distanzierte Beobachtungsposition. Die Realität der Bilder ist nicht durch die Teilhabe gewonnen, sondern durch die Entfernung: Es handelt sich auch um einen Modus der voyeuristischen und heimlichen Beobachtung. Durch diese blickmächtige Perspektivierung des Blickes auf die Erde stellt sich eine Ambivalenz zu den oben angedeuteten diskursiven Aufladungen der zerbrechlichen Entität ein. Durch die voyeuristische Perspektive schreibt sich eine Allmachtsphantasie der Omnipräsenz und der Beherrschbarkeit in diesen visuellen Diskurs ein. Die radikale Erhöhung über die Erde (und nicht zuletzt über das eigene Selbst) im immer weiter greifenden Distanzieren vom Objekt der Betrachtung ist eine technische, aber auch eine subjektive Transgression.

Dabei entkoppelt sich das Satellitenbild (in seiner Umzingelung der Erde als umgekehrte panoptische und panoramatische Anordnung) zunehmend und im Voranschreiten auch vom Sehen und vom Nachvollzug des menschlichen Auges. Der Blick wird arbiträr: Die technische Seite der Bildgewinnung verlässt die naturhaft anmutende Fotografie. Remote Sensing, Multispektral-Scanning und Infrarotabtastung werden zu optischen Anmutungen mit Bildähnlichkeit synthetisiert (die Pörksenschen »Synbilder«), die eher Messungen, Phantombilder, Collagen sind und letztlich in sich nur noch schwer auf einen ›Abdruck des Realen‹ rückführbar gemacht werden können.

Verstehen wir die Satellitenblicke und vor allem das Bild vom blauen Planeten als mythische Urbilder, so können wir die Möglichkeiten ihrer Bedeutungsproduktion, ihrer diskursiven Verankerung und ihrer Narrationen wie gesehen mannigfaltig darstellen und annehmen. Sie sprechen von der Entität der Erde und gleichsam von ihrem Objektstatus, sie modellieren eine dominante Position des voyeuristischen Betrachtens wie sie ebenso eine subjektschwache Position der panoptischen Beobachtung formulieren. Letztlich sprechen sie auch von technischen Machbarkeiten, Allmachtsphantasien und globalisierten Kulturen und Märkten: »Indem Satellitenbilder globale Perspektivierungen verfügbar machen, unterstützen sie die Diskurse der Globalisierung in den Bereichen der Politik, der Wirtschaft, des Umweltschutzes usw. Gleichzeitig naturalisieren Satellitenbilder Beobachtungsstandorte, mit denen das Objekt Erde und die Aktivitäten seiner Bewohner scheinbar visuell kontrollierbar werden« (Adelmann 1999, S. 76).

Am blauen Planeten sehen wir also bereits nach diesem kurzen und überblicksartigen Betrachten der anhängigen Bedeutungsproduktion, dass die transformative Kraft eines solchen Bildes durchaus gegeben zu sein scheint – sowohl im Sinne einer positiven Transformation (die Unifikationsfantasie, die an das Bild gekoppelt ist) als auch in einem eher kritischen Sinne (die panoptistische und voyeuristische Perspektive des Bildes und des es hervorbringenden technischen Systems). Ebenso ist uns klar, dass wir eine ähnlich ambivalente Lesweise auch für das Bild des Fötus annehmen können. Wir können also zunächst davon ausgehen, dass die Frage nach dem Transformatorischen auf alle Fälle positiv zu beantworten ist. Mittelbar durch die ideologische Funktion des Bildes, unmittelbar durch eine ihm innewohnende positiv konnotierbare Aussage. Das Bild des blauen Planeten (wie des Fötus) ist ein ›nützendes‹ wie ›benutzbares‹ Bild.

Nützlichkeit

Nützliche Bilder scheinen sich auf eine bestimmte Weise aus der Zirkulation populärer Bilder herauszuheben. Dennoch wäre es, meines Erachtens, falsch, anzunehmen, mit den nützlichen Bildern eine Bilderklasse definiert zu haben, die aufgrund einer (wie auch immer gearteten) deutlicheren Referenz oder einer innewohnenden Deutungsstruktur aus der Zirkulation ausbricht. Ich meine, dass eine solche verkürzte Analyse dem ambivalenten Status dieser Bilder nicht gerecht wird. Denn so sehr das Bild des blauen Planeten ikonisch und eindeutig zu sein scheint, so wird auch offenbar, dass sich dieses Bild einer normativen Funktionalisierung zu entziehen vermag. Wenn das Bild des blauen Planeten eindeutig als Symbol für global-ökologische Nachhaltigkeit oder für das Leben selbst einstehen würde, wie ließe sich diese Lesweise mit der vielfachen Profanisierung dieses Bildes in Werbung, Politik oder Medien vereinbaren? Ebenso wenig wie sich Waschmittel, Parteiprogramme oder corporate identities mit der christlichen Urikone des Gekreuzigten widerstandslos konnotieren lassen, gelingt dies mit dem Bild des blauen Planeten (oder eines Fötus): Zwar kann man mit ihnen Kreditkarten bewerben und Kaugummis verkaufen (Abb. 4 u. 5). Und dennoch scheint uns im Umkehrschluss der blaue Planet instinktiv bedeutungsmächtiger und eindeutiger als beispielsweise ein Landschaftsbild. Dass eine solche ›ambivalente Wirkung‹ an Bilder gekoppelt werden kann, ist sicherlich als Ergebnis einer kulturellen Praktik zu verstehen. Dennoch wäre es meines Erachtens zu kurz gegriffen, die nützlichen Bilder in einem Atemzug mit Werbung, Suggestivbildern oder Propaganda zu nennen; eine solche Analyse übersieht den speziellen Status einer Bilderform, die bei genauerer Betrachtung differenziertere und komplexere Bedeutungsproduktionen freisetzt als bisher gezeigt. Eine wesentliche Differenz ist die Rückbindung dieser Bilder in die Geschichte. Dies weniger im Sinne einer rekonstruierbaren ›ikonografischen Reihe‹, sondern im Sinne einer Einbindung dieser Bilder in eine diskursive Figur, die sich (dynamisch) in die Zeit erstreckt. Diese Einbindung ist dabei nicht nur eine Einbindung in eine diffuse Wissensgeschichte, sondern auch immer (wie schon am Bild des blauen Planeten gezeigt) in eine Geschichte der Produktion von Sichtbarkeit, der Medialität und der technischen Sachsysteme. Gerade aber diese komplexe, verschränkte und nur relativ schwer zu rekonstruierende Eingebundenheit macht aber sowohl den spezifischen Status als auch die performativ-transformatorische Kraft der nützlichen Bilder aus. Betrachten wir diese Ebene noch einmal ausführlicher am Bild des ›ungeborenen Lebens‹.



Abb. 4 - „Citibank-Werbung“ (o. A. ca. 1998, Bildquelle: eigener Screenshot)



Abb. 5 - „Hubba-Bubba-Kaugummireklame“ (2010, Gitam BBDO, Israel, Bildquelle: http://www.ibelieveinadv.com/2009/07/hubba-bubba-earth/; letzter Abruf 15.10.2010 )


Fötus

›Wissenschaftsimmanent‹ scheint das Fötenbild im Duktus des durchdringenden, apparativen (und nicht zuletzt auch patriarchalen) Blickes zu stehen. Im Kontext der modernen Medizin ist das Ultraschallbild des ungeborenen Lebens das Produkt eines biopolitischen und normalisierenden technologischen Systems der Sichtbarmachung. Eine Schwangerschaft ist aktuell ein Vorgang, der nicht als ein subjektiver Prozess begriffen werden kann, sondern ein Vorkommnis, dass die Schwangere unmittelbar in ein System des permanenten monitoring überführt. Der regelmäßige Besuch beim Frauenarzt führt – normiert und standardisiert – zu einer Evaluation von Daten, die an Grenzwerten, statistischen Normalverteilungskurven und quantifizierbaren Messgrößen abgeglichen wird. Die schwangere Frau wird einer permanenten Lesbarmachung unterworfen. Ihr Blut, ihre Körperdaten, ihre Erbmasse und ihr Alter, vor allem aber der in ihr wachsende Fötus unterliegt einer biopolitischen Kontrolle. Maßgeblichstes Moment eines solchen medizinisch-disziplinierenden Blicksystems ist das Ultraschallbild des Fötus. Nicht nur, dass dieses System der Diagnose eine Vorrichtung ist, den Körper der Schwangeren zur Sichtbarkeit zuzurichten, es ist auch ein Bildsystem, dass primär der Vermessung dient. Das Wachstum, die Lage und die Mobilität des Fötus werden hier in ein quantifizierbares Datum überführt und damit mit statistischen Normalverteilungen vergleichbargemacht. Ebenso ist das Ultraschallbild der Ausgangspunkt für ein Screening nach Anomalitäten. Die Anordnung des diagnostischen Moments ist zudem angetan, die Schwangere (und den traditionell ebenso anwesenden Vater) über ein System der apparativen Sichtbarkeit in ein System der Evidenzstiftung einzubeziehen. Sowohl die liegende Schwangere als auch der neben ihr sitzende Vater blicken auf einen Monitor, der in ›Echtzeit‹ ein Bild des Nachwuchses zeigt und es aus der unmittelbaren aber indirekten Wahrnehmung (Bewegungen, körperlicher Veränderungen, das diffuse ›In-sich-hören‹ der Schwangeren) in ein System objektiver Sichtbarkeit überführt. Der Fötus ist im Moment seiner visuellen Zurichtung nicht mehr eine unsichtbare aber anwesende imaginäre Größe, sondern ein sichtbares, vermessbares, quantifizierbares und in diagnostische Handlungen überführbares Datum. Der Schwangeren wird der Fötus ›vor Augen geführt‹. Die Kombination aus apparativ generierter Sichtbarkeit, Quantifizierung und Normalisierung führt zu einer Adaption der Schwangeren in ein System der (Selbst-) Kontrolle und Disziplinierung. Die ›unsichtbare‹ Effektivität dieses biopolitischen Verfahrens zeigt sich tendenziell an dem Wert, der den Ultraschallbildern der Föten in unserer Kultur zukommt. Oftmals dienen die frühsten Ultraschallbilder den Eltern bereits als ›Beweisbilder‹ und werden im Bekanntenkreis herumgezeigt.

Bei dieser Diffusion des diagnostisch-politischen Bildes aus der Praxis des Arztes in die gesellschaftliche Zirkulation können jedoch auch ›taktische‹ Gegenlesweisen ausgemacht werden. Die ideologische Position der Deutungsmacht des Arztes wird punktuell unterlaufen. Die Option der Schwangeren und der Eltern liegt in einer Umcodierung des Ultraschallbildes, indem das Bild auf die Ebene des Urlaubsvideos transzendiert, in dem das subjektorientierte Bild des ›eigenen‹ werdenden Lebens das rationale Bild der nichtinvasiven Diagnostik überlagert. Der spezifische Status des Urlaubsvideos ist nicht nur seine »anamnetische Erinnerungsfunktion« und seine mediale Selbstobjektivierung (vgl. Hoffmann 2002), sondern vor allem seine Aneignung von technologischen und diskursiven Technologien. Das Urlaubsvideo trachtet nach der Annäherung an gestalterische und erzählerische Positionen der Professionalität; transzendiert und hypertrophiert diese jedoch gleichzeitig. Ebenso verfahren die glücklichen Eltern mit dem ihnen übereigneten Ultaschallbild des diagnostischen Vorgangs. Durch eine exzessive Überinterpretation des Bildes entreißen sie es punktuell seinem ›Entstehungszusammenhang‹. Im Kontext der gynäkologischen Arztpraxis wird das so angeeignete Ultraschallbild auch zumeist despektierlich als »Kinderkino« tituliert.

Eine solche Gegenlesweise gegen den zurichtenden und disziplinierenden Blick des biopolitischen Apparatesystems muss sich aber nicht nur an der subjektiven Appropriation des Bildes entzünden. Sie kann auch in einer intersubjektiven und diskursiven Lesweise kollektiv zugänglicher Bilder kulminieren. Besonders die Arbeiten Barbara Dudens und Donna Haraways haben ausführlich gezeigt, wie kontextuelle Diskurse gerade die dominante Ideologie der Bildform des Fötus zu unterwandern in der Lage sind. Gleichzeitig muss aber auch deutlich betont werden, dass die Herstellung der Repräsentationsfigur Fötus selbst auch ein wesentlich diskurspolitischer Akt der Produktion dominanten, operativen und tendenziell hegemonialen Wissens ist. Carola A. Stabile (Stabile 1997) kann am Beispiel der Rekonstruktion des amerikanischen juristischen wie öffentlichen Diskurses um die Abtreibung zeigen, dass die Debatten um den Status des Fötus als Subjekt sich nicht nur an verändernden medizinischen Optionen, sondern auch an der Sichtbarmachung des Fötus entzündeten:

”Wie war es möglich, daß die Erhöhung der Lebenschancen des Fötus [ca. Mitte der sechziger Jahre - RFN] dessen politischer Karriere zugute kam? – Alle Resultate technischen Fortschritts, im medizinischen wie visuellen Bereich, standen zu dieser Zeit im Dienst reaktionärer Politik. Den höheren Überlebenschancen außerhalb des Mutterleibs korrespondierten visuelle Technologien, die das Bild eines autonomen Fötus konstituierten”. (dies. 129)

Das Bild des Fötus macht also nicht nur das transzendente Sacrum sichtbar, das ›ungeborene Leben‹, ein biopolitisch- diagnostisches Normalisierungsverfahren oder das subjektiv überhöhte Bild vom eigenen Nachwuchs – sondern ›entdeckt‹ auch eine juristische Person: den Fötus als Zeuge, Angeklagter und Verteidiger in einem lange anhaltenden Prozess von Roe vs. Wade bis zur aktuellen Debatte um moralisch-juristische Fragen von extrauteriner Gendiagnostik oder Stammzellenforschung.

Dabei kulminiert diese Debatte richtungsweisend an den Bildern Lennart Nilssons. Carola A. Stabile (Stabile 1997) kann pointiert die Wandelung der (von sich wandelnden öffentlichen Diskursen bestimmten) Lesweise der Nilsson-Fotos nachzeichnen. Gegen den diagnostischen und politischen Blick koppeln gerade an diese Bildern aber auch immer wieder Bedeutungsproduktionen mythischer oder ikonischer Kraft weit jenseits des rationalen oder hegemonialen Blickes an. Duden spricht davon, dass die Fötus-Bilder Lennart Nilssons nicht fotografiert (also mit Licht gezeichnet), sondern aus Licht hergestellt seien. Die technisch generierten Bilder, die sich der Naturähnlichkeit des Fotografischen bedienen, schöpften – so Duden – etwas Neues: eine »Photogonie« (Duden 1994, S. 29). Einen ähnlichen Ambivalenzstatus konstatiert Haraway :

”Wir befinden uns sowohl in einer Echokammer als auch in einem Spiegelkabinett, wo Mimesis in Wort und Bild zurückprallt und Subjekte wie Objekte entstehen läßt. Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, daß der biomedizinische, öffentliche Fötus – der durch die hochentwickelte Technologie der Visualisierung Fleisch geworden ist – eine sakral-säkulare Inkarnation ist; die materielle Verwirklichung der Verheißung des Lebens selbst. Hier vereinigen sich Kunst, Wissenschaft und Schöpfung”. (dies. 1998, S. 36)

Entscheidend für eine Diskussion der nützlichen Bilder ist aber, dass dem vorgeblichen ›Objektivitätsfetischismus‹ des nützlichen Bildes Fötus, der in einer aneignenden Rezeption gebrochen und taktisch gegengelesen werden kann, eine wissenschaftlich-subjektive Form des Sehen-als vorangeht. Gerade am Beispiel des Blickes auf den Fötus, des Blickes in den weiblichen Körper ließe sich eine Argumentation des kompensativen, patriarchalischen Sehens der Wissenschaft aufzeigen. Das Mysterium des weiblichen Körpers, das dem (männlichen) Forscher historisch lange Zeit verschlossen blieb, wird durch den apparativen Blick kompensiert. Auch das Ultaschallbild des Fötus und seine »sakral-säkulare« Genese stehen (ähnlich wie auch der blaue Planet) in einer genealogischen Vorgeschichte des Visuellen und des Epistemischen.



Abb. 6 - „Jacob Reuff: Geburtshilfe, um 1580“ (Bildquelle: Jacob Reuff: De Generatione Hominis (1580), French Laboratories Collection; hier entnommen aus: Robin, Harry (1992): Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergraphik. Basel: Birkhäuser, S.104)


Abbildung 6 zeigt eine Geburtsszene, die den eigentlichen Vorgang des Gebärens, des Leben-Gebens als einen immanent weiblichen Akt darstellt.. Die ausgeschlossene und in den Hintergrund platzierte Männlichkeit kompensiert ihre Ausgeschlossensein durch die (wissenschaftlich konnotierte) Handlung der Erstellung eines Horoskops, durch den Blick in den Himmel. So stellt das Bild eine deutliche ›Differenzierung‹ unterschiedlicher Blickregime als Koppelung von Sehen und Wissen aus. Der männliche Blick ist ein gebündelter Blick, der aus der Position eines (männlichen) Geheimwissens spricht, einem Wissen, dass sich aus einer gesellschaftlichen Differenzierung heraus bildet: der Priester, der Astronom oder der Schriftgelehrte sind Positionen innerhalb einer gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die gleichzeitig Effekte von Macht und Wissen aufrufen. Damit ist noch nichts über die eigentliche Funktionalität dieser Differenzierung gesagt: ist sie eine vertikale (im Sinne eines ›Klassenbegriffs‹) oder eine ›horizontale‹ im Sinne einer funktionalen Ausdifferenzierung? Gehen beide Stratifikationskräfte noch analog im Sinne einer ›interdiskursiven‹ Form, also einer Gemengelange unterschiedlichster Wissensstrategien, oder ist diese ›Aufteilung‹ von Wissen-Sehen-Macht-Zuschreibungen bereits der ›ausspezialisierten‹ Gesellschaft geschuldet?



Abb. 7 - „Giulio Casserius: Der menschliche Fötus, um 1601“ (Bildquelle: Adrian Spigelius: De Formatu Foetu (1626), Library of Congress, Washingon D.C.; hier entnommen aus: Robin, Harry (1992): Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergraphik. Basel: Birkhäuser, S.76)


In einem ähnlich gelagerten Bildprogramm (Abb.7) wendet sich dieser Blick von den Sternen auf den Fötus: das ›aufknospende‹ Leben wird – eingebettet in die ›Blume‹ des weiblichen Körpers – dargestellt. Zwar ist das Blickverbot aufgehoben, die Ausgeschlossenheitdes männlichen rational-zergliedernden- szientistisch Blickes aus dem lebensstiftenden weiblichen Prozess bleibt aber Thema der Darstellung: Die Topoi Frau, neues Leben und Natur gehen eine Symbiose ein, die auch der zerteilende Blick nicht zu kompensieren vermag, der im Gegenteil die Distanz zu vergrößern scheint. Und die sich in weitaus stärkerem Maße dem forschenden, kühlen und ›wissbegierigen‹ Blick des Betrachters darbietet.

Und diese kompensative Distanzierung scheint sich fortzuschreiben im Blick auf den Fötus. Zwar lösen sich die Nilsson-Fotos oder das Ultraschallbild aus dem weiblichen Körper heraus, separieren den Fötus aus dem mythischen Ort des lebensschaffenden fremden Körpers, sprechen aber gerade in dieser Separation eine deutliche Sprache. Die Dialektik zwischen Symbiose und Eigenständigkeit des Fötus lässt sich nicht aufbrechen, sondern eher thematisieren und in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. So ließe sich das Schlussbild (Abb. 9) von Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (GB 1968) als emblematische Überhöhung dieser Verstörung werten. Das Sternenkind als verheißungsvolles Bild einer Zukunft nach dem wissenschaftlichen Blick spiegelt sich – in orbitaler Position schwebend – als Projektion wider. Der Blick der Astrologen in den Himmel lenkt diese unumstößlich auf das, was sie anzublicken sich selbst verbieten.



Abb. 8 „Das Sternenkind“ (Bildquelle: Standbild aus Stanley Kubrick 2001: A Space Odyssey, GB 1965-68)


Bilddiskurse & Transformationen

Mit Kubricks Sternenkind schließt sich der Kreis vom Bildprogramm des blauen Planeten und des Fötus zurück zur Ausgangsfrage des Transformatorischen. Das Sternenkind ist im Rahmen der Erzählung der Space Odyssey zunächst ein ausgewiesenes Bild der Versöhnung, der Transformation (oder gar der christlichen Wiederauferstehung des Fleisches). Es ist aber vor allem im Sinne der hier angedeuteten punktuellen, taktischen und mehrschichtigen Aneignungsmöglichkeiten von nützlichen Bildern auch eine Utopie im ästhetischen, politischen und transformativen Sinn:

»Es ist durchaus legitim, das Sternenkind als ästhetizistische Ikone, als Bild einer Utopie zu lesen. Doch es ist eine Utopie des Augenblicks, nicht mehr. Kubrick weiß, daß die in der Spätromantik entworfene und im Symbolismus nochmals aufgenommene Utopie einer absoluten Kunst nur für den Augenblick (als idealisierte kürzestmögliche Zeitspanne) Gültigkeit beanspruchen konnte. Sie hat sich historisch als ein fragile Utopie erwiesen, und so erscheint sich auch in 2001: als ein Übergangsstadium. Und exakt diesen Status repräsentiert der Astralfötus: etwas das nur in statu nascendi den kurzfristigen Glauben an eine utopische Dimension für sich reklamieren darf, dessen Relevanz sich aber erst nach der Rückkehr des Sternenkinds zur Erde in Aussicht stellt, wo es den nächsten Evolutionsschritt vollziehen wird«. (Kirchmann 1993: 133)

Es kann also genau nicht darum gehen, den Kubrickschen »Astralfötus«, den blauen Planeten oder die Linie der Nilssonschen intra-uterinen Porträts auf einen eindeutigen, eindimensionalen und operativ festlegbaren (und nachweisbar Transformationen evozierenden) Sinngehalt festzulegen. Bilder sind diskursive Materialisierungen, sie tragen immer ein plurales und mäandrierendes Ensemble von Werten, Bedeutungen, Aussageformationen und different aushandelbaren subjektiven wie intersubjektiver Sinnkonstellationen in sich. Speziell die ›aufgeladenen‹ und herausstechenden nützlichen Bilder binden immer eine Vielzahl unterschiedlichster Diskurse in sich, die nicht nur sehr divergent sind, sondern zudem hochgradig historisch rückbindbar und tradiert. Die Charakteristika, die die nützlichen Bilder also aus dem Strom der ›vervielfachten‹ und ›inflationären‹ Bilder herausheben, sind gleichzeitig ihr interpretatorischer ›Nachteil‹: es ist ihr hoher Ambivalenzcharakter. Zudem sind diese nützlichen Bilder noch von den Dispositiven ihrer Genese geprägt: in unserem Beispiel durch die ›Herkunft‹ aus dem medizinisch-wissenschaftlichen Labor und dem Zusammenhang des Technisch-Medialen. Das (naturwissenschaftliche) Labor soll hier nur als vager Erklärungszusammenhang dienen – es soll nicht eine konkrete Praktik benennen, sondern eine Wissensformation des Rational-Scientizistischen, die sich variabel manifestiert und aufschreibt. Ebenso sehr wie die nützlichen Bilder aber durch diese spezifische Form der Sichtbarkeit imprägniert sind, so sind sie es auch durch ihren medial-technischen Charakter. Eine ›andere‹ Lesweise, eine Lesweise, die das utopische und transformatorische Moment sucht, muss diese Imprägnierungen und Naturalisierungen überwinden. Genauso sehr wie uns die Äußerungsformen von und in Medien ›natürlich‹ vorkommen, genauso ›natürlich‹ erscheint uns der spezifische Rationalismus der Labore und biopolitischen Zurichtungen. Es ist das Wesen der Diskurse und Dispositive, der Normen und intersubjektiven stabilen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft, dass sie uns als stabil, natürlich, unhinterfragbar erscheinen – dass sie Wahrheitsform annehmen, wiewohl sie gesetzt sind, historisch-transformativ-dynamisch herausgearbeitet und immer hochgradig variabel sind.

Interessant an diesem Geflecht an Imprägnierungen, die Bilder überzieh, scheint aber eben der Überschuss an Bedeutung bei den nützlichen Bildern, die wir in unseren Beispielen herausgearbeitet haben, die Option sie ›taktisch‹ zu lesen. Hier, an diesem Ort der punktuellen Übernahme, der Gegenlesweise, des Transzendeten wird das Bild vielleicht ›überschüssig‹. Hier kann der blaue Planet, der Fötus oder das Sternenkind für einen Moment, für ein Subjekt eine positive Utopie sein. Hier wird das nützliche Bild auch zu einem ›anderen Bild‹. Ist dieses Bild dann aber transformatorisch? Kann das Bild des blauen Planeten selbst ein Modus der Handlungsauslösung des Nachhaltigen sein? Kann der in der Geborgenheit seines Uterus schwebende Fötus unseren Begriff vom Menschen ändern? Vielleicht müssen wir die Frage anders wenden. Vielleicht muss die Frage lauten, was es eigentlich bedeutet, wenn ein Bild für einen Moment eine Ahnung des Utopischen aufscheinen lässt?

Das utopische Denken ist zwar ein Denken über die Zukunft – ein Blick in die Zukunft ist auch immer mit dem Versuch verbunden, das Heute verstehen zu wollen. Zwar verleiht nur die Zukunft unserem Handeln einen Sinn, gehandelt aber wird im Jetzt. Vorhersagen über das Morgen sind immer mit Handeln (oder dem Ausbleiben von Handeln) im Heute verknüpft. Über den Aspekt von ›Handeln/Nicht-Handeln‹ aber verändert sich auch das Wesen der Utopie selbst: »Die Utopie ist also eine ganz besondere Art der Vorhersage, die nur dann als solche bestehen kann, wenn man nicht versucht, sie in die Tat umzusetzen, denn dann gerät sie aufgrund ihres radikalen und universalen Charakters zur Ideologie« (Minois 1998: S. 756).

Bilder können also (mit Mühe) Utopien aufscheinen lassen. Transformation aber ist eine Sache von Ideologien. Ideologien sind veränderbar, und können positiv sein. Ideologien sind in den Diskursen und Dispositiven. Transformation liegt also in der Arbeit am Diskurs. Das Bild mag utopisch sein – Veränderung liegt aber in der Dynamisierung komplexer Sinnsysteme, die sich aus vielen symbolischen Artikulationen zusammensetzen, begründet.


Literatur

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Autor

    Rolf F. Nohr (Dr. phil.) ist Professor für Medienästhetik und Medienkultur an der HBK Braunschweig. Er ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Medienwissenschaften sowie Herausgeber der Reihe Medien Welten (Münster: Lit). Arbeitsschwerpunkte sind mediale Evidenzverfahren, Game Studies und instantane Bilder. Er leitet das Forschungsprojekt »Strategie Spielen«.


Publikation (Letzte Veröffentlichung als Mitherausgeber)