Buchanzeige
Bild und Wirklichkeit
[2002] [3770536444]

Autor: Vrhunc, Mirjana

Verlag: Fink

Disziplin: Philosophie

Schlagworte: bild

Beschreibung:
Denker der Vergangenheit zum geistigen Leben zu erwecken - dies ist eine der Aufgaben, der sich die Philosophie immer wieder zu widmen hat. Nicht immer allerdings gelingt eine philosophische Wiedergeburt, die diesen Namen verdient. Allzu oft verschleiert das vielzitierte Grau der Theorie die wiedererweckten und doch nicht wiederbelebten Gedanken.
Das Buch von Mirjana Vrhunc beweist höchst eindrucksvoll, daß es anders geht. Mit Henri Bergson ist eine literarische Doppelexistenz zu beschreiben. Da ist einmal der elegante Literaturnobelpreisträger und zum anderen der strenge Philosoph. Und da ist auch der halb vergessene Klassiker und zugleich der vielfach präsente Ideengeber. Obwohl fast nur in stereotyper Etikettierung als Lebensphilosoph namhaft gemacht, hat Bergson wie kaum ein anderer Denker nicht nur die Philosophie, sondern auch das geistige Klima des 20. Jahrhunderts insgesamt beeinflußt.
Die Themen Bergsons allerdings ordnen sich mit dem Schein der Unauffälligkeit dem tradierten Kanon ein: Freiheit und Bewußtsein, Versprachlichung und Anschauung, Wahrnehmung und Erinnerung bilden einen Kreis von Begriffen, die sich ihrerseits um den Bildbegriff als ihrem Zentrum gruppieren. Von diesem Kernbegriff des Bildes aus unternimmt es die Autorin, in einer radikalen Umorientierung die Philosophie Bergsons neu zu lesen. Ihr Blick auf den Bildbegriff ist nicht nur ein veränderter Blick. Es ist ein Blick, der allererst die Sicht freigibt auf einen Zusammenhang zwischen Bild und Wirklichkeit, der bisher in keiner Rezeption der Bergsonschen Philosophie hergestellt werden konnte.
Im Bild, das zwischen der Befestigung durch das Wort und dem verfließenden Ereignis des Selbst- und Welterlebens eine Verbindung knüpft - im Bild berühren sich die Welten des Beobachtens und Erlebens. Mit all der Mühseligkeit und auf all den Umwegen, die einer gedanklichen Ersterkundung eigentümlich sind und die eine Interpretation so schwierig machen, arbeitet sich Bergson in seinen Werken zu der Einsicht durch, daß die Grundzüge der menschlichen Existenz der reinen Beobachtung verschlossen bleiben. Sie erschließen sich nur dann, wenn wir sie als Momente unseres Lebens und Erlebens erfassen. Nur dann gewinnen Begriffe wie der der Freiheit, aber auch der des Bewußtseins, selbst der Wahrnehmung und der Erinnerung ihren vollen Sinn.
Dieser Blick von einer etablierten Begriffswelt zurück auf die Ereignisse des durchlebten Lebens behauptet, wie die Autorin in brillanten Analysen zeigen kann, keine neue Unmittelbarkeit, auch keinen Intutionismus, wie er Bergson so oft nachgesagt wird. Er öffnet vielmehr einen Weg zur Einbindung der begrifflichen Verallgemeinerungen in die Bildungsprozesse unseres Lebens, in die Geschichte unserer Individualisierung. Als Momente dieser Individualisierung werden die Begriffe für die menschlichen Gegebenheiten in eine kulturelle, historische und biographische Umgebung eingefügt und zugleich mit einer Art Verselbständigungsverbot belegt. Sie bleiben an die Bilder unseres Lebens und dessen Geschichte gebunden, wenn sie denn überhaupt etwas über uns und nicht über theoretisch erzeugte Kunstmenschen sagen sollen. Uns diesen Bergson vorgestellt und in die Kontexte der Philosophie des 20. Jahrhunderts eingerückt zu haben, ist ein Verdienst dieses Buches.

eingetragen von: Sylvia Meyer