Sinnlich – konkret: Eine kleine Topologie des S(ch)eins


Autor: Beatrice Nunold
[erschienen in: IMAGE 7 (Ausgabe Januar 2008)]

Schlagwörter: Sinnlich, konkret, Zeichenprozess, Konkrete Kunst, virtuelle Realität, Immer-sion, Topologie, Semiotik, Schein, Realität, Disembodiment, Quantenphysik, Information, Wirklichkeit, Max Bense, Verena Loewensberg, Josef Albers, Jason Martin,

Disziplinen: Philosophie, Kunstgeschichte


We have always been in the picture, involved in sign-processes. Picture or Sign are not thing categories, but rather topological categories. Picture or Signs are relational structures. A Topology of Being and Appearance means World as a structure of rela-tionship being part of physical-psychic-mental state in the world.
Only disembodied anything will be sensual concretely as a picture, a sign. Concret things are always been abstract. The disembodiment is not the problem but our being- and appearance-oblivion.
Max Bense early reveal re-emphasize the reality is appearance and the appearance is realty.


Wir sind immer schon im Bilde, d. h. in Zeichenprozesse verwickelt. Bild oder Zeichen sind keine Dingkategorien, sondern relationales Gefüge. Bilder oder Zeichen sind relationale Gefüge. Eine Topologie des S(ch)eins meint das Bezugs- und Verweisungsgefüge Welt in eins mit der physio psychisch mentalen Befindlichkeit in der Welt.
Nur entkörperlicht wird etwas sinnlich-konkret, zum Bild, zum Zeichen. Das Konkrete ist immer schon abstrakt. Das Problem ist nicht das »Disembodiment«, sondern unsere S(ch)einvergessenheit.
Max Bense schon sehr früh deutlich, dass die Realität der Schein und der Schein die Realität.

Wir leben einmal in Relationen, und bedürfen nichts weiter.

(Johann Friedrich Herbart 1829: 415)


Seit uns die Namen in die Dinge wiegen,

wir Zeichen geben, uns ein Zeichen kommt,

ist Schnee nicht nur die weiße Fracht von oben,

ist Schnee die Stille, die uns überkommt.

(Ingeborg Bachmann)

1. Einführung: Wirklichkeit als Totalimmersion

Die Neurobiologie geht davon aus, dass unser Gehirn ein informationell geschlossenes System ist. D.h., es hat keinen direkten Kontakt zur so genannten Außenwelt. Der neuronale Code ist neutral. Er besitzt keine Spezifität in Hinsicht darauf, ob der elektrische oder chemische Reiz eine externe oder interne Ursache hat. Ich kann hier die Komplexität des Wahrnehmungsprozesses, wie die Hirnforschung sie beschreibt, nicht im Detail darstellen. Danach ist das Bild und damit die Wirklichkeit, die in unserem Kopf entsteht, das Ergebnis eines komplizierten Verrechnungsprozesses, der sich nach Kriterien vollzieht, die zum Teil angeboren, zum Teil frühkindlich erworben sind oder auf späteren Erfahrungen beruhen. Was wir wahrnehmen, alles was wir sinnlich und sehr konkret spüren, hören, sehen, schmecken, tasten, riechen oder auch nur erahnen, ist kein einfaches Abbild einer von uns unabhängigen Realität, sondern wird aktiv vom Gehirn produziert. Wirklichkeit konstituiert sich als Immersionsraum, als immer schon Im-Bilde-sein, als permanenter, totaler Zeichenprozesszusammenhang und virtuelle Realität 1. Ordnung (VR 1). Das ist nicht bloß metaphorisch, also wiederum bildlich gemeint. Es handelt sich nur insofern um einen Topos, einen Gemeinplatz, als es den allen Menschen gemeinsamen, wenn auch je individuell erschlossenen Da-seinsraum, das physio-psychisch-mentale Bezugs- und Verweisungsgefüge, benennt. Die VR 1 (Wirklichkeit, Welt, Dinge, Sachverhalte, Tatsachen, Abstraktes wie Konkretes) ist ein relationales Gefüge mit individuell variierenden Topologien.

Wir sind im doppelten Sinne immer schon im Bilde und in Zeichenprozesse verwickelt, und zwar in der Weise, in der Merleau-Ponty von unserer »Verwickeltheit ins Sein« spricht (MERLEAU-PONTY 1986: 117). Die Wirklichkeit (VR 1) ist für uns unmittelbar, und wir gewinnen in unseren alltäglichen Vollzügen nur selten eine reflexive Distanz. Die VR 1 wird immer schon geschehen sein. Das sinnlich-konkret Erlebte besitzt diese Qualität nur in der VR 1. Dies macht Wirklichkeit für uns evident. Es handelt sich um eine Totalimmersion, dessen Virtualität unbemerkt bleibt. In dem Roman Der Große Wald streitet sich Prof. Zuckerschale mit seiner Kollegin Sternenhain:

»Sie zweifeln doch sicher nicht daran, dass wir beide uns auf dem windigen Campus befinden und mit einander sprechen?«

Und diese antwortet:

»Sagen wir, ich glaube ziemlich fest daran, so dass mir kein Zweifel darüber in den Sinn kommt. Und ich kann einige triftige Gründe, die für diese Annahme sprechen, ins Feld führen. Zum Beispiel die Dichte meiner Sinneswahrnehmung. Ich spüre den Boden unter meinen Füßen, den kalten Wind, während ich mit Ihnen spreche, rieche die See und schmecke das Salz. Ich sehe Sie und höre, was Sie zu mir sagen, und ich bin in einer etwas gereizten Stimmung und bin mir während der ganzen Zeit selbst gegeben. Ich bin mir präsent, wenn mir dies auch nicht zu jedem Zeitpunkt präsent ist. Das alles kann eine riesige Täuschung sein, Lug und Trug. Vielleicht träumt es mir nur. Doch wer ist es, und wem gehört das Mir? Vielleicht ist alles nur ein Traum in einem Traum, in einem Traum ad infinitum. Das lässt sich nicht beweisen. Das Gegenteil aber auch nicht. Trotzdem scheint mir meine Wahrnehmung evident und ich glaube ziemlich fest daran, dass ich hier stehe und eine viel zu lange Rede halte.« (NUNOLD 2008: 46)

Die Seinsgewissheit, wie die Tatsache, dass es aus dem Immersionsraum Wirklichkeit (VR 1) keinen Notausgang gibt, unterscheidet die VR 1 von einer virtuellen Realität 2. Ordnung (VR 2).

Salvatore Dali etwa machte es sich zur Aufgabe, Wahnbilder so präzise darzustellen, dass sie ebenso sinnlich-konkret erlebt werden und sich als Wirklichkeitsäquivalent aufdrängen.

»Mein ganzer Ehrgeiz auf dem Gebiet der Malerei besteht darin, die Vorstellungsbilder der konkreten Irrationalität mit der herrschsüchtigsten Wut der Genauigkeit sinnfällig zu machen [...].« (DALI 1935, in: DESCHARNES 1997)

Nun sind alle Medien Immersionsmedien und fordern eine anhaltende Fokussierung der Aufmerksamkeit und ein ganzes oder teilweises Abblenden der Wirklichkeit (VR 1). »Mit der herrschsüchtigsten Wut der Genauigkeit sinnfällig zu machen«, ist aber im Grunde das Programm einer Totalimmersion. Je perfekter die Ersatzstimuli der VR 2 für die in unserer Wirklichkeit (VR 1) erlebten sind, desto mehr ist ein Mensch davon überzeugt, dass alles real ist, und »desto weniger kann der Mensch unterscheiden, ob er sich in einem eingetauchten (endo) oder einem aufgetauchten (exo) Zustand befindet.« (SCHMIDT 1999: 241) Aus der VR 2 können wir in die VR 1, in unsere Wirklichkeit, zurückkehren, aus der VR 1, unserer Wirklichkeit nur zeitweise in eine VR 2 flüchten, etwa beim Lesen eines Buches, beim Schauen eines Film oder Theaterstücks, Hören von Musik, Betrachten eines Kunstwerks, versunken in unsere Gedanken oder beim Spiel im Cyberspace, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Der Exo-Zustand ist der Endo-Zustand der VR 1. Die Totalimmersion unserer Wirklichkeit ist perfekt und leibhaftig, sinnlich-konkret, gerade weil es sich bei den Stimuli nicht um Ersatzstimuli handelt. Die VR 1 ist keine gelungene Simulation der Welt an sich. Die VR 1 ist der Ernstfall. Heißt es hier ›game over‹, ist das Spiel wirklich aus. Die beklagte Virtualisierung in unserer medialisierten Welt und das damit einhergehende Disembodiment mit all seinen Konsequenzen hängen damit zusammen, dass eine Totalimmersion in eine VR 2 mit all seinen Konsequenzen (noch) nicht möglich ist.

Wirklichkeit ist kein mehr oder weniger punktgenaues Abbild eines Urbildes, keine Repräsentation, sondern wie Merleau-Ponty schreibt, »Urpräsentation des Nichturpräsentierbaren«, »originäre Präsentation des Nichtrepräsentierbaren« (1986: 277, 261). Unsere Realität ist Schein und der Schein unsere Realität.

In diesem Sinne ist der Schein objektiv, von einer nicht hintergehbaren Faktizität, ein Dass der Gegebenheit, zwar fiktional aber nicht vollständig fiktiv. »Wie viel Schein, soviel Hindeutung auf’s Seyn«, stellte schon Johann Friedrich Herbart 1829 lakonisch fest (HERBART 1829: 76).

2. Was meint Topologie des S(ch)eins

Den Begriff Topologie des Seins prägte Heidegger für die Kunde von der Ortschaft als dem Bezugs- und Verweisungsgefüge, in dem wir uns immer schon befinden. Eine Topologie des Seins ist eine Topologie der physio-psychisch-mentalen Bezugs- und Verweisungsgefüge oder Zusammenhangsstrukturen (vgl. KETTERING 1987: 223).

Die Topologie als mathematische Disziplin beschäftigt sich mit kontinuierlichen Transformationen von Zusammenhangsstrukturen und deren relationalen Ähnlichkeiten (Homömorphismen), aber auch mit Brechungen von Zusammenhangsstrukturen, gebrochenen Topologien (Antimorphismen). Im letzten Fall

wird von Nichtstandardtopologie (NsT) gesprochen (vgl. NUNOLD 2008a).

2.1 Zwei einfache Beispiele

Der Übergang von einem Becher zu einem Torus (Doghnut) ist ein Beispiel für eine kontinuierliche Veränderung. Das topologische Geschlecht verändert sich nicht. Der Torus ist aus dem Becher hervorgegangen und auf diesen rückabbildbar. Er ist eine homöomorphe Abbildung des Bechers.



Abbildung 1

Topologische Relationen




a, b, c sind topologisch äquivalent (homöomorph). Das topologische Geschlecht ändert sich nicht.

d, e, f sind topologisch nicht äquivalent (antimorph). Das topologische Geschlecht verändert sich von 1-fach zu 3-fach zusammenhängend.

e stellt durch die infinitesimale Grenzfläche die Brechung der Zusammenhangsstruktur dar.


Im Übergang von einer Kugel zu einem Torus verändert sich das topologische Geschlecht. Die Zusammenhangsstruktur bricht. Der Torus ist aus der Kugel hervorgegangen, aber nicht auf diese rückabbildbar. Der Torus ist eine antimorphe, nichtstrukturerhaltende Abbildung der Kugel mit emergenten Eigenschaften.

Wirklichkeit, Bild, Zeichen, VR 1 und VR 2 sind keine Dingkategorien. Sie sind relationale Gefüge mit spezifischen Topologien. Eine Topologie des Seins ist immer auch eine Topologie des Scheins und unserer Semiosen. Sie befasst sich mit den Transformationen oder Translationen und Brüchen der physio-psychisch-mentalen Zusammenhangsstrukturen unseres In-der-Welt-seins (vgl. NUNOLD 2008a).

2.2 Eine kleine Topologie des S(ch)eins

2.2.1 Prägeometrie

Eine Brechung der Zusammenhangsstruktur ist vermutlich der Ursprung unserer Wirklichkeit. Sie ist eine antimorphe Abbildung eines für uns unerkennbaren Vorzustandes, an dem wir auf Grund unserer Leiblichkeit teilhaben. Die Brechung ist der ›Unter-Schied‹ (Heidegger) oder die Differenz selbst und das Offene einer universalen physio-psychisch-mentalen Relationalität, aus der und innerhalb derer jede Wirklichkeit für uns erst emergiert. Heidegger nennt diese universale In-differenz das »Verhältnis aller Verhältnisse« oder »Ortschaft aller Orte und Zeit-Spiel-Räume« (1959: 215, 258) und Merleau-Ponty eine »universalen Dimensionalität« (1986: 333, vgl. 279, 315; 1984: 33; Heidegger 1954: 189, 192; 1959: 13, 24 ff.; vgl. NUNOLD 1999; 2000; 2004: 42 ff.). Im Buddhismus entspricht dem das Konzept der Leere. Die Leere, das Nichts, ist, wie wir aus dem ostasiatischen Denken wissen und wie Heidegger orakelt, nicht nichts (vgl. HEIDEGGER 1949: 1983). Leere, Relationalität, Zusammenhänge etc. sind nichts Substanzielles, sondern eher so etwas wie ein prozesshaft gedachtes Substrat unseres leib-seelisch-geistigen Existierens, ein physio-psychisch-mentales Grund- und Gründungsgeschehen, unsere zweite und eigentliche Natur, wenn die erste Natur unsere biologische Existenz beschreibt. Im Sinne einer NsT kann von einem physio-psychisch-mentalen Vor- oder Grundzustand, gewissermaßen von einer physio-psychisch-mentalen Prägeometrie gesprochen werden, aus der alle anderen Zusammenhangsstrukturen, alle anderen physio-psychisch-mentalen Bezugs- und Verweisungsgefüge erst emergieren (vgl. EISENHARDT/KURTH 1993; EISENHARDT/KURTH/STIEHL 1995; KURTH 1997; NUNOLD 2004: 42 ff.). Er ist so etwas wie die Matrix jeder VR und aller Zeichenprozesse, eine universale In-differenz. Er besitzt keine Metrik, ist maßlos im Sinne des griechischen apairon und ist kein Kontinuum. Kurth und Eisenhadt führen den Begriff ›fraktgen‹ für die Zerbrochenheit innerhalb der NsT ein (EISENHARDT/KURTH 1993: 60). Die NsT weist Selbstähnlichkeiten auf, die auf Grund der Durchdringungseigenschaften nichtstandard-topologischer Zusammenhangsstrukturen, ›unordentlicher‹ oder ›bizarrer‹ sind als die Selbstähnlichkeiten, wie sie von Gebilden der fraktalen Geometrie bekannt sind (EISENHARDT/KURTH 1993: 46; vgl. NUNOLD 2000, 2004: 44 f.). Der physio-psychisch-mentale Grundzustand ist ursprünglich ein unendlicher und zerklüfteter (vgl. HEIDEGGER 1994: § 127, 156 ff.) oder zerbrochener Zusammenhang und eine antimorphe, nichtstrukturerhaltende Abbildung oder NsT-Translation der Topologie eines an sich Seienden und für uns unerkennbaren neuronalen Vorzustandes. Er ist etwas grundsätzlich Neues und nicht rückabbildbar.

2.2.2 Wirklichkeit

Während eine Beschreibung der Unterschiede zwischen Kugel und Torus problemlos gelingt, können wir im Falle der Wirklichkeit für uns und einer Realität an sich aus prinzipiellen Gründen nur indirekt schließen. Die VR 1 ist unhintergehbar. Alle Beschreibungen sind Abbildungen innerhalb der VR 1 und des in der VR 1 gegebenen. So ist auch Naturwissenschaft stets Endophysik, Physik innerhalb der VR 1 und vermag nur indirekt auf die vorausgesetzte Realität an sich zu schließen. Für den Quantenphysiker Anton Zeilinger sind Wirklichkeit und Information dasselbe (vgl. ZEILINGER 2005: 229):

»Letztlich ist es so, dass wir in der Quantenphysik über die Wirklichkeit an sich keine direkten Aussagen machen können. Wir können nur darüber reden, welche Information, welches Wissen wir haben. Wir können uns eine Wirklichkeit dann konstruieren, wenn mehrere Physiker in der gleichen Situation die gleichen Eindrücke, die gleichen Informationen haben. Dann werden wir sagen, dass dies wahrscheinlich der Wirklichkeit entspricht.« (ZEILINGER 2002)

In dem fiktiven Disput kommt die Sternenhain zu einem ganz ähnlichen Schluss:

»Dann sind sie also doch Realistin.« bemerkte Zuckerschale amüsiert.

»Ja, aber aus pragmatischen Gründen und keinen naiven. Ich glaube nicht daran, dass unsere Wahrnehmung eine Punkt für Punkt Wiedergabe all dessen ist, wie es ist. Nun sie unterstellen mir, dass ich mir bewusst bin, mich mit ihnen auf dem windigen Campus zu befinden, zu dem unterstellen Sie mir wahrscheinlich, dass ich Ihnen dasselbe unterstelle. Ich unterstelle ihnen das Nämliche. Aus diesem gegenseitigen Unterstellen ziehen wir unsere Gewissheit über die Realität, ein Realitätsbeweis ist das nicht. Was wir Realität nennen und uns so evident erscheint, konstituiert sich für jeden von uns auf Grund unserer immanenten Erkenntnisbedingungen und in Abhängigkeit eines wechselseitigen Unterstellens, welches nur für jeden allein zu durchschauen ist. Auf diese Weise entgehen wir zwar dem Solipsismus, mehr ist aber nicht erreicht.« (NUNOLD 2008: 47)

Zeilinger würde die Philosophin in einem Punkt korrigieren:

»Dies ist nicht nur ein rein praktischer Standpunkt. Da wir ja nur mit Hilfe der Information etwas über die Welt aussagen können, ist es auch ein prinzipieller. Es ist ganz offenkundig sinnlos, nach der Natur der Dinge zu fragen, da eine solche Natur, selbst wenn sie existieren sollte, immer jenseits jeder Erfahrung ist.« (NUNOLD 2005: 227)

Er hegt allerdings die begründete Hoffnung, dass die Experimente der Quantenphysik ein starkes Indiz dafür liefern, dass bei allen fiktiven Anteilen, diese Welt diese Welt und keine bloße Phantasmagorie ist. Er fragt sich:

»Warum haben nicht verschiedene Beobachter, verschiedene Informationen? Wenn wir an eines unsere Experimente denken, stimmen wir ja alle darin überein, welcher Detektor ›Klick‹ macht und welcher nicht.« (ZEILINGER 2005: 228)

Für ihn gibt es darauf zwei mögliche Antworten:

»Dies könnte einerseits deshalb sein, weil es nur ein Bewusstsein gibt, nämlich das eigene, und alle anderen nur Vorstellungen in diesem eigenen Bewusstsein sind. Andererseits kann es sein, dass diese Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtungen bedeutet, dass eine Welt existiert. Eine Welt, die so beschaffen ist, dass die Information, die wir besitzen – und wir besitzen nicht mehr –, offenbar in gewisser Weise auch unabhängig vom Beobachter besteht.« (ZEILINGER 2005: 228)

Ist die kleinste Informationseinheit ein Bit und Information (und damit Wirklichkeit) nicht ad infinitum kontinuierlich zerlegbar, folgt daraus, »dass es so etwas wie eine gewisse Feinkörnigkeit in unserer Erfahrung der Welt geben muss« und »dass es keine verborgenen Variablen gibt« (ZEILINGER 2005: 225, 224). Unsere Wirklichkeit ist im Ursprung zufällig und diskret. Sie ist kein Kontinuum. Die Topologie der universalen Matrix unseres psychisch-physisch-mentalen Existierens ist diskret nicht nur auf Grund des gebrochenen NsT-Zusammenhangs, sondern auch weil die Information, aus der sich für uns Wirklichkeit konstituiert, gestückelt oder gequantelt, ab-gründig zufällig ist.

2.2.3 Das Sein, das Nichts und das Selbst

Das abendländische Denken ist radikal zweiwertig und auf das Sein gerichtet, die Substanz (vgl. NUNOLD 2008a). Die ist etwas Massives, Handfestes, Beharrendes, widerspruchsfrei Zusammenhängendes und absolut Positives, auch positiv Bewertetes. Gott ist das oberste, absolute, positive Sein und Ursache, Zentrum und Umfang alles Seienden, alles Positiven, also Existierenden und Guten. Nachdem wir Gott aus dem vermeintlich kausalgeschlossenen physikalischen Weltzusammenhang herauskatapultiert haben und unsere Wirklichkeit sich als ein Konstrukt unseres Gehirns darstellt, haben wir ein Problem. Nicht nur, dass das Sein gar nicht so beharrlich, kontinuierlich, kausal total zusammenhängend, nach ewigen Gesetzen regiert, und geradezu parmenidisch zu sein scheint. Es stellt sich als Grundnegatives, Subjektives dar, als eine von einem an sich unerkennbaren Gehirn erzeugte VR 1. Das Subjekt, auf der Seite des Nichts verbucht, wird zu einem contrafaktischen Produkt des Gehirns, von dem wir nicht mal mehr von dem unsrigen reden dürften. Descartes res cogitans irrlichtert als Phantom in der Phantasmagorie der Welt.

Wir sind stets schon im Bilde, und es gibt für uns nur Zeichen. Bild, Zeichen sind relationale Gefüge, Zusammenhangsstrukturen. Sie sind nichts, wenigstens nichts Substanzielles. Wir selbst und die anderen Menschen sind uns nur als Zeichen gegeben. Für Peirce, wie übrigens auch für Heidegger ist der Mensch ein Zeichen (APEL I: 223 / CP. 5.314; HEIDEGGER 1954: 136), für Heidegger mit Hölderlin ein deutungsloses Zeichen (vgl. NUNOLD 1999; 2003: u.a. 116 ff., 136 ff.). Unser An-sich ist für uns ebenso unerkennbar, wie das Ansich der Welt. Unser Selbst aber ist nur ein Zeichen, ein relationales Gefüge oder eine dynamische Zusammenhangsstruktur die, aus einer Brechung hervorgegangen, in der real vorausgesetzten Welt des Ansich vermutlich kein wie auch immer geartetes Pandon besitzt, dessen homöomorphe Abbildung es sein könnte. Es ist etwas Neues. Der Schluss, das Ich sei nur ein Phantom, ist unserer internalisierten abendländischen Metaphysik ebenso geschuldet wie die Annahme, unsere Wirklichkeit sei eine bloße Phantasmagorie.

Als contrafaktisches Produkt eines nur scheinhaft existierenden Gehirns ist das Ich, unser Selbst nicht Nichts (~n). Aber was ist es dann? Hier nähern wir uns dem essentiellen Problem des zweiwertigen Denkens, dem tertium non datur und der Notwendigkeit, im Sinne von aus der Not gewendet, nicht im modalen Sinne, einer mehrwertigen Logik und einer entsprechenden Semiotik, welche die so genannten negativen Kategorien nicht ausschließt und dem bisher ausgeschlossenen Dritten in seiner Vielgestaltigkeit einen topologischen Ort in der Zusammenhangsstruktur unseres Fühlens und Denkens zuerkennt.

Das Subjekt ist das negative, virtuelle, organisatorische Zentrum und Umfang dieses negativen Seins, welches unsere Wirklichkeit ist. Dieses Zentrum, das Ich ist gewissermaßen virtueller als das auf es zentrierte Sein. Dies besitzt wenigstens ein vorausgesetztes Korrelat in der Realität an sich. Das Ich ist in diesem Sinne ein potenziertes Nichts und im doppelten Sinne überseiend, wie einige Theologen, Mystiker und Mystikerinnen dies von Gott behaupteten. Es ist sozusagen supravirtuell, ein Supraimago oder Überzeichen und in der Tat deutungslos, ein Zeichen sui generis. Es ist selbst- und fremdbestimmend und -bezeichnend. Deutungslos deutet es gleichursprünglich sich selbst in eins mit seiner Welt, seinem Bezugs- und Verweisungszusammenhang. Nichts ist uns so unmittelbar sinnlich-leibhaftig-konkret und selbstverständlich präsent wie wir selbst und zu gleich so wenig transparent. Ein Disembodiment wird sich, als Bedingung der Möglichkeit unseres Selbstseins, stets schon und ursprünglich ereignen. Die Erfahrung der Nichtidentität von Leib und Seele, Körper und Geist ist eine Grunderfahrung unseres Menschseins. Problematisch ist nicht das Disembodiment, das Selbst ist etwas Virtuelles und Prozesshaftes, sondern unsere Seinsvergessenheit und Scheinverlorenheit, die eine Dissozierung der physio-psychisch-mentalen Zusammengehörigkeit begünstigt. Fühllosigkeit ist eine mögliche Folge. Realität und leibhaftige Existenz wird z.B. nur in Grenzsituationen mittels eines besonderen Kicks etwa bei Extremsportarten oder gar durch Fremd- und Selbstverletzungen sinnlich-konkret erfahrbar. Die VR 1 ist aber kein Computerspiel und unser Körper kein Avatar.

Das Unbehagen, das uns beschleichen mag, angesichts einer diagnostizierten Zunahme der Virtualisierung der Kommunikation, der Beziehungen, des Austauschs von Werten, aber auch unseres Selbst, das in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche Rollen, variierende physio-psychisch-mentale Zusammenhangsstrukturen realisiert, ist zum Teil wenigstens unserer antiquierten und zumeist nicht reflektierten metaphysischen Grundeinstellung geschuldet, die nach einem Beharrenden, Substanzhaften und Bleibenden, mit sich Identischen verlangt.

2.2.4 Schwellen

Die Grenze zwischen VR 1 und VR 2 erweist sich nicht als starre Barriere, eher als eine Schwelle, ein Übergang, der, solange er währt, nie in das eine oder andere vollständig übergegangen sein wird, sondern teilhat an beiden Realitäten. Beängstigend ist nicht, dass wir hin und her über die Schwelle treten oder auf ihr wandeln, sondern dass dies instantan und oft unbemerkt geschieht. Massenmedien setzen darauf. Wirklichkeit (VR 1) wird durch diverse virtuellen Realitäten 2. Ordnung kolonialisiert. Statt von Kulturimperialismus könnte von Scheinimperialismus im doppelten Sinne der Bedeutung gesprochen werden. In der medialisierten Gesellschaft wird die VR 2 gewissermaßen überschwellig, in dem Sinne, dass ihre Reize intensiver sind, schriller, bunter, ihre Bilder pointierter, prägnanter, oder um mit Dali zu sprechen ›mit der herrschsüchtigsten Wut der Genauigkeit‹ sinnfälliger. Das Medienereignis, wird zum Realitätskriterium. Nichts ist so intersubjektiv wie ein Medienereignis und es ist beliebig wiederholbar in immer neuen Zusammenhängen. Die Wirklichkeit (VR 1) ist flüchtig und irreversible, die VR 2 dagegen geradezu ewig. Sie wird zum Beharrenden in der Zeit, zum Bleibenden, zu dem, was einzig Substanz zu haben scheint.

Die VR 2 ist nicht einfach aus der VR 1 hervorgegangen. Sie ist nicht nur eine Transformation oder Translation der VR 1. Das wäre zu linear gedacht. Die unterschiedlichen physio-psychisch-mentalen Zusammenhangsstrukturen, der VR 1 und VR 2 emergieren aus der universalen In-differenz unseres physio-psychisch-mentalen Grundzustandes. Sie durchdringen einander und sind miteinander gekoppelt. Diese werden sich im Prozess der Her-vor-bringung von Realität (VR 1, VR 2) immer schon herausgebildet haben, bevor wir uns ein konkretes Bild von etwas machen konnten. Die Brechung der Zusammenhangsstruktur und auch der Sprung in eine andere bleiben meist unbemerkt. Wir sind in die bizarr-fraktgene Topologie des S(ch)eins unauflöslich verwickelt (vgl. NUNOLD 2008a). Logik und Semiotik sollten dem gerecht werden, gewissermaßen als Antidot gegen die mangelnde Selbsttransparenz in unseren Her-vor-bringungen von Wirklichkeit. Selbsttransparenz hieße, den ursprünglichen Verblendungszusammenhang zwar nicht total zu durchschauen, das gelingt stets nur partiell, sondern ihn als einen solchen in seiner Unausweichlichkeit zu erkennen. Mag sein, dass auf diese Weise ein distanzierterer, freierer und ein (selbst)ironischer Umgang mit Virtualisierungen aller Art gelingt.

3. Sinnlich-konkret: Hommage an Max Bense

Nichts, so scheint es, ist so konkret und ohne Transparenz auf eine mögliche Bedeutung und emotionale Aufladung wie das Zeichen selbst, seine Form, Farbe und Materialität. Der Konkretismus hat dieses Credo zum Programm erhoben. Rein Geistiges soll realisiert, nicht die gegebene physikalische Welt abstrahiert werden, wie Theo van Doesburg in seinem Manifest 1930 proklamierte:

»Das Kunstwerk muss im Geist vollständig konzipiert und gestaltet sein, bevor es ausgeführt wird. Es darf nichts von den formalen Gegebenheiten der Natur, der Sinne und der Gefühle enthalten. Wir wollen Lyrismus, Dramatik, Symbolik usf. ausschalten. Das Bild muss ausschließlich aus plastischen Elementen konstruiert werden, d.h. aus Flächen und Farben. Ein Bildelement hat keine andere Bedeutung als sich selbst.« (ROTZLER 1993: 47)

Kunstwerke sollen Gegenstände für den ›geistigen Gebrauch‹ sein, so Max Bill (1949). Für Max Bense ist der ›ästhetischen Zeichenprozess‹ eine »Existenzmitteilung«. Existenz definiert er als individuierte Realität von Funktionen und Prozessen« (BENSE: 1997: 4), eine technische Beschreibung für physio-psychisch-mentale Zusammenhangstruktur. Technik ist für ihn ein »Netz von sichtbaren und nicht sichtbaren Funktionen und Relationen, Strukturen und Aggregaten« (BENSE 1998: 192). Menschliche Existenz bestimmt er konsequenterweise als ›technische Existenz‹. Die technische Existenz zeichnet sich, so Bense,

»durch eine äußerst aktive Intelligenz [aus], die von Anfang an auf die Hervorbringung einer zweiten bewohnbaren Weltschicht angelegt war« (BENSE 1952: 63 f.).

Ziel ist es, eine Welt zu realisieren, die so konkret ist, wie es schon van Doesburg in seinem Manifest forderte.

»Die technische Bearbeitung der gegebenen Welt selbst führt sofort zu Errichtung einer neuen Realität, einer Realität, die materiell konkret, aber intellektuell äußerst abstrakt ist und die die Natur im eigentlichen Sinne denaturiert und sie [...] gleichsam mit einer neuen bewohnbaren Haut überzieht, deren Ruin oder Perfektion allein unseren Aktionen anvertraut ist.« (BENSE 1952: 68)

Benses Utopie, sein Prinzip Hoffnung und vielleicht auch das uneingestandene emotionale Movens des Emotionslosigkeit propagierenden Konkretismus, ist eine von Menschen selbstgemachte Welt, die anders als die gegebene physikalische Welt, den menschlichen Erkenntnis und Anschauungsbedingungen adäquat ist. Wenn wir nach Kant nur das Erkennen, was wir ›gemäß den eigenen Gesetzen hervorbringen können‹, dann können wir uns unsere Welt auch gleich selbst verfertigen. Diese Welt ist zwar nicht »die Welt der Dinge an sich, sondern der Phänomene« (BENSE 1993: 46), des Scheins, der Zeichen, aber nur diese Welt ist unseren Erkenntnisformen adäquat (vgl. NUNOLD 2003, 64 ff.). Der Schein der VR 2 wird zur Realität und die Realität zur VR 2. Ästhetik bestimmt er als Zeichentheorie und Ontologie der selbst hervorgebrachten Welt (vgl. NUNOLD 2003: 77 ff.).

»Es ist ein Unterschied, ob man in der Kunst Realität als semantische Wirklichkeit hat [...] oder ob man diese Realität faktisch ontisch besitzt, weil man sie selbst unmittelbar aus der Fläche als Flächenverhältnisse produziert – jede moderne Ästhetik fundiert Kunst, die Arbeit am Sein ist (und das ist einer der Gründe, weshalb moderne Ästhetik wesentlich Ontologie sein muss). Es handelt sich dabei um einen Übergang von einer Zeichenwelt, die Realität bedeutet, zu einer Zeichenwelt, die Realität ist.« (BENSE 1993: 63)

Diese Zeichenwelt ist sinnlich konkret. Abstraktion wird unnötig, denn sie ist intellektuell abstrakt, frei von ›formalen Gegebenheiten der Natur, der Sinne und der Gefühle‹ von ›Lyrismus, Dramatik, Symbolik‹.

Es handelt sich hierbei um ein geradezu heroisches Projekt, dass wie die heroischen Projekte der tragischen Helden der Antike ab origine zum Scheitern verurteilt ist. Tragische Helden scheitern, weil sie sich in ihrer Hybris gegen das vorausbestimmte Schicksal auflehnen. Das Projekt ist tragisch zum einem in der Weise, in der Bense das technisch-heroische Scheitern beschreibt. Kunst, Technik sind für ihn Arbeit am »Material des Seins, dem man ja nie entkommt«, und ein Aufhalten und Integrieren des physikalischen Prozesses, »denn nicht-aufgehalten, nicht-integriert würde er uns nur in der furchtbaren Rolle der Verwesung erscheinen«, so Bense (BENSE 1993: 183, 193).

Unser Schicksal oder Verhängnis besteht zum anderem darin, wie Bense in seinen ästhetischen, semiotischen und Informationstheoretischen Schriften deutlich macht, dass wir immer schon, in »einer Zeichenwelt (sind), die Realität ist« (BENSE 1993: 63). Nur in ihr kann es überhaupt Deutung und Bedeutung, Mantik und Semantik, Dramatik, Lyrismus und Semiotik geben.

Auf Grund unserer physio-psychisch-mentalen Struktur ist Denken und Handeln ohne Fühlen, ohne emotionales Bewerten und ohne Transparenz auf eine mögliche Bedeutung, wenigstens bei intakten Hirnstrukturen nicht möglich, wie wir aus der Neurobiologie wissen und wie es u.a. Luc Ciompi (1997) in seiner fraktalen Affektlogik gezeigt hat. Noch die propagierte Emotionslosigkeit entspricht eher einer »kühle(n) Lust«, wie Ciompi sie für das wissenschaftliche Denken beschreibt (CIOMPI 1997: 73.). Die »kühle Lust«, die Coolness kann auch als Abwehrhaltung einer existentiell empfundenen Not des Ausgesetztseins in der Fremde, der Heimatlosigkeit oder der Geworfenheit (Heidegger) in den physikalischen Prozess, interpretiert werden. Sie verleiht dem Streben nach Erkenntnis, nach ästhetischer Vollkommenheit und Reinheit die nötige Leidenschaft, wie sie in Benses Texten spürbar wird, um eine für Menschen verstehbare, berechenbare, bewohn- und bebaubare Welt zuschaffen. In diesem Sinne ist der Konkretismus eine Form der Rationalisierung, deren kühle Lust darin besteht, zu erleben wie sich alles fügt und unserem Denken und Handeln verfügbar und für es kalkulierbar wird (vgl. NUNOLD 2004: 19 f).



Abbildung 2

Verena Loewensberg: Bild, Öl auf Leinwand, 93 x 93, (BILL 1986)



Zeichen bedeuten niemals nur sich selbst. Wäre dem so, wären sie keine Zeichen für uns. Zeichen gibt es nur für einen Interpreten und der ist zwar nicht unumschränkter Alleinherrscher aber virtuelles Zentrum und Umfang seiner Semiosen. Innerhalb ihrer Topologie entfalten sie ihre Logik und öffnet sich ein Spielraum möglicher Deutungen und Bedeutungen.

Auch ein Bild der Konkreten Kunst ist eine virtuelle Realität 2. Ordnung. Diese ist abhängig von der materiellen Ausführung, von der Konstruktion ›aus Flächen und Farben‹, wie von Doesburg einst forderte. Zugleich ist sie etwas qualitativ anderes und Neues. Der ästhetische Schein, ihre Schönheit, Erhabenheit, Heiterkeit verschwinden ebenso wie der vermaledeite Lyrismus, die Dramatik und Symbolik oder Verlogenheit und Kitsch, eben alles was uns anzieht, in den Bann schlägt oder abstößt, zerlegen wir ein Kunstwerk in seine materiellen Komponenten (vgl. NUNOLD 2008a).



Abbildung 3

Josef Albers: Structural Constallation N-35, Vinilyte auf Leinwand, 1964, Nationalgalerie Berlin.



Beschäftigen wir uns mit der materiellen Beschaffenheit oder der Ausführung des Bildes, mit seinen Formen, Farben etc. haben wir die VR 2 schon verlassen. Die Kunstwissenschaftliche Betrachtung wechselt nicht nur ständig zwischen VR 1 und VR 2 hin und her. Sie hat ihren Ort auf der Schwelle, im Über-Gang zwischen VR 1 und VR 2, zwischen zwei Realitätsebenen oder Zusammenhangsstrukturen. Auch wenn Max Bense eine andere Begrifflichkeit verwendet, besteht darin doch gerade seine tiefe Einsicht, der eine Topologie des S(ch)eins viel verdankt.

Der Konkretismus arbeitet auf und mit der Schwelle zwischen VR 1 und VR 2. Er ist auf diese sehr konkrete und bewusste Weise Arbeit am Material des Seins und des Scheins, um den Ausdruck Max Benses zu variieren. Kunst, Kultur, Zivilisation ist zwar immer Arbeit am Material des S(ch)eins, aber auf unterschiedlichen Reflexionsniveaus. In diesem Sinne ist Ästhetik als Semiotik, Informationstheorie und Topologie des S(ch)eins, wie Bense es ausdrückte, Ontologie.

4. Schluss: Nur der Schein lügt nicht

Die Konkrete Kunst spielt mit dem Übergang zwischen VR 1 und 2 auf bewusste und ironische Weise. Josef Albers sagte einmal: »Nur der Schein lügt nicht. « Er meint den Schein der Kunst. Im Unterschied zu anderen Immersionsmedien reflektiert sie auf ihre eigene Scheinhaftigkeit und den Prozess ihrer Her-vor-bringung. In der Konkreten Kunst geschieht dies auf direkte und reduzierte, eben ganz konkrete Weise, wie etwa bei Josef Albers (1888-1976) oder Verena Loewensberg (1912-1986), ebenso in der monochromen Malerei des britischen Künstlers Jason Martin (geb. 1970).

Die monochrome Malerei steht in derselben Tradition, alle Illusion und semantische Aufladung hinter sich zu lassen und gewissermaßen das reine Gemälde, Urbild aller Bilder, gedacht für den rein geistigen Gebrauch, hervorzubringen. Abgesehen von der ideologischen Instrumentalisierung und Überladung der Kunst, handelt es sich aus prinzipiellen Gründen, wie oben dargestellt, um ein zum tragischen Scheitern verurteiltes Projekt. Martins Bilder aber tragen nicht nur die Spuren seines individuellen Schaffensprozesses.



Abbildung 4

Jason Martin: Islam, 2007, Öl auf Aluminium, 200 x 270 cm (Mönchehaus Museum Goslar, Feb. - April 2008)



Um das festzustellen brauchen wir die VR 1 nicht zu verlassen. Sie spielen mit der Diskrepanz zwischen der materiellen Beschaffenheit des Bildes und seiner Wirkung in unserer Sinneswahrnehmung. Öl oder Acryl auf dicken Stahl- und Aluminiumplatten oder Plexiglasscheiben aufgetragen und durchkämmt mit Spezialpinseln evozieren eine irisierende Immaterialität, die zur semantischen und spirituellen Aufladung einlädt und zugleich den Übergang von der VR 1, den materiellen Komponenten des Bildes zur VR 2 und die damit zusammenhängende zunehmende Virtualisierung sinnlich-konkret erfahrbar werden lässt. Gerade dieses Übergangserlebnis macht Jasons Kunst geeignet etwa für Kirchenräume, in denen seine Werke gern präsentiert werden. Aber Vorsicht. Ihre Gegenstandslosigkeit macht sie nicht nur beliebig einsetzbar für Orte spiritueller Erweckung und Erneuerung. Sie täuschen Transzendenzerfahrung vor. Nun sind christliche Kirchen, allem voran die Katholische, Meister im wirkungsvollen Budenzauber und gelungenen Inszenierungen und setzen dabei auf die Seinsvergessenheit und Scheinverlorenheit ihrer Schäfchen. Jasons Bilder aber zeigen, wie die Täuschung funktioniert. Kardinal Meissners Ausfälle gegen Gerhard Richters Fenster des Kölner Doms, beruhen auf einer richtigen Intuition. Der Schein der Kunst, wie Josef Albers schon sagte, lügt nicht, das unterscheidet ihn vom Budenzauber. So eröffnen Jasons Bilder die Möglichkeit, leibhaftig zu erfahren, dass das konkret Erfahrene immer schon geistig abstrakt und in diesem Sinne höchst spirituell ist. Das Unglaubliche und Ungewöhnliche, sogar Unheimliche ist Ursprung unseres ganz gewöhnlichen und alltäglichen In-der-Welt-seins. Wer mag, kann dies mit Walter Benjamin als ›profane Erleuchtung‹ bezeichnen. Letztlich ist nicht die Virtualisierung das Problem, sondern unsere Seins- und Scheinverlorenheit in unseren alltäglichen und nicht alltäglichen Vollzügen.

Literatur

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  • EISENHARDT, PETER; KURTH, DAN; STIEHL, HORST: Wie Neues entsteht – Die Wissenschaft des Komplexen und Fraktalen. Reinbek bei Hamburg [Rowohlt] 1995.

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  • NUNOLD BEATRICE: Die Welt im Kopf ist die einzige, die wir kennen. Dalis paranoisch-kritische Methode, Immanuel Kant und die Ergebnisse der neueren Neurowissenschaft. In: IMAGE 5, hg. von Klaus Sachs-Hombach, Jörg Schirra, Stephan Schwan und Hans Jürgen Wulff, Köln: Halem Verlag 2007.

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  • ZEILINGER, ANTON: Dinge, die ohne Grund geschehen. Ein Gespräch mit dem Physiker Anton Zeilinger. Auszug aus dem offiziellen Protokoll der Academy of Life. In: Wiener Zeitung, 12./13. Juli 2002. Redigiert von Eugen-Maria Schulak: http://www.philosophische-praxis.at/zeilinger.html.

  • ZEILINGER, ANTON: Einsteins Schleier. [C.H. Beck] München 2005.

Anhang








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Fussnoten:

(1)

Vortrag: 12. Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Das Konkrete Zeichen, in: Stuttgart, 8.-12.10. 2008.

(2)

In unserem Denken überlagert sich positiv für Sein mit der Bewertung positiv für gut und negativ für Nichts mit der Bewertung negativ für schlecht. Die Bewertung und die ontologische Auszeichnung sind zwei unterschiedliche semantische Ebenen, die der Beschreibung und die des Sollens. Wir begehen gewissermaßen am Grunde, in den kryptischen Tiefen unseres Denkens und Fühlens, unseres physio-psychisch-mentalen Bezugs- und Verweisungsgefüges, einen naturalistischen Kurzschluss. Das Sein erwies sich als etwas Negatives, Nichtseiendes, bloß Virtuelle. Zudenken geben sollte uns, dass z. B. ein positiver medizinischer Befund meist negativ im Sinne von schlecht ist.

(3)

An dieser Stelle kann ich nur auf die logischen Arbeiten Gotthard Günthers (1978, 1976, 1979, 1980) und die semiotischen Vorarbeiten der Autorin verweisen (NUNOLD 1999, 2003, 2004; siehe auch im Anhang).