Fiktionale Immersion zwischen Ästhetik und Anästhesierung


Autor: Christiane Voss
[erschienen in: IMAGE 8 (Ausgabe September 2008)]

Schlagwörter: Anästhesie, Ästhetische Erfahrung, Immersion, Subjekt-Objekt-Relation, Rezeptionsästhetik, Synästhesie, Verkörperlichung, Affektivität, Dewey, Welsch, Adorno, Filmästhetik, Aisthesis, Narrativität, Isomorphie

Disziplinen: Philosophische Ästhetik, Erkenntistheorie, Medienwissenschaften, Filmwissenschaft


The text poses the question whether philosophical theories of aesthetic experience may be applied to phenomenas of immersive film reception. Since Adorno, the aspects of reflectivity and emotional distance figure as the dominant and favoured features of aesthetic experience, at least in the context of (German) philosophical aesthetics. This tendency in philosophy reveals a problematic sceptical attitude and even neglection of the aisthetic and carnal aspects in and of aesthetics. That point of view should be critically reexamined. Referring to the American pragmatist John Dewey and his theory of aesthetic experience, especially his notion of ›anaesthetics‹ becomes important. Since Dewey uses this latter term as an antonym of ›aesthetic‹, and given the further fact that immersions always include anaesthetic, perceptual effects, filmic immersion may not be qualified as being a token of aesthetic experience. At least this would not be on par with Dewey's argumentation. In alleged opposition to that, postmodern aesthetics, as represented by the german philosopher Wolfgang Welsch, appreciate the notion of anaesthetics. Welsch argues even in favour of an ›aesthetic of anaesthetic‹. But this claim can be shown to be self-contradictory because even Welsch sticks to an implicit scepticism towards carnality and anaesthetic aspects of perception. To be able to reevaluate the normative function of aistheis for aesthetics, neither Dewey nor Welsch is of any help.

Der Text wirft die Frage auf, inwieweit gängige Formen der immersiven Filmrezeption durch philosophische Theorien ästhetischer Erfahrung einholbar sind. Die seit Adorno bestehende Tendenz in der deutschsprachigen Ästhetik, das Reflexionspotenzial und die damit einhergehende Distanzierung der anteiligen Erlebnisaspekte an ästhetischen Erfahrungen hervorzuheben, hat innerhalb der philosophischen Ästhetik zu einer generellen Skepsis gegenüber der Sinnlichkeit geführt, die es zu revidieren gilt.
Im Anschluss an die Erfahrungsästhetik John Deweys wird die von ihm vorgeschlagene Polarisierung der Begriffe des Ästhetischen und Anästhetischen einer Neubewertung unterzogen. Sofern Immersionen stets auch anästhesierend wirken, ist es trotz vieler Übereinstimmungen mit dem, was Dewey als ästhetisch ausweist, fraglich, ob sich dieser Erlebnistyp als ästhetischer qualifizieren lässt. Zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Ästhetik und Anästhetik kommt es in der postmodernen Ästhetik – z.B. bei Wolfgang Welsch. Doch auch die postmoderne Verteidigung einer ›Ästhetik des Anästhetischen‹, so die Kritik, bleibt implizit einer Skepsis gegenüber allem Aisthetischen verpflichtet. Mit Bezug auf immersive Formen der Filmrezeption plädiert die Autorin im Anschluss an ihre Kritik für eine Lesart, wonach diese sehr wohl als ein repräsentativer Modus ästhetischer Erfahrung ausweisbar werden. Insbesondere die aisthetischen Facetten der Reaktionen auf Filme, z.B. synästhetische Reaktionen, führten zu einer Verkörperung und Verlebendigung des Filmgeschehens. Da diese Verlebendigung weder den Zuschauer noch das Leinwandgeschehen unverändert lasse, erweise sich dieser aisthetisch transformierende Prozess als objektkonstituierend. Von dorther werde allererst der dynamische Zwischenraum zwischen screen und Betrachter zum eigentlich ästhetischen Erfahrungsraum des Filmischen.

1. Einleitung

Die Wirkungsmacht von narrativen Filmen, so heißt es gemeinhin, bestehe darin, mit der Evidenz des ›Es ist so.‹ zu erscheinen (vgl. METZ 1972). Jeder Erscheinung entspricht eine Wahrnehmungsposition, für welche sie diese und solche Erscheinung ist. Und es fällt nicht schwer, diejenige Wahrnehmungsposition oder -haltung phänomenal näher zu charakterisieren, für welche der filmische Evidenzeindruck ein solcher ist. Dem besagten indikativischen Realitätseindruck des Films entspricht gängigerweise eine Rezeptionshaltung des involvierten Zuschauers (FRIED 2002). Wird ein Großteil der Aufmerksamkeit des Rezipienten vom Film absorbiert, spricht man auch vom ›Eintauchen in den Film‹ oder, synonym dafür, von ›fiktionaler Immersion‹. Diese merkwürdige Kraft, mit der insbesondere erzählerisch angelegte Filme darauf zielen und es im gelingenden Fall auch vermögen, uns in ihre Diegese zu verstricken, und d.h. ja, uns immersiv in ihre filmische Welt hineinzuziehen, mag einer der Gründe dafür sein, warum die Filmästhetik in der Philosophie bis heute eher ein Randdasein fristet. Obwohl in den letzten Jahren eine Entwicklung weg von postmodernen Reflexions- und Ironiekonzeptionen ästhetischer Erfahrung hin zu einer stärkeren Thematisierung von affektiven Evidenz- und Präsenzerfahrungen innerhalb ästhetischer Theorien zu verzeichnen ist, bilden die primär aisthetischen und erst recht anästhetischen Erlebnisdimensionen so etwas wie den Bodensatz aller Ästhetiken. Im Folgenden geht es mir um die Frage, wie aus der Perspektive philosophischer Theorien ästhetischer Erfahrung die Rolle der Immersionen für die Filmästhetik einzuschätzen ist. Auch wenn keine direkten und expliziten Bezüge auf Filme vorkommen, so soll doch im Folgenden zunächst die Erfahrungsästhetik von John Dewey als Bezugstheorie fungieren (DEWEY 1998). Der Grund dafür ist der, dass den genuin aisthetischen und affektiven Potenzialen im Rahmen dieses ästhetischen Ansatzes ebenso Rechung getragen wird, wie der Abgrenzung des spezifisch ästhetischen Erlebens von allem Anästhetischen. In einem zweiten Schritt wird Deweys Ansatz mit den Überlegungen eines zeitgenössischen Ästhetikers Wolfgang Welsch konfrontiert. Welsch hat den schon von Dewey bereits eingeführten Begriff des Anästhetischen aufgenommen und für eine postmoderne Ästhetik in dialektischer Weise produktiv zu machen versucht.

Beide Ansätze werden hier unter dem Gesichtspunkt betrachtet, inwieweit sie mit Erlebnisphänomenen der fiktionalen Immersion umzugehen vermögen, wie sie für Kinorezeption und die Rezeption anderer, speziell narrativ verfahrender Medien, konstitutiv sind. In einem letzten Schritt wird die zentrale Bedeutung immersiver Erlebnismodi gerade für eine Ästhetik des Films auszubuchstabieren sein.

2. Rhythm is it – Ästhetische Erfahrung nach Dewey

Vor dem programmatischen Hintergrund einer Relativierung strikt autonomieästhetischer Perspektiven auf Kunst und ihre Erfahrung reserviert John Dewey im Rahmen seiner Schrift Kunst als Erfahrung das Prädikat ›ästhetisch‹ ausschließlich für Erfahrungsweisen, die folgende vier definierende Merkmale aufweisen: Erstens Selbstreflexivität, zweitens eine fühlbare Intensität, drittens Aufmerksamkeitsfokussierung und viertens eine affektive Schließung. Ästhetische Erfahrung wird dabei als eine Form intensiv gesteigerten Erlebens verstanden. Mit anderen Worten: Bereits in ihrem Vollzug wird ästhetische Erfahrung auch bewusst als eine solche erlebt. Somit gesteht Dewey dem Erlebnisaspekt der ästhetischen Erfahrung bereits neben den anderen genannten Merkmalen eine immanente Selbstreflexivität zu und nicht erst einer nachträglichen Verarbeitung eines solchen Erlebnisses. Selbstreflexivität wird als die bewusste Wahrnehmung einer zugleich auf sich selbst zurück gewendeten Erfahrungssteigerung gefasst. Und somit nimmt diese, ästhetisch konstitutive Form von Reflexivität einen eher energetisch-affektiven als kognitiv-intellektuellen Charakter an. Dewey geht des Weiteren davon aus, dass es sich dabei um eine schaltkreisartige Verbindung von Reiz und Reaktion handelt, wobei sich beide Pole – also Reiz und Reaktion – zu einer ungeteilten Ganzheit in der Erfahrung zusammenschließen. In dieser bewusstseinstheoretischen Konzeption sollen die beiden aufeinander bezogenen Terme, Reiz und Reaktion, nicht für sich bestehende Entitäten bezeichnen, als vielmehr funktionale Größen, die teleologisch miteinander verbunden sind. Dewey drückt diesen Sachverhalt dann so aus: »Die so genannte ›Reaktion‹ ist nicht lediglich eine Reaktion auf den Reiz; sie ist eine Reaktion in den Reiz hinein.« (Dewey zitiert in: SUHR 2005: 37)

Was damit gemeint ist, kann man sich an konkreten Beispielen veranschaulichen. Ein Geräusch wird z.B. anders empfunden, wenn man es erwartet, als wenn es einen erschreckt. Mit anderen Worten: Die Reaktion bestimmt allererst den Reiz, sie ist dessen Interpretation. Die Reaktion des Schrecks interpretiert ein Geräusch anders, als die Freude über einen durch Lautsprecher erklingenden Pausenton in einer Schule etwa. Jede bewusste Reaktion stellt nun aus Deweys Sicht eine gewisse Art von Entscheidung dar. Denn immerhin wählt sie aus einer stets unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten diejenige Interpretation eines Reizes aus, die sich an eine vorhergehende oder bestehende Erfahrung anschließen lässt. Damit etwas nun zur spezifisch ästhetischen Erfahrung werden kann, muss Dewey zufolge eine strukturelle Formbedingung erfüllt sein: Als Erfahrung muss sie in den geordneten Rhythmus einer narrativen Struktur gebracht werden, die einen Anfang, einen Höhepunkt und einen erfüllenden Abschluss aufweist. Den Anfang einer ästhetischen Wahrnehmung markiert irgendein hervorstechender Impuls (Reiz). Die daraufhin einsetzende, organische Interaktion mit dem Impuls setzt Spannungsenergie frei, die sich bis zu einem gewissen Höhepunkt steigert (es entsteht also eine teleologische Bewegung auf ein Ziel hin). Dieser prozesshaft gesteigerte Spannungsaufbau mündet schließlich in einer emotionalen Evaluation (Reaktion). Eine Emotion bildet somit den Abschluss des gesamten Rhythmus, und sie stellt zugleich eine Transformation des Ausgangsreizes dar, denn sie ist dessen Interpretation (was den zuvor besagten Schaltkreis zwischen Reiz und Reaktion schließt). Erst in solch einer emotional abgeschlossenen, sequenziellen Struktur wird eine Reiz-Reaktions-Verschaltung zu einer sinnhaften und für die bewusste Aufmerksamkeit greifbaren Einheit. Als eine derart narrativ gefasste Einheit steht jede ästhetische Erfahrung jedem bloß unstrukturierten Registrieren von Umwelteinflüssen kontrastierend entgegen. Aus Deweys Sicht ist daher auch jegliches blind-instrumentelle Alltagsverhalten zu den Dingen nur auf ästhetische Weise, also durch rhythmisch strukturierte und gleichermaßen selbstreflexive Erfahrung im gerade charakterisierten Sinne, durchbrechbar.

Das Anästhetische, das sich ebenso im bewusstlosen Funktionieren, wie in pauschalen Stimmungen der Lustlosigkeit oder Langeweile ausdrücken kann, ist für Dewey entsprechend der eigentliche Gegenbegriff zu dem des Ästhetischen und zwar im Alltag wie in der Kunst. Dewey zählt gleich eine ganze Reihe unterschiedlicher Instanzen auf, die dem Anästhetischen entsprechen und geradezu als ›Gegner des Ästhetischen‹ personalisiert werden:

»Die Gegner der Ästhetik sind weder die Praktiker, noch die Intellektuellen. Es sind die Langweiler; die Schlaffheit loser Enden; die Unterwerfung unter die Konvention auf praktischem und auf geistigem Gebiet. Strenge Abstinenz, erzwungene Unterwerfung und Härte einerseits und Haltlosigkeit, Inkonsequenz und richtungslose Nachgiebigkeit andrerseits führen in gegensätzlichen Richtungen von der Einheit der Erfahrung weg.« (DEWEY 1998: 53)

Die Anästhesierungen, die Dewey hier im Blick hat, finden sich in Formen von Verhärtungen und solchen des entweder wahllosen oder auch routinierten Handelns und Fühlens, für die wir durch Gewohnheit oder andere Gründe blind und unempfindlich geworden sind. Dewey beschreibt den Effekt solcher Anästhesierungen zusammenfassend als Strukturlosigkeit, der eben jene Narrativität fehlt, die allererst eine Erfahrung aus dem Strom des Bewussteins hervorzuheben und als eigenständige Einheit abzugrenzen verhilft:

»Die Dinge geschehen, aber sie werden weder entschieden miteinbezogen, noch entschieden ausgeklammert; wir lassen uns treiben. Je nach äußerem Druck geben wir nach, oder wir weichen aus und schließen Kompromisse. Es gibt ein Beginnen und Aufhören, aber keinen echten Anfang oder Abschluß. Ein Ding ersetzt das andere, aber keines nimmt das andere in sich auf und führt es weiter. Zwar gibt es Erfahrung, aber sie ist so nichtssagend und zusammenhanglos, dass sie nicht als eine Erfahrung bezeichnet werden kann. Das diese Erfahrungen anästhetisch sind, versteht sich von selbst.« (DEWEY 1998: 52)

Mit dieser phänomenalen Abgrenzung ist also keineswegs eine kategoriale Frontstellung zwischen alltäglicher und ästhetischer Erfahrung präsupponiert, handelt es sich doch bei allen Merkmalen der ästhetischen Erfahrung, Dewey zufolge, um gradierbare Eigenschaften und gesteigerte Formen der Verhaltensmöglichkeiten, die wir auch unseren alltäglichen Kontexten gegenüber entgegen bringen können. Kunstkontexte setzen sich in diesem Theorierahmen nur insofern von alltäglichen Kontexten ab, als sie bereits von sich aus intentional auf die Evokation von ästhetischer Erfahrung ausgerichtet sind.

3. Fiktionale Immersion als Modus ästhetischer Erfahrung?

Wenn wir nun das bisher grob skizzierte Verständnis ästhetischer Erfahrung auf das Rezeptionsphänomen der fiktionalen Immersion im Kino oder vor dem Bildschirm zuhause anzuwenden versuchen, so scheinen dessen positive Bestimmungen ohne weiteres übertragbar zu sein. Die konstitutiven Aspekte der narrativen Strukturiertheit und einer entsprechenden Aufmerksamkeitsfokussierung treffen auf Filmrezeption ebenfalls zu, sofern wir uns isomorph zu einem narrativen Filmgeschehen verhalten, dem wir sukzessive und antizipativ zu folgen versuchen. Auch die weitere Konstituente ästhetischer Erfahrung, nämlich die Ausrichtung auf einen emotionalen Abschluss, ist für Filmrezeption einschlägig: Wir wollen wissen, wie ein Film ausgeht, und erwarten, je nach Genre, vom Ende eine bewertbare Aufklärung oder Bestimmung des Schicksals der Protagonisten, oder auch die Bewertungsmöglichkeit einer Durchkreuzung unserer Zuschauererwartungen. Erst vom Ende her beurteilen wir ein Leinwandgeschehen als Ganzes und zwar emotional. Es ist immer der ganze Film, von dem wir sagen, dass er uns enttäuscht, vergnügt, überrascht, irritiert, und nicht nur jene oder diese Sequenz daraus. Auch Deweys weitere Kriterien des Ästhetischen – intensiviertes Erleben und Selbstreflexivität – sind einschlägig für die gängigen Formen der immersiven Filmrezeption. Denn unser Absorbiert sein in eine Filmhandlung bedeutet insofern eine gesteigerte Form des Erlebens, als sie ja eine gewählte Form der Antwort auf die Reizimpulse des Leinwandgeschehens darstellt. In Form unserer synästhetischen und kognitiven Einlassungen interpretieren wir dabei das Leinwandgeschehen. In diesen Reaktionen wandeln wir folglich die multimediale Reizquelle, die jeder Film ist, in eine einheitliche, leibliche Erfahrung um. Und die narrative Strukturierung dieser Einlassungen entspricht exakt der rhythmischen Logik, die Dewey für das Ästhetische generell reserviert und derzufolge eine Reaktion nicht auf einen Reiz erfolge, sondern in diesen hinein. Unsere leiblichen Reaktionen auf ein Leinwand- oder Bildschirmgeschehen erfolgen so gesehen ebenfalls in den Film hinein – und eben das bedeutet es ja, in eine Filmfiktion hineingezogen zu sein.

Nun könnte man an dieser Stelle befriedigt schließen, dass fiktionale Immersion zumindest mit Deweys Ansatz problemlos als ästhetische Erfahrung nobilitiert werden kann, wäre da nicht ein weiterer Charakterzug an Immersionen, der just diese Hoffnung zunichte macht: Immersionen wirken zumindest teilweise anästhesierend. Denn damit überhaupt eine Wahrnehmungsqualität in den Vordergrund unseres Bewusstseins rücken kann, müssen andere notgedrungen in den Hintergrund der Aufmerksamkeit treten. Wir vergessen etwa vor Spannung den Kinosaal um uns herum, oder hören zuhause das Klingeln an der Türe nicht, weil wir so intensiv mit einer Filmhandlung verstrickt sind. Wirken Immersionen auf diese Weise innerhalb unseres Bewusstseins horizontal anästhesierend (d.h. auf andere mentale und somatisch-affektive Zustände), so doppeln sie, genau genommen, diesen Effekt auch noch auf sich selbst bezogen. Denn in Zuständen der Absorption von sinnlicher und geistiger Aufmerksamkeit werden die Akte von den Gehalten dieser immersiven Vollzüge im Bewusstsein des immersiv Erlebenden nicht nochmals als geschiedene wahrgenommen. Der Aktcharakter der immersiven Aufmerksamkeitslenkungen liegt gewissermaßen ebenfalls unwahrnehmbar für diese selbst in ihrem Rücken. Und spätestens diese anästhesierenden Aspekte würden wohl für Dewey dagegen sprechen, fiktionale Immersionen einfachhin als ästhetische Erfahrungen zuzulassen.

4. Sinnlichkeitsskepsis oder: Die Ausgrenzung der Erlebniszone aus dem Feld der Ästhetik bei Welsch

Im Vergleich dazu vertritt der zeitgenössische Ästhetiker Wolfgang Welsch, als einer der wenigen, der sich überhaupt mit Anästhesierung innerhalb der Ästhetik auseinandersetzt, die These, dass spätestens seit dem Anbruch der Postmoderne ›Ästhetik‹ und ›Anästhesierung‹, gerade als konträre Begriffe nicht mehr unabhängig voneinander betrachtet werden könnten (WELSCH 2003: dort besonders das Kap.: Ästhetik und Anästhetik, 9-41). Vielmehr gehöre, im Gegenteil, zu jeder ästhetischen Erfahrung ein Moment der Anästhesierung hinzu. Ausgangspunkt ist für Welsch auch keineswegs der Film, als vielmehr die globalere Beobachtung, dass massenhaft anästhesierende Effekte gerade durch Strategien einer um sich greifenden Ästhetisierung der Lebenswelt zustande kommen würden. Beispiele sind für Welsch etwa auf der Ebene der Architektur die homogenisierten Einkaufszentren in den Großstädten sowie die Überflutung sämtlicher Lebensräume mit bildlichen Medien. Unbetrefflichkeit gegenüber den Details und Fakturen unserer Umwelt in sinnlicher und psychischer Hinsicht, und d.h. Wahrnehmungsverlust, sei die Folge. Anästhesierung kann nun prinzipiell an zwei Polen zustande kommen: Einmal als Überreizung der Sinne, etwa in allen spektakelartigen Formaten ihrer Adressierung. Oder konträr dazu, durch die Negation und Überformung von Sinnlichkeit, wofür Welsch die Tradition der platonischen Ideenlehre und die der stoischen Metaphysik stellvertretend sieht. Ein wichtiger Grund dafür, das Ästhetische gleichwohl nicht, wie Dewey es tut, gegen das Anästhetische ausspielen zu wollen, ist für Welsch ein wahrnehmungstheoretischer. Im Rückgriff auf die Gestaltpsychologie und Neurologie hält er fest, dass

»[…] dem Wahrnehmen selbst bereits eine Art Anästhetik eingeschrieben ist. Seine eigene Spezifität seine Schemata und Prägungen, einschließlich der damit gesetzten Beschränkungen, bleiben ihm eigentümlich verborgen. Und diese interne Anäshtetik ist eine notwendige Bedingung der externen Effizienz des Wahrnehmens.« (WELSCH 2003: 34)

Die hier angesprochene Notwendigkeit einer internen Anästhetik von Wahrnehmung für ihre externe Effizienz, die auch für Immersionen gilt, besagt einfach, dass eine Bezugnahme auf einen Gegenstand nicht zugleich auf sich selbst reflektieren kann, ohne eben damit den Gegenstand zu wechseln. Eben diese Tatsache, dass ein Akt der Immersion seinen eigenen Aktcharakter immer nur im Rücken hat, war ja kurz zuvor von mir als Argument dafür angeführt worden, weshalb Immersionen im Blick auf Dewey wahrscheinlich nicht umstandslos als ästhetische Erfahrungsphänomene einkategorisierbar wären.

Neben den Wahrnehmungen sieht Welsch auch kulturelle Leitbilder als blind wirkende und somit anästhesierende Kräfte an. Diese eher ideologisch problematisierbare Dimension des Anästhetisierenden wird auch in den immer wieder aufkeimenden Manipulationsdebatten um Filme in Anspruch genommen, sofern ja auch sie es vermögen, Leitbilder – und somit gegebenenfalls blinde Flecke – zu transportieren. Welsch drückt diesen Aspekt folgendermaßen aus:

»Stets handeln wir im Duktus solcher Grundbilder. Gerade als unbewusste sind sie wirksam. Eben indem diese Bilder – die doch ihrer Konstitution nach ästhetisch sind – die Tarnkappe des Anästhetischen übergezogen, in anästhetische Latenz sich begeben haben, wurden sie verbindlich, d.h. zwingend.« (WELSCH 2003: 35)

Letzteres ist für Welsch nun kein neutral zu konstatierendes Faktum mehr. Vielmehr müsse das Anästhetische aufgedeckt werden, da es sonst gefährlich, und d.h. vor allem unreflektiert, zu wirken vermöge. Wie wir aus der kritischen Theorie gelernt haben, der sich Welsch an diesem Punkt anschließt, wirken die anästhetischen Wahrnehmungen und Bilder angeblich direkt auf unser Überzeugungssystem ein, indem sie uns mit ideologischen, weil einseitigen Meinungen auf passivierende Weise befrachten. Die notgedrungen begrenzten Wahrnehmungen und Leitbilder verabsolutierten somit von sich aus ihre selektiven Evidenzerfahrungen. Und sie tun es, so der implizit kritische Gedanke, auf Kosten der gleichberechtigten Ansprüche auf Realitätssicherung ausgeblendeter Wahrnehmungen und Leitbilder. Deshalb kommt Welsch zu dem, allerdings eher bildkritischen als wahrnehmgsskeptischen, Schluss: »Solche Bilder sind Fallen. Sie haben zugeschnappt, als man sich an sie hielt.« (WELSCH 2003: 35)

Den anästhesierenden Kräften verdanken wir letztlich, dem Autor zufolge, dass unsere Freiheit und Kritik gewährende Reflexivität und Sensibilität gleichermaßen unterlaufen würden. Die Kunst und die Philosophie der Postmoderne sind für Welsch nun die Mittel der Wahl, um über die gefährlichen Latenzen und Anästhesieanteile unserer Kunst- und Weltbilder aufzuklären. Das tun sie angeblich, indem sie z.B., wie Walter de Maria mit seiner Skulptur eines versenkten Erdkilometers, mit unsichtbaren Dingen wirkten und generell, wie Lyotard u.a., unsere Aufmerksamkeit auf Unsichtbares, Fremdes und aus der kulturellen Wahrnehmung Abgedrängtes lenkten. Das Anästhetische wird sodann bei Welsch, freilich in einer gegen sich selbst gewendeten Form, zu einem neuen Prinzip einer postmodernen Ästhetik positiv umgedeutet:

»Am Ende ist eine anästhetische Grundhaltung gegen all die schönen und etablierten Angebote des Ästhetischen die Methode der Wahl zur Aufdeckung der Anästhetik alles Ästhetischen. Deshalb hat die Kunst dieses Jahrhunderts, der das Ästhetische als solches suspekt geworden war und die den ästhetischen Gewohnheiten – den alltäglichen der Sinne, wie den durch Kunsttradition eingeübten – mißtraute, radikale Schnitte gesetzt.« (WELSCH 2003: 37)

Die Arte Povera dient ihm dabei ebenso als Beispiel, wie die Readymades von Duchamp. Aus dem Bereich des Films zitiert Welsch die berühmte Szene aus Bunuels Der andalusische Hund, wo ein Rasiermesser durch ein Auge schneidet, und damit in seiner Meinung einen radikalen Schnitt durch unser okularzentristisch ausgerichtetes Denken anzeige.

Er plädiert schließlich für eine ›Ästhetik des blinden Flecks‹, die keine Pan-ästhetisierung mehr verfolge, wie die Moderne und auch keinen Abschied von der Sinnlichkeit, wie die in der platonischen Tradition stehende Ästhetik. Alternativ dazu müsse es eine philosophische Ästhetik geben, die:

»Anästhetik zu einem ihrer thematischen Pole machte. Gegen das Kontinuum des Kommunizierbaren und gegen die schöne Konsumption setzte sie auf Divergenz und Heterogenität. Bunuels Schnitt durch das Auge bleibt aktuell. (WELSCH 2003: 39)

Trotz der mehrfachen Bekundung, es gehe ihm in der Ästhetik, in der Linie Baumgartens und Merlau-Pontys, um die Thematisierung von Aisthesis – sinnlicher Wahrnehmung – scheint mir in seinem Plädoyer für eine ›Ästhetik des blinden Flecks‹ und seiner, mit Lyotard u.a. Denkern geteilten Präferenz für das Erhabene gegenüber dem nur Schönen, eher eine uneingestandene Skepsis der Sinne am Werke zu sein, die dann eben doch an die von ihm zurückgewiesene, platonische Kritik der Sinnlichkeit und des falschen Scheins erinnert. Was er der sinnlichen Wahrnehmung zunächst rein deskriptiv zugesteht, nämlich dass sie notgedrungen selektiv verfährt und daher nicht alle Sinnesmodalitäten gleichzeitig im Fokus der Aufmerksamkeit stehen können, wendet er sodann kritisch gegen sie. Doch während es für kulturell erworbene Leitbilder noch einsichtig sein mag, dass sie sich ästhetischen und diskursiven Praktiken verdanken, die evtl. mit entsprechenden Mitteln auch wieder zu kritisieren und revidieren sind, so gilt dies sicher nicht in gleichem Maße für alle Formen von Wahrnehmungen. Was alles ausgeblendet wird, damit nur überhaupt eine bewusste Wahrnehmung zustande kommen kann, bleibt dem Bewusstsein unzugänglich und muss es auch, denn daran hängt ja – auch aus Welschs eigener Sicht – die Funktion aller Wahrnehmung. Es macht daher keinen Sinn, eine Kritik der Wahrnehmung (noch dazu undifferenziert in einer Linie mit einer Kritik an Bildern und Leitbildern) formulieren zu wollen, die darauf hinausläuft, deren unhintergehbaren Entstehungsbedingungen zu negieren. Dass Welsch dann ausgerechnet an unsichtbaren Kunstwerken seine Wunschästhetik exemplifiziert, ist meines Erachtens insofern ein Indiz für die interne Spannung seines Ansatzes, als damit ja von vorneherein jegliche Wahrnehmung überflüssig wird, und deren Dynamik von Abschattung und Fokussierung also erst gar nicht einsetzen kann. Dann entfällt aber streng genommen auch die Notwendigkeit einer ästhetisch-kritischen Reflexion darauf. Denn wo keine Wahrnehmung mehr stattfinden muss oder kann, gibt es auch keine blinden Flecken aufzuklären.

Während also zunächst die Integration des Anästhetischen in die Ästhetik bei Welsch eine Einbindung auch von immersiven Formen der Filmrezeption versprach, so erscheint am Ende auch bei ihm die erneute Distanzierung des Anästhetischen im Namen des Reflexiven ein Argument für den Ausschluss alles Immersiven aus dem Feld des Ästhetischen abzugeben.

Anstatt, wie man bei der Thematisierung des Verhältnisses von Ästhetik und Anästhetik erwarten könnte, in der Linie von Baumgarten an einer Analyse der Präsenz und Verschattungen von Erscheinungen orientiert zu sein, wie sie uns erlebnishaft in ästhetischen Kontexten gegeben sind, bleibt auch Welsch der wirkmächtigen Linie der adornistischen Ästhetik verhaftet. Dabei steht sein Ansatz in Übereinstimmung mit dem Gros deutschsprachiger Ästhetiken, die normativ eine reflektierende Distanzierung und Überformung von den eigenen perzeptiven und affektiven Erlebnissen mit einem Kunstwerk oder anderweitig ästhetischen Gebilden propagieren.

5. Filmästhetik im Modus fiktionaler Immersion

Nun kann man natürlich fragen: Was ist eigentlich so wichtig daran, z.B. das Phänomen filmfiktionaler Immersionen als ästhetische Erfahrung zu konzeptualisieren? Nun, so weit es nur um Worte und nominelle Kategorisierungen geht, ist natürlich gar nichts daran wichtig. Aber in der Sache scheint mir folgendes reflektionsbedürftig zu sein: Insofern Theorien ästhetischer Erfahrung für sich den Anspruch erheben, nicht nur bestimmte künstlerische Provinzen ästhetischen Erlebens und Urteilens zu analysieren, sondern das Ästhetische generell begrifflich zu extrapolieren, müssten sie sich zumindest der Intuition nach auch daran messen lassen, ob sie erklärende Beschreibungen für zentrale Formen des rezipierenden Umgangs mit Filmen zu erbringen vermögen. Wenn das nicht gelingt, so kann das entweder heißen, dass etwas an den Theorien nicht stimmt. Oder man zieht die Konsequenz, dass z.B. die hier im Zentrum stehende immersive Form der Filmrezeption eben doch nur ein Fall von Aisthesis und nicht einer eines irgendwie höherstufig gedachten Ästhetischen sei. Die Rolle, die dem Aisthetischen für einen philosophischen Begriff ästhetischer Erfahrung eingeräumt werden kann oder müsste, ist nun aber genau der strittige Punkt.

Eine m.E. problematische Argumentationsstrategie, die Ästhetiken zugunsten einer Opposition von aisthetischen und anderen Merkmalen des Ästhetischen strapazieren, hängt an dem zuvor bereits angeführten Gedanken, dass unsere ohnehin schon selektiven Wahrnehmungen in ästhetischen Kontexten auch noch eins zu eins auf unsere Überzeugungen durchschlagen würden. Das vermeintlich politische Problem des Anästhetischen wird dann, wie z.B. bei Welsch, darin gesehen, dass selektive Wahrnehmungen sich unrechtmäßigerweise für das Ganze einer Realität ausgäben, was in der Folge dann auch genauso falsch generalisierend geglaubt würde. Hier fragt sich allerdings, wo sich die Subjekte solch angeblich ästhetisch inaugurierter Schnellgläubigkeit und somit Getäuschtheit eigentlich befinden? Im Kino jedenfalls scheinen sich die kritisch beäugten Rezipienten dieses naiven Stils nicht aufzuhalten. Denn was wir selbst im Falle intensiver Absorption eindeutig nie glauben, ist, dass das Filmgeschehen entweder in einem herkömmlichen Sinne real sei oder auch nur eins zu eins für unsere empirische Realität stellvertretend stehe. Somit lässt sich die immersive Wahrnehmung filmischer Realität auch nicht als eine Form epistemischer Täuschung über misidentifizierte, kinematographische Repräsentationen beschreiben. Dem entspricht auch unser gängiges Rezeptionsverhalten: Die durch Film evozierten Eindrücke und Gefühle verführen uns offenbar nicht dazu, uns direkt handelnd zum Filmgeschehen zu verhalten oder vom Film her unmittelbar auf unsere empirische Umwelt Übertragungen vorzunehmen. Und das, obwohl für uns die Filmrealität mit der Evindez des ›Es ist so.‹ erscheint. Wolfgang Iser beschreibt diesen Effekt, allerdings auf Literatur bezogen, als eine Einklammerung unserer natürlichen Einstellungen zugunsten einer ästhetischen Einstellung gegenüber fiktionalen Gebilden; eben für diese Einklammerung der natürlichen Einstellungen stehe das ›Als ob‹ aller Fiktion. Der Partikelkomplex des Als-Ob bezeichne die Funktion, »ein vorliegendes Etwas mit den Konsequenzen aus einem unwirklichen oder unmöglichen Falle gleichzusetzen.« (ISER 1993: 39; vgl. auch VAIHINGER 1922: 585) Fiktional in diesem grundlegenden und nicht-genremäßigen Sinne sind aber auch Filme. Denn gerade sie bieten uns etwas unter den Bedingungen suspendierbarer Realitätsüberprüfungen als evident erscheinend dar. Informiert über die genuine Irrealität des Filmgeschehens und d.h. positiv: über seine strikt wahrnehmungsabhängige Erscheinungshaftigkeit ist nicht nur unser kognitives Überzeugungssystem. Der ganze Organismus des Filmrezipienten ist im Prozess der Rezeption bis hinunter auf die sensomotorische Erlebnisebene um seine primäre Anpassungsfunktionalität enthoben. Dies wiederum bedeutet aber, dass wir nicht nur nicht dumm denken angesichts von Filmen, sondern dass wir auch nicht dumm fühlen. Während der Rezeption wird unser Bewusstsein nie, wie in Traumzuständen, vollständig von einem Filmgeschehen besetzt. Die reale Rezeptionsumgebung wirkt weiterhin auf uns ein, wie subliminal auch immer. Eben deshalb halten wir auch nicht jeden gegebenen Wahrnehmungseindruck oder jede während der Filmrezepzion wahrnehmbare Regung, wie z.B. ein Jucken im Knie, für einen Immersionseffekt des Films, mit dem wir gerade noch so verstrickt sein mögen. Das ist aber nur deshalb möglich, weil selbst unsere körperlichen Regungen nur durch unser Informiertsein über ihre Kontextzugehörigkeit für uns das sind, was sie sind.

Was anästhesiert wird, während der Filmrezeption, ist nicht das Wahrnehmungssystem und auch nicht unser Überzeugungssystem. Vielmehr findet innerhalb beider Systeme und zwischen ihnen eine vernehmliche Reizverschiebung von Figur und Grund oder Vorder- und Hintergrund zugunsten der Salienz unterschiedlicher Facetten des visuell-akustischen Filmgeschehens statt. Während die empirische Umwelt als primärer Bezugshorizont dabei in den Hintergrund rückt (und damit aber gerade nicht schlicht annulliert wird), kann nun das Bildschirm- oder Leinwandgeschehen vorübergehend die Rolle des hervorstechenden Impulses für unsere darauf bezogenen, leiblichen Interpretationen und Umwandlungen spielen. Da unsere Reaktionen, wie Dewey sagt, auf die Bedeutung des Reizes zurückwirken, verändert sich im Zuge unserer Interaktion mit dem Filmgeschehen dieses selbst so, dass es durch unsere leibliche Interpretation verlebendigt wird. Der so genannte ›Realitätseindruck des Filmischen‹ verdankt sich schließlich dem Faktum, dass wir mit vermehrter Aufmerksamkeit sowohl unsere Vorstellungsmöglichkeiten wie unseren Organismus buchstäblich in Filme einspeisen. Als implizite Rezipienten verleihen wir dergestalt dem Filmgeschehen Leben und Kontinuität, und zwar über die Grenzen der Bildschirm- und Leinwandbegrenzungen und ihrer systematischen Auslassungen auf der Ebene der Montage und des Plots hinaus. Bei der Absorption in ein multimediales Filmgeschehen fundiert ein ganzer Chor kognitiver, affektiver und synästhetischer Reaktionen den evidenten Realitätseindruck des Filmischen.

Wenn dies stimmt, so wird ein entsprechend ausdifferenziertes Konzept von Immersion erforderlich. Kinästhetische Empfindungen von optisch empfangenen Bewegungs- und Farbeindrücken, wie auch entsprechend affektiv-somatische Resonanzen auf Stimmen, Musik und Sound gehen in unsere Immersionen ebenso mit ein, wie narrative Antizipationen und Rückblenden eines Handlungsverlaufs, Identifikationen mit Charakteren und Positionen des Films sowie intertextuelle Bezüge auf andere Filme oder Kunstwerke.

Da Immersionen stets episodal und nicht dispositionell sind, nimmt die filmische Realität in ihrem Aufnahmemodus stets einen sequenziellen Ereignischarakter an. Bis zum Schluss ist nie gewiss, wohin uns ein Film führt.

Immersionen stellen nach dem bisher Gesagten offenbar keinen eigenständigen psychologischen Zustand dar, sondern sind ihrerseits eher funktional als eine Anschubkraft gesteigerter Aufmerksamkeit für ganz unterschiedliche mentale und körperliche Regungen zu betrachten. Dann wäre ein Wechsel zwischen mal mehr affektiven und dann wieder stärker kognitiven Formen immersiver Bezüge zugleich mit einem Nachlassen der Aufmerksamkeit mal auf der einen und dann wieder auf der anderen Ebene unserer Einlassungen auf ein Filmgeschehen umstandslos zu subsumieren. Nicht jede Ebene unseres Bewusstseinssystems ist ja gleichermaßen durchgehend aktiviert, während wir einem Film folgen.

Die Semantik der Filmerzählungen fungiert dabei keineswegs bloß als abstrakte Hintergrundstruktur oder abgespaltener Stimulus für die leiblichen Reaktionen. Vielmehr, so lautet mein Vorschlag, fungiert der narrative Aufbau eines Films durchgehend als szenisch-semantisches Explikandum unserer durch Film verursachten, an sich selbst aber implizit bleibenden, Bewusstseinsregungen. Auf Basis unserer immersiven Partizipationen geistiger und körperlicher Art wird die filmische Erzählhandlung zur vorübergehend fokussierten Matrix unserer Einlassungen. Was in diesem Austausch von Zuschauerleib und filmischen Input eine erlebnishafte und auch affektiv wirksame Gestalt annimmt, lässt sich durchaus mit Iser als ›ein Imaginäres‹ bezeichnen, das Film und Zuschauer gleichermaßen umgreift und in etwas Drittes transformiert (zum Begriff des Imaginären bei Iser vgl. ISER 1993: dort besonders: IV. Das Imaginäre, 292-412).

Welche Perspektive eine Analyse von Immersion für eine Rezeptionsästhetik des Films eröffnet, kann nun so konturiert werden: Durch unsere multiimmersiven Einlassungen erhält jede Filmfiktion offenbar ihren eigenen imaginären Index, aus dem sich schließlich ihre rezeptionsabhängige, ephemere Realität speist. Ohne sie, d.h. ohne multiimmersive Einlassungen, ist kein Film das, was er ist. Das aber bedeutet, dass die aisthetischen Dimensionen unserer multiimmersiven Reaktionen auf Film eine fundierende Rolle für deren Ästhetik spielen. Mit der prozesshaft ablaufenden Umwandlung des filmischen Inputs in Reaktionen der beschriebenen Sorte entsteht erst so etwas wie die ästhetisch erfahrbare Einheit der filmischen Fiktion. Und der Ort dieser ästhetischen Fiktion ist dann der verzeitlicht zu denkende, im aufmerksamen Erlebensprozess wahrnehmbare Interaktionsraum zwischen Leinwand bzw. Bildschirm und respondentem Zuschauerleib.

Wenn diese noch bruchstückhaften Überlegungen zutreffen, so wird noch etwas anderes, vermeintlich Selbstverständliches in Bezug auf die Filmästhetik fraglich, nämlich ob es sich bei der ästhetischen Rezeption von Filme im Modus der Immersion um das Verfolgen und die Präsupposition einer ganzen Welt handelt oder handeln muss? Kann es nicht sein, dass gerade die imaginäre Irrealität des filmischen Mediums uns von der Verortung einer erzählten Handlung in eine ganze Welt ebenso entbindet wie uns selbst von einer entsprechenden Notwendigkeit zur Lokalisierung in einer solchen? Zwar spinnen wir im Geiste das filmisch Dargestellte über den engen Rand der Bildschirm- und Leinwandbegrenzungen hinaus semiotisch fort. Aber die Möglichkeit eine ganze geschlossene Welt dabei zu ersinnen, bleibt begrenzt und ist auch unnötig. Was, wenn Filme ästhetisch betrachtet gar nicht primär Welten oder umfassende Weltsichten bieten, sondern eben dies, dass sie hinsichtlich ihrer wahrnehmbaren Verortung in ein Raumzeitkontinuum immer nur unabschließbare Fragmente bleiben? Was, wenn jede filmische Erzählung stets nur auf einer einzigen, dafür umso kurvenreicheren Zeitachse existierte und zwar auf der unseres multiimmersiven Erlebens? Dann wäre ›Immersion‹ noch mehr als nur ein Ausdruck für eine grundlegende ästhetische Erfahrungsdimension und ephemere Anschubkraft des Films. Es wäre zugleich der metaphorische Überbegriff eines utopischen Versprechens, das vielleicht auch von jeher spezifisch mit dem zeit- und bewegungsbasierten Filmmedium verbunden ist: Gemeint ist der geradezu prometheische Wunsch, eine lebendige und sinnhafte Zeitlichkeit außerhalb des begrenzten Horizontes der eigenen Endlichkeit erfahren zu können.


Literatur

  • BAUMGARTEN, A. G.: Aesthetica. Hamburg [Meiner] 2007

  • CAVELL, S.: The world viewed. Reflections on the ontology of film. Cambridge (MA)/London [Harvard University Press] 1979

  • DEWEY, J.: Kunst als Erfahrung. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1998

  • FRIED, M.: Menzel’s Realism. Art and Embodiment in Nineteenth Century Berlin. New Haven/London [Yale University Press] 2002

  • ISER, W.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. [Surhkamp] 1993

  • METZ, C.: Semiologie des Films. München [Fink] 1972

  • SUHR, M.: John Dewey zur Einführung. Hamburg [Junius] 2005

  • VAIHINGER, H.: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealostischen Positivismus. Leipzig [Meiner] 1922

  • VOSS, C.: Filmerfahrung und Illusionsbildung: Der Zuschauer als Leihkörper des Kinos. In: Koch, G./Voss, C. (Hrsg.): …kraft der Illusion. München [Fink] 2006, S. 71-87

  • WELSCH, W.: Ästhetisches Denken. Stuttgart [Reclam] 2003


.
Fussnoten:

(1)

In synonymer Verwendung mit ›Absorption‹ und ›Empathie‹ diskutiert Michael Fried das immersive Potenzial von und Verhältnis zu Gemälden.

(2)

An dieser Stelle könnte man sich durchaus auf die Einschränkung des Gegenstandsfeldes philosophischer Ästhetik positiv zurückbesinnen, wie sie sich in der Heuristik von Baumgartens Aestehtica ganz am Anfang findet: »Um Unvollkommenheiten der sinnlichen Erkenntnis, die so sehr verborgen sind, dass sie uns entweder völlig dunkel bleiben oder nur durch die Beurteilungskraft des Verstandes aufgedeckt werden können, besorgt sich der Ästhetiker als solcher nicht.« (zitiert aus: BAUMGARTEN 2007: 21, §16, Teil 1)

(3)

Dazu passt auch sein Kommentar zu Paul Valery: »Wenn ein Klassiker der Moderne wie Paul Valery die Überschreitung des ästhetischen zu einer wie er sagte ›ästhe-s-ischen‹ Wahrnehmung forderte, die alle Sinne global und überlegt einbezieht, so scheint mir das noch immer nicht genügend zu sein. Er bleibt einer Perspektive des Reichtums und der reinen Positivität des Ästhetischen verhaftet. Spätere Künstler haben Werke der Verweigerung geschaffen, Werke, deren Aneignung fehlschlägt.« (BAUMGARTEN 2007: 39)

(4)

Diese hier vorzuschlagende Definition von ›filmischer Fiktionalität‹ zielt insofern über die seit Coleridge gängige Formel von der einklammernden Haltung einer ›Suspension von Ungläubigkeit‹ hinaus, als sie nicht nur einen Effekt auf unser Überzeugungssystem impliziert.

(5)

Diesen Vorgang beschreibe ich auch als ›Leihkörperschaft des Zuschauers‹ (VOSS 2006: 71-87).

(6)

Und wenn dies dann als ›Welt‹ zusammengefasst wird, ist dagegen nichts einzuwenden.

(7)

Dagegen betont Stanley Cavell, Film sei immer eine automatisierte Weltprojektion, »reproducing the world is the only thing film does automatically« (CAVELL 1979: 103).