Dem Auge auf der Spur: Eine historische und empirische Studie zur Blickbewegung beim Betrachten von Gemälden


Autoren: Martina Engelbrecht, Juliane Betz, Christoph Klein, Raphael Rosenberg
[erschienen in: IMAGE 11 (Ausgabe Januar 2010)]

Schlagwörter: Bildbeschreibung, Blickbewegung, Instruktion

Disziplinen: Kunstgeschichte, Psychologie


As part of an interdisciplinary DFG funded research project between Art History and Psychology we studied gaze movements from
1. a historical point of view – examining art literature, esp. descriptions of art works;
2. an empirical point of view – using an eye-tracker, questionnaires and interviews.
We collected and keyworded more than 500 text passages that address eye-movements in the context of art beholding in order to explain the history of the description of eye movements in art literature. In a second step we analyzed the relation between these literary descriptions and the physiological processes of perception. We found out that the gaze movement patterns of the test persons do in fact resemble the structure of the paintings similarly to the way in which gaze movement paths are described in the historical text passages. We also examined in which way the instruction to speak about paintings while looking at them influences the test persons’ gaze movement patterns. As to the influence of instructions on the process of perception, our preliminary results have strong implications for the constructive role of language in the beholding of visual arts.

Im Rahmen einer DFG-geförderten Zusammenarbeit von Kunsthistorikern und Psychologen untersuchten wir Blickbewegungen bei der Betrachtung von Gemälden aus historischer und empirischer Perspektive.
Wir sammelten und verschlagworteten über 500 Texte der Kunstliteratur, in denen Augenbewegungen thematisiert werden, um einen geschichtlichen Überblick über kunstliterarische Beschreibungen von Blickbewegungen zu erarbeiten. Parallel zu dieser historischen Studie zeichneten wir mittels Eye Tracking Blickbewegungsdaten bei der Betrachtung von Gemälden auf, um das Verhältnis von natürlichem Blickverhalten und den in den Texten beschriebenen Blickmustern zu untersuchen. Unsere Blickbewegungsmessungen, die auf eine Quantifizierung der Wiederholungsrate strukturtragender Elemente abzielten, konnten nachweisen, dass die fiktiven Augenbewegungen in der Kunstliteratur den empirisch messbaren Bewegungen ähneln, die das Auge beim Betrachten eines Gemäldes vollzieht. Wir fanden heraus, dass Versuchspersonen Blicksprünge, die die kompositionelle Struktur von Gemälden widerspiegeln, vielfach wiederholen. Gruppenunterschiede ergaben sich dadurch, dass die Hälfte der Probanden die Gemälde während der Betrachtung beschreiben sollte. Das Sprechen über Bilder übt einen deutlichen, empirisch messbaren Einfluss auf den Prozess der Gemäldebetrachtung aus.

Engelbrecht, Martina ; Betz, Juliane ; Klein, Christoph ; Rosenberg, Raphael

1. Einleitung

Wie verhält sich die durch ophthalmologische Studien gewonnene Erkenntnis, dass menschliches Blickverhalten nicht in zusammenhängenden Bahnen sondern in einer schnellen Abfolge von Fixationen und Sakkaden abläuft, zur Gewohnheit von Kunsthistorikern, Bilder an Hand fiktiver Blickbewegungen zu beschreiben? Um dieser Frage nachzugehen, sammelten und verschlagworteten wir über 500 Texte der Kunstliteratur, in denen Augenbewegungen thematisiert werden. Parallel hierzu führten wir eine empirische Blickbewegungsstudie durch.

Schon seit den 1930er Jahren wurden Blickbewegungen bei der Betrachtung von Kunstwerken mehrfach untersucht (erstmals BUSWELL 1935), wobei in der Regel nur kurze Betrachtungszeiträume in der Größenordnung von wenigen Sekunden analysiert wurden. Um längere Betrachtungszeiträume auszuwerten und eine möglichst natürliche Betrachtungssituation zu generieren, richteten wir am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg ein Blicklabor ein, in dem die Versuchspersonen aufgefordert wurden, hochwertige Faksimiles von Gemälden für 15 Minuten zu betrachten. Sie konnten dabei sitzen, aufstehen und sich vor dem Gemälde bewegen.

2. Historische Studie: Bildbetrachtung und Blickbewegung in der Kunstliteratur

Der älteste Beleg für die Beschreibung von Blickbewegungen in der Kunstliteratur findet sich in Prokop von Caesareas panegyrischer Schrift De Aedificiis, 553-555, in der er die Schilderung von Bauwerken gezielt einsetzte, um Kaiser Justinian als Herrscher und Bauherren zu preisen. In der Beschreibung der Hagia Sophia reflektierte Prokop an Hand der Darstellung der Blickbewegungen eines fiktiven Betrachters, welche Architekturelemente das Auge des Betrachters anziehen und welche Bewegungen der Blick vollzieht:

»Die riesige [goldene] Kuppel scheint nicht auf dem festen Bau zu ruhen, sondern am Himmel zu hängen […]. Alle die Bauglieder, die […] ineinander gefügt [sich] gegenseitig in Schwebe halten und nur auf ihre nächste Umgebung stützen, leihen dem Werk eine einzigartige, ganz ausgezeichnete Harmonie, lassen aber das Auge des Betrachters nicht lange an einer Stelle, sondern jeder Einzelteil zieht den Blick ab, um ihn schnellstens auf sich zu lenken. Rasch wandert unausgesetzt das Auge hin und her, da sich der Betrachter nicht im Stande fühlt auszuwählen, was er mehr von all dem anderen bewundern soll. « (I, 46-49, dt. nach Procopius 1977: 141 f.)

Der Passus macht deutlich, dass sich Prokop des Zusammenhangs zwischen Augenbewegung und Aufmerksamkeit bewusst war. Gleichzeitig gelang es ihm, durch die Schilderung der Blickbewegung die ästhetische Wirkung der Kuppel zu veranschaulichen, die beinahe schwerelos schwebend den Raum überfängt, da die Wände mit ihren zahlreichen Öffnungen filigran erscheinen und die Strebepfeiler im Innenraum nicht sichtbar sind.

Explizite Beschreibungen von Blickbewegungen, die beim Betrachten eines Kunstwerks stattfinden, kommen erst wieder in der Frühen Neuzeit vor, als sich von Italien ausgehend der theoretische und schriftliche Diskurs über bildende Kunst auszubreiten begann. Besonders seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gingen mehrere Autoren von Bildbeschreibungen davon aus, dass die Art und Weise, wie ein Kunstwerk strukturiert ist, das Auge des Betrachters leitet. Da sich der Begriff der Komposition, den wir heute üblicherweise verwenden, um die formale Organisation des Raumes und der Fläche eines Bildes zu beschreiben, erst ab dem 18. Jahrhundert verbreitete, fungierte die Darstellung von Augenbewegung als Ersatz für den Kompositionsbegriff. So begründete André Félibien in der Redaktion von Charles Le Bruns Vortrag über die Mannalese von Nicolas Poussin die Notwendigkeit einer harmonischen Komposition von Farben und Figurengruppen damit, dass das Auge des Betrachters durch das Bild wandere und das Gemälde daher so komponiert sein müsse, dass es das Auge auf angenehme Weise lenke:

»Il [Le Brun] dit que ce qu'il appelle parties, sont toutes les figures separées en divers endroits de ce Tableau, lesquelles partagent la veuë, luy donnent moyen en quelque façon de se promener autour de ces figures, & de considérer les divers plans & les différentes situations de tous les corps, & les corps mesmes différens les uns des autres. / Que les groupes […] servent […] à arrester la veuë; En sorte qu'elle n'est pas toûjours errante dans une grande étenduë de pais. « (FÉLIBIEN 1668: 83)

In seinem Salon von 1767 systematisierte Denis Diderot diese Vorstellung, wonach jedes Bild eine das Auge lenkende Kompositionslinie beinhalten solle, indem er forderte, dass jedes Gemälde entlang einer einzigen Linie komponiert sein müsse. Diderot bezeichnet diese Linie als chemin de composition oder ligne de liaison:

»Il y a dans toute composition un chemin, une ligne qui passe par les sommités des masses ou des groupes, traversant différens plans, s'enfonçant ici dans la profondeur du tableau, là s'avançant sur le devant. Si cette ligne, que j'appellerai ligne de liaison, se plie, se replie, se tortille, se tourmente, si ses circonvolutions sont petites, multipliées, rectilinéaires, anguleuses, la composition sera louche, obscure; l'oeil irrégulièrement promené, égaré dans un labyrinthe, saisira difficilement la liaison. Si au contraire elle ne serpente pas assez, si elle parcourt un long espace sans trouver aucun objet qui la rompe, la composition sera rare et décousue. Si elle s'arrête, la composition laissera un vuide, un trou. […] Une composition bien ordonnée n'aura jamais qu'une seule vraie, unique ligne de liaison; et cette ligne conduira et celui qui la regarde et celui qui tente de la décrire. « (DIDEROT 1963: 186f.)

Im 19. und 20. Jahrhundert lässt sich eine zunehmende Tendenz zur Beschreibung von Kunstwerken an Hand von Augenbewegungen (potenzieller) Betrachter feststellen – nach wie vor dient die Blickbewegung dabei überwiegend zur Erläuterung struktureller Aspekte des Werkes. Als um 1900 die Komposition zu einem zentralen Forschungsfeld im Rahmen einer stilgeschichtlich ausgerichteten Kunstgeschichte wurde, deklarierten einige Kunsthistoriker Augenbewegungen sogar als Ursache für Stilveränderungen. So erklärte Heinrich Wölfflin den Übergang von der »Verwirrung« der Frührenaissance zur »Ruhe« der Hochrenaissance im frühen 16. Jahrhundert mit dem Bedürfnis des Auges nach Entspannung:

»Das Quattrocento machte dem Auge unglaubliche Zumutungen. Der Beschauer hat nicht nur die größte Mühe, aus den enggestellten Kopfreihen die einzelnen Physiognomien sich herauszuklauben, er bekommt auch Figuren in Bruchstücken zu sehen […].

Was für eine Befriedigung empfindet dagegen das Auge vor den figurenreichsten Kompositionen Raffaels […]. Unter allen Errungenschaften des 16. Jahrhunderts wird die völlige Befreiung der körperlichen Bewegung vorangestellt werden müssen. […] Der Körper regt sich mit lebendigeren Organen und das Auge des Beschauers wird zu einer erhöhten Tätigkeit aufgerufen. « (WÖLFFLIN 1899: 292)

Wilhelm Waetzold begründete wenig später den geografischen Unterschied von Stilen damit, dass verschiedene Völker unterschiedliches Blickverhalten aufweisen:

»Bei den Italienern spricht die architektonisch-plastische Begabung der Nation mit, die das Auge daran gewöhnt, der Form der Dinge nachzugehen, jede Gestalt einzeln für sich im Raume zu sehen und in abtastenden Blickbewegungen sich der Körperlichkeit eines Dinges zu versichern. […] Das Sehen des Italieners isoliert, das Sehen der Niederländer und Deutschen verbindet; das erste ist an die Beweglichkeit des Blicks, das zweite an das ruhig schauende Auge gewöhnt. « (WAETZOLD 1912: 211f.)

Es bleibt die Frage, inwieweit Beschreibungen von Blickbewegungen in der Kunstliteratur dem natürlichen Verhalten des menschlichen Auges bei der Betrachtung von Kunstwerken entsprechen: Seit 1878 ist bekannt, dass das Auge bei der Betrachtung unbewegter Objekte keine fließende Bewegungen ausführt, wie sie in der Kunstliteratur oftmals angenommenen werden. Vielmehr muss der Betrachter durch eine schnelle Folge von Blicksprüngen, so genannten Sakkaden, seinen Blick auf immer andere Punkte des Gesichtsfeldes richten, um während der dazwischen liegenden kurzen Dauer einer Fixation einen Ausschnitt des Betrachteten wahrnehmen zu können (vgl. WADE / TATLER 2005). Der Eindruck eines Sichtfeldes bzw. eines Bildes ergibt sich demzufolge aus einer Vielzahl kleinflächiger Seheindrücke, die nacheinander stattfinden und nicht, wie in den oben vorgestellten Beschreibungen, in einer kontinuierlichen Bewegung des Blickes entlang einer Kompositionslinie ablaufen. Blicksprünge vollziehen sich daher nach anderen Regeln als es sich viele Kunsthistoriker vorstellen. Kunsthistorische Beschreibungen von Blickbewegungen sind also ein literarisches Konstrukt, das insbesondere dazu dient, kompositionelle Sachverhalte auszudrücken. Dennoch beschreiben Kunsthistoriker bis heute Kunstwerke an Hand hypothetischer Augenbewegungen. Nur vereinzelt werden dabei die Ergebnisse der empirischen Blickforschung aufgegriffen. Dieser zumeist passiven Rezeption psychologischer Erkenntnisse sind jedoch aus zweierlei Gründen Grenzen gesetzt: Erstens werden die Ergebnisse psychologischer Laborversuche rezipiert, ohne angemessene Kenntnisse über Möglichkeiten und Bedingungen der Versuchsanordnungen zu besitzen und zweitens wurden bislang in den meisten empirischen Versuchsanordnungen die Fragen der Kunstwissenschaftler nicht umfassend berücksichtigt.

3. Empirische Studie

3.1 Forschungsstand

Die Erforschung der Blickbewegung gewann im Laufe des 20. Jahrhunderts in Psychologie und Medizin zunehmend an Bedeutung und führte zu einer Weiterentwicklung der Aufzeichnungssysteme. Die Frage nach dem Blickverhalten während der Betrachtung von Gemälden wurde erstmals ausführlich von Buswell (1935) gestellt, der zwei Phasen der Bildbetrachtung unterschied: Auf eine erste Phase der allgemeinen Erkundung des Bildes mit kürzeren Fixationen folgt die Betrachtung von Einzelheiten mit längeren Fixationen.

Molnar (1981) quantifizierte die Fixationsdauer in Zusammenhang mit der Beschaffenheit des Bildes (»Stil«) und verschiedenen Vorgaben, die den Versuchspersonen gemacht wurden. Er schloss auf ein Drei-Phasen-Modell der Bildbetrachtung, demzufolge im Verlauf einer fünfminütigen Betrachtung die Sakkaden allmählich kürzer, die Fixationen hingegen länger werden. Zangemeister, Sherman & Stark (1995) untersuchten das Blickverhalten von Experten und Laien über 30 Sekunden hinweg an Hand von gegenständlichen und abstrakten Bildern. Während in Bezug auf die Variable »Fixationsdauer« weder Unterschiede zwischen den Probandengruppen noch zwischen den Gemäldetypen auszumachen waren, inspizierten Kunstexperten im Vergleich zu Laien die Bilder mit längeren Blicksprüngen, wobei dieser Gruppenunterschied für abstrakte Bilder stärker ausgeprägt war als für gegenständliche.

Alle zuvor genannten Studien konzentrierten sich bei der Auswertung der Blickbewegungen vor allem auf die Ausprägung einzelner Parameter wie Fixationsdauer und Länge der Sakkaden. Im Gegensatz dazu interessierte sich Yarbus (1965) für den generellen Verlauf von Blickbewegungen in Bezug zur Bildfläche und publizierte erstmals grafische Darstellungen von Augenbewegungen ausgehend von längeren Bildbetrachtungsdauern (bis zu 30 Minuten). Er deutete zudem an, dass sowohl die Struktur des Bildes als auch die Erwartung und Instruktion des Betrachters einen unmittelbaren Einfluss auf den Verlauf der Blickbewegungen ausüben. Die damalige analoge Aufzeichnung der Blickbewegungsdaten ermöglichte jedoch lediglich die Auswertung eines Bruchteils der Sakkaden. Dieser Teil der Untersuchungen von Yarbus liegt deswegen nur als grobe grafische Darstellung der Daten einzelner Versuchspersonen vor, deren Herkunft und Ausbildung nicht erfasst wurde.

In der neueren psychologischen Forschung werden häufig parallel zur Blickbewegungsmessung Interviews oder Lautdenkprotokolle aufgezeichnet, um Interdependenzen zwischen Blickverhalten und verbaler Äußerung untersuchen zu können. Anders als in unserer Studie, die aus kunsthistorischer Perspektive untersucht, wie der Verlauf von Blickbewegungen beim Erfassen der kompositionellen Gesamtstruktur eines Gemäldes mit deren Versprachlichung zusammenhängt, stehen in anderen Studien einzelne Aspekte wie die subjektive Einschätzung (»Gefallen«) von Gemälden, die Wahrnehmung spezifischer Kompositionselemente (Farbe) oder das Zusammenspiel von künstlerischer Intention und Erwartungshaltung des Betrachters im Vordergrund. Allgemein zeichnet sich die Tendenz ab, dass Blickbewegungsmessungen verstärkt eingesetzt werden, um den Einfluss von Objekt (Gemälde) und Subjekt (Betrachter) auf die Wahrnehmung von Bildern zu trennen.

3.2 Stimuli

Für unsere Studie wurden vier Bilder ausgewählt: Filippo Lippi, Verkündigung, um 1450 (München, Alte Pinakothek), Pieter Bruegel, Blindensturz, 1568 (Neapel, Museo Nazionale di Capodimonte), Vincent van Gogh, Bildnis eines Bauern, 1889 (Venedig, Peggy Guggenheim Sammlung) und Franz Marc, Kämpfende Formen, 1914 (München, Pinakothek der Moderne). Das Verständnis dieser Gemälde setzt unterschiedliche Grade an Vorwissen voraus: Das Porträt van Goghs sowie die Grundstruktur von Bruegels Blindensturz (Abfolge der aufeinander gestützten Blinden) können von jedermann weitgehend voraussetzungslos verstanden bzw. erkannt werden, wohingegen für das Verständnis von Lippis Verkündigung Kenntnisse der christlichen Ikonographie notwendig sind. Franz Marcs Gemälde wurde als Beispiel für abstrakte Malerei ausgewählt, um stilistische Einflüsse (in diesem Fall gegenständlich vs. abstrakt) auf das Blickverhalten zu untersuchen.

Von allen vier Gemälden wurden Reproduktionen in Faksimilequalität ausgehend von großformatigen Ektachromes durch Laserbelichtung auf Fotopapier hergestellt (Größenverhältnis zum Original je nach Bild zwischen 1:0,75 und 1:1). Die Fotos wurden auf Kunststoffplatten aufgezogen und erhielten stilistisch passende Holzrahmen.

3.3 Probanden und Versuchsaufbau

Der Versuchsplan unserer Studie umfasste die Faktoren »Expertenstatus« (Experte versus Laie), »Interview« (angekündigtes Interview nach jedem Gemälde versus kein Interview) und »Gemälde« (Lippi = L, Bruegel = B, Marc = M, Van Gogh = V). Um Carry-over-Effekte zu kontrollieren, wurde die Reihenfolge der vier Bilder für die jeweils 15-minütige Betrachtung permutiert. Die Einteilung der Versuchspersonen in Experten und Laien erfolgte auf der Grundlage eines Expertise-Summenwertes, der mit Hilfe eines telefonisch erhobenen Expertisefragebogens vorab ermittelt wurde. Der Fragebogen erfragte im Wesentlichen Art und Häufigkeit der Beschäftigung mit Kunst sowie das Vorhandensein einer kunstwissenschaftlichen bzw. künstlerischen Ausbildung. Um eine vergleichbare sprachliche Ausdrucksfähigkeit zwischen Experten und Laien zu erzielen, rekrutierten wir Erstere aus Studierenden der Kunstgeschichte, Letztere aus Studierenden der historischen und philologischen Fächer der Universität Heidelberg. Jeweils 48 Probanden wurden auf Grund ihres Studienfachs sowie der vorweg erhobenen Daten als Experten bzw. als Laien klassifiziert. Des Weiteren wurde zu Beginn jeder Untersuchung ein kurzer Fragebogen ausgefüllt, der soziodemografische Grunddaten sowie spezielle Angaben zu Vorerfahrungen im Umgang mit Bildern erfragte. Nach der Installation und Kalibrierung des kopfgetragenen Eye Trackers (iView-X HED-HT der Firma SMI, Teltow) wurden die Blickbewegungen während der vier 15-minütigen Bildbetrachtungen registriert. Der Versuchsleiter führte mit den Probanden der Experimentalgruppe während der jeweils letzten fünf Minuten der Gemäldebetrachtung ein Interview durch. Er forderte die Versuchspersonen an Hand offener Fragen u.a. dazu auf, das Gemälde zu beschreiben und persönliche Eindrücke wiederzugeben. Die Probanden der Kontrollgruppe betrachteten die Gemälde für je 15 Minuten ohne Instruktion. Allen Versuchspersonen wurde am nächsten Tag ein Fragebogen zu jedem Bild vorgegeben, durch den die Erinnerung an die betrachteten Gemälde überprüft wurde.

4. Auswertung und Ergebnisse

Die quantitative Auswertung der Blickbewegungsdaten erfolgte mit Hilfe der von uns entwickelten Software Eye Trace. Dieses Programm bietet die u.a. Möglichkeit, die am häufigsten betrachteten Bildelemente auf zwei Arten zu definieren: Erstens als bottom-up (datengeleitet) definierte »Cluster« (Abb. 1), die auf absoluten Fixationshäufigkeiten beruhen und je nach Datensatz in unterschiedlicher Anzahl und Verteilung vorkommen; zweitens als top-down (theoriegeleitet) festgelegte »Regions of Interest« (ROI, Abb. 2), die Gruppenvergleiche ermöglichen.



Abb. 1: Eye Trace – Grafische Darstellung von »Clustern« basierend auf relativen Fixationshäufigkeiten pro Minute (»bottom up«), Definition: Radius = 60mm; min. Anzahl von Fixationen pro Minute = 1,3; Overlap = 0%. Bildbeispiel: Filippo Lippi, Verkündigung, um 1450, München, Alte Pinakothek.



Abb. 2: Eye Trace – »top down«-Definition von »Regions of Interest« (ROI).


Bei der Auswertung wurde neben den Blickbewegungsparametern Fixationsdauer und Sakkadenlänge insbesondere die Häufigkeit der Übergänge zwischen Clustern und ROI quantifiziert. Die von einzelnen Versuchspersonen mehrfach wiederholten Übergänge können als Balken dargestellt werden, wobei die Anzahl der Wiederholungen durch die Dicke der Balken kodiert wird (Abb. 3 & Abb. 4).



Abb. 3: Eye Trace – Grafische Darstellung aller mind. 0,4-mal pro Minute wiederholten Cluster-Übergänge basierend auf den Daten eines Experten der Experimentalgruppe für die gesamte Betrachtungsdauer von 15 Minuten.

Farbliche Kodierung der Ausrichtung: blau = rechts > links, rot = links > rechts, violett = beide Richtungen überlagert; die Dicke der Balken kodiert die Häufigkeit der Wiederholung.



Abb. 4: Eye Trace – Grafische Darstellung berechneter Übergangshäufigkeiten zwischen den ROIs basierend auf den Daten derselben Versuchsperson wie in Abb. 3; Definition der Übergänge analog der Cluster-Übergänge (Abb. 3).


Um personenübergreifende Mittelwerte zu berechnen und grafisch darzustellen, überzogen wir die Gemälde mit einem Raster und färbten dessen Felder umso dunkler, erstens je mehr Fixationen im entsprechenden Quadrat gefunden wurden (Abb. 5) oder zweitens je mehr Sakkaden darüber hinweg verliefen (Abb. 6).



Abb. 5: Eye Trace – Rasteranalyse: grafische Darstellung der kumulierten Anzahl der Fixationen aller Versuchspersonen (N=72) während der gesamten Aufzeichnungszeit auf einem 5cm-Raster.



Abb. 6: Eye Trace – Rasteranalyse: grafische Darstellung der kumulierten Anzahl der Sakkaden aller Versuchspersonen (N=72) während der gesamten Aufzeichnungszeit auf einem 5cm-Raster.


Die Analyse der Blickbewegungsdaten bestätigte unsere Ausgangsthese, wonach Versuchspersonen bestimmte Sakkaden vielfach im Verlauf mehrerer Minuten wiederholen. Diese Blicksprünge entsprechen bei den bislang untersuchten Gemälden weitgehend der Struktur der Bilder und kommen den »Kompositionslinien« nahe, die aus Kompositionsskizzen von Kunsthistorikern und Kunsterziehern geläufig sind. Ein wichtiges Ergebnis unserer Studie ist, dass sich die Bahnen, innerhalb derer die Blicksprünge wiederholt werden, intersubjektiv sehr stark ähneln, wenn man sie über die gesamte Messstrecke hinweg grafisch veranschaulicht (Abb. 7).



Abb. 7: Eye Trace – Grafische Darstellung der Wiederholung kompositionsrelevanter Strukturen an Hand aller mind. 0,3-mal pro Minute wiederholten Clusterübergänge basierend auf einer zufällig ausgewählten Teilstichprobe von N=18 Probanden und bezogen auf die gesamte Betrachtungsdauer von 15 Minuten. Eine solche Auswahl war erforderlich, weil entsprechende Berechnungen über alle Probanden die Rechenkapazität unseres Laborrechners übersteigen. Die in den Abb. 7 bis 11 dargestellten Ergebnisse wurden mit anderen Zufallsstichproben nahezu identisch repliziert und sind daher auf die Gesamtstichprobe verallgemeinerbar.


Die genaue Abfolge der Sakkaden, in der die Blicksprünge vollzogen werden, ist hingegen von Proband zu Proband unterschiedlich. Daraus schließen wir, dass das Verständnis eines Bildes bzw. die Wahrnehmung seiner Struktur mit der Wiederholung jener Blicksprünge einhergeht, die die Komposition nachvollziehen. Dies geschieht in abgeschwächter Form auch dann, wenn das Gemälde während der Betrachtung nicht zusätzlich beschrieben wird. Zudem fällt auf, dass die von den Versuchspersonen häufig wiederholten Blickbahnen eine große Übereinstimmung mit traditionellen Beschreibungen des jeweiligen Bildes aufweisen. So haben Versuchspersonen im Falle von Bruegels Blindensturz besonders häufig die strukturrelevante Diagonale betrachtet (Abb. 8), die auch in einschlägigen Beschreibungen des Gemäldes betont wird – so etwa bei Hans Sedlmayr:

»Als Ordnung […] betont das Neapler Bild mit größtem Nachdruck die von links oben nach rechts unten fallende Diagonale, oder genauer, die Verbindung einer Schar fallender Diagonalen mit einer Parabelkurve. Die fallende Diagonale ist in mehreren Parallelen durchgeführt […]. Die Köpfe der sechs Blinden aber sind sehr auffallend in einer Parabelkurve angeordnet, welche die zunehmende Beschleunigung der Bewegung unübertrefflich zum Ausdruck bringt und dem Sturz – rein anschaulich genommen – etwas Unausweichliches, Verhängnisvolles, Notwendiges verleiht. « (SEDLMAYR 1957: 9)

Durch die Visualisierung der wiederholten Clusterübergänge (Abb. 9) wird deutlich, dass die Versuchspersonen auch bei komplexen Bildern wie Franz Marcs Kämpfenden Formen mehrfach kompositionsrelevante Elemente mit ihrem Blick abtasten: Sie blicken zwischen den beiden das Bild dominierenden Farbmassen hin- und her. Dies entspricht dem Titel und den meisten Beschreibungen des Bildes: Dargestellt ist der Kampf zwischen der linken, hellen, »aktiven« Seite mit warmen Farben und der rechten, dunklen, »introvertierten« Seite mit kalten Farben.



Abb. 8: Eye Trace – Grafische Darstellung der Wiederholung kompositionsrelevanter Strukturen an Hand aller mind. 0,3-mal pro Minute wiederholten Clusterübergänge basierend auf einer zufällig ausgewählten Teilstichprobe von N=21 Probanden für die gesamte Betrachtungsdauer von 15 Minuten. Bildbeispiel: Pieter Bruegel. Blindensturz, 1568, Neapel, Museo di Capodimonte.



Abb. 9: Eye Trace – Grafische Darstellung der Wiederholung kompositionsrelevanter Strukturen an Hand aller mind. 0,3-mal pro Minute wiederholten Clusterübergänge basierend auf einer zufällig ausgewählten Teilstichprobe von N=23 Probanden für die gesamte Betrachtungsdauer von 15 Minuten. Bildbeispiel: Franz Marc, Kämpfende Formen, 1914, München, Pinakothek der Moderne.


Für die weitere Auswertung wurde die gesamte Betrachtungszeit eines jeden Gemäldes (ca. 15 Min.) in drei gleich lange Segmente unterteilt, wobei die Probanden der Experimentalgruppe im dritten Segment interviewt wurden, während die Versuchspersonen der Kontrollgruppe das jeweilige Bild weiter schweigend betrachteten. Auffällig war in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen beiden Gruppen: Während des Sprechens über das Bild blickten die Versuchspersonen der Experimentalgruppe bis zu fünfmal häufiger auf die kompositionsrelevanten Strukturen der Gemälde als die Probanden der Kontrollgruppe während der stummen Betrachtung (Abb. 10 vs. 11). Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass bei den Versuchspersonen der Experimentalgruppe die durchschnittliche Länge der Sakkaden während des Sprechens zunahm, wohingegen die Dauer der Fixationen abnahm.

Die Veränderungen der Blickbewegungsparameter, die sich während des Sprechens über ein Gemälde bei gleichzeitiger Betrachtung ereignen, lassen darauf schließen, dass die Versuchspersonen in der vorangegangenen Phase der stummen Betrachtung ein individuelles Verständnis des Kunstwerks entwickelt haben. Dies ermöglicht es ihnen, das Bild während des Interviews schneller und großflächiger mit ihrem Blick abzutasten. Das Auge dient in diesem Fall offensichtlich dazu, die bereits erkannten Strukturen nachzuvollziehen. Durch seine Augenbewegungen vergewissert sich der Sprecher also der Korrektheit dessen, was er bereits begriffen hat.

Die Auswertung der Datensätze der hier beschriebenen Studie ist noch nicht abgeschlossen. Derzeit werden insbesondere die Unterschiede im Blickverhalten von Experten und Laien analysiert.



Abb. 10: Eye Trace – Grafische Darstellung des Einflusses von Sprechen auf das Blickverhalten an Hand aller mind. 0,3-mal pro Minute wiederholten Clusterübergänge basierend auf einer zufällig ausgewählten Teilstichprobe von N=18 Probanden der Experimentalgruppe für die letzten fünf Minuten der Bildbetrachtung (Instruktion: Bildbeschreibung).



Abb. 11: Eye Trace – Grafische Darstellung des Einflusses von Sprechen auf das Blickverhalten an Hand aller mind. 0,3-mal pro Minute wiederholten Clusterübergänge basierend auf einer zufällig ausgewählten Teilstichprobe von N=18 Probanden der Kontrollgruppe für die letzten fünf Minuten der Bildbetrachtung (keine Instruktion).


Literatur

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  • BUSWELL, G.T.: How People Look at Pictures. A Study of the Psychology and Perception in Art. Oxford [ ] 1935
  • CLAUSBERG, K.: Neuronale Kunstgeschichte. Wien [ ] 1999
  • DIDEROT, D.: Salon de 1767. Oxford [ ] 1963
  • FELIBIEN, A. (Hrsg.): Conférences de l’Académie royale de peinture et de sculpture, Sixième conférence. Paris [ ] 1668
  • FRANGENBERG, TH.: Der Betrachter. Studien zur florentinischen Kunstliteratur des 16. Jh.s. Berlin [ ] 1990
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  • LOCHER, P.J.; KRUPINSKI, E.A.; MELLO-THOMAS, C.; NODINE, C.F.: Visual interest in pictorial art during an aesthetic experience. In: Spatial Vision, 21 (1-2), 2007, S. 55-77
  • MOLNAR, F.: About the Role of Visual Exploration in Aesthetics. In: DAY, H.I. (Hrsg.): Advances in Intrinsic Motivation and Aesthetics. New York / London [ ] 1981, S. 385-413.
  • PROKOP V. CAESAREA: Bauten. München [ ] 1977
  • ROSENBERG, R.: Beschreibungen und Nachzeichnungen der Skulpturen Michelangelos. Eine Geschichte der Kunstbetrachtung. München / Berlin [ ] 2000
  • ROSENBERG, R.: Le schéma de composition, outil et symptôme de la perception du tableau. In: RECHT, R. ET AL. (Hrsg.): Histoire de l'histoire de l'art en France au XIXe siècle, Paris [ ] 2008, S. 419-431
  • ROSENBERG, R.; BETZ, J.; KLEIN, C.: Augensprünge. In: Bildwelten des Wissens – Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd.6,1, 2008, S. 127-129
  • SEDLMAYR, H.: Pieter Bruegel: Der Sturz der Blinden. Paradigma einer Strukturanalyse. München [ ] 1957
  • TATLER, B.W., WADE, N.J. & KAULARD, K.: Examining art: dissociating pattern and perceptual influences on oculomotor behaviour. In: Spatial Vision, 21 (1-2), 2007, S. 165-184
  • WADE, N. J. & TATLER, B. W.: The Moving Tablet of the Eye. The Origins of Modern Eye Movement research. Oxford [ ] 2005
  • WAETZOLD, W.: Einführung in die bildenden Künste. Leipzig [ ] 1912
  • WÖLFFLIN, H.: Die klassische Kunst. München [ ] 1899
  • YARBUS, A.L.: Eye Movements and Vision. New York [ ] 1967
  • ZANGEMEISTER, W. H.; SHERMAN, K.; STARK, L.: Evidence for a Global Scanpath Strategy in Viewing Abstract Compared with Realistic Images. In: Neuropsychologia, 33, 1995, S. 1009-1025


.
Fussnoten:

(1)

Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg

(2)

Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg

(3)

Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Freiburg sowie School of Psychology, University of Bangor

(4)

Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg sowie Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien

(5)

Frangenberg (1990: 144ff.), Baxandall (1994: 413), Clausberg (1999), Rosenberg (2000: 49ff.) und Giuliani (2003: 27f.) haben bspw. versucht, psychophysiologische Publikationen über Blickbewegung für das Verständnis der Kunstrezeption fruchtbar zu machen

(6)

Locher, Krupinsky, Mello-Thomas und Nodine (2007) untersuchten die verbale und okulomotorische Reaktion von Versuchspersonen auf Werke berühmter Künstler innerhalb der ersten 100ms und während einer beliebig langen Zeit der Betrachtung.

(7)

Locher, Overbeeke und Stappers (2005) untersuchten den Einfluss von Farbfeldern auf die Wahrnehmung von kompositioneller Ausgewogenheit.

(8)

Tatler, Wade und Kaulrad (2007) arbeiteten mit verfremdeten Stimuli (Porträts, bei denen die Gesichter in Rasterfelder eingebettet sind), um herauszufinden, welchen Anteil die kompositorischen Absichten des Künstlers und die visuelle Erfahrung des Betrachters an der Wahrnehmung von Kunst haben.

(9)

Zur Geschichte der Kompositionsskizze siehe Rosenberg (2008).