Was ist „schräge Kamera“? – Anmerkungen zur Bestandaufnahme ihrer Formen, Funktionen und Bedeutungen


Autoren: Klaus Sachs-Hombach, Stephan Schwan
[erschienen in: Die schräge Kamera. Formen und Funktionen der ungewöhnlichen Kameraperspektive in Film und Fernsehen (Themenheft zu IMAGE 1)]

Schlagwörter: Filmische Darstellungsverfahren, Schräge Kamera, Filminterpretation, Theorierahmen

Disziplinen: Philosophie, (Medien-)Psychologie, Filmwissenschaft


Zu einem angemessenen Verständnis des Phänomens der schrägen Kamera ist es nötig, in einem ersten Schritt einen groben Überblick ihrer unterschiedlichen Formen, Funktionen und Kontexte zu geben und die zur Verwendung kommenden Gestaltungsmittel sowie die unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten zu erfassen. In einem zweiten Schritt ist dann zu klären, welche Formen der schrägen Bildperspektive in welchen Verwendungszusammenhängen in welcher Funktion eingesetzt werden. Diese Sondierung der Beschreibungsmöglichkeiten und der sich damit ergebenden Bedeutungsdimensionen der Schrägung der Kamera wird im Folgenden im Horizont einer multidisziplinär orientierten bildwissenschaftlichen Untersuchung erfolgen.

1. Einleitung

Das Projekt „Die schräge Kamera. Formen und Funktionen ungewöhnlicher Perspektiven in Film und Fernsehen“ war explizit als Projekt einer sich gerade als eigenständige Disziplin etablierenden, interdisziplinär orientierten, allgemeinen Bildwissenschaft konzipiert. Hierbei war nicht nur an einer Zusammenführung und Abstimmung der theoretischen Modelle der unterschiedlichen Disziplinen gedacht. Vielmehr war zudem intendiert, am Beispiel einer sehr speziellen Frage zur Filmrezeption den Zusammenhang von theoretischen Vorgaben in der bildwissenschaftlichen Forschung und praktischen Erfordernisse in der Bildherstellung zu reflektieren. Diese weitreichenden (und in dem vorliegenden Themenheft nur zum Teil erreichten) Zielsetzungen machten in einem ersten Schritt einige methodologische Klärungen erforderlich, mit denen sich die beteiligten Disziplinen und Ansätze (und die bislang nur wenig integrierten Zugänge zum Thema) systematisch aufeinander beziehen ließen. Diese Klärungen werden in den folgenden beiden Abschnitten skizziert. In einem weiteren Schritt war es für ein theoretisches Verständnis des Phänomens „Schräge Kamera“ dann nötig, einen groben Überblick ihrer unterschiedlichen Formen, Funktionen und Kontexte zu geben und die zur Verwendung kommenden Gestaltungsmittel sowie die unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten zu erfassen. Ein solcher Überblick und die damit einhergehende Sondierung der Beschreibungsmöglichkeiten und der sich damit ergebenden Bedeutungsdimensionen der schrägen Kamera werden im dritten und vierten Abschnitt des vorliegenden Beitrages gegeben. Auf der damit erarbeiteten Basis unternehmen die folgenden Beiträge des Themenheftes zur schrägen Kamera dann den Versuch, zu klären, welche Formen der schrägen Bildperspektive in welchen Verwendungszusammenhängen und mit welchen Funktionen eingesetzt werden.

2. Der übergeordnete Theorierahmen: Bild und Film als hybride Medien

Um einen beliebigen interdisziplinären Diskurs zu organisieren, müssen die einzelnen disziplinären Perspektiven strukturiert werden, d.h., es muss gezeigt werden, wie sich die Beiträge der einzelnen Disziplinen aufeinander beziehen und ergänzen lassen. Ohne eine entsprechende Struktur, die im Folgenden als Theorierahmen bezeichnet wird, bleiben die einzelnen disziplinären Beiträge beziehungslos nebeneinander stehen und können sich höchstens zufällig gegenseitig befruchten.

Der bildwissenschaftliche Theorierahmen, der zur Strukturierung der aufgeworfenen Fragen zum Phänomen „Schräge Kamera“ dienen soll, lässt sich in der These zusammenfassen, dass Filme ebenso wie einzelne Standbilder auch unabhängig von Schrift und Ton, also auch als rein visuelles Phänomen, ein hybrides Medium bilden, denn sie verbinden bereits über die visuelle Komponenten semiotische und perzeptuelle Aspekte (vgl. Sachs-Hombach 2003). Insofern wir ihnen immer eine Darstellungsqualität zuweisen und nicht nur als Dinge unter anderen Dingen verwenden, verstehen wir sie als Zeichen; insofern sie aber visuelle Zeichen sind, erfolgt ihre Interpretation „wahrnehmungsnah“. Damit ist weniger gemeint, dass wir sie im Kommunikationsprozess wahrnehmen müssen, denn diese Bedingung gilt für den Zeichengebrauch generell. Entscheidend ist vielmehr, dass zumindest einige Aspekte der Bedeutung, die mit wahrnehmungsnahen Zeichen vermittelt werden sollen, (nach semiotischer Terminologie) „motiviert“ sind. Sie ergeben sich aus der Struktur der Zeichen selbst – genauer gesagt: der Zeichenträger –, während die Zeichenträger arbiträrer Zeichen in der Regel keinerlei Hinweise auf die entsprechenden Bedeutungsaspekte enthalten. Um zu erkennen, was im Bild oder im Film dargestellt ist, können wir daher zumindest sehr oft auf die (in der Regel unbewussten) Prozesse zurückgreifen, über die wir mit der Fähigkeit zur (eigentlich auf reale, anwesende Gegenstände ausgerichteten) Gegenstandswahrnehmung bereits verfügen. Diese Besonderheit liegt am stärksten bei illusionistischen Bildern vor.

Im Unterschied zum Trompe l’œil können wir bei den meisten Bilder aber keineswegs ohne weiteres und von selbst erkennen, was genau sie darstellen oder was mit Ihnen bezweckt wird, denn sie enthalten in der Regel semiotische Komponenten, deren Verständnis eine Kenntnis zahlreicher Darstellungskonventionen voraussetzt. Bei nicht-illusionistischen Bildern wie Karikaturen, Kinderzeichnungen oder auch bei Landkarten ist daher neben der Wahrnehmungskompetenz auch eine semiotische Kompetenz verlangt, ohne die sich im Einzelfall etwa nicht entscheiden ließe, welche Eigenschaften in welcher Weise abbildungsrelevant sind. Eine Auszeichnung der abbildungsrelevanten Eigenschaften wird hierbei in dem Maße schwieriger, in dem wir es mit uns unbekannten Objekten zu tun haben, denn die allgemeinen Wahrnehmungsprinzipien, die in diesem Fall an die Stelle der objektspezifischen Wahrnehmungskompetenzen treten, bleiben unbestimmt. Bildhafte Darstellungen enthalten also prinzipiell immer sowohl perzeptuelle als auch semiotische Aspekte, und für die konkrete Beschreibung unterschiedlicher Bildmedien oder Bildtypen ist es wesentlich, das Verhältnis dieser beiden Komponenten zu bestimmen.

Die Unterscheidung von wahrnehmungstheoretischen und semiotischen Aspekten lässt sich gleichermaßen auf Standbilder und auf Filme anwenden, die entsprechend als dynamische Bilder gelten können. Allerdings sind die bei Standbildern vorliegenden Grenzfälle (das Trompe l’œilals wahrnehmungstheoretischer Grenzfall und das Ideogramm als semiotischer Grenzfall) beim Film eher selten. Für den semiotischen Grenzfall könnte vielleicht auf die Experimentalfilme hingewiesen werden, die etwa mit einer Reduktion auf die Darstellung geometrischer Formen eine Art visueller Rhythmik erzeugen. Diese Versuche, musikalische Prinzipien auf den Film anzuwenden, stehen allerdings nicht zum Visuellen insgesamt in Opposition, sondern nur, wie in der abstrakten Malerei, zum Gegenständlichen. Als wahrnehmungstheoretischer Grenzfall ließen sich evt. die heute erst unzureichend realisierbaren virtuellen 3D Umgebungen anführen. Da das Phänomen Film in der Regel aufwendige Apparaturen und entsprechende Vorführräume zur Voraussetzung hat, sind aber Täuschungen über den Darstellungsstatus des Films kaum möglich.

Vertraut ist uns beim Film lediglich das partielle Trompe l’œil. Das hängt damit zusammen, dass beim Film anders als beim Standbild durch den zeitlichen Kontext eine Disambiguierung erfolgt, die viele Unbestimmtheiten ausräumt und damit ein unmittelbareres Erkennen des Bildinhaltes ermöglicht. Dass der elementare Darstellungsinhalt des Films die Ereignisdarstellung, also letztlich eine Bewegung im Raum ist, verstärkt vermutlich auch seine Ausrichtung auf die abbildende Funktion, die in der Filmtheorie (vor allem Krakauer) als „realistischer“ Zug des Films immer betont worden ist. Entsprechend ist es keine Seltenheit, dass wir die Bewegung im Bildraum als reale Bewegung erleben und zuweilen (nicht anders als den Betrachter von Lumières L’Arrivée d’un train en gare de la Ciotat nachgesagt wird) unwillkürlich zusammenzucken.

Wird der Film in dieser Weise anhand bildtheoretischer Überlegungen erläutert, könnte ein partielles filmisches Trompe l’œil (also der wahrnehmungstheoretische Grenzfall) als Ausgangspunkt zur systematischen Beschreibung der einzelnen Darstellungsmittel dienen. Diese liefern entweder eine Betonung oder aber eine Abschwächung der wahrnehmungstheoretischen Aspekte (der illusionionistischen Wirkung), wobei eine Abschwächung erzielt wird durch die Integration semiotischer Aspekte, die den Darstellungscharakter oder die Gemachtheit des Films hervorheben. Die Montage wäre dann etwa eine Technik, um die einzelnen Darstellungssegmente, also die einzelnen Filmbilder oder die Einstellungen, so zu organisieren, dass entweder der Eindruck dreidimensionaler Gegenstände in zeitlicher Kontinuität trotz der Reduktion auf bestimmte zeitliche Ausschnitte suggeriert oder aber bewusst irritiert bzw. gar zerstört wird. Die Irritationen sind natürlich überaus vielfältig und können an sehr verschiedenen Darstellungseigenschaften ansetzen. Oft haben diese Verfahren Vorläufer in den visuellen Strategien des Bildaufbaus der Bildenden Kunst. Das gilt insbesondere auch für die Phänomene der schrägen Kamera.

3. Theorierahmen und Bildanalyse

Wenn die hybride Natur der Bilder auch für die Filmtheorie wesentlich ist, dann ist hier ebenfalls eine entsprechende Zusammenarbeit von Wahrnehmungspsychologie bzw. kognitiver Psychologie einerseits und Semiotik bzw. Sprachwissenschaft andererseits sinnvoll und geboten. Völlig zu Recht haben sich auch Filmtheorien etabliert, die Film primär als diegetischen Phänomen betrachten. Die Bedeutsamkeit beider Aspekte wird vermutlich auch gar nicht bestritten. Die Frage ist nur, wie sie sich in der Analyse kombinieren lassen. Dies lässt sich gut am Bedeutungsbegriff erläutern. Die Frage, welche Bedeutung die Schrägstellung der Kamera besitzt, ist schon deshalb nicht eindeutig zu beantworten, weil es verschiedene Bedeutungsebenen gibt, in die jeweils im unterschiedlichen Maße kulturelle Aspekte einfließen und die damit in unterschiedlicher Weise nur kontextuell zu bestimmen sind. Eine kontextuelle Einbettung wird hierbei als notwendige Bedingung insbesondere der semiotischen Bildaspekte gesehen. Bei sprachlichen Äußerungen gilt es als selbstverständlich, dass ihre jeweilige Bedeutung von der konkreten Verwendungssituation abhängt. Bei Bildern bzw. Filmen scheint das insofern etwas anders zu sein, als die perzeptuellen Anteile zumindest das Erfassen des unmittelbaren Bildinhaltes kontextunabhängig erlauben.

Die sich mit der Betonung des Perzeptuellen ergebende Besonderheit der Bildrezeption ist jedoch nur eingeschränkt mit einer Kontextunabhängigkeit gleichzusetzen. Pragmatische oder kontextuelle Aspekte sind durchaus bereits für die elementare Ebene des Bildinhaltes zu konstatieren. Was als Bildinhalt gelten soll, lässt sich hierbei sehr treffend mit einem Ausdruck von Wollheim als dasjenige charakterisieren, was jemand im Bild sieht. So erkennen wir etwa in bestimmten Farbverteilungen auf der Leinwand das Gesicht eines Menschen. Auffälligerweise sehen Menschen in denselben Bildern aber mitunter Verschiedenes. Schon dieser Sachverhalt kann ohne Bezug auf kognitive Kontexte nicht erklärt werden. Auch wenn man vom Ähnlichkeitskriterium als perzeptuellem Standard ausgeht, ist zu erwarten, dass verschiedene Dinge identische Lichtmuster erzeugen können, wenn sie unter entsprechenden Perspektiven betrachtet werden. Das Ähnlichkeitskriterium schränkt die Menge der möglichen sinnvollen Interpretationen daher lediglich ein, erlaubt aber keine Antwort auf die Frage, warum unter den verschiedenen korrekten Möglichkeiten eine bestimmte zum Zuge kommt. Es gibt also eine prinzipielle Unbestimmtheit des Bildinhalts. Dies wird uns allerdings selten bewusst, weil eine bestimmte Interpretation in der Regel durch die Kontextbedingungen nahe gelegt wird. Genau diese Bedingungen, die mitverantwortlich dafür sind, welchen konkreten Inhalt wir in einem Bild sehen, lassen sich als pragmatische Aspekte der Bildbedeutung bezeichnen. Sie liefern eine Interpretationsumgebung und spezifizieren so, was als Bildinhalt erkannt wird.

Es lassen sich wenigstens drei Fälle des Einflusses pragmatischer Aspekte auf den Bildinhalt unterscheiden: 1) Zunächst kann bereits der Kotext als die Summe der Elemente innerhalb der Bildfläche eine Interpretation festlegen. Einen Linienabschnitt als nasenförmig einzustufen ergibt sich demnach aus dem Zusammenhang, in dem er eingebettet ist. Bildwahrnehmung ist daher wesentlich Gestaltwahrnehmung. 2) In ähnlicher Weise schränkt der Kontext die Interpretationsmöglichkeiten ein, der alle relevanten Merkmale der Bildumgebung zusammenfasst. Insbesondere formreduzierte Darstellungen können in verschiedenen Umgebungen sehr unterschiedlich wahrgenommen bzw. interpretiert werden. 3) Schließlich ist wichtig, wie typisch die dargestellten Eigenschaften für eine Gegenstandsklasse sind. Deshalb korreliert nur sehr eingeschränkt ein niedriger Detaillierungsgrad mit einem großen Interpretationsspielraum. Ob die Strichzeichnung eines Fisches als Darstellung eines Haifisches gilt, hängt davon ab, ob die Eigenschaften dargestellt sind, die Haifische auszeichnen, etwa die besondere Form der Flosse oder der Zähne. Was wir im Bild sehen, ist folglich durch mentale Prototypen beeinflusst, in denen bestimmte Eigenschaften als typisch ausgewiesen sind und somit als relevant für die Ähnlichkeitsbeziehung gelten. Diese Typikalitätserwägungen sind nicht nur individuell variabel, sondern zudem kulturellen Standards unterworfen.

Die verschiedenen Weisen, den durch Ähnlichkeit nur sehr grob umrissenen Interpretationsrahmen einzuschränken, können als implizite Schlussverfahren verstanden werden, mit denen bereits auf der Ebene des Bildinhaltes pragmatische Aspekte nötig werden. Für den Film sind diese Aspekte von untergeordneter Bedeutung, weil mit der Bewegungsdarstellung eine disambiguierende Wirkung verbunden ist, die den Wahrnehmungskompetenzen größeres Gewicht verleihen. Was im Film dargestellt ist, können wir also in der Regel dem Film selbst entnehmen. Pragmatische Aspekte, also Informationen über den Verwendungszusammenhang, sind aber für den Film insbesondere dann wichtig, wenn es nicht um den Bildinhalt im engeren Sinne, sondern wenn es zum einen um die ‚uneigentlichen’ Bildbedeutungen geht, also um die sinnbildliche Ebene, oder zum anderen um die illokutionären Funktionen der Bildkommunikation, mit der die intendierte Mitteilung des Films festgelegt wird.

Eine Konsequenz dieser Ausführungen besteht darin, dass die Bedeutungszuweisung filmischer Stilmittel gleichermaßen auf Wahrnehmungskompetenzen wie auf semiotische Kompetenzen beruht. Von einer „natürlichen“ Bedeutung lässt sich also höchstens im Sinne von „wahrnehmungsnah interpretiert“ reden, wobei „wahrnehmungsnah interpretieren“ kulturelle (und damit konventionelle) Aspekte nicht ausschließt. Ungewöhnliche Kameraperspektiven wahrnehmungsnah interpretieren heißt konkret, das Filmerlebnis analog zu einer entsprechenden Alltagserfahrung zu interpretieren. Hierbei kann die Interpretation mit Bezug auf die Filmfigur, den Zuschauer oder den Erzähler / Beobachter erfolgen.

4. Formen, Funktionen, Verwendungszusammenhänge, Genres und Programmatiken

Die vorangegangen Überlegungen waren sehr allgemeiner Natur und lassen sich auf sehr unterschiedliche Formen und Phänomene bildhafter Darstellungen anwenden. Die sich nun anschließenden beiden Abschnitten sollen im Sinne einer Bestandsaufnahme einen konkreten Überblick der Aspekte unternehmen, die sich auf dieser Weise für das Phänomen der schrägen Kamera ergeben. Hier ist zunächst zwischen den verschiedenen Funktionen, Verwendungszusammenhängen, Genres und Programmatiken zu unterschieden.

4.1 Formen

Unter der Bezeichnung „schräge Kamera“ werden im Folgenden alle spezifischen Verfahren der modernen Gestaltung von Dokumentar- wie Spielfilmen gefasst, bei der die Kamera von der als Normalsicht bezeichneten Perspektive abweicht. Eine Normalsicht liegt üblicherweise vor, wenn die Kamera das Geschehen in Augenhöhe der beteiligten Personen abfilmt. Abweichungen von der Normalsicht können in der Vertikalen sowie in der Horizontalen erfolgen. In der Vertikalen werden diese als Aufsicht (etwa Vogelperspektive) bzw. als Untersicht (etwa Froschperspektive) bezeichnet, in der Horizontalen kommt es zur seitlichen Verzerrung. Ein weiteres Verfahren der Schrägstellung ergibt sich, indem die Kamera gekippt wird, so dass es zur Verkantung des Bildes kommt. Diese Formen der Schrägstellung der Kamera sind verwandt mit Formen der ‚ungewöhnlichen’ Kameraperspektive, bei der die Kameraperspektive von der ‚kanonischen Sicht’ abweicht und einen Gegenstand in für uns nicht gewohnten Weise vorführt. Zu diesen Formen zählen die extreme Nahsicht oder auch das Verwackeln der Kamera. Sie werden innerhalb der folgenden Beiträge nur am Rande thematisch werden.

4.2 Funktionen

Die Funktion der schrägen Kamera ist abhängig davon, mit welcher Sicht die Kameraperspektive identifiziert wird. Es lassen sich grob drei Möglichkeiten unterscheiden: Sie kann interpretiert werden mit Bezug auf eine Filmfigur, mit Bezug auf den Zuschauer oder aber mit Bezug auf den Erzähler bzw. Beobachter. Entsprechend wird die Schrägstellung der Kamera unterschiedliche Funktionen haben. Im ersten Fall kann die schräge Kamera dazu beitragen, den subjektiven Zustand einer Person hervorzuheben. Die Kamera signalisiert in diesem Fall etwa das Schwindelgefühl einer Figur, für die der Horizont zu kippen beginnt. Im zweiten Fall können durch die Schrägstellung die Erwartungen und Einschätzungen des Zuschauers dem Filmgeschehen gegenüber beeinflusst werden. Eine schräge Perspektive zum Ende einer Einstellung kann etwa die Filmhandlung dynamisieren, indem sie die Erwartung eines beschleunigten Handlungsfortganges erzeugt. Schließlich können Schrägstellungen den Verlust der normalen, objektiven Beobachtersicht signalisieren und ein personales Erzählen anzeigen. Insbesondere extreme Schrägstellungen können in diesem Fall eine Irrealisierung des Geschehens andeuten (Avantgardefilm).

4.3 Verwendungszusammenhänge/Kontexte

Wie bildnerische Gestaltungsmittel insgesamt lassen sich auch die Formen und Funktionen der schrägen Kamera nicht kontext- und verwendungsunabhängig beschreiben. Die einzelnen experimentellen Ergebnisse sind aussagekräftig immer nur für die jeweils vorausgesetzten Rahmenbedingungen. Obschon ihre systematische Untersuchung die Möglichkeiten der geplanten Studie bei weitem übertrifft, sollten die verschiedenen Dimensionen solcher Kontexte doch bewusst bleiben. Auf einer sehr grundlegenden Ebene wird die Wirkung des Einsatzes der schrägen Kamera zunächst abhängig sein von den übrigen verwendeten Gestaltungsmittel wie Montage und Bildaufbau. Dies ließe sich als der jeweilige Kotext der schrägen Kamera ansprechen. Für den Film als eine der Verlaufskünste besitzt der Kotext zudem eine zeitliche Dimension: Die Wirkung der schrägen Kamera wird von der Qualität der zeitlich benachbarten filmischen Mittel abhängen. Als audiovisuelles Medium weist der Kotext schließlich einen Zusammenhang mit den verwendeten akustischen Stilmitteln auf.

4.4 Genres

Neben diesen innerfilmischen Zusammenhängen werden ebenfalls externe Kontexte bedeutsam sein. Es ist zu vermuten, dass die verschiedenen Formen der schrägen Kamera eine Bedeutung und Funktion erst relativ zu Erwartungen des Zuschauers erhalten, die durch diese externen Kontexte erzeugt werden. Eine besondere Form solcher externen Kontexte besteht in den jeweiligen Genre, die sowohl mit bestimmten Darstellungsstereotypen als auch mit entsprechenden Sehgewohnheiten verbunden sind. Die Vermutung liegt nahe, dass Schrägstellungen etwa in Spielfilmen ganz anders als in Dokumentarfilmen erlebt werden und relativ zu diesen Kontexten somit auch ganz unterschiedliche Funktionen besitzen. Für die Analyse wird es daher wichtig sein, den Einsatz der schrägen Kamera immer relativ zu einer bestimmten Filmgattung zu untersuchen.

4.5 Programmatiken

Die Ungewohntheit der schrägen Kamera, ihre eigenartig wirkenden Ansichts- und Darstellungsperspektive, lässt sich schließlich in die verschiedenen ästhetischen Programmatiken des Jahrhunderts eingliedern, die immer wieder die Dynamisierung der photographischen Ansicht der Welt (im Futurismus, in den Stilistiken der Neuen Sachlichkeit etc.) oder die Defamiliarisierung und Verfremdung des photographischen und filmischen Bildes der Wirklichkeit eingefordert haben. So erweist sich das Stilmittel der schrägen Kamera als Teil eines viel umfassenderen ästhetischen Programms und gerät in große Nähe zu solchen Stilmitteln wie der Tiefenschärfe, der Komposition des Anschnitts, der Reportagephotographie, aber auch zu ästhetischen Überlegungen wie solchen zur Dynamisierung des Bildeindrucks, zur visuellen Dramatisierung des filmischen Bildes und dergleichen mehr.

5. Zuschauerseitige Interpretationsmuster

Ausgehend von einer Bestandsaufnahme und Analyse schräger Perspektiven im Film lassen sich im Hinblick auf deren zuschauerseitige Rezeption eine Reihe unterschiedlicher Fragestellungen entwickeln, die sich an dem Grundproblem orientieren, welche psychischen Wirkungen sind mit der Rezeption der schrägen Perspektiven aus welchen Gründen verbunden sind (Schwan & Hesse 1997; Schwan 2005). Im Folgenden werden einige spezielle Fragen und einige denkbare Antworten hierauf aufgeführt:

5.1 Wird der Einsatz der schrägen Kamera überhaupt vom durchschnittlichen Zuschauer bemerkt?

Diese Frage hat zwei Bedeutungsfacetten:

(1) Psychologische Validität: Entfalten ungewöhnliche Perspektiven überhaupt psychologische Wirkungen, die sich von herkömmlichen Perspektiven unterscheiden oder ist es letztlich für den Zuschauer letztlich beliebig, von welcher Perspektive aus ein Geschehen veranschaulicht wird?

(2) Psychologische Realität: Wenn eine ungewöhnliche Perspektive psychologische Wirkungen hat, wird dies dem Zuschauer auch bewusst oder operiert das Gestaltungsmittel psychologisch gesehen „unterschwellig“? Aus der bisherigen Literatur lässt sich vermuten, dass schräge Perspektiven für den Normalzuschauer psychologisch valide, aber nicht unbedingt psychologisch real sind (Ohler 1994).

5.2 Welche Bedeutungen assoziieren Zuschauer mit dem Auftreten einer schräge Perspektive?

Sicherlich gibt es keine „Standardbedeutung“ der schrägen Perspektive. Eine Antwort dieser Frage muss also je nach Form und Kontext ganz unterschiedlich ausfallen. Es ließen sich unter anderen die folgenden Vermutungen anstellen:

(1) Eine schräge Perspektive kann erst einmal einfach die Erwartung des Zuschauers, wie etwas dargestellt werden sollte, verletzen, denn Zuschauer besitzen schematische Wissensstrukturen über typische Darstellungsformen (Kraft 1987a). Schräge Perspektive signalisiert dann ungewöhnlich. Dies könnte zu einer verstärkten Hinwendung und eingehender kognitiver Analyse des Beitrags führen. Diese Erwartungen variieren natürlich mit ihren vorangegangenen Seherfahrungen; insofern sollten für MTV-geschulte Jugendliche eine geringere Erwartungsinkongruenz und damit auch eine geringere Hinwendung auftreten als für ältere Zuschauer.

(2) Möglicherweise ist die schräge Perspektive aus Sicht des Zuschauers aber auch typisch für Unterhaltungssendungen und signalisiert dann leichte Unterhaltungskost. Dies führt dann beim Zuschauer zum umgekehrten Effekt einer verringerten Aufmerksamkeit und weniger elaborierten kognitiven Verarbeitung (Salomon 1984).

(3) Die Abweichung bezieht sich nicht nur auf die medienimmanenten Erwartungen, sondern steht gleichermaßen auch in Diskrepanz zu unserer „natürlichen“ Alltagswahrnehmung. Denn da das visuelle und das vestibuläre System bei der natürlichen Wahrnehmung gekoppelt sind, „rechnet“ das Gehirn eventuelle Abweichungen von der Horizontalperspektive (z.B. bei schief gelegtem Kopf) heraus, so dass wir subjektiv normalerweise eine nicht gekippte Perspektive haben. Diese Koppelung entfällt beim Filmzuschauer natürlich, so dass eine gekippte Perspektive möglicherweise ein Gefühl von Unbehagen beim Zuschauer hervorruft.

(4) Es treten allerdings auch unter bestimmten Bedingungen in der Alltagswahrnehmung solche „Entkoppelungen“ auf, insbesondere bei Trunkenheit oder Benommenheit. Insofern kann eine schräge Kamera für den Zuschauer auch solche Zustände signalisieren, falls die Kameraeinstellung klar als subjektive Perspektive eines Protagonisten markiert ist.

(5) Wenn sich ein Zuschauer mit dem Standort der Kamera identifiziert, ist es unter Umständen auch möglich, dass er soziale Interpretationen der Alltagswahrnehmung überträgt. Die schräge Kamera signalisiert dann die soziale Stellung des Zuschauers, so dass dieser sich z. B. im Fall der Froschperspektive als ‚klein’ erlebt (Kepplinger 1987).

(6) Eine schräge Perspektive kann darüber hinaus aber auch etwas über die Bedingungen des Zustandekommens der Aufnahme aussagen; je nach Inhalt kann sie signalisieren, dass der Kameramann die Aufnahmesituation nur eingeschränkt kontrollieren konnte, dies könnte dann mit Authentizität konnotiert werden. Sie kann aber umgekehrt auch signalisieren, dass die Kamera ganz bewusst eingesetzt wird (z.B. im Studio), so dass ihr Einsatz als Stilisierung bzw. Manieriertheit empfunden wird.

(7) Im Rahmen von Berichterstattung kann mit der Wahrnehmung der eingeschränkten Kontrollierbarkeit auch die Frage des Involviertseins des Kameramanns in das Geschehen verbunden sein (schräge Kamera signalisiert dann stärkeres Involviertsein). Größere Involvierheit wird vom Zuschauer möglicherweise als geringere Objektivität der Berichterstattung (im Sinne von fehlender Distanz, „parteiisch“ sein) interpretiert.

5.3. Kommt es beim Einsatz einer schrägen Perspektive zu einem Konflikt zwischen Verständlichkeit und affektiver Wirkung?Die kognitive Verarbeitung und das Verstehen des Inhalts eines Beitrags können möglicherweise durch eine schräge Perspektive beeinträchtigt werden, und zwar aus folgenden potentiellen Gründen:

(1) Schräge Perspektiven zeigen einen Sachverhalt möglicherweise weniger gut verständlich als reguläre Perspektiven (Kraft 1987; Garsoffky, Schwan & Hesse 2002).

(2) Schräge Perspektiven erfordern mehr kognitiven Verarbeitungsaufwand und lenken damit vom eigentlichen Inhalt ab.

(3) Schräge Perspektiven signalisieren geringere Objektivität (vgl. oben), der Inhalt wird für weniger glaubwürdig gehalten und deshalb vom Zuschauer nicht memoriert.

(4) Schräge Perspektiven signalisieren Unterhaltung (vgl. oben), der Zuschauer verarbeitet den Inhalt deshalb kognitiv nicht sehr elaboriert.

6. Literatur

Garsoffky, B., Schwan, S. & Hesse, F.W. (2002): The viewpoint dependency of recognizing dynamic scenes. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition, 28, 1035-1050.

Kepplinger, Hans Mathias (1987): Darstellungseffekte. Experimentelle Untersuchungen zur Wirkung von Pressefotos und Fernsehfilmen, Freiburg (Breisgau)/München: Alber.

Kraft, R. N. (1987): Rules and Strategies of visual narratives, Perceptual and Motor Skills, 64, 3-14.

Ohler, P. (1994): Kognitive Filmpsychologie. Münster: MAkS.

Sachs-Hombach, Klaus (2003): Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem Verlag

Salomon, G. (1984): Television is easy and print is tough. The differential investment of mental effort in learning as a function of perception and attribution. Journal of Educational Psychology, 76, 647-658.

Schwan, S. (2005): Film verstehen: Eine kognitionspsychologische Perspektive. In K. Sachs-Hombach (Hrsg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung. Köln: Halem Verlag, 457-467.

Schwan, S. & Hesse, F.W. (1997): Filmrezeption und Informationsverarbeitung – Zum aktuellen Stand der ”kognitiven Filmpsychologie”. In: H. Mandl (ed.) Wissen und Handeln. Bericht über den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (40.) in München 1996. Göttingen: Hogrefe, 415-420.