Das Bild als Handlung? Zum Verhältnis der Begriffe "Bild" und "Handlung"


Autor: Silvia Seja
[erschienen in: IMAGE 2: Kunstgeschichtliche Interpretation und bildwissenschaftliche Systematik]

Schlagwörter: Bildakt, Entlastung, Probehandlung

Disziplinen: Philosophie, Phänomenologie


Bilder lassen sich einerseits hinsichtlich von Funktionen definieren, andererseits hinsichtlich von Eigenschaften beschreiben. Werden Bilder funktional definiert, bedeutet dies anzunehmen, daß Bilder nicht unabhängig von zuschreibbaren Funktionen existieren können. Hiermit verbindet sich ein Prinzip semantischer Handlungen, die als „Bildakte“ bezeichnet werden und auf einer Begriffsbestimmung beruhen. Werden Bilder phänomenologisch beschrieben, wird vorausgesetzt, daß Bilder unabhängig von zuschreibbaren Funktionen existieren. Vor dem Hintergrund dieses Bildbegriffes läßt sich die These vertreten, daß „präsentative Handlungen“ mit Bildern vollziehbar sind, zu welchen Bilder gesehen, nicht aber begrifflich bestimmt werden.


Pictures can on the one hand be defined in terms of functions, or on the other hand be described in terms of properties. Defining pictures functionally means assuming that pictures cannot exist independently of functions attributable to them. Linked with this is a principle of semantic actions, which can be called „pictorial acts“ and which are conceptually determined. Phenomenologically describing pictures presupposes that pictures exist independently of functions attributable to them. Against the background of this concept of a picture, the thesis is advanced that „presentational acts“ can be carried out with pictures in which pictures are seen without being conceptually determined.

Einleitung

Manchmal beschreiben wir ein Bild einfach mit den Worten „Das Bild handelt von diesem oder jenem Gegenstand“. Doch was bedeuten die Ausdrücke „Bild“ und „handeln von etwas“ in dem Satz? Um diese Frage zu beantworten, bietet sich die phänomenologische Terminologie von Edmund Husserl an: Bei Husserl wird der Bildbegriff durch die Aspekte materieller Träger, Bildobjekt sowie Bildsujet definiert. Auf welchen der Begriffsaspekte Husserls bezieht sich der Ausdruck „Bild“ aber in diesem Falle? Und inwiefern spielt ein Handlungsbegriff eine Rolle? Die generelle Frage, ob sich Bilder mit Handlungsmöglichkeiten verbinden lassen, ist in der Bildphilosophie ausgesprochen aktuell. Ein Argument lautet, Bilder ließen sich nicht-essentialistisch durch die Angabe von Handlungsmöglichkeiten definieren. Bilder würden demzufolge nicht aufgrund von intrinsischen Eigenschaften, sondern aufgrund von Funktionen bestimmt: Es geht um einen funktionalistischen Begriff des Bildes. Damit wird postuliert, daß ein Gegenstand nicht von sich aus, sondern einzig und allein aufgrund von Funktionen Bild ist. Einen systematischen Ausgangspunkt für die Entwicklung eines funktionalistischen Bildbegriffes liefert die Sprechakttheorie von John Langshaw Austin und John Rogers Searle. Auf sie geht die Erkenntnis zurück, daß Sprache und Handlung miteinander verbunden sind, indem Sprache in Form von „Sprechakten“ realisiert wird. Mit den Worten von Searle: „Die Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation ist nicht wie allgemein angenommen wurde, das Symbol, das Wort oder der Satz, oder auch das Symbol-, Wort- oder Satzzeichen, sondern die Produktion oder Hervorbringung des Symbols oder Wortes oder Satzes im Vollzug des Sprechaktes.“

Die Frage nach dem Zusammenhang der Begriffe Bild und Handlung läßt sich allerdings, so die Hypothese, auf mindestens zwei Wegen beantworten: über Funktionen oder über Eigenschaften. Einerseits würde angenommen, daß die Bildfunktion durch den Vollzug von „Bildakten“ realisiert wird. Andererseits lieferten konkrete Eigenschaften von Bildern eine Basis für „präsentative Handlungen“ mit Bildern. Bildakte unterscheiden sich von präsentativen Handlungen dahingehend, daß Bilder durch den Vollzug von Bildakten unweigerlich begrifflich bestimmt werden. Bildakte könnten als „semantische Handlungen“ im Sinne der Sprechakttheorie Searles charakterisiert werden, die sich in einer Konstitution von Bedeutung (meaning) manifestieren. Demgegenüber wären präsentative Handlungen mit Bildern Handlungen, in denen Bilder – unabhängig von der Frage, wie dies kommt – als Bilder oder – gleichbedeutend – als Präsentationen existieren und aus eben diesem Grunde instrumentell zu bestimmten Handlungszwecken verwendet werden können. Doch was genau hat man sich unter einer „Präsentation“ vorzustellen? Der Gedanke, daß ein Bild als Präsentation existiert, ist – negativ gesprochen – nicht mit dem Gedanken identisch, daß es als Präsentation verwendet werden kann. Der Bildstatus hängt für einen eigenschaftsorientierten Bildbegriff nicht von Verwendungen oder Funktionen ab. Ein Bild wäre vielmehr dann und nur dann als Präsentation zu bezeichnen, wenn es die Eigenschaft hat, einen besonderen Gegenstand – ein immaterielles Bildobjekt – zu präsentieren. Das heißt, sobald von präsentativen Handlungen mit Bildern die Rede ist, bezieht sich das Attribut „präsentativ“ auf (präsentative) Eigenschaften von Bildern. Man hat es hierbei mit einem Bildbegriff zu tun, der sich auf eine Beschreibung der Eigenschaften von Bildern spezialisiert. Deshalb ließe sich behaupten: das Bild ist – oder existiert als – eine Präsentation und ist zu präsentativen Handlungen brauchbar. Allerdings stellt sich die Frage, was dies für Handlungen seien. Eine mögliche Antwort wäre: Präsentative Handlungen lassen sich in Form von Probehandlungen durchführen, und digitale Bilder eignen sich besonders zu dem Vollzug solcher Handlungen. Will man diese Antwort begründen, gilt es zu untersuchen, inwiefern die Zeichenfunktion von Bildern kontingent ist, also nicht nur anders ausfallen, sondern ganz wegfallen kann.

Bildfunktionen und Bildakte

Das Argument, Bilder ließen sich aufgrund von Funktionen definieren, läuft auf folgenden Bildbegriff hinaus: Bilder werden einer besonderen Klasse von Zeichen, der Klasse der nicht-sprachlichen Zeichen zugeordnet. In der Bildtheorie von Nelson Goodman ist der Bildbegriff mit einer Repräsentationsfunktion verknüpft. Goodman expliziert die Repräsentationsfunktion als Bezugnahmeverhältnis zwischen Gegenständen: „Ein Bild, das einen Gegenstand repräsentiert [...], nimmt auf ihn Bezug und, genauer noch: denotiert ihn.“ Hieran läßt sich der systematische Gedanke anschließen, daß über Bilder sinnvoll nur insofern gesprochen werden kann, als Bilder als Repräsentationen fungieren, und diese Repräsentationsfunktion wird durch eine semantische Handlung – einen Bildakt – realisiert. In der Tat wendet Sören Kjörup die Prämissen Goodmans in seinem Aufsatz George Inness and the Battle of Hastings, or Doing Things with Pictures(1974) auf Bilder an. Er argumentiert, man könne analog zu Sprechakten sogenannte „piktoriale illokutionäre Akte“ (pictorial illocutionary acts) – kurz Bildakte – vollziehen. Der Begriff „illokutionär“ entstammt John Austins Vorlesungen Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words) (1962) und wird in Searles Schriften bedeutungstheoretisch weiterentwickelt. Er bezeichnet die kommunikative Funktion oder – wie Austin mit einer Metapher von Gottlob Frege sagt – kommunikative „Kraft“ (force) eines sprachlichen Ausdruckes: Ein Befehl wird erteilt, indem die illokutionäre Formel „Hiermit befehle ich“ geäußert wird. Der sprachliche Ausdruck fungiert folglich als Befehl, weil er die Kraft übernimmt, als Befehl zu fungieren. Daher ist der Sprechakt eine Handlung – um auch hier die Worte Austins wiederzugeben –, indem etwas gesagt wird (in saying), das heißt, ein „illokutionärer Akt“ (illocutionary act). Diese für Sprechakte charakteristische „Indem-Verbindung“ würde im Falle eines Bildaktes darin bestehen, daß die Herstellung wie auch Betrachtung von Bildern eine Handlung ist, indem ein Gegenstand die Funktion zugewiesen bekommt, einen anderen Gegenstand bildhaft zu repräsentieren. Der Bildträger hat sozusagen kraft des dargestellten Sujets die illokutionäre Kraft des bildhaften Repräsentierens. Wie ein sprachlicher Ausdruck auch fungiert der Bildträger somit als eine Art Bedeutungsträger. Diese illokutionäre Bildfunktion bezeichnet Klaus Sachs-Hombach in seiner Studie Das Bild als kommunikatives Medium (2003) als derart grundlegend, daß man Bilder mit Prädikaten vergleichen könne. Folgendes Argument wird dafür entfaltet: Genau so, wie die Prädikationsfunktion sprachlicher Ausdrücke in der Prädikatenlogik mit einer semantischen Charakterisierungshandlung verbunden ist, fungiert ein Bild wie ein Prädikat, weil es sprachanalog die illokutionäre Funktion übernimmt, einen Gegenstand als „so-und-so-aussehenden“ zu charakterisieren. Mit diesem Argument verdeutlicht sich, daß ein Bildakt, bei dem Bilder wie Prädikate fungieren, den Status einer semantischen Handlung besitzt.

Soll ein Bild wie ein Prädikat fungieren, muß ihm ein Inhalt zugeschrieben werden. Diese Zuschreibung kann man sich als semantische Handlung denken, in deren Vollzug ein Begriff bestimmt wird, unter den das Bild angesichts des dargestellten Inhaltes zu subsumieren ist: „Bilder sind Veranschaulichungen von Begriffen, weil der Inhalt (zumindest) von Abbildungen notwendig auf einen bestimmten Begriff des So-und-so-Aussehens bezogen wird und sich nur relativ zu diesem Begriff konkretisiert.“ Diese Begriffsbestimmung ist ein Bildakt, der mit einer Inhaltszuschreibung verknüpft ist, wie sich an einem Beispiel illustrieren läßt: Um jemandem den Begriff „Hund“ zu erklären, wäre es möglich, ein Bild aus einem Biologielexikon zur Hand nehmen, in dem ein x-beliebiger Hund dargestellt ist. Das Bild hätte die Funktion eines Prädikatsausdruckes, der – nach Frege – einen Begriff „bedeutet“. Man würde dem Bild den Begriff „Hund“ bei der Betrachtung deshalb zuschreiben, weil Formen und Farben buchstäblich „so-und-so“ aussehen. Der Inhalt des Bildes ist mit anderen Worten die Darstellung eines Hundes, und somit läßt sich das Bild unter den Begriff „Hund“ subsumieren. Mithin wäre die prädikative Bildfunktion angemessen in den Konditionalsatz übersetzbar „Das Bild handelt von dem Begriff ‚Hund‘, denn es sieht ‚so-und-so aus‘“. Man könnte die Formen und Farben des Bildträgers, so der Gedanke, auch kaum anders als durch begriffliche Bestimmung sehen: Das Sehen des Hunde-Bildes ist gewissermaßen automatisch an eine Begriffsbestimmung gebunden, und diese Begriffsbestimmung ist ein Bildakt, eine semantische Handlung. Hierdurch übernimmt das Bild ganz im Sinne der Sprechakttheorie die illokutionäre Kraft, etwas zu repräsentieren, das „so-und-so“ aussieht, da durch es etwas als etwas bestimmt wird. Die prädikative Bildfunktion würde durch den Vollzug eines Bildaktes realisiert, der, wie man mit Günter Abel sagen könnte, „diejenigen grundbegrifflichen und regelbezogenen Bedingungen erfüllt [...], die es uns überhaupt erlauben, von ihm [dem Bild; S.S.] als einem bestimmten Etwas zu sprechen.“ Ein begrifflich unbestimmtes Bild wäre für eine funktionalistische Bildkonzeption folglich ein hölzernes Eisen.

Entlastungseigenschaften von Bildern

Ein Grund für die Möglichkeit instrumenteller Handlungen mit Bildern, die auch unabhängig von Verwendungen existieren, läßt sich darauf zurückführen, daß Bilder Entlastungseigenschaften besitzen. „Entlastung“ stellt eine zentrale Kategorie der anthropologischen Philosophie von Arnold Gehlen dar. Sie läßt sich in dessen Anthropologie Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) verorten. Dort entwickelt Gehlen eine Hierarchie von Entlastungseigenschaften, die er aus den menschlichen Leistungen Wahrnehmung, Bewegung und Sprache ableitet. Doch nicht nur angesichts der Entlastungskategorie, sondern auch angesichts des anthropologischen Begriffes „Probehandlung“ erweist sich Gehlens Philosophie als anschlußfähig an die bildphilosophische Diskussion zum Verhältnis der Begriffe Bild und Handlung. Systematisch betrachtet ist bei dieser Philosophie von dem folgenden Befund auszugehen: Während in der Anthropologie ein Entlastungs- und ein Handlungsbegriff entfaltet wird, wird in der Ästhetik ein Bildbegriff entworfen. Dieser Bildbegriff findet sich in der Studie Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960).Gehlen erstellt hier eine Typologie des Kunstbildes, die neben „ideellen“ und „realistischen“ Bildern den Typus des „abstrakten“ Bildes umfaßt. Ideelle Bilder sind allegorische und symbolische Bilder; realistische Bilder sind gegenständliche Bilder; abstrakte Bilder sind Bilder, die nicht mehr gegenständlich darstellen. In seiner Bildtypologie wendet Gehlen den Entlastungsbegriff auf das abstrakte Bild an: das abstrakte Bild ist einer Entlastungsinstitution vergleichbar. In dem bekannten Ausspruch „Bilder zeigen mehr, als man mit tausend Worten oder Sätzen sagen kann“ wird eine Entlastungseigenschaft von Bildern metaphorisch umschrieben. Der Ausspruch läßt sich im Sinne von Gehlens Bildverständnis deuten. Demnach ist eine Entlastungseigenschaft von Bildern die, von Kausaldeterminierung befreit zu sein.Diese Deutung könnte nunmehr mit Hilfe des phänomenologischen Argumentes plausibel gemacht werden, daß ein kategorischer Unterschied zwischen der Existenzweise von empirischen Gegenständen und von Bildern besteht. Denn während empirische Gegenstände (naturgemäß) kausal determiniert sind, existieren Bilder für eine phänomenologische Konzeption als Bildobjekte oder Präsentationen. Diese eigentümlichen Objekte stehen insofern nicht in Verhältnissen von Ursache und Wirkung, als sie anders als gewöhnliche Wahrnehmungsgegenstände ganz und gar immateriell sind – ein Gedanke, der sich auf den Begriff des abstrakten Bildes anwenden läßt: Man könnte mit ihm verständlich machen, daß eine typische Entlastungseigenschaft abstrakter Bilder darin besteht, einen Bildbetrachter von kausaldeterminierten Erfahrungsketten zu entlasten, „indem sie sie sozusagen kurzschließen“.

Bei dem abstrakten Bildtypus handelt es sich um ein bemerkenswertes Phänomen der Ästhetik Gehlens, welches als dezidiert asemiotisch charakterisiert wird. Der abstrakte Bildtypus umfaßt in der Bildtypologie asemiotische Phänomene, weil ein jedes abstraktes Bild aufgrund einer, für es charakteristischen Abstraktion von Gegenständlichkeit eine entlastende „Senkung seiner Symbolleistung oder seines Verweisungsgehaltes auf anderes“ bewirkt. Das heißt, ein abstraktes Bild muß nicht, sondern kann als Zeichen fungieren, oder: die Zeichenfunktion von abstrakten Bildern ist grundsätzlich kontingent. Eine Bedingung für die Betrachtung eines abstrakten Bildes, in dem keine Gegenstände mehr dargestellt sind, besteht, so Gehlen, im Einsatz des Imaginationsvermögens. Ein abstraktes Bild muß mit Hilfe der Imagination gesehen werden, denn es richtet sich, wie Gehlen den Kunsthistoriker Herbert Read zitiert, an eine „nichtbegriffliche, imaginative Vernunft“. Die Besonderheit des abstrakten Bildtypus ist es, Phänomene zu umfassen, die aufgrund ihrer Eigenschaften der Entlastung des Menschen dienen. Man kann ein abstraktes Bild geradezu als ein Phänomen beschreiben, das in einem zweifachen Sinne den Einsatz der Imagination provoziert und dadurch eine Entlastung des Menschen bewirkt: In seiner Abstraktion von Gegenständlichkeit bedarf es Imagination nicht nur, um gesehen zu werden, sondern existiert zugleich auch als ein Produkt der Imagination. Vor dem Hintergrund dieses Spezifikums läßt sich die Aktualität der ästhetischen Konzeption Gehlens auf den Punkt bringen: Obwohl dessen Bildtypologie die Klasse der digitalen Bilder nicht mit umfaßt, könnten diese dem abstrakten Bildtypus zugeordnet werden. Für diesen Gedankenschritt muß auf eine Gemeinsamkeit zwischen abstrakten und digitalen Bildern hingewiesen werden: Auch die Betrachtung eines digitalen Bildes beruht auf Imagination.

Probehandlungen mit Bildern

Das digitale Bild läßt sich mit der Möglichkeit verbinden, ein Bildobjekt vermittels eines Computerbildschirmes frei manipulieren zu können. Es handelt sich um eine instrumentelle Handlung, bei der das freie Spiel der Imagination – um mit Immanuel Kant zu sprechen – zu seinem vollen Recht käme. Mit einem digitalen Bild wäre es möglich, Handlungen durchzuführen, zu welchen dieses als Präsentation existiert, nicht jedoch als Zeichen fungiert. Einen argumentativen Zugang zu präsentativen Handlungen liefert der Begriff „Probehandlung“. Dieser Begriff findet sich in Gehlens Anthropologie und läßt sich sinnvoll auf seine ästhetische Konzeption übertragen. Die Probehandlung ist demgemäß eine Handlung, welche eine Entlastung für den Menschen ermöglicht, weil sie nicht in der physikalischen Wirklichkeit stattfindet. Sie zeichnet sich durch mindestens zwei Eigenschaften aus: Die Probehandlung ist erstens faktisch folgenlos, so daß ein Handelnder bei einer Handlung, die ausschließlich im Modus des Möglichen stattfindet, von tatsächlichen Konsequenzen entbunden wäre. Die Probehandlung ist zweitens – wie ein Film – von dem Handelnden beliebig wiederholbar; sie wird ohne zeitlichen Index vollzogen. Es hat also den Anschein, als wäre ein digitales Bild zu dem Vollzug von Probehandlungen geradezu prädestiniert. Es könnte zu einer probeweise durchgeführten Handlung verwendet werden, die in einer virtuellen Realität – eben im Modus des Möglichen – stattfindet. Ein einfaches Beispiel veranschaulicht diesen Vorschlag: Vermittels eines Computerbildschirmes kann sich ein Internetnutzer virtuell von einem Fremdenführer zu einer Besichtigungstour durch den Dom von Siena führen lassen. Er vollzöge auf diese Weise eine Probehandlung mit einem Bildobjekt, bei der er selbst bestimmt, welche Ecken und Winkel des Bauwerkes er sich anschauen möchte. Diese Handlung wäre mit einer Entlastung des Betrachters verbunden, die nicht nur darin besteht, daß er den Dom von Siena virtuell besichtigt. Vielmehr ist es für den Betrachter entlastend, ein begrifflich unbestimmtes Bildobjekt sehen zu können, das er instrumentell verwenden kann. Probehandlungen mit einem Bildobjekt wie einem digitalen Bild sind eben nicht an die Bedingung einer Begriffsbestimmung geknüpft.

Begriffliche Unbestimmtheit

Die virtuelle Probehandlung mit einem digitalen Bild könnte als ein phänomenologisches Experiment charakterisiert werden, das mit einem begrifflich unbestimmten Bildobjekt vollzogen würde. Das Bildobjekt zeichnet sich nach Edmund Husserl – und hier gilt es auf eine wesentliche Differenz gegenüber dem funktionalistischen Bildverständnis hinzuweisen – durch die Besonderheit aus, unabhängig von einer Subsumption unter Begriffe als Präsentation zu existieren: Es zeichnet sich durch „Unbestimmtheiten“ aus. Mit dem Wort „Unbestimmtheiten“ wird in negativer Form ausgesagt, daß für die Betrachtung eines Bildobjektes nicht festgelegt ist, welche Prädikate auf es zutreffen oder unter welchen Begriff es subsumiert werden kann, und zwar aus einem einfachen Grunde: Ein Bildobjekt wird gesehen, nicht begrifflich bestimmt. Die begriffliche Unbestimmtheit ist prinzipieller Natur; sie liegt dahingehend vor, daß das Bildobjekt „noch nicht in dem Sinne bestimmt [ist], daß eine bestimmte Prädikation vorgenommen wäre. Es ist [...] bloße Bestimmbarkeit [...] gedacht.“ Für das Bildobjekt ist also eine Bestimmbarkeit charakteristisch, die bei einer Begriffsbestimmung bereits als Möglichkeit vorauszusetzen wäre. Deshalb muß man die begriffliche Unbestimmtheit des Bildobjektes unbedingt von einer semantischen Unbestimmtheit unterscheiden, die sich ausschließlich auf das zuschreibbare Sujet bezieht. Semantische Unbestimmtheit ist nichts weiter als semantische Vieldeutigkeit, welche begriffliche Bestimmtheit impliziert. Wenn man sagt, ein Bild sei semantisch unbestimmt oder vieldeutig, dann meint man mit dieser Äußerung, das Bild lasse sich inhaltlich mehrfach interpretieren. Dies ist überaus plausibel, scheinen doch unterschiedliche Bildbetrachter zumeist auch unterschiedliche Interpretationen von Bildern vorzunehmen: Bilder sind inhaltlich nun einmal kaum auf eine Interpretation festlegbar. Das Argument der semantischen Vieldeutigkeit von Bildern gründet allerdings in einem Begrifflichkeitsargument, aus welchem resultiert, inwiefern die Ausdrücke „sprachlich“ und „begrifflich“ unterschiedliche Bedeutungen haben: Während Begriffe nicht notwendig sprachlich sein müssen, ist Sprache notwendigerweise begrifflich. Übertragen auf Bilder hieße dies: wäre ein Bild nicht schon begrifflich bestimmt, wäre die Rede von dessen semantischer Vieldeutigkeit sinnlos.

Bei einem Bildobjekt scheinen die Dinge anders als bei Gegenständen zu liegen, die über Funktionen definiert werden: Das Bildobjekt ist begrifflich unbestimmt und dennoch – um mit einer tautologischen Formulierung von Gerhard Gamm zu sprechen – „nicht nichts“. Die Pointe dieser Formulierung liegt darin, daß das Bildobjekt als Präsentation existiert, nur ist dessen Existenzmodus von demjenigen natürlicher, kausal determinierter Gegenstände grundverschieden. Und vor diesem Hintergrund läßt sich der Bogen zur eingangs gestellten Frage schließen: Worauf richten sich die Ausdrücke „Bild“ und „handeln von etwas“ in dem Satz? Sie richten sich, so müßte eine funktionalistische Bildphilosophie schlußfolgern, auf das Sujet, das einem Bild inhaltlich zugeschrieben werden kann. Dieser Schlußfolgerung läge die Vermutung zugrunde, durch den Vollzug von Bildakten werde eine prädikative Bestimmung des Bildträgers mit Formen und Farben geleistet. Demgegenüber fungiert für die Phänomenologie ein begrifflich unbestimmtes Bildobjekt als „Träger“ einer eventuellen begrifflichen Bestimmung. Wird aber ein Bildobjekt gesehen – und nicht begrifflich bestimmt –, ließen sich mit ihm präsentative Handlungen durchführen, für welche die prädikative Funktion eine Möglichkeit, aber keine Notwendigkeit darstellt. Diese Handlungen könnten paradigmatisch in Form von Probehandlungen mit einem digitalen Bild vollzogen werden. Denn eine Besonderheit digitaler Bilder scheint darin zu liegen, gleichsam einen – wie Gehlen an anderer Stelle zutreffend sagt – „außerbegrifflichen Kontakt [...] mit der Wirklichkeit“ zu ermöglichen.

Literatur

Abel, Günter: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004.

Austin, John Langshaw: Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words) (1962), Stuttgart: Reclam Verlag, 2002.

Freud, Sigmund: „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ (1911), in: ders.: Gesammelte Werke. Achter Band: Werke aus den Jahren 1909-1913, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1990, S. 230-238.

Gamm, Gerhard: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1994.

Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Gesamtausgabe Band 3, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M.: Klostermann Verlag, 1993.

Gehlen, Arnold: „Vom Wesen der Erfahrung“ (1936), in: ders.: Anthropologische Forschung, Reinbek: Rowohlt Verlag, 1961, S. 26-43.

Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), Frankfurt a. M.: Klostermann Verlag, 1986.

Husserl, Edmund: „Phantasie und Bildbewußtsein“ (1904/05), in: Husserliana, Band XXIII: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1989-1925), hg. v. Eduard Marbach, Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers, 1980, S. 1-108.

Kjörup, Sören: „George Inness and The Battle at Hastings, or Doing Things with Pictures“, in: The Monist 58 (1974), S. 216-235.

Langer, Susanne Katherina: Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art (1942), Cambridge/London: Harvard University Press, 1970.

Majetschak, Stefan: “Welt als Begriff und Welt als Kunst. Zur Einschätzung der theoretischen Leistungsfähigkeit des Ästhetischen bei Kant und Conrad Fiedler“, in: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989), S. 276-293.

Sachs-Hombach, Klaus/Klaus Rehkämper (Hg.): Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungsformen, Magdeburg: Scriptum Verlag, 2001, S. 55-76.

Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem Verlag, 2003.

Searle, John Rogers: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay (1969), Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1971.

Wiesing, Lambert: „Verstärker der Imagination”, in: ders.: Phänomene im Bild, München: Fink Verlag, 2000, S. 10-29.

Wiesing, Lambert: „Wenn Bilder Zeichen sind: das Bildobjekt als Signifikant“, in: ders.: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2005, S. 37-80.


.
Fussnoten:

(1)

John Rogers Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay (1969), Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1971, S. 30.

(2)

Der Begriff „präsentativ“ (presentational) ist der Philosophie von Susanne Katherina Langer entlehnt. Er wird bei Langer als Synonym zu „nichtdiskursiv“ – hier ausschließlich im Sinne von „nichtsprachlich“ – verwendet. „Präsentative Formen“ (presentational forms) seien von „diskursiven Formen“ (discursive forms) der Darstellung zu differenzieren. (Vgl. Susanne Katherina Langer: Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art (1942), Cambridge/London: Harvard University Press, 1970, insbes. S. 79-102).

(3)

Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (1968), Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1995, S. 17.

(4)

Vgl. Sören Kjörup: „George Inness and the Battle at Hastings, or Doing Things with Pictures“, in: The Monist 58 (1974), S. 216-235, hier 222f.

(5)

Vgl. John Langshaw Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words) (1962), Stuttgart: Reclam Verlag, 2002.

(6)

Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem Verlag, 2003, S. 166, sowie ders.: „Bild und Prädikation“, in: Klaus Sachs-Hombach/Klaus Rehkämper (Hg.): Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungsformen, Magdeburg: Scriptum Verlag, 2001, S. 55-76, hier S. 72f.

(7)

Sachs-Hombach, Bild als kommunikatives Medium, S. 172.

(8)

Günter Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 98.

(9)

Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Gesamtausgabe Band 3, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M.: Klostermann Verlag, 1993.

(10)

Der Begriff „Probehandlung“ wird auf Sigmund Freud zurückgeführt. (Vgl. Sigmund Freud: „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ (1911), in: ders.: Gesammelte Werke. Achter Band: Werke aus den Jahren 1909-1913, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1990, S. 230-238, hier S. 233)

(11)

Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), Frankfurt a. M.: Klostermann Verlag, 1986.

(12)

Vgl. insbes. das Kapitel „Die Entlastung“ in Gehlen, Zeit-Bilder, S. 220-226.

(13)

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Auch wenn Sprechakte keine Handlungen sind, die sich durch Folgen (oder Zwecke) definieren lassen, würde ein Sprechakttheoretiker nicht behaupten, daß sprachliche Ausdrücke die Eigenschaft haben, kausal indeterminiert zu sein.

(14)

Arnold Gehlen: „Vom Wesen der Erfahrung“ (1936), in: ders.: Anthropologische Forschung, Reinbek: Rowohlt Verlag, 1961, S. 26-43, hier S. 35.

(15)

Gehlen, Zeit-Bilder, S. 189.

(16)

Gehlen, Zeit-Bilder, S. 126.

(17)

Vgl. hierzu Lambert Wiesing: „Verstärker der Imagination”, in: ders.: Phänomene im Bild, München: Fink Verlag, 2000, S. 10-29, zum digitalen Bild insbes. S. 24ff.

(18)

Edmund Husserl: „Phantasie und Bildbewußtsein“ (1904/05), in: Husserliana, Band XXIII: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1989-1925), hg. v. Eduard Marbach, Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers, 1980, S. 1-108, hier S. 31. – Vgl. zur Geschichte und Systematik des Unbestimmtheitsbegriffes Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1994, zu Husserl insbes. S. 100-113.

(19)

Stefan Majetschak: “Welt als Begriff und Welt als Kunst. Zur Einschätzung der theoretischen Leistungsfähigkeit des Ästhetischen bei Kant und Conrad Fiedler“, in: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989), S. 276-293, hier S. 280.

(20)

Gamm, Flucht aus der Kategorie, S. 262.

(21)

Vgl. Lambert Wiesing: „Wenn Bilder Zeichen sind: das Bildobjekt als Signifikant“, in: ders.: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2005, S. 37-80.

(22)

Gehlen, Zeit-Bilder, S. 9.