Bilder in Bildern. Endogramme von Eggs & Bitschin


Autor: Claudia Gliemann
[erschienen in: IMAGE 3 (Ausgabe Januar 2006)]

Schlagwörter: Endogramm

Disziplinen: Kunst, Architektur


The work of the Swiss artists Eggs & Bitschin concentrates on the “inner recordings” of pictures. They look into the interior of pictures, descend into their depth, focus on details which can not be perceived when walking by. The zoom is their tool. Endograms are what they call the pictures developed from “looking inside”, which they do not treat as paintings, but use as windows or place as sculptures. The article reflects upon the pictures from pictures by Eggs & Bitschin in relationship to Jan van Eycks Marriage of Giovanni Arnolfini, Michelangelo Antonioni’s film Blow Up, Dan Flavin’s works in fluorescent light as well as Georgia O’ Keeffes floral pictures.

Abstract in Deutsch:

„Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen.“ (Friedrich Nietzsche)

Der Begriff Endogramm ist eine Wortkreation der Künstler Francine Eggs und Andreas Bitschin. Er bedeutet ”Innere Aufzeichnung” und ”Ins Bild schauen”. Eggs & Bitschin setzen ihren Fokus auf Details, die nicht im Vorübergehen wahrgenommen werden können. Ihre Sicht verlangsamt das Sehen. Sie nehmen Bilder, eigene oder die anderer Maler, und sehen an einer bestimmten Stelle in sie hinein. Das Hineinsehen geschieht über progressive Analyse- und Transformationsprozesse. Eggs & Bitschin vergrößern Bildausschnitte im Computer, der Zoom ist ihr Werkzeug. Der Unterschied zur Lupe liegt in der Veränderung, der Transformation, die mit dem Scannen beginnt. Oft setzen Eggs & Bitschin auch Farben dazu. Die Farben verändern die Formen, ein Verhältnis das sich bedingt. Dabei interessieren Eggs & Bitschin Zonen, die unbewusst organisiert sind, Texturen, die aus dem Chaos heraustreten, der Fluss von Formen und Farben in einer Interaktion von Dynamik und Ruhe.

Eggs & Bitschin leben in der Schweiz und arbeiten seit 1992 zusammen. Sie berufen sich in ihrer Arbeit auf Nietzsche, der bereits im 19. Jahrhundert eine Beschleunigung des Lesens erkannt hat. Der moderne Mensch liest einen Satz Nietzsche zufolge nicht mehr im Detail, er überfliegt ihn. Der Sinn des Satzes wird durch wenige Wörter zufällig zusammengesetzt, wodurch der Inhalt verfälscht werden kann. Nietzsche ruft zum Müßiggang auf, „weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt“. Auf die Bilder von Eggs & Bitschin übertragen, könnte es heißen: Zeit zum Sehen und die Ruhe stehen zu bleiben, um in die Tiefe vorzudringen. Eggs & Bitschin wenden sich mit ihrer Kunst gegen den von Nietzsche kritisierten „hastigen Genuss“, gegen die Bilderflut, gegen eine Beschleunigung des Betrachtens von Kunst.

Interessant ist, dass Eggs & Bitschin ihre Endogramme nicht als Gemälde behandeln, sondern als Fenster und Wände einsetzen oder als Skulpturen aufstellen – als würde ein in die Tiefe von Bildern gehen, eine dritte Dimension bedingen. Doch der Übergang vom Zweidimensionalen zum Dreidimensionalen geschieht erst mit dem fertig gestellten Bild. Eggs & Bitschin übertragen ihre Endogramme als farbige Beschichtung auf Glas oder auf Dias, die zwischen Glasscheiben eingeschweißt werden.



Abb. 1: Pin – up, pose 10, Francine Eggs, 1982-84



Abb. 2a und 2b: Endogramm Oberlicht, Eggs & Bitschin, 1100mm x 1900 mm, Laminatglas mit integriertem Diafilm, Lachen, Schweiz, realisiert 2003


Das Endogramm für ein Oberlicht in einer Wohnung in Lachen, das Eggs & Bitschin 2003 realisierten, resultiert aus dem Bild Pin – up, pose 10 (1982-84) von Francine Eggs, das 1.000 Mal vergrößert wurde (siehe Abb.1 und Abb.2). Durch das Hineinzoomen ins Bild erschienen Bilder, die mit bloßem Auge nicht zu sehen sind. Bilder, die beim Bild malen nicht beachtet wurden bzw. erst durch die Technik der Vergrößerung entstehen. Der Prozess des Zooms und der Analyse geht einher mit einer Verdünnung der Materie. Licht und neue Farben kommen hinzu. Um so stärker wirken die Endogramme in Rahmen verdichteter Materie, in Architekturen aus Beton und Stahl (vgl. Abb.3 und Abb.4). Licht ist eine wichtige Komponente der Endogramme. Es ist eine Art Werkzeug beim Schaffensprozess und ein unbedingter Faktor bei der Betrachtung. Vom Licht, seiner Intensität und Richtung, hängt ab, wie das Endogramm am eingesetzten Ort erscheint. Beim Oberlicht in Lachen, ist es ein farbintensives Leuchten, das auf calligariartige Formen und Schatten trifft.



Abb. 3 a und 3 b: Endogramme Wohnüberbauung Suva Neuhof, Eggs & Bitschin, Treppenhausverglasungen, 48 Fenster, 450 mm x 2200 mm, Altendorf, Schweiz, realisiert 2003



Abb. 4: Endogramm Hinterleuchtete Glaswand, Eggs & Bitschin, 3000 mm x 30000 mm, Bürohaus Joachimstaler Strasse, Berlin, Deutschland, Projekt 2005


Ein weiteres Beispiel, wo starkes Licht und Dunkel aufeinander treffen, ist der Lichtbogen von Eggs & Bitschin in einer Bahnunterführung in Schüpfen. Ein Projekt zur Skulpturenausstellung zeitgenössischer Schweizer Kunst im öffentlichen Raum 2005. Das Endogramm für den Lichtbogen (siehe Abb.5) entstand wiederum aus dem Bild Pin – up, pose 10 (1982-84) von Francine Eggs. Diesmal wurde es 25.000 Mal vergrößert. Eggs & Bitschin analysieren ein Bild immer an mehreren Stellen. Das Bild Pin – up, pose 10 bearbeiten sie seit 10 Jahren. Sie suchen in jeder Zoomstufe nach interessanten Orten, in die sie wiederum hineinzoomen. Dadurch verzweigt sich das Ausgangsbild in eine Art Bildbaum mit unterschiedlich stark ausgebildeten Ästen als Zoomebenen. Nicht viele Bilder eignen sich für ihre Endogramme. Meist erscheinen nach ein paar Schritten des Hineinsehens nur noch monochrome Flächen. Eggs & Bitschin aber interessiert das Zusammenkommen von verschiedenen Farben, die sich im Fluß befinden und doch organisiert sind. Am besten funktioniert ihre Analyse mit vielschichtigen Bildern, die aus mehreren Lasuren aufgebaut sind, die eine Struktur haben oder gekratzte Oberflächen.



Abb. 5: Endogramm Lichtbogen, Eggs & Bitschin, 160 mm x 650 mm x 7100 mm, Metallrahmen, Leuchtstoffröhren, Opalplexi, Diafilm, Verbundsicherheitsglas, Schüpfen, Schweiz, realisiert 2005


Historisch verankern könnte man die Endogramme von Eggs & Bitschin in Jan van Eycks Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini (1434). Darauf ist ein Hochzeitspaar zu sehen, in einem Zimmer mit Bett, Kronleuchter, Fenster und Hund. Im Fluchtpunkt des Bildes befindet sich ein Spiegel, der die Szenerie von hinten wiedergibt. In der Mitte des Spiegel, auf den ersten Blick kaum zu erkennen, befinden sich zwei Männer, die im Bildraum selbst nicht erscheinen. Sie stehen also jenseits der Bildgrenze. Dort, wo der Betrachter steht, wenn er das Bild betrachtet und der Maler, als er Zeuge der Zeremonie war. Die Ähnlichkeit zu Eggs & Bitschin besteht darin, einen bestimmten Bereich, einen interessanten Punkt, ein Bild im Bild zu finden, das im Vorübergehen kaum wahrzunehmen ist. Es bedarf einer Art in die Tiefe des Bildes vorzudringen. Der Unterschied liegt darin, dass bei Jan van Eyck klar ist, was zu finden ist – zwei Männer. Dagegen wissen Eggs & Bitschin im voraus nie, was sie finden werden.

Eine andere Art des In-die-Tiefe-Gehens in ein Bild, an einem bestimmten, interessanten Punkt, zeigt Michelangelo Antonionis Film Blow Up (1966). Ein Fotograf macht in einem Park Fotos von einem Liebespaar. Als die Frau ihn entdeckt, verlangt sie die Herausgabe des Films. Der Fotograf händigt ihr jedoch einen falschen Film aus. Er entwickelt den richtigen Film und entdeckt auf den Vergrößerungen das verschwommene Gesicht eines Mannes, einen Revolver und einen Körper, der unter einem Baum liegt. Der Fotograf glaubt, einen Mordanschlag entdeckt zu haben, doch als er an den Tatort zurückkehrt, ist die Leiche verschwunden. Antonioni fragt hier nach der Realität von Bildern. Was geben Bilder wieder, sind sie realer als die Welt? Wie verlässlich sind ihre Deutungen? Als eine Freundin des Fotografen die vergrößerte Aufnahme mit der Leiche sieht, sagt sie: “Das sieht aus, als hätte es mein Freund gemalt”. Bei Antonioni sind Bilder Annäherungsversuche an die Wirklichkeit. Eggs & Bitschin dagegen entfernen sich von ihr durch den Zoom. Die Vergrößerungen lassen den Fotografen etwas klarer erkennen, etwas Bestimmtes – eine Leiche. Bei Eggs & Bitschin dienen die Vergrößerungen dazu, etwas Konkretes verschwimmen zu lassen. Die Frau in Pin – up, pose 10 verschwimmt in ein Zusammenspiel von Formen und Farben, das sich nicht mehr konkret zuordnen lässt.

Der Lichtbogen in Schüpfen leuchtet in einem Blau, als hätte der Himmel einen Weg in den Tunnel gefunden. Es ist ein Blau, das im originalen Bild gar nicht zu finden ist. Es entstand erst durch die Vergrößerungen und das Zusetzen von Farben. Der Lichtbogen ist aus hinterleuchteten Lichtkästen aufgebaut, er zieht sich über zwei Wände und die Decke. Am Boden schließt sich ein Kreis aus Licht durch das Strahlen des Lichtbogens selbst. Am dunkelsten Ort des Tunnels gelegen, bricht der Lichtbogen dessen Länge. Die Umgebung wird in ein anderes Licht getaucht, erhält eine andere Atmosphäre. Es erinnert an Dan Flavin, zu dessen Kunst aus Leuchtstoffröhren Kenneth Baker 1972 schrieb:

„Wenn man von einem Raum in den andern geht, wird die Wahrnehmung der Farben jeder einzelnen Arbeit von der Gegenwart der anderen Farben modifiziert. So entsteht ein echtes Gefühl des Eintauchens in ein Element, das allein der visuellen Wahrnehmung zugänglich ist, das sich aber erst als Element (wie Wasser für einen Fisch das Element ist) enthüllt, wenn man sich in ihm bewegt.“



Abb. 6: Endogramm Glasstelen, Eggs & Bitschin, 20 mm x 100 mm x 3000 mm, Laminatglas mit integriertem Diafilm, Fixation, Place Félix Eboué, Paris, Frankreich, Projekt 2005


Eggs & Bitschin planen weitere Endogramme als Skulpturen. Für den Place Félix Eboué in Paris kreierten sie drei Glasstelen (siehe Abb.6), die, wie der Tunnel in Schüpfen, ihre Umgebung beeinflussen. Der Platz und seine Häuser werden in rot, oranges Licht getaucht, durchbrochen vom Grün der Stelen und Bäume. Es sind „Fenster ins Unsichtbare“, wie sie die Künstler selbst nennen, in zweifacher Weise. Zum einen durch die Analyse eines Details, wieder aus dem Bild Pin – up, pose 10 (1982-84) von Francine Eggs, das bisher ungesehene Bilder aus der Tiefe holt. Zum anderen durch eine Veränderung des Blicks, das In-Szene-setzen des Place Félix Eboué durch die drei Glasstelen. Über wechselnde Lichtbedingungen auf dem Platz variieren die Ansichten der Glasstelen und ihrer Umgebung. Bei Sonne, Nebel, Wolken oder Regen erscheinen sie in einem immer anderen Licht, erhalten ein anderes Aussehen, eine andere Oberfläche. Ein interessantes Wechselspiel entsteht, zwischen dem Eindringen ins Innere eines Bildes, um das Endogramm zu erschaffen und dem nach außen Projizieren des Endogramms.

In der Ausstellung Slow - Strategien der Langsamkeit ging es 2002 in Zürich, um Prozesse des Werdens und Entwickelns, an dessen Ende nicht zwangsläufig ein fertiges Produkt steht. Slow wollte Zeit schaffen für Reflexion und Kontemplation. So zeigten die Künstler Susanne Sauter und Ralph Bärtschi in ihrer Arbeit Electric Snowfield, ein aus Neonröhren erzeugtes künstliches Schneefeld. Im Unterschied zu Eggs & Bitschin erschaffen Sauter & Bärtschi aus abstrakten Formen ein konkretes Bild – das stille, einsame Schneefeld. Eggs & Bitschin dagegen gehen den umgekehrten Weg: Vom Figurativen zum Abstrakten. Durch das Hineinzoomen ins Bild, werden die Formen und Farben vom Konkreten gelöst, und erfahren eine Eigenständigkeit im Abstrakten. Darin vergleichbar mit Georgia O’ Keeffes Blumenbildern, die sie stark vergrößert malte, und an die sie so dicht heranging, dass einige wie abstrakte Kompositionen erscheinen. So zum Beispiel Abstraction White Rose (1927), Grey Blue & Black-Pink Circle (1929) oder ihre Serie Jack-in-the-Pulpit (1930) (siehe Abb.7). Peter Suter schrieb über Georgia O’ Keeffe, dass sie die „Idee der Abstraktion transformiert hat“. Das trifft auch auf Eggs & Bitschins Arbeitweise zu. Ein Bild ist für sie nicht nur figurativ oder nur abstrakt. In einem Bild kann beides stecken. Welche Form erscheint, ist abhängig von der betrachteten Schicht.



Abb. 7: Jack-in-the-Pulpit No. IV, Georgia O’ Keeffe, 1930

Abb. 8: Flamboyant. Wenn irgendwie einfach nichts passiert, Simone Gerber, 2002


Eggs & Bitschin arbeiten mit Transformationsprozessen, aber sie kreieren nicht eine bestimmte Form der Langsamkeit als Prozess. Wie zum Beispiel Simon Gerber in seiner Arbeit Flamboyant. Wenn irgendwie einfach nichts passiert, wo Blumensamen auf Lautsprechern pulsieren, die manchmal runter auf die Erde fallen und später zu Pflanzen werden (siehe Abb.8). In Eggs & Bitschins Endogrammen erkennt man eher eine „Vertiefung des Augenblicks“, wie ihn Paul Virilio in seinem Buch Rasender Stillstand beschreibt. Ihre Analyse ist das Vertiefen eines Augenblicks, eines Ausschnitts. Dabei bleiben der Analyseprozess und das Werkzeug Vergrößerung dem Betrachter verborgen. Ihm wird das Ergebnis der Analyse präsentiert: Das Endogramm. Was aber nicht heißt, dass das Endogramm ein fertiges Produkt ist. Je nach Einsatz eröffnet es verschiedene Betrachtungen, entfaltet sich in Räumen. Für Eggs & Bitschin ist jedes Bild ein eigener Mikrokosmos. Sie betrachten Ausschnitte darin, welche die Grenzen des Bildes erweitern, so wie das Endogramm in seiner Wirkung durch den Betrachter erweitert wird.

Literatur:

Michelangelo Antonioni: Blow up, Spielfilm, Großbritannien 1966.

Kenneth Baker, A Note on Dan Flavin, Artforum, Vol. 5, No. 10, Jan. 1972, dt. Eine Anmerkung zu Dan Flavin, in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden: Verlag der Kunst 1998.

Hans Belting & Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München: Hirmer 1994.

Bice Curiger, Carter Ratcliff, Peter J. Schnemann, Georgia O’ Keeffe, Ostfildern Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003.

Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1994.

Pierre Hügeli: Voyages de Francine Eggs et Andreas Bitschin au coeur de leur peinture: les endogrammes, Cimaises, No. 14, 1996/97.

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, München: dtv 1988.

Paul Virilio: Rasender Stillstand, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2002.

Skulpturenausstellung zeitgenössischer Schweizer Kunst im öffentlichen Raum, Schüpfen, Ausstellungsführer, 2005.

Slow – Strategien der Langsamkeit, Ausstellung 7.9.-21.10.2002, in: Jahreskatalog Shedhalle Zürich, 2002.


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Fussnoten:

(1)

Die Arbeit der Schweizer Künstler Eggs & Bitschin konzentriert sich auf "Innere Aufzeichnungen" von Bildern. Sie sehen in Bilder hinein, dringen in ihre Tiefe vor, setzen den Fokus auf Details, die nicht im Vorübergehen wahrgenommen werden können. Der Zoom ist ihr Werkzeug. Endogramme nennen sie die aus dem „Hineinsehen“ entstandenen Bilder, die sie nicht als Gemälde behandeln, sondern als Fenster einsetzen oder als Skulpturen aufstellen. Der Artikel betrachtet Eggs & Bitschins Bilder aus Bildern in Beziehungen zu Jan van Eycks "Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini", Michelangelo Antonionis Film "Blow Up", Dan Flavins Kunst aus Leuchtstoffröhren sowie Georgia O’ Keeffes Blumenbildern.