http://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/api.php?action=feedcontributions&user=Lukas+R.A.+Wilde&feedformat=atomGIB - Glossar der Bildphilosophie - Benutzerbeiträge [de-formal]2024-03-28T10:03:54ZBenutzerbeiträgeMediaWiki 1.30.0http://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Fiktion&diff=27964Fiktion2019-11-28T09:48:13Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Gemeinsamkeiten und Differenzen fiktionaler und nicht-fiktionaler Weltbezüge */</p>
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==Fiktion, (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität==<br />
Theorien der Fiktion haben sich lange Zeit allein auf literarische Werke bezogen und die bildenden Künste gar nicht oder allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen.<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Klauk & Köppe 2014a'></bib>; <bib id='Enderwitz & Rajewsky 2016b'></bib>; <bib id='Bunia 2020a'></bib>.</ref> Dies gilt auch umgekehrt: Der Begriff der »Fiktion« spielt in [[Bildwissenschaft_vs._Bildtheorie|bildtheoretischen]] Ansätzen eine zumeist eher untergeordnete, in jedem Fall aber höchst widersprüchliche Rolle. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Diskussion des [[Fotografie|fotografischen Bildes]], dem etwa von Roger Scruton eine generelle „fictional incompetence“ (<bib id='Scruton 2006a'></bib>: S. 25) unterstellt worden ist. Die Vorstellung einer fotochemisch erzeugten Spur, eines [[Symbol,_Index,_Ikon|indexikalisch]] garantierten „Es-war-so-gewesen“ (vgl. <bib id='Barthes 1981a'></bib>: S. 76), hält sich hartnäckig. Dabei versperrt eine Fixierung auf diesen Index nicht nur den Blick auf viele fiktionale Einsatzmöglichkeiten des fotografischen Bildes.<ref>„Es ist leicht vorstellbar, einerseits einen fotografisch aufgenommenen, mit realen Schauspielern gedrehten Film und andererseits einen komplett gezeichneten Film zu machen, die Einstellung für Einstellung die gleiche fiktionale Geschichte erzählen“, <bib id='Schröter 2020a'></bib>: in Vorb.)</ref> Auch viele dokumentarische Praktiken können so nicht adäquat erfasst werden: Im ''historical re-enactment'' etwa können auch ''nachgestellte'' Fotos unproblematisch nicht-fiktional eingesetzt werden (vgl. <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Von den technischen Eigenschaften eines Bildmediums auf dessen Einsatzmöglichkeiten für fiktionale oder nicht-fiktionale Zwecke zu schließen ist also grundsätzlich verkürzend, wie Jens Schröter (2016a) wohl am deutlichsten herausgearbeitet hat. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb01.jpg|thumb|Abbildung 1: Eine Abbildung eines “klassischen” fiktiven Gegenstands, des Einhorns, nach Konrad Genser: „Historiae animalium“, 1551.]]<br />
Aus all diesen Gründen sollte der Begriff der »Fiktion« bildtheoretisch höchst interessant sein. Eine umfassende Diskussion taucht überraschenderweise aber innerhalb von Oliver Scholz’ (<bib id='Scholz 2004a'></bib>[<sup>1</sup>1995]), Börries Blankes (<bib id='Blanke 2003a'></bib>), oder Klaus Sachs-Hombachs (<bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>) Modellen der Bildkommunikation gar nicht auf (vgl. aber etwa <bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197-208). Dies scheint durchaus typisch; weiter unten sollen die Gründe dafür systematischer herausgearbeitet werden.<ref>Für Überblicke über den Forschungsstand zu piktorialer „Fiktion“ vgl. <bib id='Podro 1983a'></bib>; <bib id='Ryan 2009a'></bib>; <bib id='Wenninger 2014a'></bib>.</ref> Der Ausdruck spielt in bildwissenschaftlichen Ansätzen eine überwiegend [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|wahrnehmungstheoretische]] Rolle im Umkreis der [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität|Ähnlichkeitsdebatten]]. Scholz spitzte diese in seinem sogenannten „Meisterargument“ (<bib id='Scholz 1999a'></bib>: S. 33) gegen die Ähnlichkeitsthese wie folgt zu: Einem “Gegenstand”, der gar nicht existiere (wie ein Einhorn, Abb. 1), könne auch nichts ähnlich sein. Demgegenüber wurden ''internalisierte Ähnlichkeitsbegriffe'' geltend gemacht: Wir kennen Pferde und wir kennen Hörner, also können wir uns Einhörner vorstellen – und diese auch “in” Bildmedien sehen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2005c'></bib>). Oder in den Worten von Dominic Lopes: „The acquisition of recognition abilities for fictive objects largely parallels the acquisition of recognition abilities for actual objects” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 206). Löst dies in gewisser Weise ein Wahrnehmungsproblem, so lässt es doch die gewichtigere Frage unbeantwortet, wann eine ganz und gar ''alltägliche'' bildliche Darstellung nun etwas mit Fiktion zu tun hat und was mit dieser Unterscheidung für eine Kommunikations- und Zeichentheorie des Bildes auf dem Spiel steht. <br />
:<br />
Wurde »Fiktionalität« zunächst lange als ein rein sprachliches bzw. literarisches und allenfalls philosophisches Problem behandelt, lässt sich der Begriff mittlerweile als ein transmediales Konzept erachten, das in verschiedenen [[Medialität|Einzelmedien]] (wie [[Film|Filmen]], [[Fernsehen|Fernsehserien]], [[Comic|Comics]] oder auch [[Cyberspace|Computerspielen]]) unterschiedlich realisiert werden kann. Wichtige transmediale Fiktionalitätstheorien stammen etwa von Gregory Currie (<bib id='Currie 1990a'></bib>), Kendall L. Walton (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Frank Zipfel (<bib id='Zipfel 2001a'></bib>). Wie aber Jan-Noël Thon (<bib id='Thon 2014c'></bib>) und Jens Schröter (<bib id='Schröter 2020a'></bib>) feststellen, entsteht in solchen einerseits häufig eine Kluft zwischen den medienspezifischen Einzelstudien und dem transmedial verstandenen Überbau der Fiktion; darüber hinaus suchen sich transmediale Fiktionstheorien zumeist in irgendeiner Weise von leitenden Paradigmen der ''Literaturwissenschaft'' abzuwenden, wodurch die medienwissenschaftlich relevanten Spezifika ''bestimmter'' anderer Einzelmedien oft unthematisiert bleiben. Auch aus diesen Gründen bleibt ein überzeugender integrativer Entwurf ''bildlicher'' Fiktionstheorien immer noch ein schmerzliches Desiderat.<br />
:<br />
Wie auch immer eine solche Fiktionstheorie des statischen Bildes aussehen könnte, sie müsste zwischen zwei unterschiedlichen begrifflichen Traditionen vermitteln. Der ersten Position zufolge kann der Unterschied zwischen ''Fiktion'' und ''Nicht-Fiktion'' anhand der (zumeist als geklärt vorausgesetzten) ''Ontologie'' der dargestellten Gegenstände, also [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|semantisch]] bzw. [[Bedeutung und Referenz|referenziell]], festgestellt werden. Einer zweiten Tradition zufolge handelt es sich um verschiedene ''Diskurstypen'' oder ''Verwendungsweisen'' von Zeichen, also um [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|pragmatische]] Faktoren. Letzterer Ansatz ist für die Theoriebildung zweifellos der wichtigere, da sich der semantische häufig auf ihn zurückführen lässt. Als ‘fiktiv’ ließen sich demzufolge alle Gegenstände verstehen, die in ''fiktionalen'' Texten dargestellt werden. Fiktionale Texte wiederum unterscheiden sich von nicht-fiktionalen dadurch, dass ihre Produzent*innen keinen ''Anspruch'' darauf erheben, dass die dargestellten Gegenstände wirklich existieren – was sich häufig nur aus der konkreten Verwendung, [[Rahmung, Rahmen|Rahmung]] oder Auszeichnung heraus erschließen lässt, nicht aus werkinternen Faktoren. Diese begriffliche Doppelperspektive führt zu einigen interessanten Paradoxien. Nach Stephan Packard generiert Fiktion so einerseits – positiv gewendet – stets ein ''Mehr'', „weil ein Text zum Beispiel eine weitere Welt schafft und referenziert als nur die eine, in der wir demnach leben“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Negativ gewendet leistet ein fiktionaler Text so andererseits aber auch ''weniger'', „weil er zum Beispiel Verpflichtungen und Konsequenzen nicht akzeptiert, die faktuale Texte mit sich bringen“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Disziplinübergreifend hat es sich bewährt, beide Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, da sie ganz verschiedene Probleme behandeln. Die Unterscheidung »fiktiv« vs. »nicht-fiktiv« bezieht sich demnach auf ''die Ebene des Dargestellten'', die Unterscheidung »fiktional« vs. »nicht-fiktional« auf ''die Ebene der Darstellung'': <br />
:<br />
:''In diesem Sinne lässt sich also z.B. von fiktionaler Rede, von einem fiktionalen Diskurs, von fiktionalen Texten, Filmen usw. Sprechen, während sich ‘fiktiv’ auf Gegenstände, auf fiktive Entitäten bezieht''“ (<bib id='Rajewsky & Enderwitz 2016a'></bib>: S. 1f.). <br />
:<br />
Der Terminus ‘nicht-fiktional’ stellt eine differenziertere Alternative zu ‘faktual’ dar, da mit Letzterem zumeist bereits ein Urteil impliziert ist, dass die als nicht-fiktional ''ausgegebene'' Darstellung auch tatsächlich zutreffend ist; in fehlinformierten oder täuschenden Berichten ist dies aber nicht der Fall, sie wären immer noch ''nicht-fiktional'' – aber eben nicht ''faktual''. Der etwas unspezifische Ausdruck ‘Fiktion’ hingegen kann mit Stephan Packard als Dachbegriff für ein jedes Phänomen verwendet werden, „das vorliegt, wenn Fiktionales in dieser Weise als Referenz auf Fiktives verstanden wird“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 125). Wir haben es also mit ''Fiktion'' zu tun, wenn Fiktionalität und Fiktivität zugleich vorliegen. Zunächst sollten beide Bereiche aber getrennt voneinander betrachtet werden, um sie jeweils auf ihre Schnittstellen – und Spannungen – zur Bildtheorie hin zu befragen.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik ==<br />
[[Datei:Fiktion_Abb02.jpg|thumb|Abbildung 2: Ein graduell fiktionalisierter Barack Obama interagiert dank digitalen Effekten mit der Welt von Sam Esmail’s «Mr. Robot». Auf wen wird mit diesem Bild Bezug genommen?]]<br />
Betrachtet man das Problem der Fiktivität genauer, so stellt man fest, dass es keinesfalls unstrittig ist, ob auf Fiktives überhaupt Bezug genommen – also [[Referenz,_Denotation,_Exemplifikation|referenzialisiert]] – werden kann. Auch lassen sich anhand des sogenannten „Napoleon-Problems“ (vgl. <bib id='Zipfel 2001a'></bib>: S. 90–103) sehr unterschiedliche Positionen beziehen, inwiefern die Darstellung einer ''graduell'' fiktionalisierten realen Person (in einem historischen Roman wie Lew Tolstois «Krieg und Frieden», 1869) als kategorial andere Operation angesehen werden muss als die wahrheitsgemäße Beschreibung einer Person gleichen Namens in einer Reportage.<ref>Vgl. die Diskussion aktueller Beispiele wie Abb. 2 in <bib id='Jung & Wilde 2020a'></bib>.</ref> In jedem Fall aber scheint das Problem der Fiktivität ''immer'' in irgendeiner Weise an das Problem der Referenzialität gebunden. Dorrit Cohn bezeichnete fiktionale Texte beispielsweise stets als „non-referential“ (<bib id='Cohn 1999a'></bib>: S. 9). Insbesondere in analytisch-philosophischen Ansätzen überwiegt die Ansicht, dass fiktive Gegenstände (ebenso wie fiktive Welten oder Figuren) schlicht ''gar nicht'' existieren (vgl. etwa <bib id='Künne 1983a'></bib> oder <bib id='Sainsbury 2010a'></bib>). Die Unterscheidung zwischen »Fiktivität« und »Nicht-Fiktivität« würde demnach zugleich mit der Klärung der Bezugnahme getroffen. Ein Bild von Napoleon hätte als Bezugsgegenstand eben die reale Person Napoleon; ein Bild eines fiktiven Gegenstands hingegen wäre in dieser Hinsicht “leer” und würde eine „Null-Denotation“ aufweisen (vgl. <bib id='Goodman 1969a'></bib>: S. 21; <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30-34). In den Worten von Lopes könnte man zusammenfassen: „A fictive picture is one whose subject does not exist” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197). Gleichzeitig gesteht Scholz fiktionalen Bildern aber selbstredend doch „wiedererkennbare Themen oder Sujets“ zu (<bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30), auf die in irgendeiner Weise dennoch ein Bezug hergestellt werden muss (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 164-213). <br />
:<br />
Diese Annahmen ließen sich zwar noch in erheblichem Maße verkomplizieren, wenn man die Rolle unterschiedlicher [[Stil|Darstellungsstile]] mit einbezieht (vgl. hierzu etwa <bib id='Ryan 2009a'></bib>); dessen aber ungeachtet, steht eine jede referenzielle Herangehensweise vor dem Problem, immer an bereits semantisch interpretierten [[Bildhandeln|Bildverwendungsweisen]] ansetzen zu müssen, in denen die pragmatisch erschlossene Referenzialität als geklärt gelten kann. Damit kommt »Fiktivität« (oder »Nicht-Fiktionalität«) zwangsläufig ein kontingenter Status zu, der nicht unbedingt Teil eines ersten Verstehens- und Interpretationsprozesses sein kann oder muss. Häufig ''kann'' dieser Status wohl auch gar nicht entschieden werden, wenn piktoriale Bezugnahmen vom jeweiligen Verwendungskontext des entsprechenden Artefakts abhängen. Im Verstehen einer dargestellten Situation macht es demgegenüber zunächst keinen Unterschied, ob sich später herausstellen sollte, dass diese ''auch'' zur Bezugnahme auf eine reale Situation verwendet werden kann oder soll. Was noch entscheidender ist: Um solche begleitenden Urteile überhaupt fällen zu können, muss ein Verstehen der dargestellten Situation in den meisten Fällen bereits vorausgesetzt werden können. Thon betont daher mit Bezug auf den Filmwissenschaftler Edward Branigan, was in der kognitiven Narratologie lange eine „standart position“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 67) darstelle: „[O]ur ability to ''understand'' a narrative […] is distinct from our ''beliefs'' as to its truth, appropriateness, plausibility, rightness, or realism“ (<bib id='Branigana 1992'></bib>: S. 192; Herv. im Orig.). Inwiefern etwa monoszenische Einzelbilder überhaupt ''narrativ'' sein können, bleibt zwar weiterhin umstritten, doch dürfte die vorige Feststellung auch für nicht-narrative piktoriale Darstellungen gelten (etwa rein topologische Darstellungen). <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb03.jpg|thumb|Abbildung 3: Um zu entscheiden, ob es sich um ''fiktive'' oder ''nicht-fiktive'' Kinder handelt, bräuchte es kontextrelativer Verankerungen: In welcher Situation und zu welcher Zeit werden sie als existent ausgegeben oder als nur ''möglich'' imaginiert?]]<br />
Auch eine einfache sprachliche Aussage wie ‘ein Mann mit einem Hut steht im Park’ könnte ''ebenso gut'' eine [[Kontext|Situation]] in der realen Welt repräsentieren wie es sich um die Eröffnung einer phantastischen Erzählung handeln kann; um die Referenzfixierung – und damit auch die Fiktivität dieser Aussage – überhaupt bestimmen zu können, bräuchte es [[Kontextbildung|kontextrelative Verankerungen]]: In welchem Park? Zu welcher Zeit? „Obwohl ein Satz wie ‘Hans ist müde’, für sich genommen, weder wahr noch falsch ist, hat er in einer bestimmten Situation einen bestimmten Wahrheitswert, weil in einer konkreten Situation das mit der Äußerung dieses Satzes Gesagte wahr ist“ (<bib id='Plunze 2002a'></bib>: S. 167; vgl. für Bilder ausführlicher <bib id='Schirra 2005a'></bib>: S. 48-53). Das Gleiche gilt wohl auch für piktoriale Darstellungen wie in Abbildung 3, deren Fiktionalitätsgrad für sich genommen nicht beantwortet werden kann. Um erneut mit Marie-Laure Ryan zu sprechen: <br />
:<br />
:''The same text could, at least in principle, be presented as a creation of the imagination or as a truthful account of facts, and we must be guided by extra-textual signs, such as generic labels (‘novels’, ‘short stories’) to assess its fictional status'' (<bib id='Ryan 2007a'></bib>: S. 32). <br />
:<br />
In vielen Fällen ist daher immer noch John R. Searle zuzustimmen: „[T]here is no textual property that will identify a stretch of dicourse as a work of fiction” (<bib id='Searle 1975a'></bib>: S. 327). In einigen sprachlichen Gattungen (wie lyrischer Dichtung) können solche lektüreleitenden Fiktionalitätssignale gänzlich fehlen (vgl. <bib id='Ryan 2009a'></bib>: S. 83). Ryan argumentiert zutreffend, dass dies in noch viel stärkerem Maße für Bildmedien gelte: „Eine große Zahl von Menschenhand gemachter Bilder gehört in dieses Niemandsland zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion“ (S. 82). Die besonders komplizierte Frage, ob es sich bei vielen Bildern wie Abb. 3 daher zunächst um weder fiktionale noch nicht-fiktionale, sondern um fiktional unmarkierte Artefakte handeln könnte (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 214-269), führt unmittelbar zu unserem zweiten Begriffspaar, nämlich »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität«.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktionalität als Frage der Pragmatik==<br />
Fiktionalität bezeichnet nach Werner Wolf „im Gegensatz zur Fiktivität nicht zunächst eine ontologische oder referentielle Qualität, sondern […] einen kognitiven Rahmen, der bestimmte Erwartungen und Einstellungen bei der Rezeption eines Artefakts vorprogrammiert“ (<bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231). Die kommunikative Absicht einer fiktionalen Rede (auf die etwa anhand meta-kommunikativer und [[Kontext|kontextueller Signale]] geschlossen werden kann) ist demnach nicht, den Adressaten von etwas zu überzeugen, sondern ihn zu einem ''Als-ob-Spiel'', einem Imaginations- bzw. Vorstellungsspiel, einzuladen, wie Gregory Currie herausgearbeitet hat: <br />
:<br />
:''[Der Autor] verläßt sich darauf, daß seine Leser sich bewußt sind, es mit einem fiktionalen Werk zu tun zu haben, und er nimmt an, daß sie Äußerungen in der Aussageform nicht als Behauptungen verstehen. Er gibt also nichts vor. Er lädt uns ein, etwas vorzugeben, oder vielmehr, so zu tun, als ob. Denn ein Werk als fiktional zu lesen heißt, ein internalisiertes So-tun-als-ob-Spiel zu spielen'' (<bib id='Currie 2007a'></bib>: S. 41).<br />
:<br />
Mit Jens Eder könnte man diese Position wie folgt auf den Punkt bringen: Die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« hängt „nicht vom Wahrheitsgehalt oder der Wahrheit von Texten ab, sondern vom Wahrheits''anspruch'' des Kommunikators“ (<bib id='Eder 2008a'></bib>: S. 34f.; Herv. im Orig.). Die kommunikative Haltung der Kommunikator*in gegenüber dem Darstellungsinhalt, hier also dem Bildinhalt, wird mit Searles [[Bildhandeln|Sprechakttheorie]] als ‘Illokution’ bezeichnet (vgl. <bib id='Searle 1986a'></bib>: S. 213). Die ersten umfassenden Versuche, eine [[Bildakt-Theorie|Bildakttheorie]] nach Vorbild der Sprechakttheorie zu entwickeln, kamen von Søren Kjørup (<bib id='Kjörup 1974a'></bib>) und David Novitz (<bib id='Novitz 1977a'></bib>: S. 67-85; vgl. auch <bib id='Schirra & Sachs-Hombach 2006a'></bib>). Zur Markierung eines bestimmten Typs von Illokutionen scheint es aber wiederum keine genuin bildlichen Mittel zu geben. Für Scholz macht das Erfassen der illokutionären Funktion eines Bildes daher erst die achte Stufe seiner Verstehensebenen aus („modales Verstehen“, <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 187). Blanke geht in diesem Punkt sogar noch weiter und erklärt die Klassifikation von Typen illokutionärer Akte im Bildverstehen als eher marginal – keinesfalls aber als konstitutiv (vgl. <bib id='Blanke 2003a'></bib>: S. 167).<br />
:<br />
Dass man Fiktionalität nicht ''alleine'' an mutmaßliche Autor*innenintentionen binden kann scheint umgekehrt auch einleuchtend – dagegen sprechen nicht nur “subversive” Rezeptionspraktiken, sondern auch widersprüchliche Artefakte, deren fiktionaler Status sich im Laufe der Rezeption verändert hat. Eine Synthese zwischen Rezipient*innen-orientierten ''make-believe''-Ansätzen und Produzent*innen-orientierten Intentionalitätsansätzen – also letztlich zwischen Rezeptionsästhetik und Texthermeneutik – sieht J. Alexander Bareis (<bib id='Bareis 2014a'></bib>) darin, zwei Fragen prinzipiell zu trennen: die ''Unterscheidung'' zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« (was wohl nur vom Gebrauch eines Artefakts, also in letzter Konsequenz von der tatsächlichen Rezipient*innenschaft abhängt) sowie die ''Entscheidung'' zwischen beiden Verwendungs- und Interpretationsweisen (wofür dann doch Fiktionalitätssignale, wie Markierungen der Produzent*innenintentionen, zentrale Steuerungsfunktionen übernehmen). Bareis führt aus: <br />
:<br />
:''Wer sich für eine fiktionale Rezeption ''ent''scheidet folgt entweder der gängigen paratextuellen Markierung oder der momentanen Praxis, kann sich aber auch in solchen Fällen für eine fiktionale Rezeption eines Artefakts entscheiden, in denen dies der gegenwärtigen Praxis ''nicht'' entspricht'' (<bib id='Bareis 2014a'></bib>: S. 64; Herv. im Orig.).<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb04.jpg|thumb|Abbildung 4: Kategoriale Fiktionalität trotz gradueller Fiktivität: Obwohl die meisten realweltlichen Annahmen über “unser” New York ebenso auf Spider-Mans gleichnamige Heimatstadt zutreffen, verknüpfen die Autor*innen mit dem Film keinerlei Wahrheitsansprüche.]]<br />
Diese Auffassung ließe sich als ‘intentionalistisch-pragmatisch’ bezeichnen. Ihr zufolge kommt, zusammenfassend, den angenommenen (also hypothetisch erschlossenen) Intentionen einer Kommunikator*in zwar zentrale Signalfunktionen zu; der tatsächliche Status eines Artefakts – und die Entscheidung darüber, ob es zu einer Änderung realer Überzeugungen, oder lediglich zur Imagination möglicher Welten und Situationen verwendet wird – legt sich jedoch erst in der tatsächlichen Rezeption fest. Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« zumeist als eine ''kategoriale'' angesehen, in welcher eine Rezipient*in sich immer ''eher'' für die eine oder die andere Seite entscheiden wird (vgl. <bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231f.). Das Urteil »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« hingegen ist notwendig ''immer'' äußerst graduell: Bereits der Planet Erde, der in den allermeisten Darstellungen zumindest impliziert ist, ist schließlich nicht fiktiv (vgl. Abb. 4). <br />
:<br />
In jedem Fall aber scheint es sinnvoll, die beiden Begriffspaare »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« und »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« deutlich voneinander zu unterscheiden. Man wäre sonst gezwungen, fehlerhafte oder bewusst täuschende Darstellungen (deren Gegenstände fiktiv sind, obwohl ihre Repräsentation gemäß nicht-fiktionaler Signale wahrhaftig sein sollte) als ''fiktional'' aufzufassen. Eine Lüge aber würden wir üblicherweise schlicht als täuschend – und eben nicht als ''fiktional'' – bezeichnen.<br />
<br />
==Piktorialer Panfiktionalismus==<br />
Für Bildmedien existieren zudem einflussreiche Ausprägungen eines Panfiktionalismus (vgl. <bib id='Konrad 2014a'></bib>). Diesen zufolge müssten Bildmedien ''prinzipiell immer'' als „Fiktionen“ erachtet werden – und zwar bereits durch die Konstitution eines [[Bildinhalt|Bildinhalts]] voll mentaler, imaginärer oder eben: ''fiktiver'' Gegenstände. Eine solche Ansicht vertreten etwa Kendall L. Waltons (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Benita Herder (<bib id='Herder 2017a'></bib>). Bilder wären demnach „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351).<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Bareis 2014a'></bib> und die Beiträge in <bib id='Bareis & Nordrun 2015a'></bib>.</ref> Ein solcher Fiktions-Begriff wäre ein inhärenter des Mediums bzw. der Zeichenmodalität.<ref>Vgl. dazu auch kritisch <bib id='Wenninger 2014a'></bib>: S. 472-475.</ref> Nach den zuvor explizierten Zusammenhängen zwischen (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität erscheint dies allerdings für ''beide'' Begriffspaare wenig überzeugend.<ref>Vgl. dazu ausführlicher <bib id='Wilde 2018a'></bib>: S. 160-173 sowie <bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 71-74.</ref> Die (referenzbezogene) Unterscheidung »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« käme von vorneherein “zu spät”, um Bildmedien ''grundsätzlich'' zur Fiktion zu erklären, da für Vertreter*innen eines piktorialen Panfiktionalismus bereits der Bildinhalt – das, was wir “im” Bild sehen – der “fiktive” Gegenstand darstellt (und nicht erst das, worauf mit dieser Ebene weiter Bezug genommen werden kann). <br />
:<br />
Somit bliebe nur die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« zur Legitimierung eines entsprechenden Urteils. Diese Unterscheidung aber kommt zur Unterstellung einer ''prinzipiellen'' “Fiktion” von Bildmedien ebenfalls nicht in Frage, da sie an angenommene Kommunikations''absichten'' und Wahrheits''ansprüche'' einer Kommunikator*in gekoppelt ist. Von diesen aber ist die Ebene des Bildinhalts erneut weitgehend unabhängig (solange eine ikonische Kategorisierungsschwelle hinreichend überschritten wird, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 82-115). Wenn sich in Bildmedien die Annahme einer (fiktiven, nicht-fiktiven oder in dieser Hinsicht unbestimmbaren) Existenz des Dargestellten nur aus der konkreten Verwendung heraus erklären lässt (der hypothetischen Verwendungsabsicht einer Kommunikator*in und der tatsächlichen Verwendungspraxis von Rezipient*innenseite), so scheint dies deutlich gegen die These zu sprechen, dass die (Nicht-)Fiktionalität von Bildern medial oder modal determiniert wäre.<br />
:<br />
Auf einer grundlegenderen Ebene hat Jens Schröter (<bib id='Schröter 2016a'></bib>) prinzipielle Argumente dafür geboten, dass sich die Fiktionspotentiale unterschiedlicher Darstellungsmedien niemals als aus einem gegebenen ''a priori'' medialer Eigenschaften ableiten lassen. Fotografische Bilder der realen Person Sean Connery lassen sich ebenso dazu einsetzen, um die fiktive Figur James Bond darzustellen – und sie werden dies auch sehr häufig (vgl. auch <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Umgekehrt lassen sich Handzeichnungen ebenso in nicht-fiktionaler (etwa dokumentarischer) Absicht einsetzen, wie dies etwa in den Comic-Gattungen von ''graphic memoirs'', ''graphic journalism'', oder auch Sachcomics durchweg der Fall ist (vgl. <bib id='Schröer 2016a'></bib>). <br />
:<br />
:''Die tatsächlichen Operationen verschiedener Medien für dokumentarische oder fiktionale (oder gemischte) Praktiken lassen sich aber nicht generell aus den Eigenschaften von Medien deduzieren, sondern grundsätzlich nur historisch und/oder in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen'' (<bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 124).<br />
<br />
==Partikularisierung und Piktogrammatik==<br />
Der Zusammenhang zwischen Bildinhalt und Fiktion ist aber komplexer als es aussieht – insbesondere in medien- bzw. zeichenvergleichender Perspektive. Genauer betrachtet nutzt etwa Walton seinen „Fiktions“-Begriff, der gegenüber Bildmedien ''grundsätzlich'' geltend gemacht werden sollte, in uneinheitlicher Weise und wendet ihn ein zweites Mal auf die Relation des (angeblich bereits „fiktiven“) Bildinhalts zu einem weiteren dargestellten Referenzobjekt an („portraying fictitious things beyond itself“, <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 57). Daher scheint Walton, ebenso wie Herder, mit „fiktiven“ Darstellungen im Kern etwas spezifisch Anderes zu meinen. Gleiches dürfte für eine ähnliche Anwendung des Ausdrucks „Fiktion“ in Jörg R.J. Schirras Kontexttheorie des Bildes gelten, wo sich ebenfalls die Formulierung findet, wir könnten uns „Bilder als fiktive referentielle Kontexte“ vorstellen (<bib id='Schirra 2001a'></bib>: S. 90). Da hier erneut der Bildinhalt angesprochen wird, scheint mir dies mindestens in medienvergleichender Perspektive unintuitiv: Einem generellen Terminus der deutschen Sprache (wie ‘Katze’) würde man sicherlich nicht einen zunächst „fiktiven Inhalt“ zusprechen. In kommunikativer Hinsicht verweist ‘eine Katze’ lediglich auf das Lexikon (vgl. <bib id='Eco 2000a'></bib>: S. 280-336), nicht auf eine Situation, deren Darstellung fiktional oder nicht-fiktional sein könnte. Sprachliche Zeichen stellen vor ihrer kontextrelativen Verwendung zunächst lediglich generelle Terme dar, denen man deswegen auch keinen grundsätzlich “fiktiven Kern” zusprechen würde – da ein Ausdruck wie ‘Katze’ zunächst gar kein Individuum referenzialisiert (das nun erst fiktiv oder nicht fiktiv sein könnte). Demgegenüber scheinen Bilder – bereits auf Ebene des Bildinhalts – stets wesentlich konkreter und damit partikularisierter zu sein (was die zuvor angesprochenen panfiktionalistischen Annahmen nun zumindest naheliegender erscheinen lässt). <br />
:<br />
===Die semantische Paradoxie von Bildmedien===<br />
Hieran wird deutlich, dass das Problem der ''Partikularisierung'' des Bildinhalts in besonderer Weise mit dem Problem der Bildfiktion verbunden ist. Das Argument könnte etwa lauten: Weil wir auf Bildträgern meist nicht nur Zeichen, sondern komplexe und konkrete Situationen voll individuierter Einzelgegenstände zu sehen meinen, ''müsste'' der Bildinhalt zunächst immer als fiktiv eingeschätzt werden, ''wenn'' eine tatsächliche non-fiktionale Referenzfixierung notwendig gebrauchsabhängig bleibt. Betrachtet man fiktive Welten als ''mögliche'' (i.S.v. imaginierbare, vorstellbare) Welten (vgl. <bib id='Ryan 2014b'></bib>), so könnte man Bilder als „Ansichten möglicher Welten“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) und damit die Bildsemantik als eine „Mögliche-Welten-Semantik“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) auffassen, was das panfiktionalistische Urteil zu bekräftigen scheint. Dieses Problem wurde auch als „semantische Anomalie“ (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77) oder als „semantisches Paradox“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 25) von Bildmedien bezeichnet. Sachs-Hombach formuliert dieses so, dass <br />
:<br />
:''die Bildbedeutung (verglichen mit sprachlichen Äußerungen) ''zugleich bestimmter und unbestimmter'' ist. Sie ist bestimmter, insofern wir mit Bildern den Eindruck einer Szene (den wahrnehmungsvermittelten Inhalt) sehr unmittelbar hervorrufen können. Sie ist jedoch zugleich unbestimmter, insofern bei der Bildverwendung (1) die faktische Beschaffenheit einer realen Szene nicht verbürgt wird […] und (2) der kommunikative Gehalt oft vage bleibt'' (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77; Herv. L.W.).<br />
:<br />
Wenn sich die semantische Paradoxie aber erst dadurch ergibt, dass – oder besser: falls – Bilder partikulare Objekte zu zeigen scheinen (und zwar bereits auf Ebene des Bildinhalts), so verschiebt sich das Problem von Bild und Fiktion in eigentümlicher Weise. Tatsächlich würde man von nicht-gegenständlichen Bildern gewöhnlich etwa weder behaupten, dass sie fiktional oder dass sie nicht-fiktional wären, da sie eben keinen Gegenstand darstellen und folglich die Frage unsinnig wäre, ob der dargestellte Gegenstand bzw. die dargestellte Situation tatsächlich so existiert haben könnte. Umgekehrt darf dieser Zusammenhang für gegenständliche Bilder aber auch keineswegs als trivial gelten.<br />
: <br />
[[Datei:Fiktion_Abb05.jpg|thumb|Abbildung 5: Piktogrammatische Klassifikatoren für Gegenstandsklassen (indefinit bestimmbare Genusbilder), kein Blick in fiktive (oder nicht-fiktive) Diegesen.]] <br />
Zunächst ist es natürlich richtig, dass auch Allgemeinbilder fiktiver Gegenstandsklassen existieren (wie Bilder von Elfen auf Wikipedia), so dass man behaupten könne (wie Jens Schröter dies tut, <bib id='Schröter 2020a'></bib>), der Unterschied singuläre/generelle Bilder läge vollständig quer zur Differenz fiktionaler/non-fiktionaler Bilder. Dagegen muss aber eingewandt werden, dass ein Elfen-Bild in einem Comic-Panel durchaus die Existenz eines bestimmten Elfen in einem bestimmten diegetischen Kontext “behauptet” (vgl. <bib id='Wilde 2017a'></bib>). Im Rahmen einer solchen möglichen Welt bleiben fiktionale und nicht-fiktionale Elfen-Darstellungen also weiterhin auf konkrete, partikularisierte Elfen beschränkt. Elfen-Piktogramme an Toiletten-Türen hingegen würden weder die Existenz von Elfen behaupten noch fiktive Elfen vorstellig machen, sondern lediglich kommunizieren, dass jene Wesen (alles, was als „Elfen“ gelten mag) hier erwünscht und willkommen Einlass erhalten sollten. Insofern scheint mir die Frage nach der Partikularisierung des bildlich Dargestellten weiterhin ganz zentral dafür, ob sich die Frage nach Fiktionalität überhaupt stellt (vgl. ausführlicher <bib id='Wilde 2017a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245). Die piktogrammatische Spezifizierung einer Abbiege-Regelung für PKWs und Motorräder – nicht aber für Fahrräder – (Abb. 5) bildet keinerlei bestimmte Gegenstände ab und wird daher wohl auch nicht als Blicke in eine fiktive oder nicht-fiktive Diegese erachtet werden; sie macht lediglich die Bezugnahme auf Objektklassen zugänglich: Die Regelung, nur links abbiegen zu dürfen, gilt hier (lokale Deixis) für alle Verkehrsteilnehmer*innen, deren Fahrzeuge unter die zu erschließenden Klassifikatoren fallen. Ein piktogrammatischer Bildgebrauch scheint die Fiktionalitätsfrage also durchaus zu suspendieren.<br />
:<br />
===Drei bildtheoretische Positionen ===<br />
In der Bildtheorie sind drei unterschiedliche Positionen denkbar, mit dieser Differenz und einem möglichen Primat umzugehen. Walton und Sachs-Hombach scheinen mir am deutlichsten für die zwei konträrsten Einschätzungen zu argumentieren. Walton geht, wie angesprochen, davon aus, jedes Bild eines Bisons stelle primär einen partikularen (und daher in seinen Termini: einen „fiktiven“) Bison dar (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 125). Wenn ein Bild somit als Gattungsbild gebraucht wird, wäre dies ein ''reflexiver'', kontingenter Einsatz. Insbesondere für fotografische Bilder lässt sich dies mit einer gewissen Berechtigung vertreten.<ref>Currie spricht hierbei von „representation-by-origin“, vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>, S. 19–21.</ref> Aber ist diese Ebene der Semantik nicht allein unserem Vorwissen um das fotografische Dispositiv geschuldet, demzufolge irgendwann einmal ein konkretes Einzelding vor einer Kamera gestanden haben müsste? Für viele Autor*innen jedenfalls scheint vorausgesetzt, dass Bildmedien ''grundsätzlich'' nur Individuelles, bzw. nur in abgewandeltem Gebrauch Allgemeines zeigen könnten. Einer viel beachteten Aussage von Jurij M. Lotman zufolge zeige ein Film etwa ''immer'' Konkretes: <br />
:<br />
:''[D]as Wort der natürlichen Sprache kann einen Gegenstand, eine Gruppe von Gegenständen und eine Klasse von Gegenständen jeder beliebigen Abstraktion bezeichnen […]. Das ikonische Zeichen besitzt eine ursprüngliche Konkretheit, eine Abstraktion kann man nicht sehen'' (<bib id='Lotman 1977a'></bib>, S. 69). <br />
:<br />
Sachs-Hombach vertritt die gegenteilige Position (vgl. etwa <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 166 sowie ausführlich in <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>). Die Referenzialisierung von Einzeldingen mit Bildern muss demnach aus ''notwendigen'' Gründen nachgeordnet und kontingent sein: „Die Veranschaulichung konkreter Gegenstände erfolgt immer analog zu Kennzeichnungen, indem begriffliche Charakterisierungen derart kombiniert werden, dass sie sich in einem bestimmten Kontext zur Charakterisierung individueller Dinge eignen“ (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 182). Dies dürfte auf fiktive oder in dieser Hinsicht unbestimmbare Gegenstände in möglichen Welten ebenso zutreffen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass der Fiktionsbegriff bei Sachs-Hombach kaum eine zentrale Rolle einnimmt. Ferdinand Fellmanns kommt zu einem gleich lautendem Urteil: <br />
:<br />
:''Für das richtige Verständnis von Ähnlichkeit ''[des Bildes – L.W.]'' ist es demnach notwendig, daß sich diese nicht wie die Spur auf bestimmte Gegenstände oder Vorgänge beziehen muß, sondern daß sie Typen oder Klassen betrifft, die sprachlich durch Allgemeinbegriffe bezeichnet werden. Historisch scheint die Darstellung von Typen der detailgetreuen Reproduktion von Individuen voranzugehen, wie die Tierdarstellungen der Höhlenmalerei zeigen'' (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21). <br />
:<br />
Damit wären die allermeisten Bilder zunächst tatsächlich ''primär'' als „Allgemeinbilder“ oder als „Genusbilder“ zu bezeichnen, bevor sie anders (partikularisierend) eingesetzt werden. Dass wir uns zumindest bei vielen piktogrammatischen Darstellungssystemen ''nicht'' dazu angehalten fühlen, eine Partikularisierung zu unterstellen (die daraufhin fiktional oder nicht-fiktional sein müsste), räumt auch Walton ein. Entgegen seiner eigentlichen Vorannahme, Bilder seien „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351) gelten Piktogramme und Verkehrszeichen für ihn als nur „ornamental“; es handele sich um „nicht-funktionale Imaginationsrequisiten“ (''non-functional props'', <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 281). Neil McDonells durchaus typische These hierzu lautet: „The picture of a man on a restroom sign does not refer to any particular man but to all men” (<bib id='McDonell 1983a'></bib>, S. 85; vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 134-145). <br />
:<br />
Eine dritte Option bestünde darin, keiner dieser beiden Alternativen das Primat einzuräumen und den Unterschied nur ''case-by-case'' geltend zu machen. Wolfram Pichler und Ralph Ubl arbeiten hierfür mit der begrifflichen Opposition zwischen „indefinit“ vs. „definit bestimmbaren“ Bildern, die stets am konkreten Einzelfall getroffen werden muss (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51): <br />
:<br />
:''Die definite Bildbestimmung fängt […] schon da an, wo man bereit ist zu sagen: Das ist derselbe Mann mit Bart wie in jenem anderen Bild. Ob es den so identifizierten Mann mit Bart auch als einen wirklichen gibt, ist unter dieser Voraussetzung gleichgültig; bedeutsam ist allein die Möglichkeit oder Erwartung, dass das gegebene Bildobjekt ''re-identifiziert'' werden kann, sei es auch nur in einem anderen Bild'' (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51; Herv. im Orig.)<br />
:<br />
Packard formuliert diese Alternative mit Peirce als die Opposition, Bilder entweder als dicentisch-indexikalische Sinzeichen oder als rhematisch-ikonische Qualizeichen aufzufassen: <br />
:<br />
:''Diese reine Möglichkeit einer Qualität ist Voraussetzung der Behauptung, die die Qualität einem konkreten Gegenstand zuschreiben könnte und dann sagte, dieser sei so; aber diese Zuschreibung ist in dem Bild eben anders als die Darstellung einer ikonischen Qualität noch nicht durchgeführt. Es ist erst eine Interpretation, die gerade diese Durchführung und Ausführung sistiert. Ihr fehlt die Referenz auf ein Einzelding, von dem die gezeigte Qualität behauptet wird – auf den Raum, in dem die Szene des Stilllebens zu sehen gewesen sei, auf den Menschen, der die emotionale Erfahrung des Schreis gemacht, oder auf die biblische oder historische Figur mit ihrem Eigennamen, die den abgeschnittenen Kopf in einer Schale getragen habe'' (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 135).<br />
:<br />
===Medialität als Rahmung===<br />
Ein Foto werden wir zumeist prinzipiell als definit – also partikularisiert – interpretieren, auch wenn wir keine Kriterien dafür besitzen, seinen Referenten tatsächlich bestimmen zu können! Und in diesem Fall müssten wir uns auch entscheiden, ob es sich um ein ''reales'' (nicht-fiktionales) oder eben fiktionalisiert eingesetztes (oder manipuliertes) Foto handelt. Doch auch dies ist womöglich eher einer medialen Konvention geschuldet, denn Eingriffe, Manipulationen, Montagen und nicht zuletzt andere Verwendungszusammenhänge der Fotografie (etwa als Gattungsbilder in Lexika oder in fiktional gerahmten Kontexten wie dem Foto-Roman) hat es schon immer gegeben (vgl. <bib id='Fineman 2012a'></bib>). Schon bei der Fotografie handelt es sich daher lediglich um eine Rezeptionskonvention. Es gilt daher, den Zusammenhang zu bestimmten Bildverwendungstypen bzw. Bildmedien noch genauer in den Blick zu nehmen. <br />
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[[Datei:Fiktion_Abb06.jpg|thumb|Abbildung 6: Frank Flöthmann (<bib id='Flöthmann 2013a'></bib>) erzählt bekannte Grimm-Märchen (hier «Daumesdick») mit Infografiken und Piktogrammen nach, behauptet dabei aber stets die (fiktionale) Existenz seines partikularisierten Personals.]]<br />
Mit (bestimmten) Bildmedien sind hierbei nicht technisch-apparative Herstellungs- und Übertragungsweisen gemeint, sondern Bildtypen, die als konventionell-distinkte Einzelmedien (wie die Fotografie) auftreten und kulturell als solche etabliert sind. Beispielsweise lassen sich die Unterschiede zwischen Gebrauchsanweisungen, Comics oder Fotoromanen nicht alleine anhand technisch-apparativer oder semiotischer Kriterien festmachen. In der multimodalen Lingustik spricht man schlicht von Textsorten oder Genres: „Ist das Genre einmal erkannt, d.h. sind wir z.B. sicher, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt, wird das Verstehen insgesamt befördert. Es vollzieht sich dann im Rahmen der Textsortenkonventionen, auf die Rezipienten in Form von abstrahierten semiotischen Erfahrungen, d.h. gespeicherten Mustern zurückgreifen können“ (<bib id='Stöckl 2016a'></bib>: S. 102). Dies lässt sich mit Sachs-Hombachs und Schirras Überlegungen zum Bildstil als einem „illokutionärem Indikator“ verbinden (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 181), das bestimmte „Bild-Spiele“ (gegenüber anderen) als solche ausweist (vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>, S. 154-162). Wendet man dies auf den Zusammenhang zwischen piktogrammatischen vs. partikularisierenden Verwendungsweisen von Bildern an – und damit auch auf die Frage, ob ein Fiktionalitätsurteil getroffen werden muss – so zeigt es sich, dass keineswegs alle Bildverwendungspraktiken über alle konventionellen Medientypen gleich verteilt sind (vgl. erneut <bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 123). Um erneut Comics als Beispiele heranzuziehen: „Nun sind aber gerade die (vielen) narrativen Comics jene, die typischerweise Einzeldinge darstellen, und zwar im Sinne eines Minimums an Realismus als Gegenstände einer extensionalen Welt“ (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 180). Dies wiederum macht ein Fiktionalitätsurteil notwendig, was bei piktogrammatischen Bildverwendungsweisen nicht der Fall ist, die in kommunikativer Hinsicht lediglich Klassen hinreichend ähnlicher Gegenstände ins Spiel bringen sollen. <br />
:<br />
Mit diesen Konventionen spielt der Grafikdesigner Frank Flöthmann in seinen populären „Piktogramm-Comics“. Trotz der offenkundigen Hybridisierung beider Bildmedienbereiche ist eine Differenzlogik ''zwischen'' Comic und Piktogramm zum Verständnis der Geschichten vorausgesetzt. Denn obwohl die Bildästhetik an die Kennzeichnung von Gegenstandstypen erinnert, stellt der Autor hier doch “reguläre” fiktive Welten aus 16 Märchen der Gebrüder Grimm dar, in welchen die Protagonist*innen auch als ''existent'' behauptet werden – was bei Piktogrammen in gewöhnlicher Verwendung (Genusbilder oder indefinit bestimmbare Bilder) gerade nicht der Fall ist. Wenn wir also von (konventionell als distinkt verstandenen) Einzelmedien wie »dem Spielfilm« sprechen, dann umfasst dessen Medialität, zusammenfassend, nicht nur seine technisch-materiellen und institutionellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen (also beispielsweise auch sozialsystemische Institutionen oder eine arbeitsteilige Autor*innenschaft zwischen vielen Akteuren), sondern auch semiotische und fiktionsbezogene Erwartungen, die über Rahmungen und konventionalisierte Ästhetiken aufgerufen werden können.<br />
<br />
==Der fiktionale Gebrauch von Bildmedien==<br />
Während der »Fiktions«-Begriff in der Bildtheorie (im engeren Sinne) also in vielfacher Hinsicht merkwürdig untertheoretisiert ist, können doch zwei unterschiedliche Bereiche piktorialer Bezugnahmen auf fiktive Entitäten (Personen, Ereignisse, Welten) nicht ausgeblendet bleiben. Zum einen dürfte es ganz unbestritten sein, dass Bildmedien bereits etablierte fiktive Entitäten ebenso darstellen können wie real existierende Dinge. In kunstgeschichtlichen Beschäftigungen obliegt die Klärung dieser ''Referenz'' anhand bildlicher Kodes etwa der Ikonologie (vgl. <bib id='Panofsky 1939a'></bib>: S. 6). Wenn wir mit den relevanten Ikonografien vertraut sind, so wissen wir, dass ein bildlich dargestellter Mann mit einer Filzkappe immer Odysseus darstellt und können Odysseus-Repräsentationen auch in unbekannten Bildern identifizieren. Die komplexen Diskussionen um die fragliche Ontologie dieses Wesens (zwischen fiktivem Referenzobjekt und davon unterschiedenem ''Sujet'') müssen und können an dieser Stelle ausgeblendet bleiben, denn relevanter für den Zusammenhang von Bild und Fiktion scheint mir ein zweiter Bereich fiktionalen Bildgebrauchs. Hier wird nicht eine bereits bestehende fiktive Entität irgendwie durch bildliche Codes “anzitiert”, sondern genuin ''erzeugt''.<ref>Der Zusammenhang zwischen beidem ist noch einigermaßen unklar, vgl. erneut <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245.</ref> Es sollte nämlich nicht übersehen werden, dass weite Teile der Medienwissenschaft sich im “Tagesgeschäft” mit exakt solchen Bildmedien auseinandersetzen, die im “unmarkierten Standardfall” stets als fiktional gelten, wie Thon zutreffend argumentiert hat (vgl. <bib id='Thon 2014c'></bib>, S. 452-459): Realfilme, Animationsfilme, Fernsehserien, Comics oder Computerspiele. Die Befähigung dieser weiten Bereiche der Bildmedien zur ''Nicht-Fiktionalität'' muss – umgekehrt – zumeist mühevoll hergeleitet und gesondert begründet werden, mit verschieden hohem Aufwand bei unterschiedlichen Medientypen. Denn auch wenn nicht-fiktionale (dokumentarische oder essayistische) Realfilme in der Filmwissenschaft insgesamt ebenfalls weniger Aufmerksamkeit als fiktionale Spielfilme erhalten haben, scheint hier das fotografische Dispositiv doch zumindest eine unbestreitbar dokumentarische Qualität zu sichern.<ref>Allerdings fallen dadurch differenzierte Praktiken des ''re-entactments'' häufig erneut unter den Tisch, vgl. <bib id='Mundhenke 2017a'></bib>: S. 196-205; <bib id='Wilde 2019a'></bib>.</ref> Die Legitimation der Nicht-Fiktionalität von Animationsfilmen (z.B. «Waltz with Bashir», Ari Folman 2008), Comics (z.B. Art Spiegelmans «Maus: A Survivor’s Tale», 1991), oder Computerspielen (z.B. «JFK Reloaded», Traffic Games, 2004) muss hingegen immer wieder mühsam begründet und verteidigt werden (vgl. dazu <bib id='Thon 2019a'></bib>). Dass diese Bildmedien typischerweise fiktive Entitäten (Figuren, Ereignisfolgen, Welten) repräsentieren, stellt in jedem Fall keinen theoretischen Streitpunkt dar. Hier scheint mir eine merkwürdige Dissonanz gegenüber allgemeinen bildtheoretischen Prämissen zu liegen, die selten genauer in den Blick genommen worden ist. Abschließend soll daher noch einmal der Blick darauf gewendet werden, welche besonderen Funktionen und Leistungen Bildmedien in der Darstellung fiktiver Dinge, Ereignisse und Welten zufallen. <br />
<br />
===Die notwendige Unvollständigkeit fiktiver Entitäten ===<br />
Alles, was in fiktionalen Medien dargestellt wird, muss in sehr grundlegender Hinsicht als ''unvollständig'' erachtet werden. Lubomír Doležel arbeitete diesen Punkt in seiner Variante der ''possible world''-Theorie unter der Bezeichnung ‘ontologische Unvollständigkeit’ heraus: <br />
:<br />
:''Fictional worlds are brought into existence by means of fictional texts, and it would take a text of infinite lengths to construct a complete fictional world. Finite texts that humans are capable of producing, necessarily create incomplete worlds'' (<bib id='Doležel 1995a'></bib>: S. 201). <br />
:<br />
Die Bezeichnung der „ontologischen“ Unvollständigkeit geht auf Barry Smith zurück, der sich damit begrifflich gegenüber einer „epistemischen“ Unvollständigkeit absetzen wollte, welche bloß unser gerechtfertigtes Wissen betrifft (vgl. <bib id='Smith 1979a'></bib>). Wenn Eigenschaften und Merkmale des Dargestellten in Texten schlichtweg ''nicht'' definiert seien, so Smith, Doležel und viele andere, so “fehlen” uns nicht nur bestimmte Informationen (temporär), die wir etwa noch in Erfahrungen bringen könnten; sie ''existieren'' im Gegenteil ''nirgendwo'', und zwar, auf einer grundsätzlichen und daher ontologischen Ebene.<ref>Es existieren jedoch Gründe, dennoch an der Bezeichnung einer ''epistemischen'' Unvollständigkeit festzuhalten, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 208.</ref> Dennoch setzen wir im Rezeptionsprozess zumeist voraus, dass alle dargestellten Welten grundsätzlich konsistent und vollständig sind, sofern nicht explizite (phantastische) Gründe vorliegen, warum dem anders sein sollte. <br />
:<br />
Rezipient*innen können gemeinhin auf ihr Weltwissen zurückgreifen, um solche “Lücken” zu füllen. Marie-Laure Ryan führt dies auf das von David Lewis übernommene Konzept des ''principle of minimal departure'' zurück: <br />
:<br />
:''the imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world, and it will import knowledge from the real world to fill out incomplete descriptions […]. For instance, when a text refers to a location in the real world, all of the real geography is implicitly part of the storyworld, and when it refers to a historical individual, this individual enters the storyworld with all of his or her biographical data except for those features that the text explicitly overrules'' (<bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35; vgl. bereits <bib id='Ryan 1991a'></bib>: S. 51).<br />
:<br />
Die Literaturwissenschaft verwendet in der rezeptionsästhetischen Tradition Roman Ingardens den Begriff der »Unbestimmtheitsstelle« (vgl. <bib id='Ingarden 1972a'></bib>) oder Wolfgang Isers Konzept der »Leerstelle« (vgl. <bib id='Iser 1978a'></bib>: S. 194), um auf die Notwendigkeit der „Mitarbeit des Lesers“ (<bib id='Eco 1987a'></bib>: S. 1) in dieser inferenziellen Ergänzung von Unvollständigkeiten hinzuweisen. Die Filmwissenschaft operiert mit dem Terminus des ‘Suture’, die Comicforschung mit dem des ‘Closures’. In den Bildwissenschaften wurden diese Ansätze bisher erst mit großem Zögern aufgenommen, vermutlich aus des zuvor angeführten Theoriedefizits in der Fiktionsdebatte (vgl. <bib id='Lobsien 1980a'></bib>; <bib id='Kimmich 2003a'></bib>). <br />
:<br />
Unbestritten scheint, dass Bildmedien besondere Leistungen und Funktionen geltend machen können, um fiktionale Objekte zu konkretisieren. Filmfiguren etwa besitzen für gewöhnlich eine „sensory specificity that at the same time diminishes the range of individual imaginations by the recipients“ (<bib id='Eder et al. 2010a'></bib>: S. 18). Über das Aussehen fiktiver Dinge im Film scheinen wir so zumeist viel zu wissen und epistemisch begründen zu können, weil vor der Kamera Objekte standen, deren Aussehen weitgehend auf die diegetischen Entitäten übertragbar ist. Mit anderen Worten: Die [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|Wahrnehmungsnähe]] von Bildmedien kann sich dergestalt niederschlagen, dass jeder wahrnehmbare Aspekt des Bildinhalts auch in der Konkretisierung fiktiver Situationen relevant bleibt. Mit wieder anderen Worten: Die [[Prädikation|Prädikationsmöglichkeiten]], die Bilder zur Verfügung stellen, sind größtenteils auf die fiktive Diegese übertragbar. Externe Prädikationsmöglichkeiten der Darstellungsmittel lassen sich als interne Prädikate des Dargestellten verrechnen (vgl. <bib id='Reicher 2010a'></bib>: S. 117).<br />
<br />
===Darstellungskorrespondenz und “doppelte Prädikation” ===<br />
<br />
Die Wahrnehmungsnähe von Bildmedien lässt sich durch Gregory Curries Begriff der »Darstellungskorrespondenz« (''representational correspondence'') noch genauer fassen (vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>: S. 58-64): „ [F]or a given representational work, only certain features of the representation serve to represent features of the things represented“ (S. 59). Es sind also niemals ''alle'' Eigenschaften einer Darstellung hinsichtlich der fiktiven Situation relevant, wie Thon in Bezug auf die gleiche Textstelle von Currie weiter ausführt: „[I]t makes sense to distinguish more systematically between ''presentational'' and ''representational'' aspects of a given narrative representation in this context“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 60; Herv. im Orig.). Dass diese Differenz selbst im fotografischen Filmbild nie völlig überwunden werden kann lässt sich leicht vor Augen führen: Man denke etwa an Schwarzweißfilme oder Rückblenden in Sepia-Kolorierungen, die nur in speziellen Ausnahmefällen eine “monochrome Welt” repräsentieren (etwa im medienreflexiven Film «Pleasantville», USA 1998; vgl. dazu umfassender <bib id='Thon 2017a'></bib>; <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Etwas technischer ausgedrückt: Die Prädikationsmöglichkeiten, die ein Bild in einem Schwarzweißfilm anhand wahrnehmbarer Graustufen und monochromer Kontraste anbietet, treffen nur auf den Bildinhalt, nicht aber auf die fiktive Situation zu (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 171; <bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 85-91). <br />
:<br />
All dies bedeutet zusammenfassend, dass fiktional eingesetzte Bildmedien, insbesondere ihre wahrnehmbaren Eigenschaften, stets doppelte Prädikationsmöglichkeiten aufweisen: Die Prädikationsmöglichkeiten, die der Bildinhalt zur Verfügung stellt (begründete Aussagen über das Aussehen der Bildobjekte), stehen in relativer Darstellungskorrespondenz zur Ebene der fiktiven Diegese, auf die sie sich häufig – aber eben nicht immer, und niemals notwendig – “mappen” lassen. Im interpretativen Verstehen müssen beide Ebenen voneinander differenziert werden, indem zwischen abbildungsrelevanter Form und “bloßem” medialem Kontext differenziert wird. Als nicht abbildungsrelevanter medialer Kontext wären aber nicht nur limitierende Faktoren der Materialität zu nennen (Schwarzweiß-Druckverfahren in der Darstellung farbiger Welten). Auch viele Aspekte des medialen Produktionszusammenhangs fließen häufig nicht in die Konkretisierung fiktionaler Gegenstände mit ein. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb07.jpg|thumb|Abbildung 7: Zwei mal die identische fiktive Figur: Magische Transformation oder bloßer Darstellungsunterschied? ]]<br />
Mit Kendall L. Walton gesprochen wäre es beispielsweise eine „silly question“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 174-183), danach zu fragen, warum die fiktive Figur Daario Naharis in der HBO-Serie «A Game of Thrones» plötzlich auf mysteriöse Weise ihr Aussehen verändert. In Staffel drei wurde die Figur vom Briten Ed Skrein, ab Staffel vier vom niederländischen Michiel Huisman verkörpert (vgl. Abb. 7), ohne dass dafür eine diegetische Erklärung angeboten wurde. Gültige fiktionale Rückschlüsse, dass Daario Naharis über magische Fähigkeiten verfügen und – wie die diegetisch etablierten ''faceless men'' – sein Aussehen beliebig transformieren könnte, wären ganz offensichtlich falsch (oder vorsichtiger: kommunikativ kaum anschlussfähig; zu fiktionalen Fakten vgl. <bib id='Bareis 2015a'></bib>). Der wahrnehmbare Unterschied, den die Prädikationsmöglichkeiten der Bilder zur Verfügung stellen, wird also nicht auf Seiten des fiktional Dargestellten, sondern auf den medialen Ermöglichungshintergrund “verrechnet”. Dieser wird hier als institutioneller Produktionszusammenhang der TV-Serie kenntlich, mit dem die konventionalisierte semiotische Form des doppelten Darsteller*innenkörpers und dem Schauspieler*innen-Starsystem verbunden ist (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Eine fundamentale Differenz zwischen den im Bild sichtbaren Objekten und den dadurch repräsentierten, diegetischen Entitäten ist also unauflösbar. Über Wahrnehmungsnähe und Darstellungskorrespondenz können die doppelten Prädikationsmöglichkeiten aber so eng geführt werden, dass sie gänzlich transparent erscheint, insbesondere in fotografischen oder illusionistischen Bildmedien, wo wir nahezu ''in die Diegese'' zu blicken meinen.<br />
<br />
===Gemeinsamkeiten und Differenzen fiktionaler und nicht-fiktionaler Weltbezüge===<br />
Grundsätzlich ist eine doppelte Prädikation zwischen sichtbarem Bildinhalt und den dadurch repräsentierten Entitäten (vermittelt über eine skalierte Darstellungskorrespondenz) auch für nicht-fiktionale, dokumentarische Formate unumgänglich: In nicht-fotografischen Bildmedien ist dies unmittelbar evident: Die Wahrnehmbarkeit der tatsächlich vorgefallenen Situationen wird hier doch in erheblichem Maße von den Wahrnehmungsparametern der (etwa gezeichneten, gemalten oder computergenerierten) Bildlichkeit abweichen; auch ist davon auszugehen, dass nicht alle Bildelemente in Vorder- und Hintergrund, in Zentrum und Peripherie, die gleichen Wahrheitsansprüche erheben. Packard geht daher von einer „gradierte[n] Fiktionalität“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 139) gezeichneter Bilder aus, Thon mit gleicher Stoßrichtung von einer „referential multimodality“ (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271): <br />
:<br />
:''[T]here is no simple one-to-one relationship between the semiotic resources a given narrative work employs and the referential claims it makes […]. Accordingly, it seems helpful to expand previous conceptualizations of multimodality by distinguishing between ''semiotic multimodality'', on the one hand, and ''referential multimodality'', on the other'' (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271; Herv. um Orig.).<br />
:<br />
In nicht-fiktionalen Bildmedien fungiert ein geteiltes Wissen um die intersubjektive Wirklichkeit aber zumindest stets als Korrektiv, was sich mit Walton als „reality principle“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 44) ausbuchstabieren ließe. Auch in der Fiktionstheorie ist das bereits angesprochene ''principle of minimal departure'' zwar fest etabliert.<ref>„The imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world“, <bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35.</ref> Es besteht aber ein zentraler Unterschied in seinem Referenzbereich. Nach Ryan muss nämlich nicht zwangsläufig unsere (als ''real'' erachtete) Welt den Ausgangspunkt des inferenziellen “Lücken-Füllens” darstellen. Ebenso können andere mediale, selbst bereits fiktionale Repräsentationen als interpretative Ausgangspunkte genutzt werden, etwa was das Verstehen von “Zentauren” oder “Superhelden” betrifft. Eine solche Loslösung der Darstellung und des Dargestellten von Ansprüchen lebensweltlicher Realität hat auch bildtheoretisch interessante Konsequenzen. <br />
Gegenüber einer “naturalisierenden” Lesung, die in phantastischen, abstrahierten und überzeichneten Cartoon-Bildern beispielsweise stets die Repräsentation einer Welt vermutet, die der unserer zumindest in ihrer Wahrnehmbarkeit weitgehend entspricht, ist es auch möglich, Umgekehrtes zu vertreten: Die phantastischen Welten von Comic, Manga und Animation brechen dann nicht nur punktuell lokal mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten (etwa, wenn Figuren Superkräfte besitzen), sondern können auch auf globaler Ebene eine besondere „visuelle Ontologie“ aufweisen (vgl. <bib id='Lefèvre 2007a'></bib>), die der “unseren” aus keinerlei notwendigen Gründen entsprechen muss. «The LEGO Movie» (2014) bildet dafür ein beeindruckendes Denkmodell (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Wenn das durch Lego-Steine dargestellte Wasser, der Schaum, die Dampf- und die Staubwolken durchaus naturalisiert aufgefasst werden könnten (so dass sich mit dem gleichen Material auch nicht-fiktive Geschichten erzeugen ließen), so muss den sogenannten „Master Buildern“ die “Legohaftigkeit” ihrer Welt stets wahrnehmbar bleiben. Sie können sie manipulieren und rekombinieren: „We'll build a motorcycle out of the alleyway!“ (00:14:40). Die dargestellte Welt behält also ihre besondere Ontologie, so dass die Hauptfigur Emmet seinen drehenden Lego-Kopf als Radachse einsetzen kann – was sich in keinem nicht-fiktionalen Referenzrahmen mehr plausibilisieren ließe!<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb08.jpg|thumb|Abbildung 8: Die Darstellung einer physikalisch “gewöhnlichen” Welt mit den Mitteln (computeranimierter) Lego-Steine oder Darstellung einer Welt aus Lego-Materialität?]]<br />
Ein jedes solches Urteil muss am Einzelfall durch zahlreiche analytische Argumente untermauert werden: etwa, dass es den gezeichneten Protagonisten in Comic und Manga häufig durch leichte Manipulationen ihres Äußeren möglich scheint, sich so zu maskieren und zu verkleiden, dass dies selbst von nächsten Verwandten nicht mehr durchschaut werden kann (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). In solchen Fällen scheint es, als bestünde nicht nur die Darstellung aus einfachsten Konturlinien, “hinter” der eine reichere Wahrnehmungsfülle verborgen bleibt (die doppelte Prädikation würde damit durch eine blockierte Darstellungskorrespondenz auseinandergetrieben). Stattdessen scheint hier auch die dargestellte Welt selbst der Wahrnehmbarkeit abstrahierter Bildlichkeit zu entsprechen – was nur im Fiktionalen, dort aber prinzipiell jederzeit – möglich ist. <br />
:<br />
Die ambivalente Grenze der doppelten Prädikation öffnet zusammenfassend eine Zone der künstlerischen und imaginativen Aushandlung. Gefragt – und gezweifelt – werden muss an fiktionalen Bildern dann stets, welche der Prädikationsmöglichkeiten des sichtbaren Bildinhalts darstellungsrelevant und somit auf die intersubjektiv und diskursiv konstruierte Diegese übertragbar sind. Dies aber lässt sich nicht einfach ''sehen'', sondern nur auf Ebene der Traditionsbildung, der Diskursivierung und der Anschlusskommunikation, also auf Ebene performativer Transkriptionspraktiken, rekonstruieren (vgl. <bib id='Jäger 2002a'></bib>).<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
* <br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2019''<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Verantwortlich:'' <br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra|Schirra, Jörg R.J.]]<br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Fiktion&diff=27961Fiktion2019-11-28T06:42:21Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Darstellungskorrespondenz und doppelte Prädikation */</p>
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
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[[Kategorie:Bildpragmatik]]<br />
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Unterpunkt zu: [[Bildpragmatik]]<br />
<!--beides sollte in der Regel der gleiche Text sein--><br />
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<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
==Fiktion, (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität==<br />
Theorien der Fiktion haben sich lange Zeit allein auf literarische Werke bezogen und die bildenden Künste gar nicht oder allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen.<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Klauk & Köppe 2014a'></bib>; <bib id='Enderwitz & Rajewsky 2016b'></bib>; <bib id='Bunia 2020a'></bib>.</ref> Dies gilt auch umgekehrt: Der Begriff der »Fiktion« spielt in [[Bildwissenschaft_vs._Bildtheorie|bildtheoretischen]] Ansätzen eine zumeist eher untergeordnete, in jedem Fall aber höchst widersprüchliche Rolle. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Diskussion des [[Fotografie|fotografischen Bildes]], dem etwa von Roger Scruton eine generelle „fictional incompetence“ (<bib id='Scruton 2006a'></bib>: S. 25) unterstellt worden ist. Die Vorstellung einer fotochemisch erzeugten Spur, eines [[Symbol,_Index,_Ikon|indexikalisch]] garantierten „Es-war-so-gewesen“ (vgl. <bib id='Barthes 1981a'></bib>: S. 76), hält sich hartnäckig. Dabei versperrt eine Fixierung auf diesen Index nicht nur den Blick auf viele fiktionale Einsatzmöglichkeiten des fotografischen Bildes.<ref>„Es ist leicht vorstellbar, einerseits einen fotografisch aufgenommenen, mit realen Schauspielern gedrehten Film und andererseits einen komplett gezeichneten Film zu machen, die Einstellung für Einstellung die gleiche fiktionale Geschichte erzählen“, <bib id='Schröter 2020a'></bib>: in Vorb.)</ref> Auch viele dokumentarische Praktiken können so nicht adäquat erfasst werden: Im ''historical re-enactment'' etwa können auch ''nachgestellte'' Fotos unproblematisch nicht-fiktional eingesetzt werden (vgl. <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Von den technischen Eigenschaften eines Bildmediums auf dessen Einsatzmöglichkeiten für fiktionale oder nicht-fiktionale Zwecke zu schließen ist also grundsätzlich verkürzend, wie Jens Schröter (2016a) wohl am deutlichsten herausgearbeitet hat. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb01.jpg|thumb|Abbildung 1: Eine Abbildung eines “klassischen” fiktiven Gegenstands, des Einhorns, nach Konrad Genser: „Historiae animalium“, 1551.]]<br />
Aus all diesen Gründen sollte der Begriff der »Fiktion« bildtheoretisch höchst interessant sein. Eine umfassende Diskussion taucht überraschenderweise aber innerhalb von Oliver Scholz’ (<bib id='Scholz 2004a'></bib>[<sup>1</sup>1995]), Börries Blankes (<bib id='Blanke 2003a'></bib>), oder Klaus Sachs-Hombachs (<bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>) Modellen der Bildkommunikation gar nicht auf (vgl. aber etwa <bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197-208). Dies scheint durchaus typisch; weiter unten sollen die Gründe dafür systematischer herausgearbeitet werden.<ref>Für Überblicke über den Forschungsstand zu piktorialer „Fiktion“ vgl. <bib id='Podro 1983a'></bib>; <bib id='Ryan 2009a'></bib>; <bib id='Wenninger 2014a'></bib>.</ref> Der Ausdruck spielt in bildwissenschaftlichen Ansätzen eine überwiegend [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|wahrnehmungstheoretische]] Rolle im Umkreis der [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität|Ähnlichkeitsdebatten]]. Scholz spitzte diese in seinem sogenannten „Meisterargument“ (<bib id='Scholz 1999a'></bib>: S. 33) gegen die Ähnlichkeitsthese wie folgt zu: Einem “Gegenstand”, der gar nicht existiere (wie ein Einhorn, Abb. 1), könne auch nichts ähnlich sein. Demgegenüber wurden ''internalisierte Ähnlichkeitsbegriffe'' geltend gemacht: Wir kennen Pferde und wir kennen Hörner, also können wir uns Einhörner vorstellen – und diese auch “in” Bildmedien sehen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2005c'></bib>). Oder in den Worten von Dominic Lopes: „The acquisition of recognition abilities for fictive objects largely parallels the acquisition of recognition abilities for actual objects” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 206). Löst dies in gewisser Weise ein Wahrnehmungsproblem, so lässt es doch die gewichtigere Frage unbeantwortet, wann eine ganz und gar ''alltägliche'' bildliche Darstellung nun etwas mit Fiktion zu tun hat und was mit dieser Unterscheidung für eine Kommunikations- und Zeichentheorie des Bildes auf dem Spiel steht. <br />
:<br />
Wurde »Fiktionalität« zunächst lange als ein rein sprachliches bzw. literarisches und allenfalls philosophisches Problem behandelt, lässt sich der Begriff mittlerweile als ein transmediales Konzept erachten, das in verschiedenen [[Medialität|Einzelmedien]] (wie [[Film|Filmen]], [[Fernsehen|Fernsehserien]], [[Comic|Comics]] oder auch [[Cyberspace|Computerspielen]]) unterschiedlich realisiert werden kann. Wichtige transmediale Fiktionalitätstheorien stammen etwa von Gregory Currie (<bib id='Currie 1990a'></bib>), Kendall L. Walton (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Frank Zipfel (<bib id='Zipfel 2001a'></bib>). Wie aber Jan-Noël Thon (<bib id='Thon 2014c'></bib>) und Jens Schröter (<bib id='Schröter 2020a'></bib>) feststellen, entsteht in solchen einerseits häufig eine Kluft zwischen den medienspezifischen Einzelstudien und dem transmedial verstandenen Überbau der Fiktion; darüber hinaus suchen sich transmediale Fiktionstheorien zumeist in irgendeiner Weise von leitenden Paradigmen der ''Literaturwissenschaft'' abzuwenden, wodurch die medienwissenschaftlich relevanten Spezifika ''bestimmter'' anderer Einzelmedien oft unthematisiert bleiben. Auch aus diesen Gründen bleibt ein überzeugender integrativer Entwurf ''bildlicher'' Fiktionstheorien immer noch ein schmerzliches Desiderat.<br />
:<br />
Wie auch immer eine solche Fiktionstheorie des statischen Bildes aussehen könnte, sie müsste zwischen zwei unterschiedlichen begrifflichen Traditionen vermitteln. Der ersten Position zufolge kann der Unterschied zwischen ''Fiktion'' und ''Nicht-Fiktion'' anhand der (zumeist als geklärt vorausgesetzten) ''Ontologie'' der dargestellten Gegenstände, also [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|semantisch]] bzw. [[Bedeutung und Referenz|referenziell]], festgestellt werden. Einer zweiten Tradition zufolge handelt es sich um verschiedene ''Diskurstypen'' oder ''Verwendungsweisen'' von Zeichen, also um [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|pragmatische]] Faktoren. Letzterer Ansatz ist für die Theoriebildung zweifellos der wichtigere, da sich der semantische häufig auf ihn zurückführen lässt. Als ‘fiktiv’ ließen sich demzufolge alle Gegenstände verstehen, die in ''fiktionalen'' Texten dargestellt werden. Fiktionale Texte wiederum unterscheiden sich von nicht-fiktionalen dadurch, dass ihre Produzent*innen keinen ''Anspruch'' darauf erheben, dass die dargestellten Gegenstände wirklich existieren – was sich häufig nur aus der konkreten Verwendung, [[Rahmung, Rahmen|Rahmung]] oder Auszeichnung heraus erschließen lässt, nicht aus werkinternen Faktoren. Diese begriffliche Doppelperspektive führt zu einigen interessanten Paradoxien. Nach Stephan Packard generiert Fiktion so einerseits – positiv gewendet – stets ein ''Mehr'', „weil ein Text zum Beispiel eine weitere Welt schafft und referenziert als nur die eine, in der wir demnach leben“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Negativ gewendet leistet ein fiktionaler Text so andererseits aber auch ''weniger'', „weil er zum Beispiel Verpflichtungen und Konsequenzen nicht akzeptiert, die faktuale Texte mit sich bringen“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Disziplinübergreifend hat es sich bewährt, beide Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, da sie ganz verschiedene Probleme behandeln. Die Unterscheidung »fiktiv« vs. »nicht-fiktiv« bezieht sich demnach auf ''die Ebene des Dargestellten'', die Unterscheidung »fiktional« vs. »nicht-fiktional« auf ''die Ebene der Darstellung'': <br />
:<br />
:''In diesem Sinne lässt sich also z.B. von fiktionaler Rede, von einem fiktionalen Diskurs, von fiktionalen Texten, Filmen usw. Sprechen, während sich ‘fiktiv’ auf Gegenstände, auf fiktive Entitäten bezieht''“ (<bib id='Rajewsky & Enderwitz 2016a'></bib>: S. 1f.). <br />
:<br />
Der Terminus ‘nicht-fiktional’ stellt eine differenziertere Alternative zu ‘faktual’ dar, da mit Letzterem zumeist bereits ein Urteil impliziert ist, dass die als nicht-fiktional ''ausgegebene'' Darstellung auch tatsächlich zutreffend ist; in fehlinformierten oder täuschenden Berichten ist dies aber nicht der Fall, sie wären immer noch ''nicht-fiktional'' – aber eben nicht ''faktual''. Der etwas unspezifische Ausdruck ‘Fiktion’ hingegen kann mit Stephan Packard als Dachbegriff für ein jedes Phänomen verwendet werden, „das vorliegt, wenn Fiktionales in dieser Weise als Referenz auf Fiktives verstanden wird“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 125). Wir haben es also mit ''Fiktion'' zu tun, wenn Fiktionalität und Fiktivität zugleich vorliegen. Zunächst sollten beide Bereiche aber getrennt voneinander betrachtet werden, um sie jeweils auf ihre Schnittstellen – und Spannungen – zur Bildtheorie hin zu befragen.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik ==<br />
[[Datei:Fiktion_Abb02.jpg|thumb|Abbildung 2: Ein graduell fiktionalisierter Barack Obama interagiert dank digitalen Effekten mit der Welt von Sam Esmail’s «Mr. Robot». Auf wen wird mit diesem Bild Bezug genommen?]]<br />
Betrachtet man das Problem der Fiktivität genauer, so stellt man fest, dass es keinesfalls unstrittig ist, ob auf Fiktives überhaupt Bezug genommen – also [[Referenz,_Denotation,_Exemplifikation|referenzialisiert]] – werden kann. Auch lassen sich anhand des sogenannten „Napoleon-Problems“ (vgl. <bib id='Zipfel 2001a'></bib>: S. 90–103) sehr unterschiedliche Positionen beziehen, inwiefern die Darstellung einer ''graduell'' fiktionalisierten realen Person (in einem historischen Roman wie Lew Tolstois «Krieg und Frieden», 1869) als kategorial andere Operation angesehen werden muss als die wahrheitsgemäße Beschreibung einer Person gleichen Namens in einer Reportage.<ref>Vgl. die Diskussion aktueller Beispiele wie Abb. 2 in <bib id='Jung & Wilde 2020a'></bib>.</ref> In jedem Fall aber scheint das Problem der Fiktivität ''immer'' in irgendeiner Weise an das Problem der Referenzialität gebunden. Dorrit Cohn bezeichnete fiktionale Texte beispielsweise stets als „non-referential“ (<bib id='Cohn 1999a'></bib>: S. 9). Insbesondere in analytisch-philosophischen Ansätzen überwiegt die Ansicht, dass fiktive Gegenstände (ebenso wie fiktive Welten oder Figuren) schlicht ''gar nicht'' existieren (vgl. etwa <bib id='Künne 1983a'></bib> oder <bib id='Sainsbury 2010a'></bib>). Die Unterscheidung zwischen »Fiktivität« und »Nicht-Fiktivität« würde demnach zugleich mit der Klärung der Bezugnahme getroffen. Ein Bild von Napoleon hätte als Bezugsgegenstand eben die reale Person Napoleon; ein Bild eines fiktiven Gegenstands hingegen wäre in dieser Hinsicht “leer” und würde eine „Null-Denotation“ aufweisen (vgl. <bib id='Goodman 1969a'></bib>: S. 21; <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30-34). In den Worten von Lopes könnte man zusammenfassen: „A fictive picture is one whose subject does not exist” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197). Gleichzeitig gesteht Scholz fiktionalen Bildern aber selbstredend doch „wiedererkennbare Themen oder Sujets“ zu (<bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30), auf die in irgendeiner Weise dennoch ein Bezug hergestellt werden muss (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 164-213). <br />
:<br />
Diese Annahmen ließen sich zwar noch in erheblichem Maße verkomplizieren, wenn man die Rolle unterschiedlicher [[Stil|Darstellungsstile]] mit einbezieht (vgl. hierzu etwa <bib id='Ryan 2009a'></bib>); dessen aber ungeachtet, steht eine jede referenzielle Herangehensweise vor dem Problem, immer an bereits semantisch interpretierten [[Bildhandeln|Bildverwendungsweisen]] ansetzen zu müssen, in denen die pragmatisch erschlossene Referenzialität als geklärt gelten kann. Damit kommt »Fiktivität« (oder »Nicht-Fiktionalität«) zwangsläufig ein kontingenter Status zu, der nicht unbedingt Teil eines ersten Verstehens- und Interpretationsprozesses sein kann oder muss. Häufig ''kann'' dieser Status wohl auch gar nicht entschieden werden, wenn piktoriale Bezugnahmen vom jeweiligen Verwendungskontext des entsprechenden Artefakts abhängen. Im Verstehen einer dargestellten Situation macht es demgegenüber zunächst keinen Unterschied, ob sich später herausstellen sollte, dass diese ''auch'' zur Bezugnahme auf eine reale Situation verwendet werden kann oder soll. Was noch entscheidender ist: Um solche begleitenden Urteile überhaupt fällen zu können, muss ein Verstehen der dargestellten Situation in den meisten Fällen bereits vorausgesetzt werden können. Thon betont daher mit Bezug auf den Filmwissenschaftler Edward Branigan, was in der kognitiven Narratologie lange eine „standart position“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 67) darstelle: „[O]ur ability to ''understand'' a narrative […] is distinct from our ''beliefs'' as to its truth, appropriateness, plausibility, rightness, or realism“ (<bib id='Branigana 1992'></bib>: S. 192; Herv. im Orig.). Inwiefern etwa monoszenische Einzelbilder überhaupt ''narrativ'' sein können, bleibt zwar weiterhin umstritten, doch dürfte die vorige Feststellung auch für nicht-narrative piktoriale Darstellungen gelten (etwa rein topologische Darstellungen). <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb03.jpg|thumb|Abbildung 3: Um zu entscheiden, ob es sich um ''fiktive'' oder ''nicht-fiktive'' Kinder handelt, bräuchte es kontextrelativer Verankerungen: In welcher Situation und zu welcher Zeit werden sie als existent ausgegeben oder als nur ''möglich'' imaginiert?]]<br />
Auch eine einfache sprachliche Aussage wie ‘ein Mann mit einem Hut steht im Park’ könnte ''ebenso gut'' eine [[Kontext|Situation]] in der realen Welt repräsentieren wie es sich um die Eröffnung einer phantastischen Erzählung handeln kann; um die Referenzfixierung – und damit auch die Fiktivität dieser Aussage – überhaupt bestimmen zu können, bräuchte es [[Kontextbildung|kontextrelative Verankerungen]]: In welchem Park? Zu welcher Zeit? „Obwohl ein Satz wie ‘Hans ist müde’, für sich genommen, weder wahr noch falsch ist, hat er in einer bestimmten Situation einen bestimmten Wahrheitswert, weil in einer konkreten Situation das mit der Äußerung dieses Satzes Gesagte wahr ist“ (<bib id='Plunze 2002a'></bib>: S. 167; vgl. für Bilder ausführlicher <bib id='Schirra 2005a'></bib>: S. 48-53). Das Gleiche gilt wohl auch für piktoriale Darstellungen wie in Abbildung 3, deren Fiktionalitätsgrad für sich genommen nicht beantwortet werden kann. Um erneut mit Marie-Laure Ryan zu sprechen: <br />
:<br />
:''The same text could, at least in principle, be presented as a creation of the imagination or as a truthful account of facts, and we must be guided by extra-textual signs, such as generic labels (‘novels’, ‘short stories’) to assess its fictional status'' (<bib id='Ryan 2007a'></bib>: S. 32). <br />
:<br />
In vielen Fällen ist daher immer noch John R. Searle zuzustimmen: „[T]here is no textual property that will identify a stretch of dicourse as a work of fiction” (<bib id='Searle 1975a'></bib>: S. 327). In einigen sprachlichen Gattungen (wie lyrischer Dichtung) können solche lektüreleitenden Fiktionalitätssignale gänzlich fehlen (vgl. <bib id='Ryan 2009a'></bib>: S. 83). Ryan argumentiert zutreffend, dass dies in noch viel stärkerem Maße für Bildmedien gelte: „Eine große Zahl von Menschenhand gemachter Bilder gehört in dieses Niemandsland zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion“ (S. 82). Die besonders komplizierte Frage, ob es sich bei vielen Bildern wie Abb. 3 daher zunächst um weder fiktionale noch nicht-fiktionale, sondern um fiktional unmarkierte Artefakte handeln könnte (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 214-269), führt unmittelbar zu unserem zweiten Begriffspaar, nämlich »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität«.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktionalität als Frage der Pragmatik==<br />
Fiktionalität bezeichnet nach Werner Wolf „im Gegensatz zur Fiktivität nicht zunächst eine ontologische oder referentielle Qualität, sondern […] einen kognitiven Rahmen, der bestimmte Erwartungen und Einstellungen bei der Rezeption eines Artefakts vorprogrammiert“ (<bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231). Die kommunikative Absicht einer fiktionalen Rede (auf die etwa anhand meta-kommunikativer und [[Kontext|kontextueller Signale]] geschlossen werden kann) ist demnach nicht, den Adressaten von etwas zu überzeugen, sondern ihn zu einem ''Als-ob-Spiel'', einem Imaginations- bzw. Vorstellungsspiel, einzuladen, wie Gregory Currie herausgearbeitet hat: <br />
:<br />
:''[Der Autor] verläßt sich darauf, daß seine Leser sich bewußt sind, es mit einem fiktionalen Werk zu tun zu haben, und er nimmt an, daß sie Äußerungen in der Aussageform nicht als Behauptungen verstehen. Er gibt also nichts vor. Er lädt uns ein, etwas vorzugeben, oder vielmehr, so zu tun, als ob. Denn ein Werk als fiktional zu lesen heißt, ein internalisiertes So-tun-als-ob-Spiel zu spielen'' (<bib id='Currie 2007a'></bib>: S. 41).<br />
:<br />
Mit Jens Eder könnte man diese Position wie folgt auf den Punkt bringen: Die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« hängt „nicht vom Wahrheitsgehalt oder der Wahrheit von Texten ab, sondern vom Wahrheits''anspruch'' des Kommunikators“ (<bib id='Eder 2008a'></bib>: S. 34f.; Herv. im Orig.). Die kommunikative Haltung der Kommunikator*in gegenüber dem Darstellungsinhalt, hier also dem Bildinhalt, wird mit Searles [[Bildhandeln|Sprechakttheorie]] als ‘Illokution’ bezeichnet (vgl. <bib id='Searle 1986a'></bib>: S. 213). Die ersten umfassenden Versuche, eine [[Bildakt-Theorie|Bildakttheorie]] nach Vorbild der Sprechakttheorie zu entwickeln, kamen von Søren Kjørup (<bib id='Kjörup 1974a'></bib>) und David Novitz (<bib id='Novitz 1977a'></bib>: S. 67-85; vgl. auch <bib id='Schirra & Sachs-Hombach 2006a'></bib>). Zur Markierung eines bestimmten Typs von Illokutionen scheint es aber wiederum keine genuin bildlichen Mittel zu geben. Für Scholz macht das Erfassen der illokutionären Funktion eines Bildes daher erst die achte Stufe seiner Verstehensebenen aus („modales Verstehen“, <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 187). Blanke geht in diesem Punkt sogar noch weiter und erklärt die Klassifikation von Typen illokutionärer Akte im Bildverstehen als eher marginal – keinesfalls aber als konstitutiv (vgl. <bib id='Blanke 2003a'></bib>: S. 167).<br />
:<br />
Dass man Fiktionalität nicht ''alleine'' an mutmaßliche Autor*innenintentionen binden kann scheint umgekehrt auch einleuchtend – dagegen sprechen nicht nur “subversive” Rezeptionspraktiken, sondern auch widersprüchliche Artefakte, deren fiktionaler Status sich im Laufe der Rezeption verändert hat. Eine Synthese zwischen Rezipient*innen-orientierten ''make-believe''-Ansätzen und Produzent*innen-orientierten Intentionalitätsansätzen – also letztlich zwischen Rezeptionsästhetik und Texthermeneutik – sieht J. Alexander Bareis (<bib id='Bareis 2014a'></bib>) darin, zwei Fragen prinzipiell zu trennen: die ''Unterscheidung'' zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« (was wohl nur vom Gebrauch eines Artefakts, also in letzter Konsequenz von der tatsächlichen Rezipient*innenschaft abhängt) sowie die ''Entscheidung'' zwischen beiden Verwendungs- und Interpretationsweisen (wofür dann doch Fiktionalitätssignale, wie Markierungen der Produzent*innenintentionen, zentrale Steuerungsfunktionen übernehmen). Bareis führt aus: <br />
:<br />
:''Wer sich für eine fiktionale Rezeption ''ent''scheidet folgt entweder der gängigen paratextuellen Markierung oder der momentanen Praxis, kann sich aber auch in solchen Fällen für eine fiktionale Rezeption eines Artefakts entscheiden, in denen dies der gegenwärtigen Praxis ''nicht'' entspricht'' (<bib id='Bareis 2014a'></bib>: S. 64; Herv. im Orig.).<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb04.jpg|thumb|Abbildung 4: Kategoriale Fiktionalität trotz gradueller Fiktivität: Obwohl die meisten realweltlichen Annahmen über “unser” New York ebenso auf Spider-Mans gleichnamige Heimatstadt zutreffen, verknüpfen die Autor*innen mit dem Film keinerlei Wahrheitsansprüche.]]<br />
Diese Auffassung ließe sich als ‘intentionalistisch-pragmatisch’ bezeichnen. Ihr zufolge kommt, zusammenfassend, den angenommenen (also hypothetisch erschlossenen) Intentionen einer Kommunikator*in zwar zentrale Signalfunktionen zu; der tatsächliche Status eines Artefakts – und die Entscheidung darüber, ob es zu einer Änderung realer Überzeugungen, oder lediglich zur Imagination möglicher Welten und Situationen verwendet wird – legt sich jedoch erst in der tatsächlichen Rezeption fest. Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« zumeist als eine ''kategoriale'' angesehen, in welcher eine Rezipient*in sich immer ''eher'' für die eine oder die andere Seite entscheiden wird (vgl. <bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231f.). Das Urteil »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« hingegen ist notwendig ''immer'' äußerst graduell: Bereits der Planet Erde, der in den allermeisten Darstellungen zumindest impliziert ist, ist schließlich nicht fiktiv (vgl. Abb. 4). <br />
:<br />
In jedem Fall aber scheint es sinnvoll, die beiden Begriffspaare »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« und »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« deutlich voneinander zu unterscheiden. Man wäre sonst gezwungen, fehlerhafte oder bewusst täuschende Darstellungen (deren Gegenstände fiktiv sind, obwohl ihre Repräsentation gemäß nicht-fiktionaler Signale wahrhaftig sein sollte) als ''fiktional'' aufzufassen. Eine Lüge aber würden wir üblicherweise schlicht als täuschend – und eben nicht als ''fiktional'' – bezeichnen.<br />
<br />
==Piktorialer Panfiktionalismus==<br />
Für Bildmedien existieren zudem einflussreiche Ausprägungen eines Panfiktionalismus (vgl. <bib id='Konrad 2014a'></bib>). Diesen zufolge müssten Bildmedien ''prinzipiell immer'' als „Fiktionen“ erachtet werden – und zwar bereits durch die Konstitution eines [[Bildinhalt|Bildinhalts]] voll mentaler, imaginärer oder eben: ''fiktiver'' Gegenstände. Eine solche Ansicht vertreten etwa Kendall L. Waltons (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Benita Herder (<bib id='Herder 2017a'></bib>). Bilder wären demnach „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351).<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Bareis 2014a'></bib> und die Beiträge in <bib id='Bareis & Nordrun 2015a'></bib>.</ref> Ein solcher Fiktions-Begriff wäre ein inhärenter des Mediums bzw. der Zeichenmodalität.<ref>Vgl. dazu auch kritisch <bib id='Wenninger 2014a'></bib>: S. 472-475.</ref> Nach den zuvor explizierten Zusammenhängen zwischen (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität erscheint dies allerdings für ''beide'' Begriffspaare wenig überzeugend.<ref>Vgl. dazu ausführlicher <bib id='Wilde 2018a'></bib>: S. 160-173 sowie <bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 71-74.</ref> Die (referenzbezogene) Unterscheidung »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« käme von vorneherein “zu spät”, um Bildmedien ''grundsätzlich'' zur Fiktion zu erklären, da für Vertreter*innen eines piktorialen Panfiktionalismus bereits der Bildinhalt – das, was wir “im” Bild sehen – der “fiktive” Gegenstand darstellt (und nicht erst das, worauf mit dieser Ebene weiter Bezug genommen werden kann). <br />
:<br />
Somit bliebe nur die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« zur Legitimierung eines entsprechenden Urteils. Diese Unterscheidung aber kommt zur Unterstellung einer ''prinzipiellen'' “Fiktion” von Bildmedien ebenfalls nicht in Frage, da sie an angenommene Kommunikations''absichten'' und Wahrheits''ansprüche'' einer Kommunikator*in gekoppelt ist. Von diesen aber ist die Ebene des Bildinhalts erneut weitgehend unabhängig (solange eine ikonische Kategorisierungsschwelle hinreichend überschritten wird, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 82-115). Wenn sich in Bildmedien die Annahme einer (fiktiven, nicht-fiktiven oder in dieser Hinsicht unbestimmbaren) Existenz des Dargestellten nur aus der konkreten Verwendung heraus erklären lässt (der hypothetischen Verwendungsabsicht einer Kommunikator*in und der tatsächlichen Verwendungspraxis von Rezipient*innenseite), so scheint dies deutlich gegen die These zu sprechen, dass die (Nicht-)Fiktionalität von Bildern medial oder modal determiniert wäre.<br />
:<br />
Auf einer grundlegenderen Ebene hat Jens Schröter (<bib id='Schröter 2016a'></bib>) prinzipielle Argumente dafür geboten, dass sich die Fiktionspotentiale unterschiedlicher Darstellungsmedien niemals als aus einem gegebenen ''a priori'' medialer Eigenschaften ableiten lassen. Fotografische Bilder der realen Person Sean Connery lassen sich ebenso dazu einsetzen, um die fiktive Figur James Bond darzustellen – und sie werden dies auch sehr häufig (vgl. auch <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Umgekehrt lassen sich Handzeichnungen ebenso in nicht-fiktionaler (etwa dokumentarischer) Absicht einsetzen, wie dies etwa in den Comic-Gattungen von ''graphic memoirs'', ''graphic journalism'', oder auch Sachcomics durchweg der Fall ist (vgl. <bib id='Schröer 2016a'></bib>). <br />
:<br />
:''Die tatsächlichen Operationen verschiedener Medien für dokumentarische oder fiktionale (oder gemischte) Praktiken lassen sich aber nicht generell aus den Eigenschaften von Medien deduzieren, sondern grundsätzlich nur historisch und/oder in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen'' (<bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 124).<br />
<br />
==Partikularisierung und Piktogrammatik==<br />
Der Zusammenhang zwischen Bildinhalt und Fiktion ist aber komplexer als es aussieht – insbesondere in medien- bzw. zeichenvergleichender Perspektive. Genauer betrachtet nutzt etwa Walton seinen „Fiktions“-Begriff, der gegenüber Bildmedien ''grundsätzlich'' geltend gemacht werden sollte, in uneinheitlicher Weise und wendet ihn ein zweites Mal auf die Relation des (angeblich bereits „fiktiven“) Bildinhalts zu einem weiteren dargestellten Referenzobjekt an („portraying fictitious things beyond itself“, <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 57). Daher scheint Walton, ebenso wie Herder, mit „fiktiven“ Darstellungen im Kern etwas spezifisch Anderes zu meinen. Gleiches dürfte für eine ähnliche Anwendung des Ausdrucks „Fiktion“ in Jörg R.J. Schirras Kontexttheorie des Bildes gelten, wo sich ebenfalls die Formulierung findet, wir könnten uns „Bilder als fiktive referentielle Kontexte“ vorstellen (<bib id='Schirra 2001a'></bib>: S. 90). Da hier erneut der Bildinhalt angesprochen wird, scheint mir dies mindestens in medienvergleichender Perspektive unintuitiv: Einem generellen Terminus der deutschen Sprache (wie ‘Katze’) würde man sicherlich nicht einen zunächst „fiktiven Inhalt“ zusprechen. In kommunikativer Hinsicht verweist ‘eine Katze’ lediglich auf das Lexikon (vgl. <bib id='Eco 2000a'></bib>: S. 280-336), nicht auf eine Situation, deren Darstellung fiktional oder nicht-fiktional sein könnte. Sprachliche Zeichen stellen vor ihrer kontextrelativen Verwendung zunächst lediglich generelle Terme dar, denen man deswegen auch keinen grundsätzlich “fiktiven Kern” zusprechen würde – da ein Ausdruck wie ‘Katze’ zunächst gar kein Individuum referenzialisiert (das nun erst fiktiv oder nicht fiktiv sein könnte). Demgegenüber scheinen Bilder – bereits auf Ebene des Bildinhalts – stets wesentlich konkreter und damit partikularisierter zu sein (was die zuvor angesprochenen panfiktionalistischen Annahmen nun zumindest naheliegender erscheinen lässt). <br />
:<br />
===Die semantische Paradoxie von Bildmedien===<br />
Hieran wird deutlich, dass das Problem der ''Partikularisierung'' des Bildinhalts in besonderer Weise mit dem Problem der Bildfiktion verbunden ist. Das Argument könnte etwa lauten: Weil wir auf Bildträgern meist nicht nur Zeichen, sondern komplexe und konkrete Situationen voll individuierter Einzelgegenstände zu sehen meinen, ''müsste'' der Bildinhalt zunächst immer als fiktiv eingeschätzt werden, ''wenn'' eine tatsächliche non-fiktionale Referenzfixierung notwendig gebrauchsabhängig bleibt. Betrachtet man fiktive Welten als ''mögliche'' (i.S.v. imaginierbare, vorstellbare) Welten (vgl. <bib id='Ryan 2014b'></bib>), so könnte man Bilder als „Ansichten möglicher Welten“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) und damit die Bildsemantik als eine „Mögliche-Welten-Semantik“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) auffassen, was das panfiktionalistische Urteil zu bekräftigen scheint. Dieses Problem wurde auch als „semantische Anomalie“ (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77) oder als „semantisches Paradox“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 25) von Bildmedien bezeichnet. Sachs-Hombach formuliert dieses so, dass <br />
:<br />
:''die Bildbedeutung (verglichen mit sprachlichen Äußerungen) ''zugleich bestimmter und unbestimmter'' ist. Sie ist bestimmter, insofern wir mit Bildern den Eindruck einer Szene (den wahrnehmungsvermittelten Inhalt) sehr unmittelbar hervorrufen können. Sie ist jedoch zugleich unbestimmter, insofern bei der Bildverwendung (1) die faktische Beschaffenheit einer realen Szene nicht verbürgt wird […] und (2) der kommunikative Gehalt oft vage bleibt'' (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77; Herv. L.W.).<br />
:<br />
Wenn sich die semantische Paradoxie aber erst dadurch ergibt, dass – oder besser: falls – Bilder partikulare Objekte zu zeigen scheinen (und zwar bereits auf Ebene des Bildinhalts), so verschiebt sich das Problem von Bild und Fiktion in eigentümlicher Weise. Tatsächlich würde man von nicht-gegenständlichen Bildern gewöhnlich etwa weder behaupten, dass sie fiktional oder dass sie nicht-fiktional wären, da sie eben keinen Gegenstand darstellen und folglich die Frage unsinnig wäre, ob der dargestellte Gegenstand bzw. die dargestellte Situation tatsächlich so existiert haben könnte. Umgekehrt darf dieser Zusammenhang für gegenständliche Bilder aber auch keineswegs als trivial gelten.<br />
: <br />
[[Datei:Fiktion_Abb05.jpg|thumb|Abbildung 5: Piktogrammatische Klassifikatoren für Gegenstandsklassen (indefinit bestimmbare Genusbilder), kein Blick in fiktive (oder nicht-fiktive) Diegesen.]] <br />
Zunächst ist es natürlich richtig, dass auch Allgemeinbilder fiktiver Gegenstandsklassen existieren (wie Bilder von Elfen auf Wikipedia), so dass man behaupten könne (wie Jens Schröter dies tut, <bib id='Schröter 2020a'></bib>), der Unterschied singuläre/generelle Bilder läge vollständig quer zur Differenz fiktionaler/non-fiktionaler Bilder. Dagegen muss aber eingewandt werden, dass ein Elfen-Bild in einem Comic-Panel durchaus die Existenz eines bestimmten Elfen in einem bestimmten diegetischen Kontext “behauptet” (vgl. <bib id='Wilde 2017a'></bib>). Im Rahmen einer solchen möglichen Welt bleiben fiktionale und nicht-fiktionale Elfen-Darstellungen also weiterhin auf konkrete, partikularisierte Elfen beschränkt. Elfen-Piktogramme an Toiletten-Türen hingegen würden weder die Existenz von Elfen behaupten noch fiktive Elfen vorstellig machen, sondern lediglich kommunizieren, dass jene Wesen (alles, was als „Elfen“ gelten mag) hier erwünscht und willkommen Einlass erhalten sollten. Insofern scheint mir die Frage nach der Partikularisierung des bildlich Dargestellten weiterhin ganz zentral dafür, ob sich die Frage nach Fiktionalität überhaupt stellt (vgl. ausführlicher <bib id='Wilde 2017a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245). Die piktogrammatische Spezifizierung einer Abbiege-Regelung für PKWs und Motorräder – nicht aber für Fahrräder – (Abb. 5) bildet keinerlei bestimmte Gegenstände ab und wird daher wohl auch nicht als Blicke in eine fiktive oder nicht-fiktive Diegese erachtet werden; sie macht lediglich die Bezugnahme auf Objektklassen zugänglich: Die Regelung, nur links abbiegen zu dürfen, gilt hier (lokale Deixis) für alle Verkehrsteilnehmer*innen, deren Fahrzeuge unter die zu erschließenden Klassifikatoren fallen. Ein piktogrammatischer Bildgebrauch scheint die Fiktionalitätsfrage also durchaus zu suspendieren.<br />
:<br />
===Drei bildtheoretische Positionen ===<br />
In der Bildtheorie sind drei unterschiedliche Positionen denkbar, mit dieser Differenz und einem möglichen Primat umzugehen. Walton und Sachs-Hombach scheinen mir am deutlichsten für die zwei konträrsten Einschätzungen zu argumentieren. Walton geht, wie angesprochen, davon aus, jedes Bild eines Bisons stelle primär einen partikularen (und daher in seinen Termini: einen „fiktiven“) Bison dar (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 125). Wenn ein Bild somit als Gattungsbild gebraucht wird, wäre dies ein ''reflexiver'', kontingenter Einsatz. Insbesondere für fotografische Bilder lässt sich dies mit einer gewissen Berechtigung vertreten.<ref>Currie spricht hierbei von „representation-by-origin“, vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>, S. 19–21.</ref> Aber ist diese Ebene der Semantik nicht allein unserem Vorwissen um das fotografische Dispositiv geschuldet, demzufolge irgendwann einmal ein konkretes Einzelding vor einer Kamera gestanden haben müsste? Für viele Autor*innen jedenfalls scheint vorausgesetzt, dass Bildmedien ''grundsätzlich'' nur Individuelles, bzw. nur in abgewandeltem Gebrauch Allgemeines zeigen könnten. Einer viel beachteten Aussage von Jurij M. Lotman zufolge zeige ein Film etwa ''immer'' Konkretes: <br />
:<br />
:''[D]as Wort der natürlichen Sprache kann einen Gegenstand, eine Gruppe von Gegenständen und eine Klasse von Gegenständen jeder beliebigen Abstraktion bezeichnen […]. Das ikonische Zeichen besitzt eine ursprüngliche Konkretheit, eine Abstraktion kann man nicht sehen'' (<bib id='Lotman 1977a'></bib>, S. 69). <br />
:<br />
Sachs-Hombach vertritt die gegenteilige Position (vgl. etwa <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 166 sowie ausführlich in <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>). Die Referenzialisierung von Einzeldingen mit Bildern muss demnach aus ''notwendigen'' Gründen nachgeordnet und kontingent sein: „Die Veranschaulichung konkreter Gegenstände erfolgt immer analog zu Kennzeichnungen, indem begriffliche Charakterisierungen derart kombiniert werden, dass sie sich in einem bestimmten Kontext zur Charakterisierung individueller Dinge eignen“ (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 182). Dies dürfte auf fiktive oder in dieser Hinsicht unbestimmbare Gegenstände in möglichen Welten ebenso zutreffen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass der Fiktionsbegriff bei Sachs-Hombach kaum eine zentrale Rolle einnimmt. Ferdinand Fellmanns kommt zu einem gleich lautendem Urteil: <br />
:<br />
:''Für das richtige Verständnis von Ähnlichkeit ''[des Bildes – L.W.]'' ist es demnach notwendig, daß sich diese nicht wie die Spur auf bestimmte Gegenstände oder Vorgänge beziehen muß, sondern daß sie Typen oder Klassen betrifft, die sprachlich durch Allgemeinbegriffe bezeichnet werden. Historisch scheint die Darstellung von Typen der detailgetreuen Reproduktion von Individuen voranzugehen, wie die Tierdarstellungen der Höhlenmalerei zeigen'' (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21). <br />
:<br />
Damit wären die allermeisten Bilder zunächst tatsächlich ''primär'' als „Allgemeinbilder“ oder als „Genusbilder“ zu bezeichnen, bevor sie anders (partikularisierend) eingesetzt werden. Dass wir uns zumindest bei vielen piktogrammatischen Darstellungssystemen ''nicht'' dazu angehalten fühlen, eine Partikularisierung zu unterstellen (die daraufhin fiktional oder nicht-fiktional sein müsste), räumt auch Walton ein. Entgegen seiner eigentlichen Vorannahme, Bilder seien „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351) gelten Piktogramme und Verkehrszeichen für ihn als nur „ornamental“; es handele sich um „nicht-funktionale Imaginationsrequisiten“ (''non-functional props'', <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 281). Neil McDonells durchaus typische These hierzu lautet: „The picture of a man on a restroom sign does not refer to any particular man but to all men” (<bib id='McDonell 1983a'></bib>, S. 85; vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 134-145). <br />
:<br />
Eine dritte Option bestünde darin, keiner dieser beiden Alternativen das Primat einzuräumen und den Unterschied nur ''case-by-case'' geltend zu machen. Wolfram Pichler und Ralph Ubl arbeiten hierfür mit der begrifflichen Opposition zwischen „indefinit“ vs. „definit bestimmbaren“ Bildern, die stets am konkreten Einzelfall getroffen werden muss (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51): <br />
:<br />
:''Die definite Bildbestimmung fängt […] schon da an, wo man bereit ist zu sagen: Das ist derselbe Mann mit Bart wie in jenem anderen Bild. Ob es den so identifizierten Mann mit Bart auch als einen wirklichen gibt, ist unter dieser Voraussetzung gleichgültig; bedeutsam ist allein die Möglichkeit oder Erwartung, dass das gegebene Bildobjekt ''re-identifiziert'' werden kann, sei es auch nur in einem anderen Bild'' (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51; Herv. im Orig.)<br />
:<br />
Packard formuliert diese Alternative mit Peirce als die Opposition, Bilder entweder als dicentisch-indexikalische Sinzeichen oder als rhematisch-ikonische Qualizeichen aufzufassen: <br />
:<br />
:''Diese reine Möglichkeit einer Qualität ist Voraussetzung der Behauptung, die die Qualität einem konkreten Gegenstand zuschreiben könnte und dann sagte, dieser sei so; aber diese Zuschreibung ist in dem Bild eben anders als die Darstellung einer ikonischen Qualität noch nicht durchgeführt. Es ist erst eine Interpretation, die gerade diese Durchführung und Ausführung sistiert. Ihr fehlt die Referenz auf ein Einzelding, von dem die gezeigte Qualität behauptet wird – auf den Raum, in dem die Szene des Stilllebens zu sehen gewesen sei, auf den Menschen, der die emotionale Erfahrung des Schreis gemacht, oder auf die biblische oder historische Figur mit ihrem Eigennamen, die den abgeschnittenen Kopf in einer Schale getragen habe'' (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 135).<br />
:<br />
===Medialität als Rahmung===<br />
Ein Foto werden wir zumeist prinzipiell als definit – also partikularisiert – interpretieren, auch wenn wir keine Kriterien dafür besitzen, seinen Referenten tatsächlich bestimmen zu können! Und in diesem Fall müssten wir uns auch entscheiden, ob es sich um ein ''reales'' (nicht-fiktionales) oder eben fiktionalisiert eingesetztes (oder manipuliertes) Foto handelt. Doch auch dies ist womöglich eher einer medialen Konvention geschuldet, denn Eingriffe, Manipulationen, Montagen und nicht zuletzt andere Verwendungszusammenhänge der Fotografie (etwa als Gattungsbilder in Lexika oder in fiktional gerahmten Kontexten wie dem Foto-Roman) hat es schon immer gegeben (vgl. <bib id='Fineman 2012a'></bib>). Schon bei der Fotografie handelt es sich daher lediglich um eine Rezeptionskonvention. Es gilt daher, den Zusammenhang zu bestimmten Bildverwendungstypen bzw. Bildmedien noch genauer in den Blick zu nehmen. <br />
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[[Datei:Fiktion_Abb06.jpg|thumb|Abbildung 6: Frank Flöthmann (<bib id='Flöthmann 2013a'></bib>) erzählt bekannte Grimm-Märchen (hier «Daumesdick») mit Infografiken und Piktogrammen nach, behauptet dabei aber stets die (fiktionale) Existenz seines partikularisierten Personals.]]<br />
Mit (bestimmten) Bildmedien sind hierbei nicht technisch-apparative Herstellungs- und Übertragungsweisen gemeint, sondern Bildtypen, die als konventionell-distinkte Einzelmedien (wie die Fotografie) auftreten und kulturell als solche etabliert sind. Beispielsweise lassen sich die Unterschiede zwischen Gebrauchsanweisungen, Comics oder Fotoromanen nicht alleine anhand technisch-apparativer oder semiotischer Kriterien festmachen. In der multimodalen Lingustik spricht man schlicht von Textsorten oder Genres: „Ist das Genre einmal erkannt, d.h. sind wir z.B. sicher, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt, wird das Verstehen insgesamt befördert. Es vollzieht sich dann im Rahmen der Textsortenkonventionen, auf die Rezipienten in Form von abstrahierten semiotischen Erfahrungen, d.h. gespeicherten Mustern zurückgreifen können“ (<bib id='Stöckl 2016a'></bib>: S. 102). Dies lässt sich mit Sachs-Hombachs und Schirras Überlegungen zum Bildstil als einem „illokutionärem Indikator“ verbinden (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 181), das bestimmte „Bild-Spiele“ (gegenüber anderen) als solche ausweist (vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>, S. 154-162). Wendet man dies auf den Zusammenhang zwischen piktogrammatischen vs. partikularisierenden Verwendungsweisen von Bildern an – und damit auch auf die Frage, ob ein Fiktionalitätsurteil getroffen werden muss – so zeigt es sich, dass keineswegs alle Bildverwendungspraktiken über alle konventionellen Medientypen gleich verteilt sind (vgl. erneut <bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 123). Um erneut Comics als Beispiele heranzuziehen: „Nun sind aber gerade die (vielen) narrativen Comics jene, die typischerweise Einzeldinge darstellen, und zwar im Sinne eines Minimums an Realismus als Gegenstände einer extensionalen Welt“ (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 180). Dies wiederum macht ein Fiktionalitätsurteil notwendig, was bei piktogrammatischen Bildverwendungsweisen nicht der Fall ist, die in kommunikativer Hinsicht lediglich Klassen hinreichend ähnlicher Gegenstände ins Spiel bringen sollen. <br />
:<br />
Mit diesen Konventionen spielt der Grafikdesigner Frank Flöthmann in seinen populären „Piktogramm-Comics“. Trotz der offenkundigen Hybridisierung beider Bildmedienbereiche ist eine Differenzlogik ''zwischen'' Comic und Piktogramm zum Verständnis der Geschichten vorausgesetzt. Denn obwohl die Bildästhetik an die Kennzeichnung von Gegenstandstypen erinnert, stellt der Autor hier doch “reguläre” fiktive Welten aus 16 Märchen der Gebrüder Grimm dar, in welchen die Protagonist*innen auch als ''existent'' behauptet werden – was bei Piktogrammen in gewöhnlicher Verwendung (Genusbilder oder indefinit bestimmbare Bilder) gerade nicht der Fall ist. Wenn wir also von (konventionell als distinkt verstandenen) Einzelmedien wie »dem Spielfilm« sprechen, dann umfasst dessen Medialität, zusammenfassend, nicht nur seine technisch-materiellen und institutionellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen (also beispielsweise auch sozialsystemische Institutionen oder eine arbeitsteilige Autor*innenschaft zwischen vielen Akteuren), sondern auch semiotische und fiktionsbezogene Erwartungen, die über Rahmungen und konventionalisierte Ästhetiken aufgerufen werden können.<br />
<br />
==Der fiktionale Gebrauch von Bildmedien==<br />
Während der »Fiktions«-Begriff in der Bildtheorie (im engeren Sinne) also in vielfacher Hinsicht merkwürdig untertheoretisiert ist, können doch zwei unterschiedliche Bereiche piktorialer Bezugnahmen auf fiktive Entitäten (Personen, Ereignisse, Welten) nicht ausgeblendet bleiben. Zum einen dürfte es ganz unbestritten sein, dass Bildmedien bereits etablierte fiktive Entitäten ebenso darstellen können wie real existierende Dinge. In kunstgeschichtlichen Beschäftigungen obliegt die Klärung dieser ''Referenz'' anhand bildlicher Kodes etwa der Ikonologie (vgl. <bib id='Panofsky 1939a'></bib>: S. 6). Wenn wir mit den relevanten Ikonografien vertraut sind, so wissen wir, dass ein bildlich dargestellter Mann mit einer Filzkappe immer Odysseus darstellt und können Odysseus-Repräsentationen auch in unbekannten Bildern identifizieren. Die komplexen Diskussionen um die fragliche Ontologie dieses Wesens (zwischen fiktivem Referenzobjekt und davon unterschiedenem ''Sujet'') müssen und können an dieser Stelle ausgeblendet bleiben, denn relevanter für den Zusammenhang von Bild und Fiktion scheint mir ein zweiter Bereich fiktionalen Bildgebrauchs. Hier wird nicht eine bereits bestehende fiktive Entität irgendwie durch bildliche Codes “anzitiert”, sondern genuin ''erzeugt''.<ref>Der Zusammenhang zwischen beidem ist noch einigermaßen unklar, vgl. erneut <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245.</ref> Es sollte nämlich nicht übersehen werden, dass weite Teile der Medienwissenschaft sich im “Tagesgeschäft” mit exakt solchen Bildmedien auseinandersetzen, die im “unmarkierten Standardfall” stets als fiktional gelten, wie Thon zutreffend argumentiert hat (vgl. <bib id='Thon 2014c'></bib>, S. 452-459): Realfilme, Animationsfilme, Fernsehserien, Comics oder Computerspiele. Die Befähigung dieser weiten Bereiche der Bildmedien zur ''Nicht-Fiktionalität'' muss – umgekehrt – zumeist mühevoll hergeleitet und gesondert begründet werden, mit verschieden hohem Aufwand bei unterschiedlichen Medientypen. Denn auch wenn nicht-fiktionale (dokumentarische oder essayistische) Realfilme in der Filmwissenschaft insgesamt ebenfalls weniger Aufmerksamkeit als fiktionale Spielfilme erhalten haben, scheint hier das fotografische Dispositiv doch zumindest eine unbestreitbar dokumentarische Qualität zu sichern.<ref>Allerdings fallen dadurch differenzierte Praktiken des ''re-entactments'' häufig erneut unter den Tisch, vgl. <bib id='Mundhenke 2017a'></bib>: S. 196-205; <bib id='Wilde 2019a'></bib>.</ref> Die Legitimation der Nicht-Fiktionalität von Animationsfilmen (z.B. «Waltz with Bashir», Ari Folman 2008), Comics (z.B. Art Spiegelmans «Maus: A Survivor’s Tale», 1991), oder Computerspielen (z.B. «JFK Reloaded», Traffic Games, 2004) muss hingegen immer wieder mühsam begründet und verteidigt werden (vgl. dazu <bib id='Thon 2019a'></bib>). Dass diese Bildmedien typischerweise fiktive Entitäten (Figuren, Ereignisfolgen, Welten) repräsentieren, stellt in jedem Fall keinen theoretischen Streitpunkt dar. Hier scheint mir eine merkwürdige Dissonanz gegenüber allgemeinen bildtheoretischen Prämissen zu liegen, die selten genauer in den Blick genommen worden ist. Abschließend soll daher noch einmal der Blick darauf gewendet werden, welche besonderen Funktionen und Leistungen Bildmedien in der Darstellung fiktiver Dinge, Ereignisse und Welten zufallen. <br />
<br />
===Die notwendige Unvollständigkeit fiktiver Entitäten ===<br />
Alles, was in fiktionalen Medien dargestellt wird, muss in sehr grundlegender Hinsicht als ''unvollständig'' erachtet werden. Lubomír Doležel arbeitete diesen Punkt in seiner Variante der ''possible world''-Theorie unter der Bezeichnung ‘ontologische Unvollständigkeit’ heraus: <br />
:<br />
:''Fictional worlds are brought into existence by means of fictional texts, and it would take a text of infinite lengths to construct a complete fictional world. Finite texts that humans are capable of producing, necessarily create incomplete worlds'' (<bib id='Doležel 1995a'></bib>: S. 201). <br />
:<br />
Die Bezeichnung der „ontologischen“ Unvollständigkeit geht auf Barry Smith zurück, der sich damit begrifflich gegenüber einer „epistemischen“ Unvollständigkeit absetzen wollte, welche bloß unser gerechtfertigtes Wissen betrifft (vgl. <bib id='Smith 1979a'></bib>). Wenn Eigenschaften und Merkmale des Dargestellten in Texten schlichtweg ''nicht'' definiert seien, so Smith, Doležel und viele andere, so “fehlen” uns nicht nur bestimmte Informationen (temporär), die wir etwa noch in Erfahrungen bringen könnten; sie ''existieren'' im Gegenteil ''nirgendwo'', und zwar, auf einer grundsätzlichen und daher ontologischen Ebene.<ref>Es existieren jedoch Gründe, dennoch an der Bezeichnung einer ''epistemischen'' Unvollständigkeit festzuhalten, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 208.</ref> Dennoch setzen wir im Rezeptionsprozess zumeist voraus, dass alle dargestellten Welten grundsätzlich konsistent und vollständig sind, sofern nicht explizite (phantastische) Gründe vorliegen, warum dem anders sein sollte. <br />
:<br />
Rezipient*innen können gemeinhin auf ihr Weltwissen zurückgreifen, um solche “Lücken” zu füllen. Marie-Laure Ryan führt dies auf das von David Lewis übernommene Konzept des ''principle of minimal departure'' zurück: <br />
:<br />
:''the imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world, and it will import knowledge from the real world to fill out incomplete descriptions […]. For instance, when a text refers to a location in the real world, all of the real geography is implicitly part of the storyworld, and when it refers to a historical individual, this individual enters the storyworld with all of his or her biographical data except for those features that the text explicitly overrules'' (<bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35; vgl. bereits <bib id='Ryan 1991a'></bib>: S. 51).<br />
:<br />
Die Literaturwissenschaft verwendet in der rezeptionsästhetischen Tradition Roman Ingardens den Begriff der »Unbestimmtheitsstelle« (vgl. <bib id='Ingarden 1972a'></bib>) oder Wolfgang Isers Konzept der »Leerstelle« (vgl. <bib id='Iser 1978a'></bib>: S. 194), um auf die Notwendigkeit der „Mitarbeit des Lesers“ (<bib id='Eco 1987a'></bib>: S. 1) in dieser inferenziellen Ergänzung von Unvollständigkeiten hinzuweisen. Die Filmwissenschaft operiert mit dem Terminus des ‘Suture’, die Comicforschung mit dem des ‘Closures’. In den Bildwissenschaften wurden diese Ansätze bisher erst mit großem Zögern aufgenommen, vermutlich aus des zuvor angeführten Theoriedefizits in der Fiktionsdebatte (vgl. <bib id='Lobsien 1980a'></bib>; <bib id='Kimmich 2003a'></bib>). <br />
:<br />
Unbestritten scheint, dass Bildmedien besondere Leistungen und Funktionen geltend machen können, um fiktionale Objekte zu konkretisieren. Filmfiguren etwa besitzen für gewöhnlich eine „sensory specificity that at the same time diminishes the range of individual imaginations by the recipients“ (<bib id='Eder et al. 2010a'></bib>: S. 18). Über das Aussehen fiktiver Dinge im Film scheinen wir so zumeist viel zu wissen und epistemisch begründen zu können, weil vor der Kamera Objekte standen, deren Aussehen weitgehend auf die diegetischen Entitäten übertragbar ist. Mit anderen Worten: Die [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|Wahrnehmungsnähe]] von Bildmedien kann sich dergestalt niederschlagen, dass jeder wahrnehmbare Aspekt des Bildinhalts auch in der Konkretisierung fiktiver Situationen relevant bleibt. Mit wieder anderen Worten: Die [[Prädikation|Prädikationsmöglichkeiten]], die Bilder zur Verfügung stellen, sind größtenteils auf die fiktive Diegese übertragbar. Externe Prädikationsmöglichkeiten der Darstellungsmittel lassen sich als interne Prädikate des Dargestellten verrechnen (vgl. <bib id='Reicher 2010a'></bib>: S. 117).<br />
<br />
===Darstellungskorrespondenz und doppelte Prädikation ===<br />
<br />
Die Wahrnehmungsnähe von Bildmedien lässt sich durch Gregory Curries Begriff der »Darstellungskorrespondenz« (''representational correspondence'') noch genauer fassen (vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>: S. 58-64): „ [F]or a given representational work, only certain features of the representation serve to represent features of the things represented“ (S. 59). Es sind also niemals ''alle'' Eigenschaften einer Darstellung hinsichtlich der fiktiven Situation relevant, wie Thon in Bezug auf die gleiche Textstelle von Currie weiter ausführt: „[I]t makes sense to distinguish more systematically between ''presentational'' and ''representational'' aspects of a given narrative representation in this context“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 60; Herv. im Orig.). Dass diese Differenz selbst im fotografischen Filmbild nie völlig überwunden werden kann lässt sich leicht vor Augen führen: Man denke etwa an Schwarzweißfilme oder Rückblenden in Sepia-Kolorierungen, die nur in speziellen Ausnahmefällen eine “monochrome Welt” repräsentieren (etwa im medienreflexiven Film «Pleasantville», USA 1998; vgl. dazu umfassender <bib id='Thon 2017a'></bib>; <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Etwas technischer ausgedrückt: Die Prädikationsmöglichkeiten, die ein Bild in einem Schwarzweißfilm anhand wahrnehmbarer Graustufen und monochromer Kontraste anbietet, treffen nur auf den Bildinhalt, nicht aber auf die fiktive Situation zu (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 171; <bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 85-91). <br />
:<br />
All dies bedeutet zusammenfassend, dass fiktional eingesetzte Bildmedien stets eine doppelte Prädikation aufweisen: Die Prädikationsmöglichkeiten, die der Bildinhalt zur Verfügung stellt (begründete Aussagen über das Aussehen der Bildobjekte), stehen in relativer Darstellungskorrespondenz zur Ebene der fiktiven Diegese, auf die sie sich häufig – aber eben nicht immer, und niemals notwendig – “mappen” lassen. Im interpretativen Verstehen müssen beide Ebenen voneinander differenziert werden, indem zwischen abbildungsrelevanter Form und “bloßem” medialem Kontext differenziert wird. Als nicht abbildungsrelevanter medialer Kontext wären aber nicht nur limitierende Faktoren der Materialität zu nennen (Schwarzweiß-Druckverfahren in der Darstellung farbiger Welten). Auch viele Aspekte des medialen Produktionszusammenhangs fließen häufig nicht in die Konkretisierung fiktionaler Gegenstände mit ein. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb07.jpg|thumb|Abbildung 7: Zwei mal die identische fiktive Figur: Magische Transformation oder bloßer Darstellungsunterschied? ]]<br />
Mit Kendall L. Walton gesprochen wäre es beispielsweise eine „silly question“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 174-183), danach zu fragen, warum die fiktive Figur Daario Naharis in der HBO-Serie «A Game of Thrones» plötzlich auf mysteriöse Weise ihr Aussehen verändert. In Staffel drei wurde die Figur vom Briten Ed Skrein, ab Staffel vier vom niederländischen Michiel Huisman verkörpert (vgl. Abb. 7), ohne dass dafür eine diegetische Erklärung angeboten wurde. Gültige fiktionale Rückschlüsse, dass Daario Naharis über magische Fähigkeiten verfügen und – wie die diegetisch etablierten ''faceless men'' – sein Aussehen beliebig transformieren könnte, wären ganz offensichtlich falsch (oder vorsichtiger: kommunikativ kaum anschlussfähig; zu fiktionalen Fakten vgl. <bib id='Bareis 2015a'></bib>). Der wahrnehmbare Unterschied, den die Prädikationsmöglichkeiten der Bilder zur Verfügung stellen, wird also nicht auf Seiten des fiktional Dargestellten, sondern auf den medialen Ermöglichungshintergrund “verrechnet”. Dieser wird hier als institutioneller Produktionszusammenhang der TV-Serie kenntlich, mit dem die konventionalisierte semiotische Form des doppelten Darsteller*innenkörpers und dem Schauspieler*innen-Starsystem verbunden ist (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Eine fundamentale Differenz zwischen den im Bild sichtbaren Objekten und den dadurch repräsentierten, diegetischen Entitäten ist also unauflösbar. Über Wahrnehmungsnähe und Darstellungskorrespondenz kann die doppelte Prädikation aber so eng geführt werden, dass sie gänzlich transparent erscheint, insbesondere in fotografischen oder illusionistischen Bildmedien, wo wir nahezu ''in die Diegese'' zu blicken meinen.<br />
<br />
===Gemeinsamkeiten und Differenzen fiktionaler und nicht-fiktionaler Weltbezüge===<br />
Grundsätzlich ist eine doppelte Prädikation zwischen sichtbarem Bildinhalt und den dadurch repräsentierten Entitäten (vermittelt über eine skalierte Darstellungskorrespondenz) auch für nicht-fiktionale, dokumentarische Formate unumgänglich: In nicht-fotografischen Bildmedien ist dies unmittelbar evident: Die Wahrnehmbarkeit der tatsächlich vorgefallenen Situationen wird hier doch in erheblichem Maße von den Wahrnehmungsparametern der (etwa gezeichneten, gemalten oder computergenerierten) Bildlichkeit abweichen; auch ist davon auszugehen, dass nicht alle Bildelemente in Vorder- und Hintergrund, in Zentrum und Peripherie, die gleichen Wahrheitsansprüche erheben. Packard geht daher von einer „gradierte[n] Fiktionalität“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 139) gezeichneter Bilder aus, Thon mit gleicher Stoßrichtung von einer „referential multimodality“ (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271): <br />
:<br />
:''[T]here is no simple one-to-one relationship between the semiotic resources a given narrative work employs and the referential claims it makes […]. Accordingly, it seems helpful to expand previous conceptualizations of multimodality by distinguishing between ''semiotic multimodality'', on the one hand, and ''referential multimodality'', on the other'' (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271; Herv. um Orig.).<br />
:<br />
In nicht-fiktionalen Bildmedien fungiert ein geteiltes Wissen um die intersubjektive Wirklichkeit aber zumindest stets als Korrektiv, was sich mit Walton als „reality principle“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 44) ausbuchstabieren ließe. Auch in der Fiktionstheorie ist das bereits angesprochene ''principle of minimal departure'' zwar fest etabliert.<ref>„The imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world“, <bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35.</ref> Es besteht aber ein zentraler Unterschied in seinem Referenzbereich. Nach Ryan muss nämlich nicht zwangsläufig unsere (als ''real'' erachtete) Welt den Ausgangspunkt des inferenziellen “Lücken-Füllens” darstellen. Ebenso können andere mediale, selbst bereits fiktionale Repräsentationen als interpretative Ausgangspunkte genutzt werden, etwa was das Verstehen von “Zentauren” oder “Superhelden” betrifft. Eine solche Loslösung der Darstellung und des Dargestellten von Ansprüchen lebensweltlicher Realität hat auch bildtheoretisch interessante Konsequenzen. <br />
Gegenüber einer “naturalisierenden” Lesung, die in phantastischen, abstrahierten und überzeichneten Cartoon-Bildern beispielsweise stets die Repräsentation einer Welt vermutet, die der unserer zumindest in ihrer Wahrnehmbarkeit weitgehend entspricht, ist es auch möglich, Umgekehrtes zu vertreten: Die phantastischen Welten von Comic, Manga und Animation brechen dann nicht nur punktuell lokal mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten (etwa, wenn Figuren Superkräfte besitzen), sondern können auch auf globaler Ebene eine besondere „visuelle Ontologie“ aufweisen (vgl. <bib id='Lefèvre 2007a'></bib>), die der “unseren” aus keinerlei notwendigen Gründen entsprechen muss. «The LEGO Movie» (2014) bildet dafür ein beeindruckendes Denkmodell (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Wenn das durch Lego-Steine dargestellte Wasser, der Schaum, die Dampf- und die Staubwolken durchaus naturalisiert aufgefasst werden könnten (so dass sich mit dem gleichen Material auch nicht-fiktive Geschichten erzeugen ließen), so muss den sogenannten „Master Buildern“ die “Legohaftigkeit” ihrer Welt stets wahrnehmbar bleiben. Sie können sie manipulieren und rekombinieren: „We'll build a motorcycle out of the alleyway!“ (00:14:40). Die dargestellte Welt behält also ihre besondere Ontologie, so dass die Hauptfigur Emmet seinen drehenden Lego-Kopf als Radachse einsetzen kann – was sich in keinem nicht-fiktionalen Referenzrahmen mehr plausibilisieren ließe!<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb08.jpg|thumb|Abbildung 8: Die Darstellung einer physikalisch “gewöhnlichen” Welt mit den Mitteln (computeranimierter) Lego-Steine oder Darstellung einer Welt aus Lego-Materialität?]]<br />
Ein jedes solches Urteil muss am Einzelfall durch zahlreiche analytische Argumente untermauert werden: etwa, dass es den gezeichneten Protagonisten in Comic und Manga häufig durch leichte Manipulationen ihres Äußeren möglich scheint, sich so zu maskieren und zu verkleiden, dass dies selbst von nächsten Verwandten nicht mehr durchschaut werden kann (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). In solchen Fällen scheint es, als bestünde nicht nur die Darstellung aus einfachsten Konturlinien, “hinter” der eine reichere Wahrnehmungsfülle verborgen bleibt (die doppelte Prädikation würde damit durch eine blockierte Darstellungskorrespondenz auseinandergetrieben). Stattdessen scheint hier auch die dargestellte Welt selbst der Wahrnehmbarkeit abstrahierter Bildlichkeit zu entsprechen – was nur im Fiktionalen – dort aber prinzipiell jederzeit – möglich ist. <br />
:<br />
Die ambivalente Grenze der doppelten Prädikation öffnet zusammenfassend eine Zone der künstlerischen und imaginativen Aushandlung. Gefragt – und gezweifelt – werden muss an fiktionalen Bildern dann stets, welche der Prädikationsmöglichkeiten des sichtbaren Bildinhalts darstellungsrelevant und somit auf die intersubjektiv und diskursiv konstruierte Diegese übertragbar sind. Dies aber lässt sich nicht einfach ''sehen'', sondern nur auf Ebene der Traditionsbildung, der Diskursivierung und der Anschlusskommunikation, also auf Ebene performativer Transkriptionspraktiken, rekonstruieren (vgl. <bib id='Jäger 2002a'></bib>).<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
* <br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2019''<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Verantwortlich:'' <br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra|Schirra, Jörg R.J.]]<br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Fiktion&diff=27960Fiktion2019-11-28T06:41:12Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Partikularisierung und Piktogrammatik */</p>
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Unterpunkt zu: [[Bildpragmatik]]<br />
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<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
==Fiktion, (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität==<br />
Theorien der Fiktion haben sich lange Zeit allein auf literarische Werke bezogen und die bildenden Künste gar nicht oder allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen.<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Klauk & Köppe 2014a'></bib>; <bib id='Enderwitz & Rajewsky 2016b'></bib>; <bib id='Bunia 2020a'></bib>.</ref> Dies gilt auch umgekehrt: Der Begriff der »Fiktion« spielt in [[Bildwissenschaft_vs._Bildtheorie|bildtheoretischen]] Ansätzen eine zumeist eher untergeordnete, in jedem Fall aber höchst widersprüchliche Rolle. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Diskussion des [[Fotografie|fotografischen Bildes]], dem etwa von Roger Scruton eine generelle „fictional incompetence“ (<bib id='Scruton 2006a'></bib>: S. 25) unterstellt worden ist. Die Vorstellung einer fotochemisch erzeugten Spur, eines [[Symbol,_Index,_Ikon|indexikalisch]] garantierten „Es-war-so-gewesen“ (vgl. <bib id='Barthes 1981a'></bib>: S. 76), hält sich hartnäckig. Dabei versperrt eine Fixierung auf diesen Index nicht nur den Blick auf viele fiktionale Einsatzmöglichkeiten des fotografischen Bildes.<ref>„Es ist leicht vorstellbar, einerseits einen fotografisch aufgenommenen, mit realen Schauspielern gedrehten Film und andererseits einen komplett gezeichneten Film zu machen, die Einstellung für Einstellung die gleiche fiktionale Geschichte erzählen“, <bib id='Schröter 2020a'></bib>: in Vorb.)</ref> Auch viele dokumentarische Praktiken können so nicht adäquat erfasst werden: Im ''historical re-enactment'' etwa können auch ''nachgestellte'' Fotos unproblematisch nicht-fiktional eingesetzt werden (vgl. <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Von den technischen Eigenschaften eines Bildmediums auf dessen Einsatzmöglichkeiten für fiktionale oder nicht-fiktionale Zwecke zu schließen ist also grundsätzlich verkürzend, wie Jens Schröter (2016a) wohl am deutlichsten herausgearbeitet hat. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb01.jpg|thumb|Abbildung 1: Eine Abbildung eines “klassischen” fiktiven Gegenstands, des Einhorns, nach Konrad Genser: „Historiae animalium“, 1551.]]<br />
Aus all diesen Gründen sollte der Begriff der »Fiktion« bildtheoretisch höchst interessant sein. Eine umfassende Diskussion taucht überraschenderweise aber innerhalb von Oliver Scholz’ (<bib id='Scholz 2004a'></bib>[<sup>1</sup>1995]), Börries Blankes (<bib id='Blanke 2003a'></bib>), oder Klaus Sachs-Hombachs (<bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>) Modellen der Bildkommunikation gar nicht auf (vgl. aber etwa <bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197-208). Dies scheint durchaus typisch; weiter unten sollen die Gründe dafür systematischer herausgearbeitet werden.<ref>Für Überblicke über den Forschungsstand zu piktorialer „Fiktion“ vgl. <bib id='Podro 1983a'></bib>; <bib id='Ryan 2009a'></bib>; <bib id='Wenninger 2014a'></bib>.</ref> Der Ausdruck spielt in bildwissenschaftlichen Ansätzen eine überwiegend [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|wahrnehmungstheoretische]] Rolle im Umkreis der [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität|Ähnlichkeitsdebatten]]. Scholz spitzte diese in seinem sogenannten „Meisterargument“ (<bib id='Scholz 1999a'></bib>: S. 33) gegen die Ähnlichkeitsthese wie folgt zu: Einem “Gegenstand”, der gar nicht existiere (wie ein Einhorn, Abb. 1), könne auch nichts ähnlich sein. Demgegenüber wurden ''internalisierte Ähnlichkeitsbegriffe'' geltend gemacht: Wir kennen Pferde und wir kennen Hörner, also können wir uns Einhörner vorstellen – und diese auch “in” Bildmedien sehen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2005c'></bib>). Oder in den Worten von Dominic Lopes: „The acquisition of recognition abilities for fictive objects largely parallels the acquisition of recognition abilities for actual objects” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 206). Löst dies in gewisser Weise ein Wahrnehmungsproblem, so lässt es doch die gewichtigere Frage unbeantwortet, wann eine ganz und gar ''alltägliche'' bildliche Darstellung nun etwas mit Fiktion zu tun hat und was mit dieser Unterscheidung für eine Kommunikations- und Zeichentheorie des Bildes auf dem Spiel steht. <br />
:<br />
Wurde »Fiktionalität« zunächst lange als ein rein sprachliches bzw. literarisches und allenfalls philosophisches Problem behandelt, lässt sich der Begriff mittlerweile als ein transmediales Konzept erachten, das in verschiedenen [[Medialität|Einzelmedien]] (wie [[Film|Filmen]], [[Fernsehen|Fernsehserien]], [[Comic|Comics]] oder auch [[Cyberspace|Computerspielen]]) unterschiedlich realisiert werden kann. Wichtige transmediale Fiktionalitätstheorien stammen etwa von Gregory Currie (<bib id='Currie 1990a'></bib>), Kendall L. Walton (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Frank Zipfel (<bib id='Zipfel 2001a'></bib>). Wie aber Jan-Noël Thon (<bib id='Thon 2014c'></bib>) und Jens Schröter (<bib id='Schröter 2020a'></bib>) feststellen, entsteht in solchen einerseits häufig eine Kluft zwischen den medienspezifischen Einzelstudien und dem transmedial verstandenen Überbau der Fiktion; darüber hinaus suchen sich transmediale Fiktionstheorien zumeist in irgendeiner Weise von leitenden Paradigmen der ''Literaturwissenschaft'' abzuwenden, wodurch die medienwissenschaftlich relevanten Spezifika ''bestimmter'' anderer Einzelmedien oft unthematisiert bleiben. Auch aus diesen Gründen bleibt ein überzeugender integrativer Entwurf ''bildlicher'' Fiktionstheorien immer noch ein schmerzliches Desiderat.<br />
:<br />
Wie auch immer eine solche Fiktionstheorie des statischen Bildes aussehen könnte, sie müsste zwischen zwei unterschiedlichen begrifflichen Traditionen vermitteln. Der ersten Position zufolge kann der Unterschied zwischen ''Fiktion'' und ''Nicht-Fiktion'' anhand der (zumeist als geklärt vorausgesetzten) ''Ontologie'' der dargestellten Gegenstände, also [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|semantisch]] bzw. [[Bedeutung und Referenz|referenziell]], festgestellt werden. Einer zweiten Tradition zufolge handelt es sich um verschiedene ''Diskurstypen'' oder ''Verwendungsweisen'' von Zeichen, also um [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|pragmatische]] Faktoren. Letzterer Ansatz ist für die Theoriebildung zweifellos der wichtigere, da sich der semantische häufig auf ihn zurückführen lässt. Als ‘fiktiv’ ließen sich demzufolge alle Gegenstände verstehen, die in ''fiktionalen'' Texten dargestellt werden. Fiktionale Texte wiederum unterscheiden sich von nicht-fiktionalen dadurch, dass ihre Produzent*innen keinen ''Anspruch'' darauf erheben, dass die dargestellten Gegenstände wirklich existieren – was sich häufig nur aus der konkreten Verwendung, [[Rahmung, Rahmen|Rahmung]] oder Auszeichnung heraus erschließen lässt, nicht aus werkinternen Faktoren. Diese begriffliche Doppelperspektive führt zu einigen interessanten Paradoxien. Nach Stephan Packard generiert Fiktion so einerseits – positiv gewendet – stets ein ''Mehr'', „weil ein Text zum Beispiel eine weitere Welt schafft und referenziert als nur die eine, in der wir demnach leben“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Negativ gewendet leistet ein fiktionaler Text so andererseits aber auch ''weniger'', „weil er zum Beispiel Verpflichtungen und Konsequenzen nicht akzeptiert, die faktuale Texte mit sich bringen“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Disziplinübergreifend hat es sich bewährt, beide Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, da sie ganz verschiedene Probleme behandeln. Die Unterscheidung »fiktiv« vs. »nicht-fiktiv« bezieht sich demnach auf ''die Ebene des Dargestellten'', die Unterscheidung »fiktional« vs. »nicht-fiktional« auf ''die Ebene der Darstellung'': <br />
:<br />
:''In diesem Sinne lässt sich also z.B. von fiktionaler Rede, von einem fiktionalen Diskurs, von fiktionalen Texten, Filmen usw. Sprechen, während sich ‘fiktiv’ auf Gegenstände, auf fiktive Entitäten bezieht''“ (<bib id='Rajewsky & Enderwitz 2016a'></bib>: S. 1f.). <br />
:<br />
Der Terminus ‘nicht-fiktional’ stellt eine differenziertere Alternative zu ‘faktual’ dar, da mit Letzterem zumeist bereits ein Urteil impliziert ist, dass die als nicht-fiktional ''ausgegebene'' Darstellung auch tatsächlich zutreffend ist; in fehlinformierten oder täuschenden Berichten ist dies aber nicht der Fall, sie wären immer noch ''nicht-fiktional'' – aber eben nicht ''faktual''. Der etwas unspezifische Ausdruck ‘Fiktion’ hingegen kann mit Stephan Packard als Dachbegriff für ein jedes Phänomen verwendet werden, „das vorliegt, wenn Fiktionales in dieser Weise als Referenz auf Fiktives verstanden wird“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 125). Wir haben es also mit ''Fiktion'' zu tun, wenn Fiktionalität und Fiktivität zugleich vorliegen. Zunächst sollten beide Bereiche aber getrennt voneinander betrachtet werden, um sie jeweils auf ihre Schnittstellen – und Spannungen – zur Bildtheorie hin zu befragen.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik ==<br />
[[Datei:Fiktion_Abb02.jpg|thumb|Abbildung 2: Ein graduell fiktionalisierter Barack Obama interagiert dank digitalen Effekten mit der Welt von Sam Esmail’s «Mr. Robot». Auf wen wird mit diesem Bild Bezug genommen?]]<br />
Betrachtet man das Problem der Fiktivität genauer, so stellt man fest, dass es keinesfalls unstrittig ist, ob auf Fiktives überhaupt Bezug genommen – also [[Referenz,_Denotation,_Exemplifikation|referenzialisiert]] – werden kann. Auch lassen sich anhand des sogenannten „Napoleon-Problems“ (vgl. <bib id='Zipfel 2001a'></bib>: S. 90–103) sehr unterschiedliche Positionen beziehen, inwiefern die Darstellung einer ''graduell'' fiktionalisierten realen Person (in einem historischen Roman wie Lew Tolstois «Krieg und Frieden», 1869) als kategorial andere Operation angesehen werden muss als die wahrheitsgemäße Beschreibung einer Person gleichen Namens in einer Reportage.<ref>Vgl. die Diskussion aktueller Beispiele wie Abb. 2 in <bib id='Jung & Wilde 2020a'></bib>.</ref> In jedem Fall aber scheint das Problem der Fiktivität ''immer'' in irgendeiner Weise an das Problem der Referenzialität gebunden. Dorrit Cohn bezeichnete fiktionale Texte beispielsweise stets als „non-referential“ (<bib id='Cohn 1999a'></bib>: S. 9). Insbesondere in analytisch-philosophischen Ansätzen überwiegt die Ansicht, dass fiktive Gegenstände (ebenso wie fiktive Welten oder Figuren) schlicht ''gar nicht'' existieren (vgl. etwa <bib id='Künne 1983a'></bib> oder <bib id='Sainsbury 2010a'></bib>). Die Unterscheidung zwischen »Fiktivität« und »Nicht-Fiktivität« würde demnach zugleich mit der Klärung der Bezugnahme getroffen. Ein Bild von Napoleon hätte als Bezugsgegenstand eben die reale Person Napoleon; ein Bild eines fiktiven Gegenstands hingegen wäre in dieser Hinsicht “leer” und würde eine „Null-Denotation“ aufweisen (vgl. <bib id='Goodman 1969a'></bib>: S. 21; <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30-34). In den Worten von Lopes könnte man zusammenfassen: „A fictive picture is one whose subject does not exist” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197). Gleichzeitig gesteht Scholz fiktionalen Bildern aber selbstredend doch „wiedererkennbare Themen oder Sujets“ zu (<bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30), auf die in irgendeiner Weise dennoch ein Bezug hergestellt werden muss (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 164-213). <br />
:<br />
Diese Annahmen ließen sich zwar noch in erheblichem Maße verkomplizieren, wenn man die Rolle unterschiedlicher [[Stil|Darstellungsstile]] mit einbezieht (vgl. hierzu etwa <bib id='Ryan 2009a'></bib>); dessen aber ungeachtet, steht eine jede referenzielle Herangehensweise vor dem Problem, immer an bereits semantisch interpretierten [[Bildhandeln|Bildverwendungsweisen]] ansetzen zu müssen, in denen die pragmatisch erschlossene Referenzialität als geklärt gelten kann. Damit kommt »Fiktivität« (oder »Nicht-Fiktionalität«) zwangsläufig ein kontingenter Status zu, der nicht unbedingt Teil eines ersten Verstehens- und Interpretationsprozesses sein kann oder muss. Häufig ''kann'' dieser Status wohl auch gar nicht entschieden werden, wenn piktoriale Bezugnahmen vom jeweiligen Verwendungskontext des entsprechenden Artefakts abhängen. Im Verstehen einer dargestellten Situation macht es demgegenüber zunächst keinen Unterschied, ob sich später herausstellen sollte, dass diese ''auch'' zur Bezugnahme auf eine reale Situation verwendet werden kann oder soll. Was noch entscheidender ist: Um solche begleitenden Urteile überhaupt fällen zu können, muss ein Verstehen der dargestellten Situation in den meisten Fällen bereits vorausgesetzt werden können. Thon betont daher mit Bezug auf den Filmwissenschaftler Edward Branigan, was in der kognitiven Narratologie lange eine „standart position“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 67) darstelle: „[O]ur ability to ''understand'' a narrative […] is distinct from our ''beliefs'' as to its truth, appropriateness, plausibility, rightness, or realism“ (<bib id='Branigana 1992'></bib>: S. 192; Herv. im Orig.). Inwiefern etwa monoszenische Einzelbilder überhaupt ''narrativ'' sein können, bleibt zwar weiterhin umstritten, doch dürfte die vorige Feststellung auch für nicht-narrative piktoriale Darstellungen gelten (etwa rein topologische Darstellungen). <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb03.jpg|thumb|Abbildung 3: Um zu entscheiden, ob es sich um ''fiktive'' oder ''nicht-fiktive'' Kinder handelt, bräuchte es kontextrelativer Verankerungen: In welcher Situation und zu welcher Zeit werden sie als existent ausgegeben oder als nur ''möglich'' imaginiert?]]<br />
Auch eine einfache sprachliche Aussage wie ‘ein Mann mit einem Hut steht im Park’ könnte ''ebenso gut'' eine [[Kontext|Situation]] in der realen Welt repräsentieren wie es sich um die Eröffnung einer phantastischen Erzählung handeln kann; um die Referenzfixierung – und damit auch die Fiktivität dieser Aussage – überhaupt bestimmen zu können, bräuchte es [[Kontextbildung|kontextrelative Verankerungen]]: In welchem Park? Zu welcher Zeit? „Obwohl ein Satz wie ‘Hans ist müde’, für sich genommen, weder wahr noch falsch ist, hat er in einer bestimmten Situation einen bestimmten Wahrheitswert, weil in einer konkreten Situation das mit der Äußerung dieses Satzes Gesagte wahr ist“ (<bib id='Plunze 2002a'></bib>: S. 167; vgl. für Bilder ausführlicher <bib id='Schirra 2005a'></bib>: S. 48-53). Das Gleiche gilt wohl auch für piktoriale Darstellungen wie in Abbildung 3, deren Fiktionalitätsgrad für sich genommen nicht beantwortet werden kann. Um erneut mit Marie-Laure Ryan zu sprechen: <br />
:<br />
:''The same text could, at least in principle, be presented as a creation of the imagination or as a truthful account of facts, and we must be guided by extra-textual signs, such as generic labels (‘novels’, ‘short stories’) to assess its fictional status'' (<bib id='Ryan 2007a'></bib>: S. 32). <br />
:<br />
In vielen Fällen ist daher immer noch John R. Searle zuzustimmen: „[T]here is no textual property that will identify a stretch of dicourse as a work of fiction” (<bib id='Searle 1975a'></bib>: S. 327). In einigen sprachlichen Gattungen (wie lyrischer Dichtung) können solche lektüreleitenden Fiktionalitätssignale gänzlich fehlen (vgl. <bib id='Ryan 2009a'></bib>: S. 83). Ryan argumentiert zutreffend, dass dies in noch viel stärkerem Maße für Bildmedien gelte: „Eine große Zahl von Menschenhand gemachter Bilder gehört in dieses Niemandsland zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion“ (S. 82). Die besonders komplizierte Frage, ob es sich bei vielen Bildern wie Abb. 3 daher zunächst um weder fiktionale noch nicht-fiktionale, sondern um fiktional unmarkierte Artefakte handeln könnte (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 214-269), führt unmittelbar zu unserem zweiten Begriffspaar, nämlich »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität«.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktionalität als Frage der Pragmatik==<br />
Fiktionalität bezeichnet nach Werner Wolf „im Gegensatz zur Fiktivität nicht zunächst eine ontologische oder referentielle Qualität, sondern […] einen kognitiven Rahmen, der bestimmte Erwartungen und Einstellungen bei der Rezeption eines Artefakts vorprogrammiert“ (<bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231). Die kommunikative Absicht einer fiktionalen Rede (auf die etwa anhand meta-kommunikativer und [[Kontext|kontextueller Signale]] geschlossen werden kann) ist demnach nicht, den Adressaten von etwas zu überzeugen, sondern ihn zu einem ''Als-ob-Spiel'', einem Imaginations- bzw. Vorstellungsspiel, einzuladen, wie Gregory Currie herausgearbeitet hat: <br />
:<br />
:''[Der Autor] verläßt sich darauf, daß seine Leser sich bewußt sind, es mit einem fiktionalen Werk zu tun zu haben, und er nimmt an, daß sie Äußerungen in der Aussageform nicht als Behauptungen verstehen. Er gibt also nichts vor. Er lädt uns ein, etwas vorzugeben, oder vielmehr, so zu tun, als ob. Denn ein Werk als fiktional zu lesen heißt, ein internalisiertes So-tun-als-ob-Spiel zu spielen'' (<bib id='Currie 2007a'></bib>: S. 41).<br />
:<br />
Mit Jens Eder könnte man diese Position wie folgt auf den Punkt bringen: Die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« hängt „nicht vom Wahrheitsgehalt oder der Wahrheit von Texten ab, sondern vom Wahrheits''anspruch'' des Kommunikators“ (<bib id='Eder 2008a'></bib>: S. 34f.; Herv. im Orig.). Die kommunikative Haltung der Kommunikator*in gegenüber dem Darstellungsinhalt, hier also dem Bildinhalt, wird mit Searles [[Bildhandeln|Sprechakttheorie]] als ‘Illokution’ bezeichnet (vgl. <bib id='Searle 1986a'></bib>: S. 213). Die ersten umfassenden Versuche, eine [[Bildakt-Theorie|Bildakttheorie]] nach Vorbild der Sprechakttheorie zu entwickeln, kamen von Søren Kjørup (<bib id='Kjörup 1974a'></bib>) und David Novitz (<bib id='Novitz 1977a'></bib>: S. 67-85; vgl. auch <bib id='Schirra & Sachs-Hombach 2006a'></bib>). Zur Markierung eines bestimmten Typs von Illokutionen scheint es aber wiederum keine genuin bildlichen Mittel zu geben. Für Scholz macht das Erfassen der illokutionären Funktion eines Bildes daher erst die achte Stufe seiner Verstehensebenen aus („modales Verstehen“, <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 187). Blanke geht in diesem Punkt sogar noch weiter und erklärt die Klassifikation von Typen illokutionärer Akte im Bildverstehen als eher marginal – keinesfalls aber als konstitutiv (vgl. <bib id='Blanke 2003a'></bib>: S. 167).<br />
:<br />
Dass man Fiktionalität nicht ''alleine'' an mutmaßliche Autor*innenintentionen binden kann scheint umgekehrt auch einleuchtend – dagegen sprechen nicht nur “subversive” Rezeptionspraktiken, sondern auch widersprüchliche Artefakte, deren fiktionaler Status sich im Laufe der Rezeption verändert hat. Eine Synthese zwischen Rezipient*innen-orientierten ''make-believe''-Ansätzen und Produzent*innen-orientierten Intentionalitätsansätzen – also letztlich zwischen Rezeptionsästhetik und Texthermeneutik – sieht J. Alexander Bareis (<bib id='Bareis 2014a'></bib>) darin, zwei Fragen prinzipiell zu trennen: die ''Unterscheidung'' zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« (was wohl nur vom Gebrauch eines Artefakts, also in letzter Konsequenz von der tatsächlichen Rezipient*innenschaft abhängt) sowie die ''Entscheidung'' zwischen beiden Verwendungs- und Interpretationsweisen (wofür dann doch Fiktionalitätssignale, wie Markierungen der Produzent*innenintentionen, zentrale Steuerungsfunktionen übernehmen). Bareis führt aus: <br />
:<br />
:''Wer sich für eine fiktionale Rezeption ''ent''scheidet folgt entweder der gängigen paratextuellen Markierung oder der momentanen Praxis, kann sich aber auch in solchen Fällen für eine fiktionale Rezeption eines Artefakts entscheiden, in denen dies der gegenwärtigen Praxis ''nicht'' entspricht'' (<bib id='Bareis 2014a'></bib>: S. 64; Herv. im Orig.).<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb04.jpg|thumb|Abbildung 4: Kategoriale Fiktionalität trotz gradueller Fiktivität: Obwohl die meisten realweltlichen Annahmen über “unser” New York ebenso auf Spider-Mans gleichnamige Heimatstadt zutreffen, verknüpfen die Autor*innen mit dem Film keinerlei Wahrheitsansprüche.]]<br />
Diese Auffassung ließe sich als ‘intentionalistisch-pragmatisch’ bezeichnen. Ihr zufolge kommt, zusammenfassend, den angenommenen (also hypothetisch erschlossenen) Intentionen einer Kommunikator*in zwar zentrale Signalfunktionen zu; der tatsächliche Status eines Artefakts – und die Entscheidung darüber, ob es zu einer Änderung realer Überzeugungen, oder lediglich zur Imagination möglicher Welten und Situationen verwendet wird – legt sich jedoch erst in der tatsächlichen Rezeption fest. Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« zumeist als eine ''kategoriale'' angesehen, in welcher eine Rezipient*in sich immer ''eher'' für die eine oder die andere Seite entscheiden wird (vgl. <bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231f.). Das Urteil »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« hingegen ist notwendig ''immer'' äußerst graduell: Bereits der Planet Erde, der in den allermeisten Darstellungen zumindest impliziert ist, ist schließlich nicht fiktiv (vgl. Abb. 4). <br />
:<br />
In jedem Fall aber scheint es sinnvoll, die beiden Begriffspaare »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« und »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« deutlich voneinander zu unterscheiden. Man wäre sonst gezwungen, fehlerhafte oder bewusst täuschende Darstellungen (deren Gegenstände fiktiv sind, obwohl ihre Repräsentation gemäß nicht-fiktionaler Signale wahrhaftig sein sollte) als ''fiktional'' aufzufassen. Eine Lüge aber würden wir üblicherweise schlicht als täuschend – und eben nicht als ''fiktional'' – bezeichnen.<br />
<br />
==Piktorialer Panfiktionalismus==<br />
Für Bildmedien existieren zudem einflussreiche Ausprägungen eines Panfiktionalismus (vgl. <bib id='Konrad 2014a'></bib>). Diesen zufolge müssten Bildmedien ''prinzipiell immer'' als „Fiktionen“ erachtet werden – und zwar bereits durch die Konstitution eines [[Bildinhalt|Bildinhalts]] voll mentaler, imaginärer oder eben: ''fiktiver'' Gegenstände. Eine solche Ansicht vertreten etwa Kendall L. Waltons (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Benita Herder (<bib id='Herder 2017a'></bib>). Bilder wären demnach „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351).<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Bareis 2014a'></bib> und die Beiträge in <bib id='Bareis & Nordrun 2015a'></bib>.</ref> Ein solcher Fiktions-Begriff wäre ein inhärenter des Mediums bzw. der Zeichenmodalität.<ref>Vgl. dazu auch kritisch <bib id='Wenninger 2014a'></bib>: S. 472-475.</ref> Nach den zuvor explizierten Zusammenhängen zwischen (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität erscheint dies allerdings für ''beide'' Begriffspaare wenig überzeugend.<ref>Vgl. dazu ausführlicher <bib id='Wilde 2018a'></bib>: S. 160-173 sowie <bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 71-74.</ref> Die (referenzbezogene) Unterscheidung »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« käme von vorneherein “zu spät”, um Bildmedien ''grundsätzlich'' zur Fiktion zu erklären, da für Vertreter*innen eines piktorialen Panfiktionalismus bereits der Bildinhalt – das, was wir “im” Bild sehen – der “fiktive” Gegenstand darstellt (und nicht erst das, worauf mit dieser Ebene weiter Bezug genommen werden kann). <br />
:<br />
Somit bliebe nur die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« zur Legitimierung eines entsprechenden Urteils. Diese Unterscheidung aber kommt zur Unterstellung einer ''prinzipiellen'' “Fiktion” von Bildmedien ebenfalls nicht in Frage, da sie an angenommene Kommunikations''absichten'' und Wahrheits''ansprüche'' einer Kommunikator*in gekoppelt ist. Von diesen aber ist die Ebene des Bildinhalts erneut weitgehend unabhängig (solange eine ikonische Kategorisierungsschwelle hinreichend überschritten wird, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 82-115). Wenn sich in Bildmedien die Annahme einer (fiktiven, nicht-fiktiven oder in dieser Hinsicht unbestimmbaren) Existenz des Dargestellten nur aus der konkreten Verwendung heraus erklären lässt (der hypothetischen Verwendungsabsicht einer Kommunikator*in und der tatsächlichen Verwendungspraxis von Rezipient*innenseite), so scheint dies deutlich gegen die These zu sprechen, dass die (Nicht-)Fiktionalität von Bildern medial oder modal determiniert wäre.<br />
:<br />
Auf einer grundlegenderen Ebene hat Jens Schröter (<bib id='Schröter 2016a'></bib>) prinzipielle Argumente dafür geboten, dass sich die Fiktionspotentiale unterschiedlicher Darstellungsmedien niemals als aus einem gegebenen ''a priori'' medialer Eigenschaften ableiten lassen. Fotografische Bilder der realen Person Sean Connery lassen sich ebenso dazu einsetzen, um die fiktive Figur James Bond darzustellen – und sie werden dies auch sehr häufig (vgl. auch <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Umgekehrt lassen sich Handzeichnungen ebenso in nicht-fiktionaler (etwa dokumentarischer) Absicht einsetzen, wie dies etwa in den Comic-Gattungen von ''graphic memoirs'', ''graphic journalism'', oder auch Sachcomics durchweg der Fall ist (vgl. <bib id='Schröer 2016a'></bib>). <br />
:<br />
:''Die tatsächlichen Operationen verschiedener Medien für dokumentarische oder fiktionale (oder gemischte) Praktiken lassen sich aber nicht generell aus den Eigenschaften von Medien deduzieren, sondern grundsätzlich nur historisch und/oder in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen'' (<bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 124).<br />
<br />
==Partikularisierung und Piktogrammatik==<br />
Der Zusammenhang zwischen Bildinhalt und Fiktion ist aber komplexer als es aussieht – insbesondere in medien- bzw. zeichenvergleichender Perspektive. Genauer betrachtet nutzt etwa Walton seinen „Fiktions“-Begriff, der gegenüber Bildmedien ''grundsätzlich'' geltend gemacht werden sollte, in uneinheitlicher Weise und wendet ihn ein zweites Mal auf die Relation des (angeblich bereits „fiktiven“) Bildinhalts zu einem weiteren dargestellten Referenzobjekt an („portraying fictitious things beyond itself“, <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 57). Daher scheint Walton, ebenso wie Herder, mit „fiktiven“ Darstellungen im Kern etwas spezifisch Anderes zu meinen. Gleiches dürfte für eine ähnliche Anwendung des Ausdrucks „Fiktion“ in Jörg R.J. Schirras Kontexttheorie des Bildes gelten, wo sich ebenfalls die Formulierung findet, wir könnten uns „Bilder als fiktive referentielle Kontexte“ vorstellen (<bib id='Schirra 2001a'></bib>: S. 90). Da hier erneut der Bildinhalt angesprochen wird, scheint mir dies mindestens in medienvergleichender Perspektive unintuitiv: Einem generellen Terminus der deutschen Sprache (wie ‘Katze’) würde man sicherlich nicht einen zunächst „fiktiven Inhalt“ zusprechen. In kommunikativer Hinsicht verweist ‘eine Katze’ lediglich auf das Lexikon (vgl. <bib id='Eco 2000a'></bib>: S. 280-336), nicht auf eine Situation, deren Darstellung fiktional oder nicht-fiktional sein könnte. Sprachliche Zeichen stellen vor ihrer kontextrelativen Verwendung zunächst lediglich generelle Terme dar, denen man deswegen auch keinen grundsätzlich “fiktiven Kern” zusprechen würde – da ein Ausdruck wie ‘Katze’ zunächst gar kein Individuum referenzialisiert (das nun erst fiktiv oder nicht fiktiv sein könnte). Demgegenüber scheinen Bilder – bereits auf Ebene des Bildinhalts – stets wesentlich konkreter und damit partikularisierter zu sein (was die zuvor angesprochenen panfiktionalistischen Annahmen nun zumindest naheliegender erscheinen lässt). <br />
:<br />
===Die semantische Paradoxie von Bildmedien===<br />
Hieran wird deutlich, dass das Problem der ''Partikularisierung'' des Bildinhalts in besonderer Weise mit dem Problem der Bildfiktion verbunden ist. Das Argument könnte etwa lauten: Weil wir auf Bildträgern meist nicht nur Zeichen, sondern komplexe und konkrete Situationen voll individuierter Einzelgegenstände zu sehen meinen, ''müsste'' der Bildinhalt zunächst immer als fiktiv eingeschätzt werden, ''wenn'' eine tatsächliche non-fiktionale Referenzfixierung notwendig gebrauchsabhängig bleibt. Betrachtet man fiktive Welten als ''mögliche'' (i.S.v. imaginierbare, vorstellbare) Welten (vgl. <bib id='Ryan 2014b'></bib>), so könnte man Bilder als „Ansichten möglicher Welten“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) und damit die Bildsemantik als eine „Mögliche-Welten-Semantik“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) auffassen, was das panfiktionalistische Urteil zu bekräftigen scheint. Dieses Problem wurde auch als „semantische Anomalie“ (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77) oder als „semantisches Paradox“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 25) von Bildmedien bezeichnet. Sachs-Hombach formuliert dieses so, dass <br />
:<br />
:''die Bildbedeutung (verglichen mit sprachlichen Äußerungen) ''zugleich bestimmter und unbestimmter'' ist. Sie ist bestimmter, insofern wir mit Bildern den Eindruck einer Szene (den wahrnehmungsvermittelten Inhalt) sehr unmittelbar hervorrufen können. Sie ist jedoch zugleich unbestimmter, insofern bei der Bildverwendung (1) die faktische Beschaffenheit einer realen Szene nicht verbürgt wird […] und (2) der kommunikative Gehalt oft vage bleibt'' (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77; Herv. L.W.).<br />
:<br />
Wenn sich die semantische Paradoxie aber erst dadurch ergibt, dass – oder besser: falls – Bilder partikulare Objekte zu zeigen scheinen (und zwar bereits auf Ebene des Bildinhalts), so verschiebt sich das Problem von Bild und Fiktion in eigentümlicher Weise. Tatsächlich würde man von nicht-gegenständlichen Bildern gewöhnlich etwa weder behaupten, dass sie fiktional oder dass sie nicht-fiktional wären, da sie eben keinen Gegenstand darstellen und folglich die Frage unsinnig wäre, ob der dargestellte Gegenstand bzw. die dargestellte Situation tatsächlich so existiert haben könnte. Umgekehrt darf dieser Zusammenhang für gegenständliche Bilder aber auch keineswegs als trivial gelten.<br />
: <br />
[[Datei:Fiktion_Abb05.jpg|thumb|Abbildung 5: Piktogrammatische Klassifikatoren für Gegenstandsklassen (indefinit bestimmbare Genusbilder), kein Blick in fiktive (oder nicht-fiktive) Diegesen.]] <br />
Zunächst ist es natürlich richtig, dass auch Allgemeinbilder fiktiver Gegenstandsklassen existieren (wie Bilder von Elfen auf Wikipedia), so dass man behaupten könne (wie Jens Schröter dies tut, <bib id='Schröter 2020a'></bib>), der Unterschied singuläre/generelle Bilder läge vollständig quer zur Differenz fiktionaler/non-fiktionaler Bilder. Dagegen muss aber eingewandt werden, dass ein Elfen-Bild in einem Comic-Panel durchaus die Existenz eines bestimmten Elfen in einem bestimmten diegetischen Kontext “behauptet” (vgl. <bib id='Wilde 2017a'></bib>). Im Rahmen einer solchen möglichen Welt bleiben fiktionale und nicht-fiktionale Elfen-Darstellungen also weiterhin auf konkrete, partikularisierte Elfen beschränkt. Elfen-Piktogramme an Toiletten-Türen hingegen würden weder die Existenz von Elfen behaupten noch fiktive Elfen vorstellig machen, sondern lediglich kommunizieren, dass jene Wesen (alles, was als „Elfen“ gelten mag) hier erwünscht und willkommen Einlass erhalten sollten. Insofern scheint mir die Frage nach der Partikularisierung des bildlich Dargestellten weiterhin ganz zentral dafür, ob sich die Frage nach Fiktionalität überhaupt stellt (vgl. ausführlicher <bib id='Wilde 2017a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245). Die piktogrammatische Spezifizierung einer Abbiege-Regelung für PKWs und Motorräder – nicht aber für Fahrräder – (Abb. 5) bildet keinerlei bestimmte Gegenstände ab und wird daher wohl auch nicht als Blicke in eine fiktive oder nicht-fiktive Diegese erachtet werden; sie macht lediglich die Bezugnahme auf Objektklassen zugänglich: Die Regelung, nur links abbiegen zu dürfen, gilt hier (lokale Deixis) für alle Verkehrsteilnehmer*innen, deren Fahrzeuge unter die zu erschließenden Klassifikatoren fallen. Ein piktogrammatischer Bildgebrauch scheint die Fiktionalitätsfrage also durchaus zu suspendieren.<br />
:<br />
===Drei bildtheoretische Positionen ===<br />
In der Bildtheorie sind drei unterschiedliche Positionen denkbar, mit dieser Differenz und einem möglichen Primat umzugehen. Walton und Sachs-Hombach scheinen mir am deutlichsten für die zwei konträrsten Einschätzungen zu argumentieren. Walton geht, wie angesprochen, davon aus, jedes Bild eines Bisons stelle primär einen partikularen (und daher in seinen Termini: einen „fiktiven“) Bison dar (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 125). Wenn ein Bild somit als Gattungsbild gebraucht wird, wäre dies ein ''reflexiver'', kontingenter Einsatz. Insbesondere für fotografische Bilder lässt sich dies mit einer gewissen Berechtigung vertreten.<ref>Currie spricht hierbei von „representation-by-origin“, vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>, S. 19–21.</ref> Aber ist diese Ebene der Semantik nicht allein unserem Vorwissen um das fotografische Dispositiv geschuldet, demzufolge irgendwann einmal ein konkretes Einzelding vor einer Kamera gestanden haben müsste? Für viele Autor*innen jedenfalls scheint vorausgesetzt, dass Bildmedien ''grundsätzlich'' nur Individuelles, bzw. nur in abgewandeltem Gebrauch Allgemeines zeigen könnten. Einer viel beachteten Aussage von Jurij M. Lotman zufolge zeige ein Film etwa ''immer'' Konkretes: <br />
:<br />
:''[D]as Wort der natürlichen Sprache kann einen Gegenstand, eine Gruppe von Gegenständen und eine Klasse von Gegenständen jeder beliebigen Abstraktion bezeichnen […]. Das ikonische Zeichen besitzt eine ursprüngliche Konkretheit, eine Abstraktion kann man nicht sehen'' (<bib id='Lotman 1977a'></bib>, S. 69). <br />
:<br />
Sachs-Hombach vertritt die gegenteilige Position (vgl. etwa <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 166 sowie ausführlich in <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>). Die Referenzialisierung von Einzeldingen mit Bildern muss demnach aus ''notwendigen'' Gründen nachgeordnet und kontingent sein: „Die Veranschaulichung konkreter Gegenstände erfolgt immer analog zu Kennzeichnungen, indem begriffliche Charakterisierungen derart kombiniert werden, dass sie sich in einem bestimmten Kontext zur Charakterisierung individueller Dinge eignen“ (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 182). Dies dürfte auf fiktive oder in dieser Hinsicht unbestimmbare Gegenstände in möglichen Welten ebenso zutreffen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass der Fiktionsbegriff bei Sachs-Hombach kaum eine zentrale Rolle einnimmt. Ferdinand Fellmanns kommt zu einem gleich lautendem Urteil: <br />
:<br />
:''Für das richtige Verständnis von Ähnlichkeit ''[des Bildes – L.W.]'' ist es demnach notwendig, daß sich diese nicht wie die Spur auf bestimmte Gegenstände oder Vorgänge beziehen muß, sondern daß sie Typen oder Klassen betrifft, die sprachlich durch Allgemeinbegriffe bezeichnet werden. Historisch scheint die Darstellung von Typen der detailgetreuen Reproduktion von Individuen voranzugehen, wie die Tierdarstellungen der Höhlenmalerei zeigen'' (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21). <br />
:<br />
Damit wären die allermeisten Bilder zunächst tatsächlich ''primär'' als „Allgemeinbilder“ oder als „Genusbilder“ zu bezeichnen, bevor sie anders (partikularisierend) eingesetzt werden. Dass wir uns zumindest bei vielen piktogrammatischen Darstellungssystemen ''nicht'' dazu angehalten fühlen, eine Partikularisierung zu unterstellen (die daraufhin fiktional oder nicht-fiktional sein müsste), räumt auch Walton ein. Entgegen seiner eigentlichen Vorannahme, Bilder seien „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351) gelten Piktogramme und Verkehrszeichen für ihn als nur „ornamental“; es handele sich um „nicht-funktionale Imaginationsrequisiten“ (''non-functional props'', <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 281). Neil McDonells durchaus typische These hierzu lautet: „The picture of a man on a restroom sign does not refer to any particular man but to all men” (<bib id='McDonell 1983a'></bib>, S. 85; vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 134-145). <br />
:<br />
Eine dritte Option bestünde darin, keiner dieser beiden Alternativen das Primat einzuräumen und den Unterschied nur ''case-by-case'' geltend zu machen. Wolfram Pichler und Ralph Ubl arbeiten hierfür mit der begrifflichen Opposition zwischen „indefinit“ vs. „definit bestimmbaren“ Bildern, die stets am konkreten Einzelfall getroffen werden muss (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51): <br />
:<br />
:''Die definite Bildbestimmung fängt […] schon da an, wo man bereit ist zu sagen: Das ist derselbe Mann mit Bart wie in jenem anderen Bild. Ob es den so identifizierten Mann mit Bart auch als einen wirklichen gibt, ist unter dieser Voraussetzung gleichgültig; bedeutsam ist allein die Möglichkeit oder Erwartung, dass das gegebene Bildobjekt ''re-identifiziert'' werden kann, sei es auch nur in einem anderen Bild'' (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51; Herv. im Orig.)<br />
:<br />
Packard formuliert diese Alternative mit Peirce als die Opposition, Bilder entweder als dicentisch-indexikalische Sinzeichen oder als rhematisch-ikonische Qualizeichen aufzufassen: <br />
:<br />
:''Diese reine Möglichkeit einer Qualität ist Voraussetzung der Behauptung, die die Qualität einem konkreten Gegenstand zuschreiben könnte und dann sagte, dieser sei so; aber diese Zuschreibung ist in dem Bild eben anders als die Darstellung einer ikonischen Qualität noch nicht durchgeführt. Es ist erst eine Interpretation, die gerade diese Durchführung und Ausführung sistiert. Ihr fehlt die Referenz auf ein Einzelding, von dem die gezeigte Qualität behauptet wird – auf den Raum, in dem die Szene des Stilllebens zu sehen gewesen sei, auf den Menschen, der die emotionale Erfahrung des Schreis gemacht, oder auf die biblische oder historische Figur mit ihrem Eigennamen, die den abgeschnittenen Kopf in einer Schale getragen habe'' (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 135).<br />
:<br />
===Medialität als Rahmung===<br />
Ein Foto werden wir zumeist prinzipiell als definit – also partikularisiert – interpretieren, auch wenn wir keine Kriterien dafür besitzen, seinen Referenten tatsächlich bestimmen zu können! Und in diesem Fall müssten wir uns auch entscheiden, ob es sich um ein ''reales'' (nicht-fiktionales) oder eben fiktionalisiert eingesetztes (oder manipuliertes) Foto handelt. Doch auch dies ist womöglich eher einer medialen Konvention geschuldet, denn Eingriffe, Manipulationen, Montagen und nicht zuletzt andere Verwendungszusammenhänge der Fotografie (etwa als Gattungsbilder in Lexika oder in fiktional gerahmten Kontexten wie dem Foto-Roman) hat es schon immer gegeben (vgl. <bib id='Fineman 2012a'></bib>). Schon bei der Fotografie handelt es sich daher lediglich um eine Rezeptionskonvention. Es gilt daher, den Zusammenhang zu bestimmten Bildverwendungstypen bzw. Bildmedien noch genauer in den Blick zu nehmen. <br />
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[[Datei:Fiktion_Abb06.jpg|thumb|Abbildung 6: Frank Flöthmann (<bib id='Flöthmann 2013a'></bib>) erzählt bekannte Grimm-Märchen (hier «Daumesdick») mit Infografiken und Piktogrammen nach, behauptet dabei aber stets die (fiktionale) Existenz seines partikularisierten Personals.]]<br />
Mit (bestimmten) Bildmedien sind hierbei nicht technisch-apparative Herstellungs- und Übertragungsweisen gemeint, sondern Bildtypen, die als konventionell-distinkte Einzelmedien (wie die Fotografie) auftreten und kulturell als solche etabliert sind. Beispielsweise lassen sich die Unterschiede zwischen Gebrauchsanweisungen, Comics oder Fotoromanen nicht alleine anhand technisch-apparativer oder semiotischer Kriterien festmachen. In der multimodalen Lingustik spricht man schlicht von Textsorten oder Genres: „Ist das Genre einmal erkannt, d.h. sind wir z.B. sicher, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt, wird das Verstehen insgesamt befördert. Es vollzieht sich dann im Rahmen der Textsortenkonventionen, auf die Rezipienten in Form von abstrahierten semiotischen Erfahrungen, d.h. gespeicherten Mustern zurückgreifen können“ (<bib id='Stöckl 2016a'></bib>: S. 102). Dies lässt sich mit Sachs-Hombachs und Schirras Überlegungen zum Bildstil als einem „illokutionärem Indikator“ verbinden (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 181), das bestimmte „Bild-Spiele“ (gegenüber anderen) als solche ausweist (vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>, S. 154-162). Wendet man dies auf den Zusammenhang zwischen piktogrammatischen vs. partikularisierenden Verwendungsweisen von Bildern an – und damit auch auf die Frage, ob ein Fiktionalitätsurteil getroffen werden muss – so zeigt es sich, dass keineswegs alle Bildverwendungspraktiken über alle konventionellen Medientypen gleich verteilt sind (vgl. erneut <bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 123). Um erneut Comics als Beispiele heranzuziehen: „Nun sind aber gerade die (vielen) narrativen Comics jene, die typischerweise Einzeldinge darstellen, und zwar im Sinne eines Minimums an Realismus als Gegenstände einer extensionalen Welt“ (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 180). Dies wiederum macht ein Fiktionalitätsurteil notwendig, was bei piktogrammatischen Bildverwendungsweisen nicht der Fall ist, die in kommunikativer Hinsicht lediglich Klassen hinreichend ähnlicher Gegenstände ins Spiel bringen sollen. <br />
:<br />
Mit diesen Konventionen spielt der Grafikdesigner Frank Flöthmann in seinen populären „Piktogramm-Comics“. Trotz der offenkundigen Hybridisierung beider Bildmedienbereiche ist eine Differenzlogik ''zwischen'' Comic und Piktogramm zum Verständnis der Geschichten vorausgesetzt. Denn obwohl die Bildästhetik an die Kennzeichnung von Gegenstandstypen erinnert, stellt der Autor hier doch “reguläre” fiktive Welten aus 16 Märchen der Gebrüder Grimm dar, in welchen die Protagonist*innen auch als ''existent'' behauptet werden – was bei Piktogrammen in gewöhnlicher Verwendung (Genusbilder oder indefinit bestimmbare Bilder) gerade nicht der Fall ist. Wenn wir also von (konventionell als distinkt verstandenen) Einzelmedien wie »dem Spielfilm« sprechen, dann umfasst dessen Medialität, zusammenfassend, nicht nur seine technisch-materiellen und institutionellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen (also beispielsweise auch sozialsystemische Institutionen oder eine arbeitsteilige Autor*innenschaft zwischen vielen Akteuren), sondern auch semiotische und fiktionsbezogene Erwartungen, die über Rahmungen und konventionalisierte Ästhetiken aufgerufen werden können.<br />
<br />
==Der fiktionale Gebrauch von Bildmedien==<br />
Während der »Fiktions«-Begriff in der Bildtheorie (im engeren Sinne) also in vielfacher Hinsicht merkwürdig untertheoretisiert ist, können doch zwei unterschiedliche Bereiche piktorialer Bezugnahmen auf fiktive Entitäten (Personen, Ereignisse, Welten) nicht ausgeblendet bleiben. Zum einen dürfte es ganz unbestritten sein, dass Bildmedien bereits etablierte fiktive Entitäten ebenso darstellen können wie real existierende Dinge. In kunstgeschichtlichen Beschäftigungen obliegt die Klärung dieser ''Referenz'' anhand bildlicher Kodes etwa der Ikonologie (vgl. <bib id='Panofsky 1939a'></bib>: S. 6). Wenn wir mit den relevanten Ikonografien vertraut sind, so wissen wir, dass ein bildlich dargestellter Mann mit einer Filzkappe immer Odysseus darstellt und können Odysseus-Repräsentationen auch in unbekannten Bildern identifizieren. Die komplexen Diskussionen um die fragliche Ontologie dieses Wesens (zwischen fiktivem Referenzobjekt und davon unterschiedenem ''Sujet'') müssen und können an dieser Stelle ausgeblendet bleiben, denn relevanter für den Zusammenhang von Bild und Fiktion scheint mir ein zweiter Bereich fiktionalen Bildgebrauchs. Hier wird nicht eine bereits bestehende fiktive Entität irgendwie durch bildliche Codes “anzitiert”, sondern genuin ''erzeugt''.<ref>Der Zusammenhang zwischen beidem ist noch einigermaßen unklar, vgl. erneut <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245.</ref> Es sollte nämlich nicht übersehen werden, dass weite Teile der Medienwissenschaft sich im “Tagesgeschäft” mit exakt solchen Bildmedien auseinandersetzen, die im “unmarkierten Standardfall” stets als fiktional gelten, wie Thon zutreffend argumentiert hat (vgl. <bib id='Thon 2014c'></bib>, S. 452-459): Realfilme, Animationsfilme, Fernsehserien, Comics oder Computerspiele. Die Befähigung dieser weiten Bereiche der Bildmedien zur ''Nicht-Fiktionalität'' muss – umgekehrt – zumeist mühevoll hergeleitet und gesondert begründet werden, mit verschieden hohem Aufwand bei unterschiedlichen Medientypen. Denn auch wenn nicht-fiktionale (dokumentarische oder essayistische) Realfilme in der Filmwissenschaft insgesamt ebenfalls weniger Aufmerksamkeit als fiktionale Spielfilme erhalten haben, scheint hier das fotografische Dispositiv doch zumindest eine unbestreitbar dokumentarische Qualität zu sichern.<ref>Allerdings fallen dadurch differenzierte Praktiken des ''re-entactments'' häufig erneut unter den Tisch, vgl. <bib id='Mundhenke 2017a'></bib>: S. 196-205; <bib id='Wilde 2019a'></bib>.</ref> Die Legitimation der Nicht-Fiktionalität von Animationsfilmen (z.B. «Waltz with Bashir», Ari Folman 2008), Comics (z.B. Art Spiegelmans «Maus: A Survivor’s Tale», 1991), oder Computerspielen (z.B. «JFK Reloaded», Traffic Games, 2004) muss hingegen immer wieder mühsam begründet und verteidigt werden (vgl. dazu <bib id='Thon 2019a'></bib>). Dass diese Bildmedien typischerweise fiktive Entitäten (Figuren, Ereignisfolgen, Welten) repräsentieren, stellt in jedem Fall keinen theoretischen Streitpunkt dar. Hier scheint mir eine merkwürdige Dissonanz gegenüber allgemeinen bildtheoretischen Prämissen zu liegen, die selten genauer in den Blick genommen worden ist. Abschließend soll daher noch einmal der Blick darauf gewendet werden, welche besonderen Funktionen und Leistungen Bildmedien in der Darstellung fiktiver Dinge, Ereignisse und Welten zufallen. <br />
<br />
===Die notwendige Unvollständigkeit fiktiver Entitäten ===<br />
Alles, was in fiktionalen Medien dargestellt wird, muss in sehr grundlegender Hinsicht als ''unvollständig'' erachtet werden. Lubomír Doležel arbeitete diesen Punkt in seiner Variante der ''possible world''-Theorie unter der Bezeichnung ‘ontologische Unvollständigkeit’ heraus: <br />
:<br />
:''Fictional worlds are brought into existence by means of fictional texts, and it would take a text of infinite lengths to construct a complete fictional world. Finite texts that humans are capable of producing, necessarily create incomplete worlds'' (<bib id='Doležel 1995a'></bib>: S. 201). <br />
:<br />
Die Bezeichnung der „ontologischen“ Unvollständigkeit geht auf Barry Smith zurück, der sich damit begrifflich gegenüber einer „epistemischen“ Unvollständigkeit absetzen wollte, welche bloß unser gerechtfertigtes Wissen betrifft (vgl. <bib id='Smith 1979a'></bib>). Wenn Eigenschaften und Merkmale des Dargestellten in Texten schlichtweg ''nicht'' definiert seien, so Smith, Doležel und viele andere, so “fehlen” uns nicht nur bestimmte Informationen (temporär), die wir etwa noch in Erfahrungen bringen könnten; sie ''existieren'' im Gegenteil ''nirgendwo'', und zwar, auf einer grundsätzlichen und daher ontologischen Ebene.<ref>Es existieren jedoch Gründe, dennoch an der Bezeichnung einer ''epistemischen'' Unvollständigkeit festzuhalten, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 208.</ref> Dennoch setzen wir im Rezeptionsprozess zumeist voraus, dass alle dargestellten Welten grundsätzlich konsistent und vollständig sind, sofern nicht explizite (phantastische) Gründe vorliegen, warum dem anders sein sollte. <br />
:<br />
Rezipient*innen können gemeinhin auf ihr Weltwissen zurückgreifen, um solche “Lücken” zu füllen. Marie-Laure Ryan führt dies auf das von David Lewis übernommene Konzept des ''principle of minimal departure'' zurück: <br />
:<br />
:''the imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world, and it will import knowledge from the real world to fill out incomplete descriptions […]. For instance, when a text refers to a location in the real world, all of the real geography is implicitly part of the storyworld, and when it refers to a historical individual, this individual enters the storyworld with all of his or her biographical data except for those features that the text explicitly overrules'' (<bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35; vgl. bereits <bib id='Ryan 1991a'></bib>: S. 51).<br />
:<br />
Die Literaturwissenschaft verwendet in der rezeptionsästhetischen Tradition Roman Ingardens den Begriff der »Unbestimmtheitsstelle« (vgl. <bib id='Ingarden 1972a'></bib>) oder Wolfgang Isers Konzept der »Leerstelle« (vgl. <bib id='Iser 1978a'></bib>: S. 194), um auf die Notwendigkeit der „Mitarbeit des Lesers“ (<bib id='Eco 1987a'></bib>: S. 1) in dieser inferenziellen Ergänzung von Unvollständigkeiten hinzuweisen. Die Filmwissenschaft operiert mit dem Terminus des ‘Suture’, die Comicforschung mit dem des ‘Closures’. In den Bildwissenschaften wurden diese Ansätze bisher erst mit großem Zögern aufgenommen, vermutlich aus des zuvor angeführten Theoriedefizits in der Fiktionsdebatte (vgl. <bib id='Lobsien 1980a'></bib>; <bib id='Kimmich 2003a'></bib>). <br />
:<br />
Unbestritten scheint, dass Bildmedien besondere Leistungen und Funktionen geltend machen können, um fiktionale Objekte zu konkretisieren. Filmfiguren etwa besitzen für gewöhnlich eine „sensory specificity that at the same time diminishes the range of individual imaginations by the recipients“ (<bib id='Eder et al. 2010a'></bib>: S. 18). Über das Aussehen fiktiver Dinge im Film scheinen wir so zumeist viel zu wissen und epistemisch begründen zu können, weil vor der Kamera Objekte standen, deren Aussehen weitgehend auf die diegetischen Entitäten übertragbar ist. Mit anderen Worten: Die [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|Wahrnehmungsnähe]] von Bildmedien kann sich dergestalt niederschlagen, dass jeder wahrnehmbare Aspekt des Bildinhalts auch in der Konkretisierung fiktiver Situationen relevant bleibt. Mit wieder anderen Worten: Die [[Prädikation|Prädikationsmöglichkeiten]], die Bilder zur Verfügung stellen, sind größtenteils auf die fiktive Diegese übertragbar. Externe Prädikationsmöglichkeiten der Darstellungsmittel lassen sich als interne Prädikate des Dargestellten verrechnen (vgl. <bib id='Reicher 2010a'></bib>: S. 117).<br />
<br />
===Darstellungskorrespondenz und doppelte Prädikation ===<br />
<br />
Die Wahrnehmungsnähe von Bildmedien lässt sich durch Gregory Curries Begriff der »Darstellungskorrespondenz« (''representational correspondence'') noch genauer fassen (vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>: S. 58-64): „ [F]or a given representational work, only certain features of the representation serve to represent features of the things represented“ (S. 59). Es sind also niemals ''alle'' Eigenschaften einer Darstellung hinsichtlich der fiktiven Situation relevant, wie Thon in Bezug auf die gleiche Textstelle von Currie weiter ausführt: „[I]t makes sense to distinguish more systematically between ''presentational'' and ''representational'' aspects of a given narrative representation in this context“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 60; Herv. im Orig.). Dass diese Differenz selbst im fotografischen Filmbild nie völlig überwunden werden kann lässt sich leicht vor Augen führen: Man denke etwa an Schwarzweißfilme oder Rückblenden in Sepia-Kolorierungen, die nur in speziellen Ausnahmefällen eine “monochrome Welt” repräsentieren (etwa im medienreflexiven Film «Pleasantville», USA 1998; vgl. dazu umfassender <bib id='Thon 2017a'></bib>; <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Etwas technischer ausgedrückt: Die Prädikationsmöglichkeiten, die ein Bild in einem Schwarzweißfilm anhand wahrnehmbarer Graustufen und monochromer Kontraste anbietet, treffen nur auf den Bildinhalt, nicht aber auf die fiktive Situation zu (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 171; <bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 85-91). <br />
:<br />
All dies bedeutet zusammenfassend, dass fiktional eingesetzte Bildmedien stets eine doppelte Prädikation aufweisen: Die Prädikationsmöglichkeiten, die der Bildinhalt zur Verfügung stellt (begründete Aussagen über das Aussehen der Bildobjekte), stehen in relativer Darstellungskorrespondenz zur Ebene der fiktiven Diegese, auf die sie sich häufig – aber eben nicht immer, und niemals notwendig – “mappen” lassen. Im interpretativen Verstehen müssen beide Ebenen voneinander differenziert werden, indem zwischen abbildungsrelevanter Form und “bloßem” medialem Kontext differenziert wird. Als nicht abbildungsrelevanter medialer Kontext wären aber nicht nur limitierende Faktoren der Materialität zu nennen (Schwarzweiß-Druckverfahren in der Darstellung farbiger Welten). Auch viele Aspekte des medialen Produktionszusammenhangs fließen häufig nicht in die Konkretisierung fiktionaler Gegenstände mit ein. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb07.jpg|thumb|Abbildung 7: Zwei mal die identische fiktive Figur: Magische Transformation oder bloßer Darstellungsunterschied? ]]<br />
Mit Kendall L. Walton gesprochen wäre es beispielsweise eine „silly question“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 174-183), danach zu fragen, warum die fiktive Figur Daario Naharis in der HBO-Serie «A Game of Thrones» plötzlich auf mysteriöse Weise ihr Aussehen verändert. In Staffel drei wurde die Figur vom Briten Ed Skrein, ab Staffel vier vom niederländischen Michiel Huisman verkörpert (vgl. Abb. 7), ohne dass dafür eine diegetische Erklärung angeboten wurde. Gültige fiktionale Rückschlüsse, dass Daario Naharis über magische Fähigkeiten verfügen und – wie die diegetisch etablierten ''faceless men'' – sein Aussehen beliebig transformieren könnte, wären ganz offensichtlich falsch (oder vorsichtiger: kommunikativ kaum anschlussfähig; zu fiktionalen Fakten vgl. <bib id='Bareis 2015a'></bib>). Der wahrnehmbare Unterschied, den die Prädikationsmöglichkeiten der Bilder zur Verfügung stellen, wird also nicht auf Seite des fiktional Dargestellten, sondern auf den medialen Ermöglichungshintergrund “verrechnet”. Dieser wird hier als institutioneller Produktionszusammenhang der TV-Serie kenntlich, mit dem die konventionalisierte semiotische Form des doppelten Darsteller*innenkörpers und dem Schauspieler*innen-Starsystem verbunden ist (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Eine fundamentale Differenz zwischen den im Bild sichtbaren Objekten und den dadurch repräsentierten, diegetischen Entitäten ist also unauflösbar. Über Wahrnehmungsnähe und Darstellungskorrespondenz kann die doppelte Prädikation aber so eng geführt werden, dass sie gänzlich transparent erscheint, insbesondere in fotografischen oder illusionistischen Bildmedien, wo wir nahezu ''in die Diegese'' zu blicken meinen.<br />
<br />
===Gemeinsamkeiten und Differenzen fiktionaler und nicht-fiktionaler Weltbezüge===<br />
Grundsätzlich ist eine doppelte Prädikation zwischen sichtbarem Bildinhalt und den dadurch repräsentierten Entitäten (vermittelt über eine skalierte Darstellungskorrespondenz) auch für nicht-fiktionale, dokumentarische Formate unumgänglich: In nicht-fotografischen Bildmedien ist dies unmittelbar evident: Die Wahrnehmbarkeit der tatsächlich vorgefallenen Situationen wird hier doch in erheblichem Maße von den Wahrnehmungsparametern der (etwa gezeichneten, gemalten oder computergenerierten) Bildlichkeit abweichen; auch ist davon auszugehen, dass nicht alle Bildelemente in Vorder- und Hintergrund, in Zentrum und Peripherie, die gleichen Wahrheitsansprüche erheben. Packard geht daher von einer „gradierte[n] Fiktionalität“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 139) gezeichneter Bilder aus, Thon mit gleicher Stoßrichtung von einer „referential multimodality“ (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271): <br />
:<br />
:''[T]here is no simple one-to-one relationship between the semiotic resources a given narrative work employs and the referential claims it makes […]. Accordingly, it seems helpful to expand previous conceptualizations of multimodality by distinguishing between ''semiotic multimodality'', on the one hand, and ''referential multimodality'', on the other'' (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271; Herv. um Orig.).<br />
:<br />
In nicht-fiktionalen Bildmedien fungiert ein geteiltes Wissen um die intersubjektive Wirklichkeit aber zumindest stets als Korrektiv, was sich mit Walton als „reality principle“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 44) ausbuchstabieren ließe. Auch in der Fiktionstheorie ist das bereits angesprochene ''principle of minimal departure'' zwar fest etabliert.<ref>„The imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world“, <bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35.</ref> Es besteht aber ein zentraler Unterschied in seinem Referenzbereich. Nach Ryan muss nämlich nicht zwangsläufig unsere (als ''real'' erachtete) Welt den Ausgangspunkt des inferenziellen “Lücken-Füllens” darstellen. Ebenso können andere mediale, selbst bereits fiktionale Repräsentationen als interpretative Ausgangspunkte genutzt werden, etwa was das Verstehen von “Zentauren” oder “Superhelden” betrifft. Eine solche Loslösung der Darstellung und des Dargestellten von Ansprüchen lebensweltlicher Realität hat auch bildtheoretisch interessante Konsequenzen. <br />
Gegenüber einer “naturalisierenden” Lesung, die in phantastischen, abstrahierten und überzeichneten Cartoon-Bildern beispielsweise stets die Repräsentation einer Welt vermutet, die der unserer zumindest in ihrer Wahrnehmbarkeit weitgehend entspricht, ist es auch möglich, Umgekehrtes zu vertreten: Die phantastischen Welten von Comic, Manga und Animation brechen dann nicht nur punktuell lokal mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten (etwa, wenn Figuren Superkräfte besitzen), sondern können auch auf globaler Ebene eine besondere „visuelle Ontologie“ aufweisen (vgl. <bib id='Lefèvre 2007a'></bib>), die der “unseren” aus keinerlei notwendigen Gründen entsprechen muss. «The LEGO Movie» (2014) bildet dafür ein beeindruckendes Denkmodell (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Wenn das durch Lego-Steine dargestellte Wasser, der Schaum, die Dampf- und die Staubwolken durchaus naturalisiert aufgefasst werden könnten (so dass sich mit dem gleichen Material auch nicht-fiktive Geschichten erzeugen ließen), so muss den sogenannten „Master Buildern“ die “Legohaftigkeit” ihrer Welt stets wahrnehmbar bleiben. Sie können sie manipulieren und rekombinieren: „We'll build a motorcycle out of the alleyway!“ (00:14:40). Die dargestellte Welt behält also ihre besondere Ontologie, so dass die Hauptfigur Emmet seinen drehenden Lego-Kopf als Radachse einsetzen kann – was sich in keinem nicht-fiktionalen Referenzrahmen mehr plausibilisieren ließe!<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb08.jpg|thumb|Abbildung 8: Die Darstellung einer physikalisch “gewöhnlichen” Welt mit den Mitteln (computeranimierter) Lego-Steine oder Darstellung einer Welt aus Lego-Materialität?]]<br />
Ein jedes solches Urteil muss am Einzelfall durch zahlreiche analytische Argumente untermauert werden: etwa, dass es den gezeichneten Protagonisten in Comic und Manga häufig durch leichte Manipulationen ihres Äußeren möglich scheint, sich so zu maskieren und zu verkleiden, dass dies selbst von nächsten Verwandten nicht mehr durchschaut werden kann (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). In solchen Fällen scheint es, als bestünde nicht nur die Darstellung aus einfachsten Konturlinien, “hinter” der eine reichere Wahrnehmungsfülle verborgen bleibt (die doppelte Prädikation würde damit durch eine blockierte Darstellungskorrespondenz auseinandergetrieben). Stattdessen scheint hier auch die dargestellte Welt selbst der Wahrnehmbarkeit abstrahierter Bildlichkeit zu entsprechen – was nur im Fiktionalen – dort aber prinzipiell jederzeit – möglich ist. <br />
:<br />
Die ambivalente Grenze der doppelten Prädikation öffnet zusammenfassend eine Zone der künstlerischen und imaginativen Aushandlung. Gefragt – und gezweifelt – werden muss an fiktionalen Bildern dann stets, welche der Prädikationsmöglichkeiten des sichtbaren Bildinhalts darstellungsrelevant und somit auf die intersubjektiv und diskursiv konstruierte Diegese übertragbar sind. Dies aber lässt sich nicht einfach ''sehen'', sondern nur auf Ebene der Traditionsbildung, der Diskursivierung und der Anschlusskommunikation, also auf Ebene performativer Transkriptionspraktiken, rekonstruieren (vgl. <bib id='Jäger 2002a'></bib>).<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
* <br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2019''<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Verantwortlich:'' <br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra|Schirra, Jörg R.J.]]<br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Fiktion&diff=27959Fiktion2019-11-28T06:39:49Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* (Nicht-)Fiktionalität als Frage der Pragmatik */</p>
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==Fiktion, (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität==<br />
Theorien der Fiktion haben sich lange Zeit allein auf literarische Werke bezogen und die bildenden Künste gar nicht oder allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen.<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Klauk & Köppe 2014a'></bib>; <bib id='Enderwitz & Rajewsky 2016b'></bib>; <bib id='Bunia 2020a'></bib>.</ref> Dies gilt auch umgekehrt: Der Begriff der »Fiktion« spielt in [[Bildwissenschaft_vs._Bildtheorie|bildtheoretischen]] Ansätzen eine zumeist eher untergeordnete, in jedem Fall aber höchst widersprüchliche Rolle. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Diskussion des [[Fotografie|fotografischen Bildes]], dem etwa von Roger Scruton eine generelle „fictional incompetence“ (<bib id='Scruton 2006a'></bib>: S. 25) unterstellt worden ist. Die Vorstellung einer fotochemisch erzeugten Spur, eines [[Symbol,_Index,_Ikon|indexikalisch]] garantierten „Es-war-so-gewesen“ (vgl. <bib id='Barthes 1981a'></bib>: S. 76), hält sich hartnäckig. Dabei versperrt eine Fixierung auf diesen Index nicht nur den Blick auf viele fiktionale Einsatzmöglichkeiten des fotografischen Bildes.<ref>„Es ist leicht vorstellbar, einerseits einen fotografisch aufgenommenen, mit realen Schauspielern gedrehten Film und andererseits einen komplett gezeichneten Film zu machen, die Einstellung für Einstellung die gleiche fiktionale Geschichte erzählen“, <bib id='Schröter 2020a'></bib>: in Vorb.)</ref> Auch viele dokumentarische Praktiken können so nicht adäquat erfasst werden: Im ''historical re-enactment'' etwa können auch ''nachgestellte'' Fotos unproblematisch nicht-fiktional eingesetzt werden (vgl. <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Von den technischen Eigenschaften eines Bildmediums auf dessen Einsatzmöglichkeiten für fiktionale oder nicht-fiktionale Zwecke zu schließen ist also grundsätzlich verkürzend, wie Jens Schröter (2016a) wohl am deutlichsten herausgearbeitet hat. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb01.jpg|thumb|Abbildung 1: Eine Abbildung eines “klassischen” fiktiven Gegenstands, des Einhorns, nach Konrad Genser: „Historiae animalium“, 1551.]]<br />
Aus all diesen Gründen sollte der Begriff der »Fiktion« bildtheoretisch höchst interessant sein. Eine umfassende Diskussion taucht überraschenderweise aber innerhalb von Oliver Scholz’ (<bib id='Scholz 2004a'></bib>[<sup>1</sup>1995]), Börries Blankes (<bib id='Blanke 2003a'></bib>), oder Klaus Sachs-Hombachs (<bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>) Modellen der Bildkommunikation gar nicht auf (vgl. aber etwa <bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197-208). Dies scheint durchaus typisch; weiter unten sollen die Gründe dafür systematischer herausgearbeitet werden.<ref>Für Überblicke über den Forschungsstand zu piktorialer „Fiktion“ vgl. <bib id='Podro 1983a'></bib>; <bib id='Ryan 2009a'></bib>; <bib id='Wenninger 2014a'></bib>.</ref> Der Ausdruck spielt in bildwissenschaftlichen Ansätzen eine überwiegend [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|wahrnehmungstheoretische]] Rolle im Umkreis der [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität|Ähnlichkeitsdebatten]]. Scholz spitzte diese in seinem sogenannten „Meisterargument“ (<bib id='Scholz 1999a'></bib>: S. 33) gegen die Ähnlichkeitsthese wie folgt zu: Einem “Gegenstand”, der gar nicht existiere (wie ein Einhorn, Abb. 1), könne auch nichts ähnlich sein. Demgegenüber wurden ''internalisierte Ähnlichkeitsbegriffe'' geltend gemacht: Wir kennen Pferde und wir kennen Hörner, also können wir uns Einhörner vorstellen – und diese auch “in” Bildmedien sehen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2005c'></bib>). Oder in den Worten von Dominic Lopes: „The acquisition of recognition abilities for fictive objects largely parallels the acquisition of recognition abilities for actual objects” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 206). Löst dies in gewisser Weise ein Wahrnehmungsproblem, so lässt es doch die gewichtigere Frage unbeantwortet, wann eine ganz und gar ''alltägliche'' bildliche Darstellung nun etwas mit Fiktion zu tun hat und was mit dieser Unterscheidung für eine Kommunikations- und Zeichentheorie des Bildes auf dem Spiel steht. <br />
:<br />
Wurde »Fiktionalität« zunächst lange als ein rein sprachliches bzw. literarisches und allenfalls philosophisches Problem behandelt, lässt sich der Begriff mittlerweile als ein transmediales Konzept erachten, das in verschiedenen [[Medialität|Einzelmedien]] (wie [[Film|Filmen]], [[Fernsehen|Fernsehserien]], [[Comic|Comics]] oder auch [[Cyberspace|Computerspielen]]) unterschiedlich realisiert werden kann. Wichtige transmediale Fiktionalitätstheorien stammen etwa von Gregory Currie (<bib id='Currie 1990a'></bib>), Kendall L. Walton (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Frank Zipfel (<bib id='Zipfel 2001a'></bib>). Wie aber Jan-Noël Thon (<bib id='Thon 2014c'></bib>) und Jens Schröter (<bib id='Schröter 2020a'></bib>) feststellen, entsteht in solchen einerseits häufig eine Kluft zwischen den medienspezifischen Einzelstudien und dem transmedial verstandenen Überbau der Fiktion; darüber hinaus suchen sich transmediale Fiktionstheorien zumeist in irgendeiner Weise von leitenden Paradigmen der ''Literaturwissenschaft'' abzuwenden, wodurch die medienwissenschaftlich relevanten Spezifika ''bestimmter'' anderer Einzelmedien oft unthematisiert bleiben. Auch aus diesen Gründen bleibt ein überzeugender integrativer Entwurf ''bildlicher'' Fiktionstheorien immer noch ein schmerzliches Desiderat.<br />
:<br />
Wie auch immer eine solche Fiktionstheorie des statischen Bildes aussehen könnte, sie müsste zwischen zwei unterschiedlichen begrifflichen Traditionen vermitteln. Der ersten Position zufolge kann der Unterschied zwischen ''Fiktion'' und ''Nicht-Fiktion'' anhand der (zumeist als geklärt vorausgesetzten) ''Ontologie'' der dargestellten Gegenstände, also [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|semantisch]] bzw. [[Bedeutung und Referenz|referenziell]], festgestellt werden. Einer zweiten Tradition zufolge handelt es sich um verschiedene ''Diskurstypen'' oder ''Verwendungsweisen'' von Zeichen, also um [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|pragmatische]] Faktoren. Letzterer Ansatz ist für die Theoriebildung zweifellos der wichtigere, da sich der semantische häufig auf ihn zurückführen lässt. Als ‘fiktiv’ ließen sich demzufolge alle Gegenstände verstehen, die in ''fiktionalen'' Texten dargestellt werden. Fiktionale Texte wiederum unterscheiden sich von nicht-fiktionalen dadurch, dass ihre Produzent*innen keinen ''Anspruch'' darauf erheben, dass die dargestellten Gegenstände wirklich existieren – was sich häufig nur aus der konkreten Verwendung, [[Rahmung, Rahmen|Rahmung]] oder Auszeichnung heraus erschließen lässt, nicht aus werkinternen Faktoren. Diese begriffliche Doppelperspektive führt zu einigen interessanten Paradoxien. Nach Stephan Packard generiert Fiktion so einerseits – positiv gewendet – stets ein ''Mehr'', „weil ein Text zum Beispiel eine weitere Welt schafft und referenziert als nur die eine, in der wir demnach leben“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Negativ gewendet leistet ein fiktionaler Text so andererseits aber auch ''weniger'', „weil er zum Beispiel Verpflichtungen und Konsequenzen nicht akzeptiert, die faktuale Texte mit sich bringen“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Disziplinübergreifend hat es sich bewährt, beide Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, da sie ganz verschiedene Probleme behandeln. Die Unterscheidung »fiktiv« vs. »nicht-fiktiv« bezieht sich demnach auf ''die Ebene des Dargestellten'', die Unterscheidung »fiktional« vs. »nicht-fiktional« auf ''die Ebene der Darstellung'': <br />
:<br />
:''In diesem Sinne lässt sich also z.B. von fiktionaler Rede, von einem fiktionalen Diskurs, von fiktionalen Texten, Filmen usw. Sprechen, während sich ‘fiktiv’ auf Gegenstände, auf fiktive Entitäten bezieht''“ (<bib id='Rajewsky & Enderwitz 2016a'></bib>: S. 1f.). <br />
:<br />
Der Terminus ‘nicht-fiktional’ stellt eine differenziertere Alternative zu ‘faktual’ dar, da mit Letzterem zumeist bereits ein Urteil impliziert ist, dass die als nicht-fiktional ''ausgegebene'' Darstellung auch tatsächlich zutreffend ist; in fehlinformierten oder täuschenden Berichten ist dies aber nicht der Fall, sie wären immer noch ''nicht-fiktional'' – aber eben nicht ''faktual''. Der etwas unspezifische Ausdruck ‘Fiktion’ hingegen kann mit Stephan Packard als Dachbegriff für ein jedes Phänomen verwendet werden, „das vorliegt, wenn Fiktionales in dieser Weise als Referenz auf Fiktives verstanden wird“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 125). Wir haben es also mit ''Fiktion'' zu tun, wenn Fiktionalität und Fiktivität zugleich vorliegen. Zunächst sollten beide Bereiche aber getrennt voneinander betrachtet werden, um sie jeweils auf ihre Schnittstellen – und Spannungen – zur Bildtheorie hin zu befragen.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik ==<br />
[[Datei:Fiktion_Abb02.jpg|thumb|Abbildung 2: Ein graduell fiktionalisierter Barack Obama interagiert dank digitalen Effekten mit der Welt von Sam Esmail’s «Mr. Robot». Auf wen wird mit diesem Bild Bezug genommen?]]<br />
Betrachtet man das Problem der Fiktivität genauer, so stellt man fest, dass es keinesfalls unstrittig ist, ob auf Fiktives überhaupt Bezug genommen – also [[Referenz,_Denotation,_Exemplifikation|referenzialisiert]] – werden kann. Auch lassen sich anhand des sogenannten „Napoleon-Problems“ (vgl. <bib id='Zipfel 2001a'></bib>: S. 90–103) sehr unterschiedliche Positionen beziehen, inwiefern die Darstellung einer ''graduell'' fiktionalisierten realen Person (in einem historischen Roman wie Lew Tolstois «Krieg und Frieden», 1869) als kategorial andere Operation angesehen werden muss als die wahrheitsgemäße Beschreibung einer Person gleichen Namens in einer Reportage.<ref>Vgl. die Diskussion aktueller Beispiele wie Abb. 2 in <bib id='Jung & Wilde 2020a'></bib>.</ref> In jedem Fall aber scheint das Problem der Fiktivität ''immer'' in irgendeiner Weise an das Problem der Referenzialität gebunden. Dorrit Cohn bezeichnete fiktionale Texte beispielsweise stets als „non-referential“ (<bib id='Cohn 1999a'></bib>: S. 9). Insbesondere in analytisch-philosophischen Ansätzen überwiegt die Ansicht, dass fiktive Gegenstände (ebenso wie fiktive Welten oder Figuren) schlicht ''gar nicht'' existieren (vgl. etwa <bib id='Künne 1983a'></bib> oder <bib id='Sainsbury 2010a'></bib>). Die Unterscheidung zwischen »Fiktivität« und »Nicht-Fiktivität« würde demnach zugleich mit der Klärung der Bezugnahme getroffen. Ein Bild von Napoleon hätte als Bezugsgegenstand eben die reale Person Napoleon; ein Bild eines fiktiven Gegenstands hingegen wäre in dieser Hinsicht “leer” und würde eine „Null-Denotation“ aufweisen (vgl. <bib id='Goodman 1969a'></bib>: S. 21; <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30-34). In den Worten von Lopes könnte man zusammenfassen: „A fictive picture is one whose subject does not exist” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197). Gleichzeitig gesteht Scholz fiktionalen Bildern aber selbstredend doch „wiedererkennbare Themen oder Sujets“ zu (<bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30), auf die in irgendeiner Weise dennoch ein Bezug hergestellt werden muss (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 164-213). <br />
:<br />
Diese Annahmen ließen sich zwar noch in erheblichem Maße verkomplizieren, wenn man die Rolle unterschiedlicher [[Stil|Darstellungsstile]] mit einbezieht (vgl. hierzu etwa <bib id='Ryan 2009a'></bib>); dessen aber ungeachtet, steht eine jede referenzielle Herangehensweise vor dem Problem, immer an bereits semantisch interpretierten [[Bildhandeln|Bildverwendungsweisen]] ansetzen zu müssen, in denen die pragmatisch erschlossene Referenzialität als geklärt gelten kann. Damit kommt »Fiktivität« (oder »Nicht-Fiktionalität«) zwangsläufig ein kontingenter Status zu, der nicht unbedingt Teil eines ersten Verstehens- und Interpretationsprozesses sein kann oder muss. Häufig ''kann'' dieser Status wohl auch gar nicht entschieden werden, wenn piktoriale Bezugnahmen vom jeweiligen Verwendungskontext des entsprechenden Artefakts abhängen. Im Verstehen einer dargestellten Situation macht es demgegenüber zunächst keinen Unterschied, ob sich später herausstellen sollte, dass diese ''auch'' zur Bezugnahme auf eine reale Situation verwendet werden kann oder soll. Was noch entscheidender ist: Um solche begleitenden Urteile überhaupt fällen zu können, muss ein Verstehen der dargestellten Situation in den meisten Fällen bereits vorausgesetzt werden können. Thon betont daher mit Bezug auf den Filmwissenschaftler Edward Branigan, was in der kognitiven Narratologie lange eine „standart position“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 67) darstelle: „[O]ur ability to ''understand'' a narrative […] is distinct from our ''beliefs'' as to its truth, appropriateness, plausibility, rightness, or realism“ (<bib id='Branigana 1992'></bib>: S. 192; Herv. im Orig.). Inwiefern etwa monoszenische Einzelbilder überhaupt ''narrativ'' sein können, bleibt zwar weiterhin umstritten, doch dürfte die vorige Feststellung auch für nicht-narrative piktoriale Darstellungen gelten (etwa rein topologische Darstellungen). <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb03.jpg|thumb|Abbildung 3: Um zu entscheiden, ob es sich um ''fiktive'' oder ''nicht-fiktive'' Kinder handelt, bräuchte es kontextrelativer Verankerungen: In welcher Situation und zu welcher Zeit werden sie als existent ausgegeben oder als nur ''möglich'' imaginiert?]]<br />
Auch eine einfache sprachliche Aussage wie ‘ein Mann mit einem Hut steht im Park’ könnte ''ebenso gut'' eine [[Kontext|Situation]] in der realen Welt repräsentieren wie es sich um die Eröffnung einer phantastischen Erzählung handeln kann; um die Referenzfixierung – und damit auch die Fiktivität dieser Aussage – überhaupt bestimmen zu können, bräuchte es [[Kontextbildung|kontextrelative Verankerungen]]: In welchem Park? Zu welcher Zeit? „Obwohl ein Satz wie ‘Hans ist müde’, für sich genommen, weder wahr noch falsch ist, hat er in einer bestimmten Situation einen bestimmten Wahrheitswert, weil in einer konkreten Situation das mit der Äußerung dieses Satzes Gesagte wahr ist“ (<bib id='Plunze 2002a'></bib>: S. 167; vgl. für Bilder ausführlicher <bib id='Schirra 2005a'></bib>: S. 48-53). Das Gleiche gilt wohl auch für piktoriale Darstellungen wie in Abbildung 3, deren Fiktionalitätsgrad für sich genommen nicht beantwortet werden kann. Um erneut mit Marie-Laure Ryan zu sprechen: <br />
:<br />
:''The same text could, at least in principle, be presented as a creation of the imagination or as a truthful account of facts, and we must be guided by extra-textual signs, such as generic labels (‘novels’, ‘short stories’) to assess its fictional status'' (<bib id='Ryan 2007a'></bib>: S. 32). <br />
:<br />
In vielen Fällen ist daher immer noch John R. Searle zuzustimmen: „[T]here is no textual property that will identify a stretch of dicourse as a work of fiction” (<bib id='Searle 1975a'></bib>: S. 327). In einigen sprachlichen Gattungen (wie lyrischer Dichtung) können solche lektüreleitenden Fiktionalitätssignale gänzlich fehlen (vgl. <bib id='Ryan 2009a'></bib>: S. 83). Ryan argumentiert zutreffend, dass dies in noch viel stärkerem Maße für Bildmedien gelte: „Eine große Zahl von Menschenhand gemachter Bilder gehört in dieses Niemandsland zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion“ (S. 82). Die besonders komplizierte Frage, ob es sich bei vielen Bildern wie Abb. 3 daher zunächst um weder fiktionale noch nicht-fiktionale, sondern um fiktional unmarkierte Artefakte handeln könnte (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 214-269), führt unmittelbar zu unserem zweiten Begriffspaar, nämlich »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität«.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktionalität als Frage der Pragmatik==<br />
Fiktionalität bezeichnet nach Werner Wolf „im Gegensatz zur Fiktivität nicht zunächst eine ontologische oder referentielle Qualität, sondern […] einen kognitiven Rahmen, der bestimmte Erwartungen und Einstellungen bei der Rezeption eines Artefakts vorprogrammiert“ (<bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231). Die kommunikative Absicht einer fiktionalen Rede (auf die etwa anhand meta-kommunikativer und [[Kontext|kontextueller Signale]] geschlossen werden kann) ist demnach nicht, den Adressaten von etwas zu überzeugen, sondern ihn zu einem ''Als-ob-Spiel'', einem Imaginations- bzw. Vorstellungsspiel, einzuladen, wie Gregory Currie herausgearbeitet hat: <br />
:<br />
:''[Der Autor] verläßt sich darauf, daß seine Leser sich bewußt sind, es mit einem fiktionalen Werk zu tun zu haben, und er nimmt an, daß sie Äußerungen in der Aussageform nicht als Behauptungen verstehen. Er gibt also nichts vor. Er lädt uns ein, etwas vorzugeben, oder vielmehr, so zu tun, als ob. Denn ein Werk als fiktional zu lesen heißt, ein internalisiertes So-tun-als-ob-Spiel zu spielen'' (<bib id='Currie 2007a'></bib>: S. 41).<br />
:<br />
Mit Jens Eder könnte man diese Position wie folgt auf den Punkt bringen: Die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« hängt „nicht vom Wahrheitsgehalt oder der Wahrheit von Texten ab, sondern vom Wahrheits''anspruch'' des Kommunikators“ (<bib id='Eder 2008a'></bib>: S. 34f.; Herv. im Orig.). Die kommunikative Haltung der Kommunikator*in gegenüber dem Darstellungsinhalt, hier also dem Bildinhalt, wird mit Searles [[Bildhandeln|Sprechakttheorie]] als ‘Illokution’ bezeichnet (vgl. <bib id='Searle 1986a'></bib>: S. 213). Die ersten umfassenden Versuche, eine [[Bildakt-Theorie|Bildakttheorie]] nach Vorbild der Sprechakttheorie zu entwickeln, kamen von Søren Kjørup (<bib id='Kjörup 1974a'></bib>) und David Novitz (<bib id='Novitz 1977a'></bib>: S. 67-85; vgl. auch <bib id='Schirra & Sachs-Hombach 2006a'></bib>). Zur Markierung eines bestimmten Typs von Illokutionen scheint es aber wiederum keine genuin bildlichen Mittel zu geben. Für Scholz macht das Erfassen der illokutionären Funktion eines Bildes daher erst die achte Stufe seiner Verstehensebenen aus („modales Verstehen“, <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 187). Blanke geht in diesem Punkt sogar noch weiter und erklärt die Klassifikation von Typen illokutionärer Akte im Bildverstehen als eher marginal – keinesfalls aber als konstitutiv (vgl. <bib id='Blanke 2003a'></bib>: S. 167).<br />
:<br />
Dass man Fiktionalität nicht ''alleine'' an mutmaßliche Autor*innenintentionen binden kann scheint umgekehrt auch einleuchtend – dagegen sprechen nicht nur “subversive” Rezeptionspraktiken, sondern auch widersprüchliche Artefakte, deren fiktionaler Status sich im Laufe der Rezeption verändert hat. Eine Synthese zwischen Rezipient*innen-orientierten ''make-believe''-Ansätzen und Produzent*innen-orientierten Intentionalitätsansätzen – also letztlich zwischen Rezeptionsästhetik und Texthermeneutik – sieht J. Alexander Bareis (<bib id='Bareis 2014a'></bib>) darin, zwei Fragen prinzipiell zu trennen: die ''Unterscheidung'' zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« (was wohl nur vom Gebrauch eines Artefakts, also in letzter Konsequenz von der tatsächlichen Rezipient*innenschaft abhängt) sowie die ''Entscheidung'' zwischen beiden Verwendungs- und Interpretationsweisen (wofür dann doch Fiktionalitätssignale, wie Markierungen der Produzent*innenintentionen, zentrale Steuerungsfunktionen übernehmen). Bareis führt aus: <br />
:<br />
:''Wer sich für eine fiktionale Rezeption ''ent''scheidet folgt entweder der gängigen paratextuellen Markierung oder der momentanen Praxis, kann sich aber auch in solchen Fällen für eine fiktionale Rezeption eines Artefakts entscheiden, in denen dies der gegenwärtigen Praxis ''nicht'' entspricht'' (<bib id='Bareis 2014a'></bib>: S. 64; Herv. im Orig.).<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb04.jpg|thumb|Abbildung 4: Kategoriale Fiktionalität trotz gradueller Fiktivität: Obwohl die meisten realweltlichen Annahmen über “unser” New York ebenso auf Spider-Mans gleichnamige Heimatstadt zutreffen, verknüpfen die Autor*innen mit dem Film keinerlei Wahrheitsansprüche.]]<br />
Diese Auffassung ließe sich als ‘intentionalistisch-pragmatisch’ bezeichnen. Ihr zufolge kommt, zusammenfassend, den angenommenen (also hypothetisch erschlossenen) Intentionen einer Kommunikator*in zwar zentrale Signalfunktionen zu; der tatsächliche Status eines Artefakts – und die Entscheidung darüber, ob es zu einer Änderung realer Überzeugungen, oder lediglich zur Imagination möglicher Welten und Situationen verwendet wird – legt sich jedoch erst in der tatsächlichen Rezeption fest. Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« zumeist als eine ''kategoriale'' angesehen, in welcher eine Rezipient*in sich immer ''eher'' für die eine oder die andere Seite entscheiden wird (vgl. <bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231f.). Das Urteil »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« hingegen ist notwendig ''immer'' äußerst graduell: Bereits der Planet Erde, der in den allermeisten Darstellungen zumindest impliziert ist, ist schließlich nicht fiktiv (vgl. Abb. 4). <br />
:<br />
In jedem Fall aber scheint es sinnvoll, die beiden Begriffspaare »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« und »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« deutlich voneinander zu unterscheiden. Man wäre sonst gezwungen, fehlerhafte oder bewusst täuschende Darstellungen (deren Gegenstände fiktiv sind, obwohl ihre Repräsentation gemäß nicht-fiktionaler Signale wahrhaftig sein sollte) als ''fiktional'' aufzufassen. Eine Lüge aber würden wir üblicherweise schlicht als täuschend – und eben nicht als ''fiktional'' – bezeichnen.<br />
<br />
==Piktorialer Panfiktionalismus==<br />
Für Bildmedien existieren zudem einflussreiche Ausprägungen eines Panfiktionalismus (vgl. <bib id='Konrad 2014a'></bib>). Diesen zufolge müssten Bildmedien ''prinzipiell immer'' als „Fiktionen“ erachtet werden – und zwar bereits durch die Konstitution eines [[Bildinhalt|Bildinhalts]] voll mentaler, imaginärer oder eben: ''fiktiver'' Gegenstände. Eine solche Ansicht vertreten etwa Kendall L. Waltons (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Benita Herder (<bib id='Herder 2017a'></bib>). Bilder wären demnach „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351).<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Bareis 2014a'></bib> und die Beiträge in <bib id='Bareis & Nordrun 2015a'></bib>.</ref> Ein solcher Fiktions-Begriff wäre ein inhärenter des Mediums bzw. der Zeichenmodalität.<ref>Vgl. dazu auch kritisch <bib id='Wenninger 2014a'></bib>: S. 472-475.</ref> Nach den zuvor explizierten Zusammenhängen zwischen (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität erscheint dies allerdings für ''beide'' Begriffspaare wenig überzeugend.<ref>Vgl. dazu ausführlicher <bib id='Wilde 2018a'></bib>: S. 160-173 sowie <bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 71-74.</ref> Die (referenzbezogene) Unterscheidung »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« käme von vorneherein “zu spät”, um Bildmedien ''grundsätzlich'' zur Fiktion zu erklären, da für Vertreter*innen eines piktorialen Panfiktionalismus bereits der Bildinhalt – das, was wir “im” Bild sehen – der “fiktive” Gegenstand darstellt (und nicht erst das, worauf mit dieser Ebene weiter Bezug genommen werden kann). <br />
:<br />
Somit bliebe nur die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« zur Legitimierung eines entsprechenden Urteils. Diese Unterscheidung aber kommt zur Unterstellung einer ''prinzipiellen'' “Fiktion” von Bildmedien ebenfalls nicht in Frage, da sie an angenommene Kommunikations''absichten'' und Wahrheits''ansprüche'' einer Kommunikator*in gekoppelt ist. Von diesen aber ist die Ebene des Bildinhalts erneut weitgehend unabhängig (solange eine ikonische Kategorisierungsschwelle hinreichend überschritten wird, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 82-115). Wenn sich in Bildmedien die Annahme einer (fiktiven, nicht-fiktiven oder in dieser Hinsicht unbestimmbaren) Existenz des Dargestellten nur aus der konkreten Verwendung heraus erklären lässt (der hypothetischen Verwendungsabsicht einer Kommunikator*in und der tatsächlichen Verwendungspraxis von Rezipient*innenseite), so scheint dies deutlich gegen die These zu sprechen, dass die (Nicht-)Fiktionalität von Bildern medial oder modal determiniert wäre.<br />
:<br />
Auf einer grundlegenderen Ebene hat Jens Schröter (<bib id='Schröter 2016a'></bib>) prinzipielle Argumente dafür geboten, dass sich die Fiktionspotentiale unterschiedlicher Darstellungsmedien niemals als aus einem gegebenen ''a priori'' medialer Eigenschaften ableiten lassen. Fotografische Bilder der realen Person Sean Connery lassen sich ebenso dazu einsetzen, um die fiktive Figur James Bond darzustellen – und sie werden dies auch sehr häufig (vgl. auch <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Umgekehrt lassen sich Handzeichnungen ebenso in nicht-fiktionaler (etwa dokumentarischer) Absicht einsetzen, wie dies etwa in den Comic-Gattungen von ''graphic memoirs'', ''graphic journalism'', oder auch Sachcomics durchweg der Fall ist (vgl. <bib id='Schröer 2016a'></bib>). <br />
:<br />
:''Die tatsächlichen Operationen verschiedener Medien für dokumentarische oder fiktionale (oder gemischte) Praktiken lassen sich aber nicht generell aus den Eigenschaften von Medien deduzieren, sondern grundsätzlich nur historisch und/oder in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen'' (<bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 124).<br />
<br />
==Partikularisierung und Piktogrammatik==<br />
Der Zusammenhang zwischen Bildinhalt und Fiktion ist aber komplexer als es aussieht – insbesondere in medien- bzw. zeichenvergleichender Perspektive. Genauer betrachtet nutzt etwa Walton seinen „Fiktions“-Begriff, der gegenüber Bildmedien ''grundsätzlich'' geltend gemacht werden sollte, in uneinheitlicher Weise und wendet ihn ein zweites Mal auf die Relation des (angeblich bereits „fiktiven“) Bildinhalts zu einem weiteren dargestellten Referenzobjekt an („portraying fictitious things beyond itself“, <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 57). Daher scheint Walton, ebenso wie Herder, mit „fiktiven“ Darstellungen im Kern etwas spezifisch Anderes zu meinen. Gleiches dürfte für eine ähnliche Anwendung des „Fiktions“-Begriffs in Jörg R.J. Schirras Kontexttheorie des Bildes gelten, wo sich ebenfalls die Formulierung findet, wir könnten uns „Bilder als fiktive referentielle Kontexte“ vorstellen (<bib id='Schirra 2001a'></bib>: S. 90). Da hier erneut der Bildinhalt angesprochen wird, scheint mir dies mindestens in medienvergleichender Perspektive unintuitiv: Einem generellen Terminus der deutschen Sprache (wie ‘Katze’) würde man sicherlich nicht einen zunächst „fiktiven Inhalt“ zusprechen. In kommunikativer Hinsicht verweist ‘eine Katze’ lediglich auf das Lexikon (vgl. <bib id='Eco 2000a'></bib>: S. 280-336), nicht auf eine Situation, deren Darstellung fiktional oder nicht-fiktional sein könnte. Sprachliche Zeichen stellen vor ihrer kontextrelativen Verwendung zunächst lediglich generelle Terme dar, denen man deswegen auch keinen grundsätzlich “fiktiven Kern” zusprechen würde – da ein Ausdruck wie ‘Katze’ zunächst gar kein Individuum referenzialisiert (das nun erst fiktiv oder nicht fiktiv sein könnte). Demgegenüber scheinen Bilder – bereits auf Ebene des Bildinhalts – stets wesentlich konkreter und damit partikularisierter zu sein (was die zuvor angesprochenen panfiktionalistischen Annahmen nun zumindest naheliegender erscheinen lässt). <br />
:<br />
===Die semantische Paradoxie von Bildmedien===<br />
Hieran wird deutlich, dass das Problem der ''Partikularisierung'' des Bildinhalts in besonderer Weise mit dem Problem der Bildfiktion verbunden ist. Das Argument könnte etwa lauten: Weil wir auf Bildträgern meist nicht nur Zeichen, sondern komplexe und konkrete Situationen voll individuierter Einzelgegenstände zu sehen meinen, ''müsste'' der Bildinhalt zunächst immer als fiktiv eingeschätzt werden, ''wenn'' eine tatsächliche non-fiktionale Referenzfixierung notwendig gebrauchsabhängig bleibt. Betrachtet man fiktive Welten als ''mögliche'' (i.S.v. imaginierbare, vorstellbare) Welten (vgl. <bib id='Ryan 2014b'></bib>), so könnte man Bilder als „Ansichten möglicher Welten“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) und damit die Bildsemantik als eine „Mögliche-Welten-Semantik“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) auffassen, was das panfiktionalistische Urteil zu bekräftigen scheint. Dieses Problem wurde auch als „semantische Anomalie“ (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77) oder als „semantisches Paradox“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 25) von Bildmedien bezeichnet. Sachs-Hombach formuliert dieses so, dass <br />
:<br />
:''die Bildbedeutung (verglichen mit sprachlichen Äußerungen) ''zugleich bestimmter und unbestimmter'' ist. Sie ist bestimmter, insofern wir mit Bildern den Eindruck einer Szene (den wahrnehmungsvermittelten Inhalt) sehr unmittelbar hervorrufen können. Sie ist jedoch zugleich unbestimmter, insofern bei der Bildverwendung (1) die faktische Beschaffenheit einer realen Szene nicht verbürgt wird […] und (2) der kommunikative Gehalt oft vage bleibt'' (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77; Herv. L.W.).<br />
:<br />
Wenn sich die semantische Paradoxie aber erst dadurch ergibt, dass – oder besser: falls – Bilder partikulare Objekte zu zeigen scheinen (und zwar bereits auf Ebene des Bildinhalts), so verschiebt sich das Problem von Bild und Fiktion in eigentümlicher Weise. Tatsächlich würde man von nicht-gegenständlichen Bildern gewöhnlich etwa weder behaupten, dass sie fiktional oder dass sie nicht-fiktional wären, da sie eben keinen Gegenstand darstellen und folglich die Frage unsinnig wäre, ob der dargestellte Gegenstand bzw. die dargestellte Situation tatsächlich so existiert haben könnte. Umgekehrt darf dieser Zusammenhang für gegenständliche Bilder aber auch keineswegs als trivial gelten.<br />
: <br />
[[Datei:Fiktion_Abb05.jpg|thumb|Abbildung 5: Piktogrammatische Klassifikatoren für Gegenstandsklassen (indefinit bestimmbare Genusbilder), kein Blick in fiktive (oder nicht-fiktive) Diegesen.]] <br />
Zunächst ist es natürlich richtig, dass auch Allgemeinbilder fiktiver Gegenstandsklassen existieren (wie Bilder von Elfen auf Wikipedia), so dass man behaupten könne (wie Jens Schröter dies tut, <bib id='Schröter 2020a'></bib>), der Unterschied singuläre/generelle Bilder läge vollständig quer zur Differenz fiktionaler/non-fiktionaler Bilder. Dagegen muss aber eingewandt werden, dass ein Elfen-Bild in einem Comic-Panel durchaus die Existenz eines bestimmten Elfen in einem bestimmten diegetischen Kontext “behauptet” (vgl. <bib id='Wilde 2017a'></bib>). Im Rahmen einer solchen möglichen Welt bleiben fiktionale und nicht-fiktionale Elfen-Darstellungen also weiterhin auf konkrete, partikularisierte Elfen beschränkt. Elfen-Piktogramme an Toiletten-Türen hingegen würden weder die Existenz von Elfen behaupten noch fiktive Elfen vorstellig machen, sondern lediglich kommunizieren, dass jene Wesen (alles, was als „Elfen“ gelten mag) hier erwünscht und willkommen Einlass erhalten sollten. Insofern scheint mir die Frage nach der Partikularisierung des bildlich Dargestellten weiterhin ganz zentral dafür, ob sich die Frage nach Fiktionalität überhaupt stellt (vgl. ausführlicher <bib id='Wilde 2017a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245). Die piktogrammatische Spezifizierung einer Abbiege-Regelung für PKWs und Motorräder – nicht aber für Fahrräder – (Abb. 5) bildet keinerlei bestimmte Gegenstände ab und wird daher wohl auch nicht als Blicke in eine fiktive oder nicht-fiktive Diegese erachtet werden; sie macht lediglich die Bezugnahme auf Objektklassen zugänglich: Die Regelung, nur links abbiegen zu dürfen, gilt hier (lokale Deixis) für alle Verkehrsteilnehmer*innen, deren Fahrzeuge unter die zu erschließenden Klassifikatoren fallen. Ein piktogrammatischer Bildgebrauch scheint die Fiktionalitätsfrage also durchaus zu suspendieren.<br />
:<br />
===Drei bildtheoretische Positionen ===<br />
In der Bildtheorie sind drei unterschiedliche Positionen denkbar, mit dieser Differenz und einem möglichen Primat umzugehen. Walton und Sachs-Hombach scheinen mir am deutlichsten für die zwei konträrsten Einschätzungen zu argumentieren. Walton geht, wie angesprochen, davon aus, jedes Bild eines Bisons stelle primär einen partikularen (und daher in seinen Termini: einen „fiktiven“) Bison dar (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 125). Wenn ein Bild somit als Gattungsbild gebraucht wird, wäre dies ein ''reflexiver'', kontingenter Einsatz. Insbesondere für fotografische Bilder lässt sich dies mit einer gewissen Berechtigung vertreten.<ref>Currie spricht hierbei von „representation-by-origin“, vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>, S. 19–21.</ref> Aber ist diese Ebene der Semantik nicht allein unserem Vorwissen um das fotografische Dispositiv geschuldet, demzufolge irgendwann einmal ein konkretes Einzelding vor einer Kamera gestanden haben müsste? Für viele Autor*innen jedenfalls scheint vorausgesetzt, dass Bildmedien ''grundsätzlich'' nur Individuelles, bzw. nur in abgewandeltem Gebrauch Allgemeines zeigen könnten. Einer viel beachteten Aussage von Jurij M. Lotman zufolge zeige ein Film etwa ''immer'' Konkretes: <br />
:<br />
:''[D]as Wort der natürlichen Sprache kann einen Gegenstand, eine Gruppe von Gegenständen und eine Klasse von Gegenständen jeder beliebigen Abstraktion bezeichnen […]. Das ikonische Zeichen besitzt eine ursprüngliche Konkretheit, eine Abstraktion kann man nicht sehen'' (<bib id='Lotman 1977a'></bib>, S. 69). <br />
:<br />
Sachs-Hombach vertritt die gegenteilige Position (vgl. etwa <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 166 sowie ausführlich in <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>). Die Referenzialisierung von Einzeldingen mit Bildern muss demnach aus ''notwendigen'' Gründen nachgeordnet und kontingent sein: „Die Veranschaulichung konkreter Gegenstände erfolgt immer analog zu Kennzeichnungen, indem begriffliche Charakterisierungen derart kombiniert werden, dass sie sich in einem bestimmten Kontext zur Charakterisierung individueller Dinge eignen“ (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 182). Dies dürfte auf fiktive oder in dieser Hinsicht unbestimmbare Gegenstände in möglichen Welten ebenso zutreffen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass der Fiktionsbegriff bei Sachs-Hombach kaum eine zentrale Rolle einnimmt. Ferdinand Fellmanns kommt zu einem gleich lautendem Urteil: <br />
:<br />
:''Für das richtige Verständnis von Ähnlichkeit ''[des Bildes – L.W.]'' ist es demnach notwendig, daß sich diese nicht wie die Spur auf bestimmte Gegenstände oder Vorgänge beziehen muß, sondern daß sie Typen oder Klassen betrifft, die sprachlich durch Allgemeinbegriffe bezeichnet werden. Historisch scheint die Darstellung von Typen der detailgetreuen Reproduktion von Individuen voranzugehen, wie die Tierdarstellungen der Höhlenmalerei zeigen'' (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21). <br />
:<br />
Damit wären die allermeisten Bilder zunächst tatsächlich ''primär'' als „Allgemeinbilder“ oder als „Genusbilder“ zu bezeichnen, bevor sie anders (partikularisierend) eingesetzt werden. Dass wir uns zumindest bei vielen piktogrammatischen Darstellungssystemen ''nicht'' dazu angehalten fühlen, eine Partikularisierung zu unterstellen (die daraufhin fiktional oder nicht-fiktional sein müsste), räumt auch Walton ein. Entgegen seiner eigentlichen Vorannahme, Bilder seien „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351) gelten Piktogramme und Verkehrszeichen für ihn als nur „ornamental“; es handele sich um „nicht-funktionale Imaginationsrequisiten“ (''non-functional props'', <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 281). Neil McDonells durchaus typische These hierzu lautet: „The picture of a man on a restroom sign does not refer to any particular man but to all men” (<bib id='McDonell 1983a'></bib>, S. 85; vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 134-145). <br />
:<br />
Eine dritte Option bestünde darin, keiner dieser beiden Alternativen das Primat einzuräumen und den Unterschied nur ''case-by-case'' geltend zu machen. Wolfram Pichler und Ralph Ubl arbeiten hierfür mit der begrifflichen Opposition zwischen „indefinit“ vs. „definit bestimmbaren“ Bildern, die stets am konkreten Einzelfall getroffen werden muss (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51): <br />
:<br />
:''Die definite Bildbestimmung fängt […] schon da an, wo man bereit ist zu sagen: Das ist derselbe Mann mit Bart wie in jenem anderen Bild. Ob es den so identifizierten Mann mit Bart auch als einen wirklichen gibt, ist unter dieser Voraussetzung gleichgültig; bedeutsam ist allein die Möglichkeit oder Erwartung, dass das gegebene Bildobjekt ''re-identifiziert'' werden kann, sei es auch nur in einem anderen Bild'' (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51; Herv. im Orig.)<br />
:<br />
Packard formuliert diese Alternative mit Peirce als die Opposition, Bilder entweder als dicentisch-indexikalische Sinzeichen oder als rhematisch-ikonische Qualizeichen aufzufassen: <br />
:<br />
:''Diese reine Möglichkeit einer Qualität ist Voraussetzung der Behauptung, die die Qualität einem konkreten Gegenstand zuschreiben könnte und dann sagte, dieser sei so; aber diese Zuschreibung ist in dem Bild eben anders als die Darstellung einer ikonischen Qualität noch nicht durchgeführt. Es ist erst eine Interpretation, die gerade diese Durchführung und Ausführung sistiert. Ihr fehlt die Referenz auf ein Einzelding, von dem die gezeigte Qualität behauptet wird – auf den Raum, in dem die Szene des Stilllebens zu sehen gewesen sei, auf den Menschen, der die emotionale Erfahrung des Schreis gemacht, oder auf die biblische oder historische Figur mit ihrem Eigennamen, die den abgeschnittenen Kopf in einer Schale getragen habe'' (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 135).<br />
:<br />
===Medialität als Rahmung===<br />
Ein Foto werden wir zumeist prinzipiell als definit – also partikularisiert – interpretieren, auch wenn wir keine Kriterien dafür besitzen, seinen Referenten tatsächlich bestimmen zu können! Und in diesem Fall müssten wir uns auch entscheiden, ob es sich um ein ''reales'' (nicht-fiktionales) oder eben fiktionalisiert eingesetztes (oder manipuliertes) Foto handelt. Doch auch dies ist womöglich eher einer medialen Konvention geschuldet, denn Eingriffe, Manipulationen, Montagen und nicht zuletzt andere Verwendungszusammenhänge der Fotografie (etwa als Gattungsbilder in Lexika oder in fiktional gerahmten Kontexten wie dem Foto-Roman) hat es schon immer gegeben (vgl. <bib id='Fineman 2012a'></bib>). Schon bei der Fotografie handelt es sich daher lediglich um eine Rezeptionskonvention. Es gilt daher, den Zusammenhang zu bestimmten Bildverwendungstypen bzw. Bildmedien noch genauer in den Blick zu nehmen. <br />
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[[Datei:Fiktion_Abb06.jpg|thumb|Abbildung 6: Frank Flöthmann (<bib id='Flöthmann 2013a'></bib>) erzählt bekannte Grimm-Märchen (hier «Daumesdick») mit Infografiken und Piktogrammen nach, behauptet dabei aber stets die (fiktionale) Existenz seines partikularisierten Personals.]]<br />
Mit (bestimmten) Bildmedien sind hierbei nicht technisch-apparative Herstellungs- und Übertragungsweisen gemeint, sondern Bildtypen, die als konventionell-distinkte Einzelmedien (wie die Fotografie) auftreten und kulturell als solche etabliert sind. Beispielsweise lassen sich die Unterschiede zwischen Gebrauchsanweisungen, Comics oder Fotoromanen nicht alleine anhand technisch-apparativer oder semiotischer Kriterien festmachen. In der multimodalen Lingustik spricht man schlicht von Textsorten oder Genres: „Ist das Genre einmal erkannt, d.h. sind wir z.B. sicher, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt, wird das Verstehen insgesamt befördert. Es vollzieht sich dann im Rahmen der Textsortenkonventionen, auf die Rezipienten in Form von abstrahierten semiotischen Erfahrungen, d.h. gespeicherten Mustern zurückgreifen können“ (<bib id='Stöckl 2016a'></bib>: S. 102). Dies lässt sich mit Sachs-Hombachs und Schirras Überlegungen zum Bildstil als einem „illokutionärem Indikator“ verbinden (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 181), das bestimmte „Bild-Spiele“ (gegenüber anderen) als solche ausweist (vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>, S. 154-162). Wendet man dies auf den Zusammenhang zwischen piktogrammatischen vs. partikularisierenden Verwendungsweisen von Bildern an – und damit auch auf die Frage, ob ein Fiktionalitätsurteil getroffen werden muss – so zeigt es sich, dass keineswegs alle Bildverwendungspraktiken über alle konventionellen Medientypen gleich verteilt sind (vgl. erneut <bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 123). Um erneut Comics als Beispiele heranzuziehen: „Nun sind aber gerade die (vielen) narrativen Comics jene, die typischerweise Einzeldinge darstellen, und zwar im Sinne eines Minimums an Realismus als Gegenstände einer extensionalen Welt“ (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 180). Dies wiederum macht ein Fiktionalitätsurteil notwendig, was bei piktogrammatischen Bildverwendungsweisen nicht der Fall ist, die in kommunikativer Hinsicht lediglich Klassen hinreichend ähnlicher Gegenstände ins Spiel bringen sollen. <br />
:<br />
Mit diesen Konventionen spielt der Grafikdesigner Frank Flöthmann in seinen populären „Piktogramm-Comics“. Trotz der offenkundigen Hybridisierung beider Bildmedienbereiche ist eine Differenzlogik ''zwischen'' Comic und Piktogramm zum Verständnis der Geschichten vorausgesetzt. Denn obwohl die Bildästhetik an die Kennzeichnung von Gegenstandstypen erinnert, stellt der Autor hier doch “reguläre” fiktive Welten aus 16 Märchen der Gebrüder Grimm dar, in welchen die Protagonist*innen auch als ''existent'' behauptet werden – was bei Piktogrammen in gewöhnlicher Verwendung (Genusbilder oder indefinit bestimmbare Bilder) gerade nicht der Fall ist. Wenn wir also von (konventionell als distinkt verstandenen) Einzelmedien wie »dem Spielfilm« sprechen, dann umfasst dessen Medialität, zusammenfassend, nicht nur seine technisch-materiellen und institutionellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen (also beispielsweise auch sozialsystemische Institutionen oder eine arbeitsteilige Autor*innenschaft zwischen vielen Akteuren), sondern auch semiotische und fiktionsbezogene Erwartungen, die über Rahmungen und konventionalisierte Ästhetiken aufgerufen werden können.<br />
<br />
<br />
==Der fiktionale Gebrauch von Bildmedien==<br />
Während der »Fiktions«-Begriff in der Bildtheorie (im engeren Sinne) also in vielfacher Hinsicht merkwürdig untertheoretisiert ist, können doch zwei unterschiedliche Bereiche piktorialer Bezugnahmen auf fiktive Entitäten (Personen, Ereignisse, Welten) nicht ausgeblendet bleiben. Zum einen dürfte es ganz unbestritten sein, dass Bildmedien bereits etablierte fiktive Entitäten ebenso darstellen können wie real existierende Dinge. In kunstgeschichtlichen Beschäftigungen obliegt die Klärung dieser ''Referenz'' anhand bildlicher Kodes etwa der Ikonologie (vgl. <bib id='Panofsky 1939a'></bib>: S. 6). Wenn wir mit den relevanten Ikonografien vertraut sind, so wissen wir, dass ein bildlich dargestellter Mann mit einer Filzkappe immer Odysseus darstellt und können Odysseus-Repräsentationen auch in unbekannten Bildern identifizieren. Die komplexen Diskussionen um die fragliche Ontologie dieses Wesens (zwischen fiktivem Referenzobjekt und davon unterschiedenem ''Sujet'') müssen und können an dieser Stelle ausgeblendet bleiben, denn relevanter für den Zusammenhang von Bild und Fiktion scheint mir ein zweiter Bereich fiktionalen Bildgebrauchs. Hier wird nicht eine bereits bestehende fiktive Entität irgendwie durch bildliche Codes “anzitiert”, sondern genuin ''erzeugt''.<ref>Der Zusammenhang zwischen beidem ist noch einigermaßen unklar, vgl. erneut <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245.</ref> Es sollte nämlich nicht übersehen werden, dass weite Teile der Medienwissenschaft sich im “Tagesgeschäft” mit exakt solchen Bildmedien auseinandersetzen, die im “unmarkierten Standardfall” stets als fiktional gelten, wie Thon zutreffend argumentiert hat (vgl. <bib id='Thon 2014c'></bib>, S. 452-459): Realfilme, Animationsfilme, Fernsehserien, Comics oder Computerspiele. Die Befähigung dieser weiten Bereiche der Bildmedien zur ''Nicht-Fiktionalität'' muss – umgekehrt – zumeist mühevoll hergeleitet und gesondert begründet werden, mit verschieden hohem Aufwand bei unterschiedlichen Medientypen. Denn auch wenn nicht-fiktionale (dokumentarische oder essayistische) Realfilme in der Filmwissenschaft insgesamt ebenfalls weniger Aufmerksamkeit als fiktionale Spielfilme erhalten haben, scheint hier das fotografische Dispositiv doch zumindest eine unbestreitbar dokumentarische Qualität zu sichern.<ref>Allerdings fallen dadurch differenzierte Praktiken des ''re-entactments'' häufig erneut unter den Tisch, vgl. <bib id='Mundhenke 2017a'></bib>: S. 196-205; <bib id='Wilde 2019a'></bib>.</ref> Die Legitimation der Nicht-Fiktionalität von Animationsfilmen (z.B. «Waltz with Bashir», Ari Folman 2008), Comics (z.B. Art Spiegelmans «Maus: A Survivor’s Tale», 1991), oder Computerspielen (z.B. «JFK Reloaded», Traffic Games, 2004) muss hingegen immer wieder mühsam begründet und verteidigt werden (vgl. dazu <bib id='Thon 2019a'></bib>). Dass diese Bildmedien typischerweise fiktive Entitäten (Figuren, Ereignisfolgen, Welten) repräsentieren, stellt in jedem Fall keinen theoretischen Streitpunkt dar. Hier scheint mir eine merkwürdige Dissonanz gegenüber allgemeinen bildtheoretischen Prämissen zu liegen, die selten genauer in den Blick genommen worden ist. Abschließend soll daher noch einmal der Blick darauf gewendet werden, welche besonderen Funktionen und Leistungen Bildmedien in der Darstellung fiktiver Dinge, Ereignisse und Welten zufallen. <br />
<br />
===Die notwendige Unvollständigkeit fiktiver Entitäten ===<br />
Alles, was in fiktionalen Medien dargestellt wird, muss in sehr grundlegender Hinsicht als ''unvollständig'' erachtet werden. Lubomír Doležel arbeitete diesen Punkt in seiner Variante der ''possible world''-Theorie unter der Bezeichnung ‘ontologische Unvollständigkeit’ heraus: <br />
:<br />
:''Fictional worlds are brought into existence by means of fictional texts, and it would take a text of infinite lengths to construct a complete fictional world. Finite texts that humans are capable of producing, necessarily create incomplete worlds'' (<bib id='Doležel 1995a'></bib>: S. 201). <br />
:<br />
Die Bezeichnung der „ontologischen“ Unvollständigkeit geht auf Barry Smith zurück, der sich damit begrifflich gegenüber einer „epistemischen“ Unvollständigkeit absetzen wollte, welche bloß unser gerechtfertigtes Wissen betrifft (vgl. <bib id='Smith 1979a'></bib>). Wenn Eigenschaften und Merkmale des Dargestellten in Texten schlichtweg ''nicht'' definiert seien, so Smith, Doležel und viele andere, so “fehlen” uns nicht nur bestimmte Informationen (temporär), die wir etwa noch in Erfahrungen bringen könnten; sie ''existieren'' im Gegenteil ''nirgendwo'', und zwar, auf einer grundsätzlichen und daher ontologischen Ebene.<ref>Es existieren jedoch Gründe, dennoch an der Bezeichnung einer ''epistemischen'' Unvollständigkeit festzuhalten, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 208.</ref> Dennoch setzen wir im Rezeptionsprozess zumeist voraus, dass alle dargestellten Welten grundsätzlich konsistent und vollständig sind, sofern nicht explizite (phantastische) Gründe vorliegen, warum dem anders sein sollte. <br />
:<br />
Rezipient*innen können gemeinhin auf ihr Weltwissen zurückgreifen, um solche “Lücken” zu füllen. Marie-Laure Ryan führt dies auf das von David Lewis übernommene Konzept des ''principle of minimal departure'' zurück: <br />
:<br />
:''the imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world, and it will import knowledge from the real world to fill out incomplete descriptions […]. For instance, when a text refers to a location in the real world, all of the real geography is implicitly part of the storyworld, and when it refers to a historical individual, this individual enters the storyworld with all of his or her biographical data except for those features that the text explicitly overrules'' (<bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35; vgl. bereits <bib id='Ryan 1991a'></bib>: S. 51).<br />
:<br />
Die Literaturwissenschaft verwendet in der rezeptionsästhetischen Tradition Roman Ingardens den Begriff der »Unbestimmtheitsstelle« (vgl. <bib id='Ingarden 1972a'></bib>) oder Wolfgang Isers Konzept der »Leerstelle« (vgl. <bib id='Iser 1978a'></bib>: S. 194), um auf die Notwendigkeit der „Mitarbeit des Lesers“ (<bib id='Eco 1987a'></bib>: S. 1) in dieser inferenziellen Ergänzung von Unvollständigkeiten hinzuweisen. Die Filmwissenschaft operiert mit dem Terminus des ‘Suture’, die Comicforschung mit dem des ‘Closures’. In den Bildwissenschaften wurden diese Ansätze bisher erst mit großem Zögern aufgenommen, vermutlich aus des zuvor angeführten Theoriedefizits in der Fiktionsdebatte (vgl. <bib id='Lobsien 1980a'></bib>; <bib id='Kimmich 2003a'></bib>). <br />
:<br />
Unbestritten scheint, dass Bildmedien besondere Leistungen und Funktionen geltend machen können, um fiktionale Objekte zu konkretisieren. Filmfiguren etwa besitzen für gewöhnlich eine „sensory specificity that at the same time diminishes the range of individual imaginations by the recipients“ (<bib id='Eder et al. 2010a'></bib>: S. 18). Über das Aussehen fiktiver Dinge im Film scheinen wir so zumeist viel zu wissen und epistemisch begründen zu können, weil vor der Kamera Objekte standen, deren Aussehen weitgehend auf die diegetischen Entitäten übertragbar ist. Mit anderen Worten: Die [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|Wahrnehmungsnähe]] von Bildmedien kann sich dergestalt niederschlagen, dass jeder wahrnehmbare Aspekt des Bildinhalts auch in der Konkretisierung fiktiver Situationen relevant bleibt. Mit wieder anderen Worten: Die [[Prädikation|Prädikationsmöglichkeiten]], die Bilder zur Verfügung stellen, sind größtenteils auf die fiktive Diegese übertragbar. Externe Prädikationsmöglichkeiten der Darstellungsmittel lassen sich als interne Prädikate des Dargestellten verrechnen (vgl. <bib id='Reicher 2010a'></bib>: S. 117).<br />
<br />
===Darstellungskorrespondenz und doppelte Prädikation ===<br />
<br />
Die Wahrnehmungsnähe von Bildmedien lässt sich durch Gregory Curries Begriff der »Darstellungskorrespondenz« (''representational correspondence'') noch genauer fassen (vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>: S. 58-64): „ [F]or a given representational work, only certain features of the representation serve to represent features of the things represented“ (S. 59). Es sind also niemals ''alle'' Eigenschaften einer Darstellung hinsichtlich der fiktiven Situation relevant, wie Thon in Bezug auf die gleiche Textstelle von Currie weiter ausführt: „[I]t makes sense to distinguish more systematically between ''presentational'' and ''representational'' aspects of a given narrative representation in this context“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 60; Herv. im Orig.). Dass diese Differenz selbst im fotografischen Filmbild nie völlig überwunden werden kann lässt sich leicht vor Augen führen: Man denke etwa an Schwarzweißfilme oder Rückblenden in Sepia-Kolorierungen, die nur in speziellen Ausnahmefällen eine “monochrome Welt” repräsentieren (etwa im medienreflexiven Film «Pleasantville», USA 1998; vgl. dazu umfassender <bib id='Thon 2017a'></bib>; <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Etwas technischer ausgedrückt: Die Prädikationsmöglichkeiten, die ein Bild in einem Schwarzweißfilm anhand wahrnehmbarer Graustufen und monochromer Kontraste anbietet, treffen nur auf den Bildinhalt, nicht aber auf die fiktive Situation zu (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 171; <bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 85-91). <br />
:<br />
All dies bedeutet zusammenfassend, dass fiktional eingesetzte Bildmedien stets eine doppelte Prädikation aufweisen: Die Prädikationsmöglichkeiten, die der Bildinhalt zur Verfügung stellt (begründete Aussagen über das Aussehen der Bildobjekte), stehen in relativer Darstellungskorrespondenz zur Ebene der fiktiven Diegese, auf die sie sich häufig – aber eben nicht immer, und niemals notwendig – “mappen” lassen. Im interpretativen Verstehen müssen beide Ebenen voneinander differenziert werden, indem zwischen abbildungsrelevanter Form und “bloßem” medialem Kontext differenziert wird. Als nicht abbildungsrelevanter medialer Kontext wären aber nicht nur limitierende Faktoren der Materialität zu nennen (Schwarzweiß-Druckverfahren in der Darstellung farbiger Welten). Auch viele Aspekte des medialen Produktionszusammenhangs fließen häufig nicht in die Konkretisierung fiktionaler Gegenstände mit ein. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb07.jpg|thumb|Abbildung 7: Zwei mal die identische fiktive Figur: Magische Transformation oder bloßer Darstellungsunterschied? ]]<br />
Mit Kendall L. Walton gesprochen wäre es beispielsweise eine „silly question“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 174-183), danach zu fragen, warum die fiktive Figur Daario Naharis in der HBO-Serie «A Game of Thrones» plötzlich auf mysteriöse Weise ihr Aussehen verändert. In Staffel drei wurde die Figur vom Briten Ed Skrein, ab Staffel vier vom niederländischen Michiel Huisman verkörpert (vgl. Abb. 7), ohne dass dafür eine diegetische Erklärung angeboten wurde. Gültige fiktionale Rückschlüsse, dass Daario Naharis über magische Fähigkeiten verfügen und – wie die diegetisch etablierten ''faceless men'' – sein Aussehen beliebig transformieren könnte, wären ganz offensichtlich falsch (oder vorsichtiger: kommunikativ kaum anschlussfähig; zu fiktionalen Fakten vgl. <bib id='Bareis 2015a'></bib>). Der wahrnehmbare Unterschied, den die Prädikationsmöglichkeiten der Bilder zur Verfügung stellen, wird also nicht auf Seite des fiktional Dargestellten, sondern auf den medialen Ermöglichungshintergrund “verrechnet”. Dieser wird hier als institutioneller Produktionszusammenhang der TV-Serie kenntlich, mit dem die konventionalisierte semiotische Form des doppelten Darsteller*innenkörpers und dem Schauspieler*innen-Starsystem verbunden ist (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Eine fundamentale Differenz zwischen den im Bild sichtbaren Objekten und den dadurch repräsentierten, diegetischen Entitäten ist also unauflösbar. Über Wahrnehmungsnähe und Darstellungskorrespondenz kann die doppelte Prädikation aber so eng geführt werden, dass sie gänzlich transparent erscheint, insbesondere in fotografischen oder illusionistischen Bildmedien, wo wir nahezu ''in die Diegese'' zu blicken meinen.<br />
<br />
===Gemeinsamkeiten und Differenzen fiktionaler und nicht-fiktionaler Weltbezüge===<br />
Grundsätzlich ist eine doppelte Prädikation zwischen sichtbarem Bildinhalt und den dadurch repräsentierten Entitäten (vermittelt über eine skalierte Darstellungskorrespondenz) auch für nicht-fiktionale, dokumentarische Formate unumgänglich: In nicht-fotografischen Bildmedien ist dies unmittelbar evident: Die Wahrnehmbarkeit der tatsächlich vorgefallenen Situationen wird hier doch in erheblichem Maße von den Wahrnehmungsparametern der (etwa gezeichneten, gemalten oder computergenerierten) Bildlichkeit abweichen; auch ist davon auszugehen, dass nicht alle Bildelemente in Vorder- und Hintergrund, in Zentrum und Peripherie, die gleichen Wahrheitsansprüche erheben. Packard geht daher von einer „gradierte[n] Fiktionalität“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 139) gezeichneter Bilder aus, Thon mit gleicher Stoßrichtung von einer „referential multimodality“ (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271): <br />
:<br />
:''[T]here is no simple one-to-one relationship between the semiotic resources a given narrative work employs and the referential claims it makes […]. Accordingly, it seems helpful to expand previous conceptualizations of multimodality by distinguishing between ''semiotic multimodality'', on the one hand, and ''referential multimodality'', on the other'' (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271; Herv. um Orig.).<br />
:<br />
In nicht-fiktionalen Bildmedien fungiert ein geteiltes Wissen um die intersubjektive Wirklichkeit aber zumindest stets als Korrektiv, was sich mit Walton als „reality principle“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 44) ausbuchstabieren ließe. Auch in der Fiktionstheorie ist das bereits angesprochene ''principle of minimal departure'' zwar fest etabliert.<ref>„The imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world“, <bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35.</ref> Es besteht aber ein zentraler Unterschied in seinem Referenzbereich. Nach Ryan muss nämlich nicht zwangsläufig unsere (als ''real'' erachtete) Welt den Ausgangspunkt des inferenziellen “Lücken-Füllens” darstellen. Ebenso können andere mediale, selbst bereits fiktionale Repräsentationen als interpretative Ausgangspunkte genutzt werden, etwa was das Verstehen von “Zentauren” oder “Superhelden” betrifft. Eine solche Loslösung der Darstellung und des Dargestellten von Ansprüchen lebensweltlicher Realität hat auch bildtheoretisch interessante Konsequenzen. <br />
Gegenüber einer “naturalisierenden” Lesung, die in phantastischen, abstrahierten und überzeichneten Cartoon-Bildern beispielsweise stets die Repräsentation einer Welt vermutet, die der unserer zumindest in ihrer Wahrnehmbarkeit weitgehend entspricht, ist es auch möglich, Umgekehrtes zu vertreten: Die phantastischen Welten von Comic, Manga und Animation brechen dann nicht nur punktuell lokal mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten (etwa, wenn Figuren Superkräfte besitzen), sondern können auch auf globaler Ebene eine besondere „visuelle Ontologie“ aufweisen (vgl. <bib id='Lefèvre 2007a'></bib>), die der “unseren” aus keinerlei notwendigen Gründen entsprechen muss. «The LEGO Movie» (2014) bildet dafür ein beeindruckendes Denkmodell (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Wenn das durch Lego-Steine dargestellte Wasser, der Schaum, die Dampf- und die Staubwolken durchaus naturalisiert aufgefasst werden könnten (so dass sich mit dem gleichen Material auch nicht-fiktive Geschichten erzeugen ließen), so muss den sogenannten „Master Buildern“ die “Legohaftigkeit” ihrer Welt stets wahrnehmbar bleiben. Sie können sie manipulieren und rekombinieren: „We'll build a motorcycle out of the alleyway!“ (00:14:40). Die dargestellte Welt behält also ihre besondere Ontologie, so dass die Hauptfigur Emmet seinen drehenden Lego-Kopf als Radachse einsetzen kann – was sich in keinem nicht-fiktionalen Referenzrahmen mehr plausibilisieren ließe!<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb08.jpg|thumb|Abbildung 8: Die Darstellung einer physikalisch “gewöhnlichen” Welt mit den Mitteln (computeranimierter) Lego-Steine oder Darstellung einer Welt aus Lego-Materialität?]]<br />
Ein jedes solches Urteil muss am Einzelfall durch zahlreiche analytische Argumente untermauert werden: etwa, dass es den gezeichneten Protagonisten in Comic und Manga häufig durch leichte Manipulationen ihres Äußeren möglich scheint, sich so zu maskieren und zu verkleiden, dass dies selbst von nächsten Verwandten nicht mehr durchschaut werden kann (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). In solchen Fällen scheint es, als bestünde nicht nur die Darstellung aus einfachsten Konturlinien, “hinter” der eine reichere Wahrnehmungsfülle verborgen bleibt (die doppelte Prädikation würde damit durch eine blockierte Darstellungskorrespondenz auseinandergetrieben). Stattdessen scheint hier auch die dargestellte Welt selbst der Wahrnehmbarkeit abstrahierter Bildlichkeit zu entsprechen – was nur im Fiktionalen – dort aber prinzipiell jederzeit – möglich ist. <br />
:<br />
Die ambivalente Grenze der doppelten Prädikation öffnet zusammenfassend eine Zone der künstlerischen und imaginativen Aushandlung. Gefragt – und gezweifelt – werden muss an fiktionalen Bildern dann stets, welche der Prädikationsmöglichkeiten des sichtbaren Bildinhalts darstellungsrelevant und somit auf die intersubjektiv und diskursiv konstruierte Diegese übertragbar sind. Dies aber lässt sich nicht einfach ''sehen'', sondern nur auf Ebene der Traditionsbildung, der Diskursivierung und der Anschlusskommunikation, also auf Ebene performativer Transkriptionspraktiken, rekonstruieren (vgl. <bib id='Jäger 2002a'></bib>).<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
* <br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2019''<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Verantwortlich:'' <br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra|Schirra, Jörg R.J.]]<br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Fiktion&diff=27958Fiktion2019-11-28T06:39:04Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* (Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik */</p>
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Unterpunkt zu: [[Bildpragmatik]]<br />
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==Fiktion, (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität==<br />
Theorien der Fiktion haben sich lange Zeit allein auf literarische Werke bezogen und die bildenden Künste gar nicht oder allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen.<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Klauk & Köppe 2014a'></bib>; <bib id='Enderwitz & Rajewsky 2016b'></bib>; <bib id='Bunia 2020a'></bib>.</ref> Dies gilt auch umgekehrt: Der Begriff der »Fiktion« spielt in [[Bildwissenschaft_vs._Bildtheorie|bildtheoretischen]] Ansätzen eine zumeist eher untergeordnete, in jedem Fall aber höchst widersprüchliche Rolle. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Diskussion des [[Fotografie|fotografischen Bildes]], dem etwa von Roger Scruton eine generelle „fictional incompetence“ (<bib id='Scruton 2006a'></bib>: S. 25) unterstellt worden ist. Die Vorstellung einer fotochemisch erzeugten Spur, eines [[Symbol,_Index,_Ikon|indexikalisch]] garantierten „Es-war-so-gewesen“ (vgl. <bib id='Barthes 1981a'></bib>: S. 76), hält sich hartnäckig. Dabei versperrt eine Fixierung auf diesen Index nicht nur den Blick auf viele fiktionale Einsatzmöglichkeiten des fotografischen Bildes.<ref>„Es ist leicht vorstellbar, einerseits einen fotografisch aufgenommenen, mit realen Schauspielern gedrehten Film und andererseits einen komplett gezeichneten Film zu machen, die Einstellung für Einstellung die gleiche fiktionale Geschichte erzählen“, <bib id='Schröter 2020a'></bib>: in Vorb.)</ref> Auch viele dokumentarische Praktiken können so nicht adäquat erfasst werden: Im ''historical re-enactment'' etwa können auch ''nachgestellte'' Fotos unproblematisch nicht-fiktional eingesetzt werden (vgl. <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Von den technischen Eigenschaften eines Bildmediums auf dessen Einsatzmöglichkeiten für fiktionale oder nicht-fiktionale Zwecke zu schließen ist also grundsätzlich verkürzend, wie Jens Schröter (2016a) wohl am deutlichsten herausgearbeitet hat. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb01.jpg|thumb|Abbildung 1: Eine Abbildung eines “klassischen” fiktiven Gegenstands, des Einhorns, nach Konrad Genser: „Historiae animalium“, 1551.]]<br />
Aus all diesen Gründen sollte der Begriff der »Fiktion« bildtheoretisch höchst interessant sein. Eine umfassende Diskussion taucht überraschenderweise aber innerhalb von Oliver Scholz’ (<bib id='Scholz 2004a'></bib>[<sup>1</sup>1995]), Börries Blankes (<bib id='Blanke 2003a'></bib>), oder Klaus Sachs-Hombachs (<bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>) Modellen der Bildkommunikation gar nicht auf (vgl. aber etwa <bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197-208). Dies scheint durchaus typisch; weiter unten sollen die Gründe dafür systematischer herausgearbeitet werden.<ref>Für Überblicke über den Forschungsstand zu piktorialer „Fiktion“ vgl. <bib id='Podro 1983a'></bib>; <bib id='Ryan 2009a'></bib>; <bib id='Wenninger 2014a'></bib>.</ref> Der Ausdruck spielt in bildwissenschaftlichen Ansätzen eine überwiegend [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|wahrnehmungstheoretische]] Rolle im Umkreis der [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität|Ähnlichkeitsdebatten]]. Scholz spitzte diese in seinem sogenannten „Meisterargument“ (<bib id='Scholz 1999a'></bib>: S. 33) gegen die Ähnlichkeitsthese wie folgt zu: Einem “Gegenstand”, der gar nicht existiere (wie ein Einhorn, Abb. 1), könne auch nichts ähnlich sein. Demgegenüber wurden ''internalisierte Ähnlichkeitsbegriffe'' geltend gemacht: Wir kennen Pferde und wir kennen Hörner, also können wir uns Einhörner vorstellen – und diese auch “in” Bildmedien sehen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2005c'></bib>). Oder in den Worten von Dominic Lopes: „The acquisition of recognition abilities for fictive objects largely parallels the acquisition of recognition abilities for actual objects” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 206). Löst dies in gewisser Weise ein Wahrnehmungsproblem, so lässt es doch die gewichtigere Frage unbeantwortet, wann eine ganz und gar ''alltägliche'' bildliche Darstellung nun etwas mit Fiktion zu tun hat und was mit dieser Unterscheidung für eine Kommunikations- und Zeichentheorie des Bildes auf dem Spiel steht. <br />
:<br />
Wurde »Fiktionalität« zunächst lange als ein rein sprachliches bzw. literarisches und allenfalls philosophisches Problem behandelt, lässt sich der Begriff mittlerweile als ein transmediales Konzept erachten, das in verschiedenen [[Medialität|Einzelmedien]] (wie [[Film|Filmen]], [[Fernsehen|Fernsehserien]], [[Comic|Comics]] oder auch [[Cyberspace|Computerspielen]]) unterschiedlich realisiert werden kann. Wichtige transmediale Fiktionalitätstheorien stammen etwa von Gregory Currie (<bib id='Currie 1990a'></bib>), Kendall L. Walton (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Frank Zipfel (<bib id='Zipfel 2001a'></bib>). Wie aber Jan-Noël Thon (<bib id='Thon 2014c'></bib>) und Jens Schröter (<bib id='Schröter 2020a'></bib>) feststellen, entsteht in solchen einerseits häufig eine Kluft zwischen den medienspezifischen Einzelstudien und dem transmedial verstandenen Überbau der Fiktion; darüber hinaus suchen sich transmediale Fiktionstheorien zumeist in irgendeiner Weise von leitenden Paradigmen der ''Literaturwissenschaft'' abzuwenden, wodurch die medienwissenschaftlich relevanten Spezifika ''bestimmter'' anderer Einzelmedien oft unthematisiert bleiben. Auch aus diesen Gründen bleibt ein überzeugender integrativer Entwurf ''bildlicher'' Fiktionstheorien immer noch ein schmerzliches Desiderat.<br />
:<br />
Wie auch immer eine solche Fiktionstheorie des statischen Bildes aussehen könnte, sie müsste zwischen zwei unterschiedlichen begrifflichen Traditionen vermitteln. Der ersten Position zufolge kann der Unterschied zwischen ''Fiktion'' und ''Nicht-Fiktion'' anhand der (zumeist als geklärt vorausgesetzten) ''Ontologie'' der dargestellten Gegenstände, also [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|semantisch]] bzw. [[Bedeutung und Referenz|referenziell]], festgestellt werden. Einer zweiten Tradition zufolge handelt es sich um verschiedene ''Diskurstypen'' oder ''Verwendungsweisen'' von Zeichen, also um [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|pragmatische]] Faktoren. Letzterer Ansatz ist für die Theoriebildung zweifellos der wichtigere, da sich der semantische häufig auf ihn zurückführen lässt. Als ‘fiktiv’ ließen sich demzufolge alle Gegenstände verstehen, die in ''fiktionalen'' Texten dargestellt werden. Fiktionale Texte wiederum unterscheiden sich von nicht-fiktionalen dadurch, dass ihre Produzent*innen keinen ''Anspruch'' darauf erheben, dass die dargestellten Gegenstände wirklich existieren – was sich häufig nur aus der konkreten Verwendung, [[Rahmung, Rahmen|Rahmung]] oder Auszeichnung heraus erschließen lässt, nicht aus werkinternen Faktoren. Diese begriffliche Doppelperspektive führt zu einigen interessanten Paradoxien. Nach Stephan Packard generiert Fiktion so einerseits – positiv gewendet – stets ein ''Mehr'', „weil ein Text zum Beispiel eine weitere Welt schafft und referenziert als nur die eine, in der wir demnach leben“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Negativ gewendet leistet ein fiktionaler Text so andererseits aber auch ''weniger'', „weil er zum Beispiel Verpflichtungen und Konsequenzen nicht akzeptiert, die faktuale Texte mit sich bringen“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Disziplinübergreifend hat es sich bewährt, beide Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, da sie ganz verschiedene Probleme behandeln. Die Unterscheidung »fiktiv« vs. »nicht-fiktiv« bezieht sich demnach auf ''die Ebene des Dargestellten'', die Unterscheidung »fiktional« vs. »nicht-fiktional« auf ''die Ebene der Darstellung'': <br />
:<br />
:''In diesem Sinne lässt sich also z.B. von fiktionaler Rede, von einem fiktionalen Diskurs, von fiktionalen Texten, Filmen usw. Sprechen, während sich ‘fiktiv’ auf Gegenstände, auf fiktive Entitäten bezieht''“ (<bib id='Rajewsky & Enderwitz 2016a'></bib>: S. 1f.). <br />
:<br />
Der Terminus ‘nicht-fiktional’ stellt eine differenziertere Alternative zu ‘faktual’ dar, da mit Letzterem zumeist bereits ein Urteil impliziert ist, dass die als nicht-fiktional ''ausgegebene'' Darstellung auch tatsächlich zutreffend ist; in fehlinformierten oder täuschenden Berichten ist dies aber nicht der Fall, sie wären immer noch ''nicht-fiktional'' – aber eben nicht ''faktual''. Der etwas unspezifische Ausdruck ‘Fiktion’ hingegen kann mit Stephan Packard als Dachbegriff für ein jedes Phänomen verwendet werden, „das vorliegt, wenn Fiktionales in dieser Weise als Referenz auf Fiktives verstanden wird“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 125). Wir haben es also mit ''Fiktion'' zu tun, wenn Fiktionalität und Fiktivität zugleich vorliegen. Zunächst sollten beide Bereiche aber getrennt voneinander betrachtet werden, um sie jeweils auf ihre Schnittstellen – und Spannungen – zur Bildtheorie hin zu befragen.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik ==<br />
[[Datei:Fiktion_Abb02.jpg|thumb|Abbildung 2: Ein graduell fiktionalisierter Barack Obama interagiert dank digitalen Effekten mit der Welt von Sam Esmail’s «Mr. Robot». Auf wen wird mit diesem Bild Bezug genommen?]]<br />
Betrachtet man das Problem der Fiktivität genauer, so stellt man fest, dass es keinesfalls unstrittig ist, ob auf Fiktives überhaupt Bezug genommen – also [[Referenz,_Denotation,_Exemplifikation|referenzialisiert]] – werden kann. Auch lassen sich anhand des sogenannten „Napoleon-Problems“ (vgl. <bib id='Zipfel 2001a'></bib>: S. 90–103) sehr unterschiedliche Positionen beziehen, inwiefern die Darstellung einer ''graduell'' fiktionalisierten realen Person (in einem historischen Roman wie Lew Tolstois «Krieg und Frieden», 1869) als kategorial andere Operation angesehen werden muss als die wahrheitsgemäße Beschreibung einer Person gleichen Namens in einer Reportage.<ref>Vgl. die Diskussion aktueller Beispiele wie Abb. 2 in <bib id='Jung & Wilde 2020a'></bib>.</ref> In jedem Fall aber scheint das Problem der Fiktivität ''immer'' in irgendeiner Weise an das Problem der Referenzialität gebunden. Dorrit Cohn bezeichnete fiktionale Texte beispielsweise stets als „non-referential“ (<bib id='Cohn 1999a'></bib>: S. 9). Insbesondere in analytisch-philosophischen Ansätzen überwiegt die Ansicht, dass fiktive Gegenstände (ebenso wie fiktive Welten oder Figuren) schlicht ''gar nicht'' existieren (vgl. etwa <bib id='Künne 1983a'></bib> oder <bib id='Sainsbury 2010a'></bib>). Die Unterscheidung zwischen »Fiktivität« und »Nicht-Fiktivität« würde demnach zugleich mit der Klärung der Bezugnahme getroffen. Ein Bild von Napoleon hätte als Bezugsgegenstand eben die reale Person Napoleon; ein Bild eines fiktiven Gegenstands hingegen wäre in dieser Hinsicht “leer” und würde eine „Null-Denotation“ aufweisen (vgl. <bib id='Goodman 1969a'></bib>: S. 21; <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30-34). In den Worten von Lopes könnte man zusammenfassen: „A fictive picture is one whose subject does not exist” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197). Gleichzeitig gesteht Scholz fiktionalen Bildern aber selbstredend doch „wiedererkennbare Themen oder Sujets“ zu (<bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30), auf die in irgendeiner Weise dennoch ein Bezug hergestellt werden muss (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 164-213). <br />
:<br />
Diese Annahmen ließen sich zwar noch in erheblichem Maße verkomplizieren, wenn man die Rolle unterschiedlicher [[Stil|Darstellungsstile]] mit einbezieht (vgl. hierzu etwa <bib id='Ryan 2009a'></bib>); dessen aber ungeachtet, steht eine jede referenzielle Herangehensweise vor dem Problem, immer an bereits semantisch interpretierten [[Bildhandeln|Bildverwendungsweisen]] ansetzen zu müssen, in denen die pragmatisch erschlossene Referenzialität als geklärt gelten kann. Damit kommt »Fiktivität« (oder »Nicht-Fiktionalität«) zwangsläufig ein kontingenter Status zu, der nicht unbedingt Teil eines ersten Verstehens- und Interpretationsprozesses sein kann oder muss. Häufig ''kann'' dieser Status wohl auch gar nicht entschieden werden, wenn piktoriale Bezugnahmen vom jeweiligen Verwendungskontext des entsprechenden Artefakts abhängen. Im Verstehen einer dargestellten Situation macht es demgegenüber zunächst keinen Unterschied, ob sich später herausstellen sollte, dass diese ''auch'' zur Bezugnahme auf eine reale Situation verwendet werden kann oder soll. Was noch entscheidender ist: Um solche begleitenden Urteile überhaupt fällen zu können, muss ein Verstehen der dargestellten Situation in den meisten Fällen bereits vorausgesetzt werden können. Thon betont daher mit Bezug auf den Filmwissenschaftler Edward Branigan, was in der kognitiven Narratologie lange eine „standart position“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 67) darstelle: „[O]ur ability to ''understand'' a narrative […] is distinct from our ''beliefs'' as to its truth, appropriateness, plausibility, rightness, or realism“ (<bib id='Branigana 1992'></bib>: S. 192; Herv. im Orig.). Inwiefern etwa monoszenische Einzelbilder überhaupt ''narrativ'' sein können, bleibt zwar weiterhin umstritten, doch dürfte die vorige Feststellung auch für nicht-narrative piktoriale Darstellungen gelten (etwa rein topologische Darstellungen). <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb03.jpg|thumb|Abbildung 3: Um zu entscheiden, ob es sich um ''fiktive'' oder ''nicht-fiktive'' Kinder handelt, bräuchte es kontextrelativer Verankerungen: In welcher Situation und zu welcher Zeit werden sie als existent ausgegeben oder als nur ''möglich'' imaginiert?]]<br />
Auch eine einfache sprachliche Aussage wie ‘ein Mann mit einem Hut steht im Park’ könnte ''ebenso gut'' eine [[Kontext|Situation]] in der realen Welt repräsentieren wie es sich um die Eröffnung einer phantastischen Erzählung handeln kann; um die Referenzfixierung – und damit auch die Fiktivität dieser Aussage – überhaupt bestimmen zu können, bräuchte es [[Kontextbildung|kontextrelative Verankerungen]]: In welchem Park? Zu welcher Zeit? „Obwohl ein Satz wie ‘Hans ist müde’, für sich genommen, weder wahr noch falsch ist, hat er in einer bestimmten Situation einen bestimmten Wahrheitswert, weil in einer konkreten Situation das mit der Äußerung dieses Satzes Gesagte wahr ist“ (<bib id='Plunze 2002a'></bib>: S. 167; vgl. für Bilder ausführlicher <bib id='Schirra 2005a'></bib>: S. 48-53). Das Gleiche gilt wohl auch für piktoriale Darstellungen wie in Abbildung 3, deren Fiktionalitätsgrad für sich genommen nicht beantwortet werden kann. Um erneut mit Marie-Laure Ryan zu sprechen: <br />
:<br />
:''The same text could, at least in principle, be presented as a creation of the imagination or as a truthful account of facts, and we must be guided by extra-textual signs, such as generic labels (‘novels’, ‘short stories’) to assess its fictional status'' (<bib id='Ryan 2007a'></bib>: S. 32). <br />
:<br />
In vielen Fällen ist daher immer noch John R. Searle zuzustimmen: „[T]here is no textual property that will identify a stretch of dicourse as a work of fiction” (<bib id='Searle 1975a'></bib>: S. 327). In einigen sprachlichen Gattungen (wie lyrischer Dichtung) können solche lektüreleitenden Fiktionalitätssignale gänzlich fehlen (vgl. <bib id='Ryan 2009a'></bib>: S. 83). Ryan argumentiert zutreffend, dass dies in noch viel stärkerem Maße für Bildmedien gelte: „Eine große Zahl von Menschenhand gemachter Bilder gehört in dieses Niemandsland zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion“ (S. 82). Die besonders komplizierte Frage, ob es sich bei vielen Bildern wie Abb. 3 daher zunächst um weder fiktionale noch nicht-fiktionale, sondern um fiktional unmarkierte Artefakte handeln könnte (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 214-269), führt unmittelbar zu unserem zweiten Begriffspaar, nämlich »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität«.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktionalität als Frage der Pragmatik==<br />
Fiktionalität bezeichnet nach Werner Wolf „im Gegensatz zur Fiktivität nicht zunächst eine ontologische oder referentielle Qualität, sondern […] einen kognitiven Rahmen, der bestimmte Erwartungen und Einstellungen bei der Rezeption eines Artefakts vorprogrammiert“ (<bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231). Die kommunikative Absicht einer fiktionalen Rede (auf die etwa anhand meta-kommunikativer und [[Kontext|kontextueller Signale]] geschlossen werden kann) ist demnach nicht, den Adressaten von etwas zu überzeugen, sondern ihn zu einem ''Als-ob-Spiel'', einem Imaginations- bzw. Vorstellungsspiel, einzuladen, wie Gregory Currie herausgearbeitet hat: <br />
:<br />
:''[Der Autor] verläßt sich darauf, daß seine Leser sich bewußt sind, es mit einem fiktionalen Werk zu tun zu haben, und er nimmt an, daß sie Äußerungen in der Aussageform nicht als Behauptungen verstehen. Er gibt also nichts vor. Er lädt uns ein, etwas vorzugeben, oder vielmehr, so zu tun, als ob. Denn ein Werk als fiktional zu lesen heißt, ein internalisiertes So-tun-als-ob-Spiel zu spielen'' (<bib id='Currie 2007a'></bib>: S. 41).<br />
:<br />
Mit Jens Eder könnte man diese Position wie folgt auf den Punkt bringen: Die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« hängt „nicht vom Wahrheitsgehalt oder der Wahrheit von Texten ab, sondern vom Wahrheits''anspruch'' des Kommunikators“ (<bib id='Eder 2008a'></bib>: S. 34f.; Herv. im Orig.). Die kommunikative Haltung der Kommunikator*in gegenüber dem Darstellungsinhalt, hier also dem Bildinhalt, wird mit Searles [[Bildhandeln|Sprechakttheorie]] als ‘Illokution’ bezeichnet (vgl. <bib id='Searle 1986a'></bib>: S. 213). Die ersten umfassenden Versuche, eine [[Bildakt-Theorie|Bildakttheorie]] nach Vorbild der Sprechakttheorie zu entwickeln, kamen von Søren Kjørup (<bib id='Kjörup 1974a'></bib>) und David Novitz (<bib id='Novitz 1977a'></bib>: S. 67-85; vgl. auch <bib id='Schirra & Sachs-Hombach 2006a'></bib>). Zur Markierung eines bestimmten Typs von Illokutionen scheint es aber wiederum keine genuin bildlichen Mittel zu geben. Für Scholz macht das Erfassen der illokutionären Funktion eines Bildes daher erst die achte Stufe seiner Verstehensebenen aus („modales Verstehen“, <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 187). Blanke geht in diesem Punkt sogar noch weiter und erklärt die Klassifikation von Typen illokutionärer Akte im Bildverstehen als eher marginal – keinesfalls aber als konstitutiv (vgl. <bib id='Blanke 2003a'></bib>: S. 167).<br />
:<br />
Dass man Fiktionalität nicht ''alleine'' an mutmaßliche Autor*innenintentionen binden kann scheint umgekehrt auch einleuchtend – dagegen sprechen nicht nur “subversive” Rezeptionspraktiken, sondern auch widersprüchliche Artefakte, deren fiktionaler Status sich im Laufe der Rezeption verändert hat. Eine Synthese zwischen Rezipient*innen-orientierten ''make-believe''-Ansätzen und Produzent*innen-orientierten Intentionalitätsansätzen – also letztlich zwischen Rezeptionsästhetik und Texthermeneutik – sieht J. Alexander Bareis (<bib id='Bareis 2014a'></bib>) darin, zwei Fragen prinzipiell zu trennen: der ''Unterscheidung'' zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« (was wohl nur vom Gebrauch eines Artefakts, also in letzter Konsequenz von der tatsächlichen Rezipient*innenschaft abhängt) sowie der ''Entscheidung'' zwischen beiden Verwendungs- und Interpretationsweisen (wofür dann doch Fiktionalitätssignale, wie Markierungen der Produzent*innenintentionen, zentrale Steuerungsfunktionen übernehmen). Bareis führt aus: <br />
:<br />
:''Wer sich für eine fiktionale Rezeption ''ent''scheidet folgt entweder der gängigen paratextuellen Markierung oder der momentanen Praxis, kann sich aber auch in solchen Fällen für eine fiktionale Rezeption eines Artefakts entscheiden, in denen dies der gegenwärtigen Praxis ''nicht'' entspricht'' (<bib id='Bareis 2014a'></bib>: S. 64; Herv. im Orig.).<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb04.jpg|thumb|Abbildung 4: Kategoriale Fiktionalität trotz gradueller Fiktivität: Obwohl die meisten realweltlichen Annahmen über “unser” New York ebenso auf Spider-Mans gleichnamige Heimatstadt zutreffen, verknüpfen die Autor*innen mit dem Film keinerlei Wahrheitsansprüche.]]<br />
Diese Auffassung ließe sich als ‘intentionalistisch-pragmatisch’ bezeichnen. Ihr zufolge kommt, zusammenfassend, den angenommenen (also hypothetisch erschlossenen) Intentionen einer Kommunikator*in zwar zentrale Signalfunktionen zu; der tatsächliche Status eines Artefakts – und die Entscheidung darüber, ob es zu einer Änderung realer Überzeugungen, oder lediglich zur Imagination möglicher Welten und Situationen verwendet wird – legt sich jedoch erst in der tatsächlichen Rezeption fest. Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« zumeist als eine ''kategoriale'' angesehen, in welcher eine Rezipient*in sich immer ''eher'' für die eine oder die andere Seite entscheiden wird (vgl. <bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231f.). Das Urteil »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« hingegen ist notwendig ''immer'' äußerst graduell: Bereits der Planet Erde, der in den allermeisten Darstellungen zumindest impliziert ist, ist schließlich nicht fiktiv (vgl. Abb. 4). <br />
:<br />
In jedem Fall aber scheint es sinnvoll, die beiden Begriffspaare »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« und »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« deutlich voneinander zu unterscheiden. Man wäre sonst gezwungen, fehlerhafte oder bewusst täuschende Darstellungen (deren Gegenstände fiktiv sind, obwohl ihre Repräsentation gemäß nicht-fiktionaler Signale wahrhaftig sein sollte) als ''fiktional'' aufzufassen. Eine Lüge aber würden wir üblicherweise schlicht als täuschend – und eben nicht als ''fiktional'' – bezeichnen.<br />
<br />
==Piktorialer Panfiktionalismus==<br />
Für Bildmedien existieren zudem einflussreiche Ausprägungen eines Panfiktionalismus (vgl. <bib id='Konrad 2014a'></bib>). Diesen zufolge müssten Bildmedien ''prinzipiell immer'' als „Fiktionen“ erachtet werden – und zwar bereits durch die Konstitution eines [[Bildinhalt|Bildinhalts]] voll mentaler, imaginärer oder eben: ''fiktiver'' Gegenstände. Eine solche Ansicht vertreten etwa Kendall L. Waltons (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Benita Herder (<bib id='Herder 2017a'></bib>). Bilder wären demnach „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351).<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Bareis 2014a'></bib> und die Beiträge in <bib id='Bareis & Nordrun 2015a'></bib>.</ref> Ein solcher Fiktions-Begriff wäre ein inhärenter des Mediums bzw. der Zeichenmodalität.<ref>Vgl. dazu auch kritisch <bib id='Wenninger 2014a'></bib>: S. 472-475.</ref> Nach den zuvor explizierten Zusammenhängen zwischen (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität erscheint dies allerdings für ''beide'' Begriffspaare wenig überzeugend.<ref>Vgl. dazu ausführlicher <bib id='Wilde 2018a'></bib>: S. 160-173 sowie <bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 71-74.</ref> Die (referenzbezogene) Unterscheidung »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« käme von vorneherein “zu spät”, um Bildmedien ''grundsätzlich'' zur Fiktion zu erklären, da für Vertreter*innen eines piktorialen Panfiktionalismus bereits der Bildinhalt – das, was wir “im” Bild sehen – der “fiktive” Gegenstand darstellt (und nicht erst das, worauf mit dieser Ebene weiter Bezug genommen werden kann). <br />
:<br />
Somit bliebe nur die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« zur Legitimierung eines entsprechenden Urteils. Diese Unterscheidung aber kommt zur Unterstellung einer ''prinzipiellen'' “Fiktion” von Bildmedien ebenfalls nicht in Frage, da sie an angenommene Kommunikations''absichten'' und Wahrheits''ansprüche'' einer Kommunikator*in gekoppelt ist. Von diesen aber ist die Ebene des Bildinhalts erneut weitgehend unabhängig (solange eine ikonische Kategorisierungsschwelle hinreichend überschritten wird, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 82-115). Wenn sich in Bildmedien die Annahme einer (fiktiven, nicht-fiktiven oder in dieser Hinsicht unbestimmbaren) Existenz des Dargestellten nur aus der konkreten Verwendung heraus erklären lässt (der hypothetischen Verwendungsabsicht einer Kommunikator*in und der tatsächlichen Verwendungspraxis von Rezipient*innenseite), so scheint dies deutlich gegen die These zu sprechen, dass die (Nicht-)Fiktionalität von Bildern medial oder modal determiniert wäre.<br />
:<br />
Auf einer grundlegenderen Ebene hat Jens Schröter (<bib id='Schröter 2016a'></bib>) prinzipielle Argumente dafür geboten, dass sich die Fiktionspotentiale unterschiedlicher Darstellungsmedien niemals als aus einem gegebenen ''a priori'' medialer Eigenschaften ableiten lassen. Fotografische Bilder der realen Person Sean Connery lassen sich ebenso dazu einsetzen, um die fiktive Figur James Bond darzustellen – und sie werden dies auch sehr häufig (vgl. auch <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Umgekehrt lassen sich Handzeichnungen ebenso in nicht-fiktionaler (etwa dokumentarischer) Absicht einsetzen, wie dies etwa in den Comic-Gattungen von ''graphic memoirs'', ''graphic journalism'', oder auch Sachcomics durchweg der Fall ist (vgl. <bib id='Schröer 2016a'></bib>). <br />
:<br />
:''Die tatsächlichen Operationen verschiedener Medien für dokumentarische oder fiktionale (oder gemischte) Praktiken lassen sich aber nicht generell aus den Eigenschaften von Medien deduzieren, sondern grundsätzlich nur historisch und/oder in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen'' (<bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 124).<br />
<br />
==Partikularisierung und Piktogrammatik==<br />
Der Zusammenhang zwischen Bildinhalt und Fiktion ist aber komplexer als es aussieht – insbesondere in medien- bzw. zeichenvergleichender Perspektive. Genauer betrachtet nutzt etwa Walton seinen „Fiktions“-Begriff, der gegenüber Bildmedien ''grundsätzlich'' geltend gemacht werden sollte, in uneinheitlicher Weise und wendet ihn ein zweites Mal auf die Relation des (angeblich bereits „fiktiven“) Bildinhalts zu einem weiteren dargestellten Referenzobjekt an („portraying fictitious things beyond itself“, <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 57). Daher scheint Walton, ebenso wie Herder, mit „fiktiven“ Darstellungen im Kern etwas spezifisch Anderes zu meinen. Gleiches dürfte für eine ähnliche Anwendung des „Fiktions“-Begriffs in Jörg R.J. Schirras Kontexttheorie des Bildes gelten, wo sich ebenfalls die Formulierung findet, wir könnten uns „Bilder als fiktive referentielle Kontexte“ vorstellen (<bib id='Schirra 2001a'></bib>: S. 90). Da hier erneut der Bildinhalt angesprochen wird, scheint mir dies mindestens in medienvergleichender Perspektive unintuitiv: Einem generellen Terminus der deutschen Sprache (wie ‘Katze’) würde man sicherlich nicht einen zunächst „fiktiven Inhalt“ zusprechen. In kommunikativer Hinsicht verweist ‘eine Katze’ lediglich auf das Lexikon (vgl. <bib id='Eco 2000a'></bib>: S. 280-336), nicht auf eine Situation, deren Darstellung fiktional oder nicht-fiktional sein könnte. Sprachliche Zeichen stellen vor ihrer kontextrelativen Verwendung zunächst lediglich generelle Terme dar, denen man deswegen auch keinen grundsätzlich “fiktiven Kern” zusprechen würde – da ein Ausdruck wie ‘Katze’ zunächst gar kein Individuum referenzialisiert (das nun erst fiktiv oder nicht fiktiv sein könnte). Demgegenüber scheinen Bilder – bereits auf Ebene des Bildinhalts – stets wesentlich konkreter und damit partikularisierter zu sein (was die zuvor angesprochenen panfiktionalistischen Annahmen nun zumindest naheliegender erscheinen lässt). <br />
:<br />
===Die semantische Paradoxie von Bildmedien===<br />
Hieran wird deutlich, dass das Problem der ''Partikularisierung'' des Bildinhalts in besonderer Weise mit dem Problem der Bildfiktion verbunden ist. Das Argument könnte etwa lauten: Weil wir auf Bildträgern meist nicht nur Zeichen, sondern komplexe und konkrete Situationen voll individuierter Einzelgegenstände zu sehen meinen, ''müsste'' der Bildinhalt zunächst immer als fiktiv eingeschätzt werden, ''wenn'' eine tatsächliche non-fiktionale Referenzfixierung notwendig gebrauchsabhängig bleibt. Betrachtet man fiktive Welten als ''mögliche'' (i.S.v. imaginierbare, vorstellbare) Welten (vgl. <bib id='Ryan 2014b'></bib>), so könnte man Bilder als „Ansichten möglicher Welten“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) und damit die Bildsemantik als eine „Mögliche-Welten-Semantik“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) auffassen, was das panfiktionalistische Urteil zu bekräftigen scheint. Dieses Problem wurde auch als „semantische Anomalie“ (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77) oder als „semantisches Paradox“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 25) von Bildmedien bezeichnet. Sachs-Hombach formuliert dieses so, dass <br />
:<br />
:''die Bildbedeutung (verglichen mit sprachlichen Äußerungen) ''zugleich bestimmter und unbestimmter'' ist. Sie ist bestimmter, insofern wir mit Bildern den Eindruck einer Szene (den wahrnehmungsvermittelten Inhalt) sehr unmittelbar hervorrufen können. Sie ist jedoch zugleich unbestimmter, insofern bei der Bildverwendung (1) die faktische Beschaffenheit einer realen Szene nicht verbürgt wird […] und (2) der kommunikative Gehalt oft vage bleibt'' (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77; Herv. L.W.).<br />
:<br />
Wenn sich die semantische Paradoxie aber erst dadurch ergibt, dass – oder besser: falls – Bilder partikulare Objekte zu zeigen scheinen (und zwar bereits auf Ebene des Bildinhalts), so verschiebt sich das Problem von Bild und Fiktion in eigentümlicher Weise. Tatsächlich würde man von nicht-gegenständlichen Bildern gewöhnlich etwa weder behaupten, dass sie fiktional oder dass sie nicht-fiktional wären, da sie eben keinen Gegenstand darstellen und folglich die Frage unsinnig wäre, ob der dargestellte Gegenstand bzw. die dargestellte Situation tatsächlich so existiert haben könnte. Umgekehrt darf dieser Zusammenhang für gegenständliche Bilder aber auch keineswegs als trivial gelten.<br />
: <br />
[[Datei:Fiktion_Abb05.jpg|thumb|Abbildung 5: Piktogrammatische Klassifikatoren für Gegenstandsklassen (indefinit bestimmbare Genusbilder), kein Blick in fiktive (oder nicht-fiktive) Diegesen.]] <br />
Zunächst ist es natürlich richtig, dass auch Allgemeinbilder fiktiver Gegenstandsklassen existieren (wie Bilder von Elfen auf Wikipedia), so dass man behaupten könne (wie Jens Schröter dies tut, <bib id='Schröter 2020a'></bib>), der Unterschied singuläre/generelle Bilder läge vollständig quer zur Differenz fiktionaler/non-fiktionaler Bilder. Dagegen muss aber eingewandt werden, dass ein Elfen-Bild in einem Comic-Panel durchaus die Existenz eines bestimmten Elfen in einem bestimmten diegetischen Kontext “behauptet” (vgl. <bib id='Wilde 2017a'></bib>). Im Rahmen einer solchen möglichen Welt bleiben fiktionale und nicht-fiktionale Elfen-Darstellungen also weiterhin auf konkrete, partikularisierte Elfen beschränkt. Elfen-Piktogramme an Toiletten-Türen hingegen würden weder die Existenz von Elfen behaupten noch fiktive Elfen vorstellig machen, sondern lediglich kommunizieren, dass jene Wesen (alles, was als „Elfen“ gelten mag) hier erwünscht und willkommen Einlass erhalten sollten. Insofern scheint mir die Frage nach der Partikularisierung des bildlich Dargestellten weiterhin ganz zentral dafür, ob sich die Frage nach Fiktionalität überhaupt stellt (vgl. ausführlicher <bib id='Wilde 2017a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245). Die piktogrammatische Spezifizierung einer Abbiege-Regelung für PKWs und Motorräder – nicht aber für Fahrräder – (Abb. 5) bildet keinerlei bestimmte Gegenstände ab und wird daher wohl auch nicht als Blicke in eine fiktive oder nicht-fiktive Diegese erachtet werden; sie macht lediglich die Bezugnahme auf Objektklassen zugänglich: Die Regelung, nur links abbiegen zu dürfen, gilt hier (lokale Deixis) für alle Verkehrsteilnehmer*innen, deren Fahrzeuge unter die zu erschließenden Klassifikatoren fallen. Ein piktogrammatischer Bildgebrauch scheint die Fiktionalitätsfrage also durchaus zu suspendieren.<br />
:<br />
===Drei bildtheoretische Positionen ===<br />
In der Bildtheorie sind drei unterschiedliche Positionen denkbar, mit dieser Differenz und einem möglichen Primat umzugehen. Walton und Sachs-Hombach scheinen mir am deutlichsten für die zwei konträrsten Einschätzungen zu argumentieren. Walton geht, wie angesprochen, davon aus, jedes Bild eines Bisons stelle primär einen partikularen (und daher in seinen Termini: einen „fiktiven“) Bison dar (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 125). Wenn ein Bild somit als Gattungsbild gebraucht wird, wäre dies ein ''reflexiver'', kontingenter Einsatz. Insbesondere für fotografische Bilder lässt sich dies mit einer gewissen Berechtigung vertreten.<ref>Currie spricht hierbei von „representation-by-origin“, vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>, S. 19–21.</ref> Aber ist diese Ebene der Semantik nicht allein unserem Vorwissen um das fotografische Dispositiv geschuldet, demzufolge irgendwann einmal ein konkretes Einzelding vor einer Kamera gestanden haben müsste? Für viele Autor*innen jedenfalls scheint vorausgesetzt, dass Bildmedien ''grundsätzlich'' nur Individuelles, bzw. nur in abgewandeltem Gebrauch Allgemeines zeigen könnten. Einer viel beachteten Aussage von Jurij M. Lotman zufolge zeige ein Film etwa ''immer'' Konkretes: <br />
:<br />
:''[D]as Wort der natürlichen Sprache kann einen Gegenstand, eine Gruppe von Gegenständen und eine Klasse von Gegenständen jeder beliebigen Abstraktion bezeichnen […]. Das ikonische Zeichen besitzt eine ursprüngliche Konkretheit, eine Abstraktion kann man nicht sehen'' (<bib id='Lotman 1977a'></bib>, S. 69). <br />
:<br />
Sachs-Hombach vertritt die gegenteilige Position (vgl. etwa <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 166 sowie ausführlich in <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>). Die Referenzialisierung von Einzeldingen mit Bildern muss demnach aus ''notwendigen'' Gründen nachgeordnet und kontingent sein: „Die Veranschaulichung konkreter Gegenstände erfolgt immer analog zu Kennzeichnungen, indem begriffliche Charakterisierungen derart kombiniert werden, dass sie sich in einem bestimmten Kontext zur Charakterisierung individueller Dinge eignen“ (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 182). Dies dürfte auf fiktive oder in dieser Hinsicht unbestimmbare Gegenstände in möglichen Welten ebenso zutreffen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass der Fiktionsbegriff bei Sachs-Hombach kaum eine zentrale Rolle einnimmt. Ferdinand Fellmanns kommt zu einem gleich lautendem Urteil: <br />
:<br />
:''Für das richtige Verständnis von Ähnlichkeit ''[des Bildes – L.W.]'' ist es demnach notwendig, daß sich diese nicht wie die Spur auf bestimmte Gegenstände oder Vorgänge beziehen muß, sondern daß sie Typen oder Klassen betrifft, die sprachlich durch Allgemeinbegriffe bezeichnet werden. Historisch scheint die Darstellung von Typen der detailgetreuen Reproduktion von Individuen voranzugehen, wie die Tierdarstellungen der Höhlenmalerei zeigen'' (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21). <br />
:<br />
Damit wären die allermeisten Bilder zunächst tatsächlich ''primär'' als „Allgemeinbilder“ oder als „Genusbilder“ zu bezeichnen, bevor sie anders (partikularisierend) eingesetzt werden. Dass wir uns zumindest bei vielen piktogrammatischen Darstellungssystemen ''nicht'' dazu angehalten fühlen, eine Partikularisierung zu unterstellen (die daraufhin fiktional oder nicht-fiktional sein müsste), räumt auch Walton ein. Entgegen seiner eigentlichen Vorannahme, Bilder seien „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351) gelten Piktogramme und Verkehrszeichen für ihn als nur „ornamental“; es handele sich um „nicht-funktionale Imaginationsrequisiten“ (''non-functional props'', <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 281). Neil McDonells durchaus typische These hierzu lautet: „The picture of a man on a restroom sign does not refer to any particular man but to all men” (<bib id='McDonell 1983a'></bib>, S. 85; vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 134-145). <br />
:<br />
Eine dritte Option bestünde darin, keiner dieser beiden Alternativen das Primat einzuräumen und den Unterschied nur ''case-by-case'' geltend zu machen. Wolfram Pichler und Ralph Ubl arbeiten hierfür mit der begrifflichen Opposition zwischen „indefinit“ vs. „definit bestimmbaren“ Bildern, die stets am konkreten Einzelfall getroffen werden muss (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51): <br />
:<br />
:''Die definite Bildbestimmung fängt […] schon da an, wo man bereit ist zu sagen: Das ist derselbe Mann mit Bart wie in jenem anderen Bild. Ob es den so identifizierten Mann mit Bart auch als einen wirklichen gibt, ist unter dieser Voraussetzung gleichgültig; bedeutsam ist allein die Möglichkeit oder Erwartung, dass das gegebene Bildobjekt ''re-identifiziert'' werden kann, sei es auch nur in einem anderen Bild'' (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51; Herv. im Orig.)<br />
:<br />
Packard formuliert diese Alternative mit Peirce als die Opposition, Bilder entweder als dicentisch-indexikalische Sinzeichen oder als rhematisch-ikonische Qualizeichen aufzufassen: <br />
:<br />
:''Diese reine Möglichkeit einer Qualität ist Voraussetzung der Behauptung, die die Qualität einem konkreten Gegenstand zuschreiben könnte und dann sagte, dieser sei so; aber diese Zuschreibung ist in dem Bild eben anders als die Darstellung einer ikonischen Qualität noch nicht durchgeführt. Es ist erst eine Interpretation, die gerade diese Durchführung und Ausführung sistiert. Ihr fehlt die Referenz auf ein Einzelding, von dem die gezeigte Qualität behauptet wird – auf den Raum, in dem die Szene des Stilllebens zu sehen gewesen sei, auf den Menschen, der die emotionale Erfahrung des Schreis gemacht, oder auf die biblische oder historische Figur mit ihrem Eigennamen, die den abgeschnittenen Kopf in einer Schale getragen habe'' (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 135).<br />
:<br />
===Medialität als Rahmung===<br />
Ein Foto werden wir zumeist prinzipiell als definit – also partikularisiert – interpretieren, auch wenn wir keine Kriterien dafür besitzen, seinen Referenten tatsächlich bestimmen zu können! Und in diesem Fall müssten wir uns auch entscheiden, ob es sich um ein ''reales'' (nicht-fiktionales) oder eben fiktionalisiert eingesetztes (oder manipuliertes) Foto handelt. Doch auch dies ist womöglich eher einer medialen Konvention geschuldet, denn Eingriffe, Manipulationen, Montagen und nicht zuletzt andere Verwendungszusammenhänge der Fotografie (etwa als Gattungsbilder in Lexika oder in fiktional gerahmten Kontexten wie dem Foto-Roman) hat es schon immer gegeben (vgl. <bib id='Fineman 2012a'></bib>). Schon bei der Fotografie handelt es sich daher lediglich um eine Rezeptionskonvention. Es gilt daher, den Zusammenhang zu bestimmten Bildverwendungstypen bzw. Bildmedien noch genauer in den Blick zu nehmen. <br />
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[[Datei:Fiktion_Abb06.jpg|thumb|Abbildung 6: Frank Flöthmann (<bib id='Flöthmann 2013a'></bib>) erzählt bekannte Grimm-Märchen (hier «Daumesdick») mit Infografiken und Piktogrammen nach, behauptet dabei aber stets die (fiktionale) Existenz seines partikularisierten Personals.]]<br />
Mit (bestimmten) Bildmedien sind hierbei nicht technisch-apparative Herstellungs- und Übertragungsweisen gemeint, sondern Bildtypen, die als konventionell-distinkte Einzelmedien (wie die Fotografie) auftreten und kulturell als solche etabliert sind. Beispielsweise lassen sich die Unterschiede zwischen Gebrauchsanweisungen, Comics oder Fotoromanen nicht alleine anhand technisch-apparativer oder semiotischer Kriterien festmachen. In der multimodalen Lingustik spricht man schlicht von Textsorten oder Genres: „Ist das Genre einmal erkannt, d.h. sind wir z.B. sicher, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt, wird das Verstehen insgesamt befördert. Es vollzieht sich dann im Rahmen der Textsortenkonventionen, auf die Rezipienten in Form von abstrahierten semiotischen Erfahrungen, d.h. gespeicherten Mustern zurückgreifen können“ (<bib id='Stöckl 2016a'></bib>: S. 102). Dies lässt sich mit Sachs-Hombachs und Schirras Überlegungen zum Bildstil als einem „illokutionärem Indikator“ verbinden (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 181), das bestimmte „Bild-Spiele“ (gegenüber anderen) als solche ausweist (vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>, S. 154-162). Wendet man dies auf den Zusammenhang zwischen piktogrammatischen vs. partikularisierenden Verwendungsweisen von Bildern an – und damit auch auf die Frage, ob ein Fiktionalitätsurteil getroffen werden muss – so zeigt es sich, dass keineswegs alle Bildverwendungspraktiken über alle konventionellen Medientypen gleich verteilt sind (vgl. erneut <bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 123). Um erneut Comics als Beispiele heranzuziehen: „Nun sind aber gerade die (vielen) narrativen Comics jene, die typischerweise Einzeldinge darstellen, und zwar im Sinne eines Minimums an Realismus als Gegenstände einer extensionalen Welt“ (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 180). Dies wiederum macht ein Fiktionalitätsurteil notwendig, was bei piktogrammatischen Bildverwendungsweisen nicht der Fall ist, die in kommunikativer Hinsicht lediglich Klassen hinreichend ähnlicher Gegenstände ins Spiel bringen sollen. <br />
:<br />
Mit diesen Konventionen spielt der Grafikdesigner Frank Flöthmann in seinen populären „Piktogramm-Comics“. Trotz der offenkundigen Hybridisierung beider Bildmedienbereiche ist eine Differenzlogik ''zwischen'' Comic und Piktogramm zum Verständnis der Geschichten vorausgesetzt. Denn obwohl die Bildästhetik an die Kennzeichnung von Gegenstandstypen erinnert, stellt der Autor hier doch “reguläre” fiktive Welten aus 16 Märchen der Gebrüder Grimm dar, in welchen die Protagonist*innen auch als ''existent'' behauptet werden – was bei Piktogrammen in gewöhnlicher Verwendung (Genusbilder oder indefinit bestimmbare Bilder) gerade nicht der Fall ist. Wenn wir also von (konventionell als distinkt verstandenen) Einzelmedien wie »dem Spielfilm« sprechen, dann umfasst dessen Medialität, zusammenfassend, nicht nur seine technisch-materiellen und institutionellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen (also beispielsweise auch sozialsystemische Institutionen oder eine arbeitsteilige Autor*innenschaft zwischen vielen Akteuren), sondern auch semiotische und fiktionsbezogene Erwartungen, die über Rahmungen und konventionalisierte Ästhetiken aufgerufen werden können.<br />
<br />
<br />
==Der fiktionale Gebrauch von Bildmedien==<br />
Während der »Fiktions«-Begriff in der Bildtheorie (im engeren Sinne) also in vielfacher Hinsicht merkwürdig untertheoretisiert ist, können doch zwei unterschiedliche Bereiche piktorialer Bezugnahmen auf fiktive Entitäten (Personen, Ereignisse, Welten) nicht ausgeblendet bleiben. Zum einen dürfte es ganz unbestritten sein, dass Bildmedien bereits etablierte fiktive Entitäten ebenso darstellen können wie real existierende Dinge. In kunstgeschichtlichen Beschäftigungen obliegt die Klärung dieser ''Referenz'' anhand bildlicher Kodes etwa der Ikonologie (vgl. <bib id='Panofsky 1939a'></bib>: S. 6). Wenn wir mit den relevanten Ikonografien vertraut sind, so wissen wir, dass ein bildlich dargestellter Mann mit einer Filzkappe immer Odysseus darstellt und können Odysseus-Repräsentationen auch in unbekannten Bildern identifizieren. Die komplexen Diskussionen um die fragliche Ontologie dieses Wesens (zwischen fiktivem Referenzobjekt und davon unterschiedenem ''Sujet'') müssen und können an dieser Stelle ausgeblendet bleiben, denn relevanter für den Zusammenhang von Bild und Fiktion scheint mir ein zweiter Bereich fiktionalen Bildgebrauchs. Hier wird nicht eine bereits bestehende fiktive Entität irgendwie durch bildliche Codes “anzitiert”, sondern genuin ''erzeugt''.<ref>Der Zusammenhang zwischen beidem ist noch einigermaßen unklar, vgl. erneut <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245.</ref> Es sollte nämlich nicht übersehen werden, dass weite Teile der Medienwissenschaft sich im “Tagesgeschäft” mit exakt solchen Bildmedien auseinandersetzen, die im “unmarkierten Standardfall” stets als fiktional gelten, wie Thon zutreffend argumentiert hat (vgl. <bib id='Thon 2014c'></bib>, S. 452-459): Realfilme, Animationsfilme, Fernsehserien, Comics oder Computerspiele. Die Befähigung dieser weiten Bereiche der Bildmedien zur ''Nicht-Fiktionalität'' muss – umgekehrt – zumeist mühevoll hergeleitet und gesondert begründet werden, mit verschieden hohem Aufwand bei unterschiedlichen Medientypen. Denn auch wenn nicht-fiktionale (dokumentarische oder essayistische) Realfilme in der Filmwissenschaft insgesamt ebenfalls weniger Aufmerksamkeit als fiktionale Spielfilme erhalten haben, scheint hier das fotografische Dispositiv doch zumindest eine unbestreitbar dokumentarische Qualität zu sichern.<ref>Allerdings fallen dadurch differenzierte Praktiken des ''re-entactments'' häufig erneut unter den Tisch, vgl. <bib id='Mundhenke 2017a'></bib>: S. 196-205; <bib id='Wilde 2019a'></bib>.</ref> Die Legitimation der Nicht-Fiktionalität von Animationsfilmen (z.B. «Waltz with Bashir», Ari Folman 2008), Comics (z.B. Art Spiegelmans «Maus: A Survivor’s Tale», 1991), oder Computerspielen (z.B. «JFK Reloaded», Traffic Games, 2004) muss hingegen immer wieder mühsam begründet und verteidigt werden (vgl. dazu <bib id='Thon 2019a'></bib>). Dass diese Bildmedien typischerweise fiktive Entitäten (Figuren, Ereignisfolgen, Welten) repräsentieren, stellt in jedem Fall keinen theoretischen Streitpunkt dar. Hier scheint mir eine merkwürdige Dissonanz gegenüber allgemeinen bildtheoretischen Prämissen zu liegen, die selten genauer in den Blick genommen worden ist. Abschließend soll daher noch einmal der Blick darauf gewendet werden, welche besonderen Funktionen und Leistungen Bildmedien in der Darstellung fiktiver Dinge, Ereignisse und Welten zufallen. <br />
<br />
===Die notwendige Unvollständigkeit fiktiver Entitäten ===<br />
Alles, was in fiktionalen Medien dargestellt wird, muss in sehr grundlegender Hinsicht als ''unvollständig'' erachtet werden. Lubomír Doležel arbeitete diesen Punkt in seiner Variante der ''possible world''-Theorie unter der Bezeichnung ‘ontologische Unvollständigkeit’ heraus: <br />
:<br />
:''Fictional worlds are brought into existence by means of fictional texts, and it would take a text of infinite lengths to construct a complete fictional world. Finite texts that humans are capable of producing, necessarily create incomplete worlds'' (<bib id='Doležel 1995a'></bib>: S. 201). <br />
:<br />
Die Bezeichnung der „ontologischen“ Unvollständigkeit geht auf Barry Smith zurück, der sich damit begrifflich gegenüber einer „epistemischen“ Unvollständigkeit absetzen wollte, welche bloß unser gerechtfertigtes Wissen betrifft (vgl. <bib id='Smith 1979a'></bib>). Wenn Eigenschaften und Merkmale des Dargestellten in Texten schlichtweg ''nicht'' definiert seien, so Smith, Doležel und viele andere, so “fehlen” uns nicht nur bestimmte Informationen (temporär), die wir etwa noch in Erfahrungen bringen könnten; sie ''existieren'' im Gegenteil ''nirgendwo'', und zwar, auf einer grundsätzlichen und daher ontologischen Ebene.<ref>Es existieren jedoch Gründe, dennoch an der Bezeichnung einer ''epistemischen'' Unvollständigkeit festzuhalten, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 208.</ref> Dennoch setzen wir im Rezeptionsprozess zumeist voraus, dass alle dargestellten Welten grundsätzlich konsistent und vollständig sind, sofern nicht explizite (phantastische) Gründe vorliegen, warum dem anders sein sollte. <br />
:<br />
Rezipient*innen können gemeinhin auf ihr Weltwissen zurückgreifen, um solche “Lücken” zu füllen. Marie-Laure Ryan führt dies auf das von David Lewis übernommene Konzept des ''principle of minimal departure'' zurück: <br />
:<br />
:''the imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world, and it will import knowledge from the real world to fill out incomplete descriptions […]. For instance, when a text refers to a location in the real world, all of the real geography is implicitly part of the storyworld, and when it refers to a historical individual, this individual enters the storyworld with all of his or her biographical data except for those features that the text explicitly overrules'' (<bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35; vgl. bereits <bib id='Ryan 1991a'></bib>: S. 51).<br />
:<br />
Die Literaturwissenschaft verwendet in der rezeptionsästhetischen Tradition Roman Ingardens den Begriff der »Unbestimmtheitsstelle« (vgl. <bib id='Ingarden 1972a'></bib>) oder Wolfgang Isers Konzept der »Leerstelle« (vgl. <bib id='Iser 1978a'></bib>: S. 194), um auf die Notwendigkeit der „Mitarbeit des Lesers“ (<bib id='Eco 1987a'></bib>: S. 1) in dieser inferenziellen Ergänzung von Unvollständigkeiten hinzuweisen. Die Filmwissenschaft operiert mit dem Terminus des ‘Suture’, die Comicforschung mit dem des ‘Closures’. In den Bildwissenschaften wurden diese Ansätze bisher erst mit großem Zögern aufgenommen, vermutlich aus des zuvor angeführten Theoriedefizits in der Fiktionsdebatte (vgl. <bib id='Lobsien 1980a'></bib>; <bib id='Kimmich 2003a'></bib>). <br />
:<br />
Unbestritten scheint, dass Bildmedien besondere Leistungen und Funktionen geltend machen können, um fiktionale Objekte zu konkretisieren. Filmfiguren etwa besitzen für gewöhnlich eine „sensory specificity that at the same time diminishes the range of individual imaginations by the recipients“ (<bib id='Eder et al. 2010a'></bib>: S. 18). Über das Aussehen fiktiver Dinge im Film scheinen wir so zumeist viel zu wissen und epistemisch begründen zu können, weil vor der Kamera Objekte standen, deren Aussehen weitgehend auf die diegetischen Entitäten übertragbar ist. Mit anderen Worten: Die [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|Wahrnehmungsnähe]] von Bildmedien kann sich dergestalt niederschlagen, dass jeder wahrnehmbare Aspekt des Bildinhalts auch in der Konkretisierung fiktiver Situationen relevant bleibt. Mit wieder anderen Worten: Die [[Prädikation|Prädikationsmöglichkeiten]], die Bilder zur Verfügung stellen, sind größtenteils auf die fiktive Diegese übertragbar. Externe Prädikationsmöglichkeiten der Darstellungsmittel lassen sich als interne Prädikate des Dargestellten verrechnen (vgl. <bib id='Reicher 2010a'></bib>: S. 117).<br />
<br />
===Darstellungskorrespondenz und doppelte Prädikation ===<br />
<br />
Die Wahrnehmungsnähe von Bildmedien lässt sich durch Gregory Curries Begriff der »Darstellungskorrespondenz« (''representational correspondence'') noch genauer fassen (vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>: S. 58-64): „ [F]or a given representational work, only certain features of the representation serve to represent features of the things represented“ (S. 59). Es sind also niemals ''alle'' Eigenschaften einer Darstellung hinsichtlich der fiktiven Situation relevant, wie Thon in Bezug auf die gleiche Textstelle von Currie weiter ausführt: „[I]t makes sense to distinguish more systematically between ''presentational'' and ''representational'' aspects of a given narrative representation in this context“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 60; Herv. im Orig.). Dass diese Differenz selbst im fotografischen Filmbild nie völlig überwunden werden kann lässt sich leicht vor Augen führen: Man denke etwa an Schwarzweißfilme oder Rückblenden in Sepia-Kolorierungen, die nur in speziellen Ausnahmefällen eine “monochrome Welt” repräsentieren (etwa im medienreflexiven Film «Pleasantville», USA 1998; vgl. dazu umfassender <bib id='Thon 2017a'></bib>; <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Etwas technischer ausgedrückt: Die Prädikationsmöglichkeiten, die ein Bild in einem Schwarzweißfilm anhand wahrnehmbarer Graustufen und monochromer Kontraste anbietet, treffen nur auf den Bildinhalt, nicht aber auf die fiktive Situation zu (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 171; <bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 85-91). <br />
:<br />
All dies bedeutet zusammenfassend, dass fiktional eingesetzte Bildmedien stets eine doppelte Prädikation aufweisen: Die Prädikationsmöglichkeiten, die der Bildinhalt zur Verfügung stellt (begründete Aussagen über das Aussehen der Bildobjekte), stehen in relativer Darstellungskorrespondenz zur Ebene der fiktiven Diegese, auf die sie sich häufig – aber eben nicht immer, und niemals notwendig – “mappen” lassen. Im interpretativen Verstehen müssen beide Ebenen voneinander differenziert werden, indem zwischen abbildungsrelevanter Form und “bloßem” medialem Kontext differenziert wird. Als nicht abbildungsrelevanter medialer Kontext wären aber nicht nur limitierende Faktoren der Materialität zu nennen (Schwarzweiß-Druckverfahren in der Darstellung farbiger Welten). Auch viele Aspekte des medialen Produktionszusammenhangs fließen häufig nicht in die Konkretisierung fiktionaler Gegenstände mit ein. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb07.jpg|thumb|Abbildung 7: Zwei mal die identische fiktive Figur: Magische Transformation oder bloßer Darstellungsunterschied? ]]<br />
Mit Kendall L. Walton gesprochen wäre es beispielsweise eine „silly question“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 174-183), danach zu fragen, warum die fiktive Figur Daario Naharis in der HBO-Serie «A Game of Thrones» plötzlich auf mysteriöse Weise ihr Aussehen verändert. In Staffel drei wurde die Figur vom Briten Ed Skrein, ab Staffel vier vom niederländischen Michiel Huisman verkörpert (vgl. Abb. 7), ohne dass dafür eine diegetische Erklärung angeboten wurde. Gültige fiktionale Rückschlüsse, dass Daario Naharis über magische Fähigkeiten verfügen und – wie die diegetisch etablierten ''faceless men'' – sein Aussehen beliebig transformieren könnte, wären ganz offensichtlich falsch (oder vorsichtiger: kommunikativ kaum anschlussfähig; zu fiktionalen Fakten vgl. <bib id='Bareis 2015a'></bib>). Der wahrnehmbare Unterschied, den die Prädikationsmöglichkeiten der Bilder zur Verfügung stellen, wird also nicht auf Seite des fiktional Dargestellten, sondern auf den medialen Ermöglichungshintergrund “verrechnet”. Dieser wird hier als institutioneller Produktionszusammenhang der TV-Serie kenntlich, mit dem die konventionalisierte semiotische Form des doppelten Darsteller*innenkörpers und dem Schauspieler*innen-Starsystem verbunden ist (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Eine fundamentale Differenz zwischen den im Bild sichtbaren Objekten und den dadurch repräsentierten, diegetischen Entitäten ist also unauflösbar. Über Wahrnehmungsnähe und Darstellungskorrespondenz kann die doppelte Prädikation aber so eng geführt werden, dass sie gänzlich transparent erscheint, insbesondere in fotografischen oder illusionistischen Bildmedien, wo wir nahezu ''in die Diegese'' zu blicken meinen.<br />
<br />
===Gemeinsamkeiten und Differenzen fiktionaler und nicht-fiktionaler Weltbezüge===<br />
Grundsätzlich ist eine doppelte Prädikation zwischen sichtbarem Bildinhalt und den dadurch repräsentierten Entitäten (vermittelt über eine skalierte Darstellungskorrespondenz) auch für nicht-fiktionale, dokumentarische Formate unumgänglich: In nicht-fotografischen Bildmedien ist dies unmittelbar evident: Die Wahrnehmbarkeit der tatsächlich vorgefallenen Situationen wird hier doch in erheblichem Maße von den Wahrnehmungsparametern der (etwa gezeichneten, gemalten oder computergenerierten) Bildlichkeit abweichen; auch ist davon auszugehen, dass nicht alle Bildelemente in Vorder- und Hintergrund, in Zentrum und Peripherie, die gleichen Wahrheitsansprüche erheben. Packard geht daher von einer „gradierte[n] Fiktionalität“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 139) gezeichneter Bilder aus, Thon mit gleicher Stoßrichtung von einer „referential multimodality“ (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271): <br />
:<br />
:''[T]here is no simple one-to-one relationship between the semiotic resources a given narrative work employs and the referential claims it makes […]. Accordingly, it seems helpful to expand previous conceptualizations of multimodality by distinguishing between ''semiotic multimodality'', on the one hand, and ''referential multimodality'', on the other'' (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271; Herv. um Orig.).<br />
:<br />
In nicht-fiktionalen Bildmedien fungiert ein geteiltes Wissen um die intersubjektive Wirklichkeit aber zumindest stets als Korrektiv, was sich mit Walton als „reality principle“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 44) ausbuchstabieren ließe. Auch in der Fiktionstheorie ist das bereits angesprochene ''principle of minimal departure'' zwar fest etabliert.<ref>„The imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world“, <bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35.</ref> Es besteht aber ein zentraler Unterschied in seinem Referenzbereich. Nach Ryan muss nämlich nicht zwangsläufig unsere (als ''real'' erachtete) Welt den Ausgangspunkt des inferenziellen “Lücken-Füllens” darstellen. Ebenso können andere mediale, selbst bereits fiktionale Repräsentationen als interpretative Ausgangspunkte genutzt werden, etwa was das Verstehen von “Zentauren” oder “Superhelden” betrifft. Eine solche Loslösung der Darstellung und des Dargestellten von Ansprüchen lebensweltlicher Realität hat auch bildtheoretisch interessante Konsequenzen. <br />
Gegenüber einer “naturalisierenden” Lesung, die in phantastischen, abstrahierten und überzeichneten Cartoon-Bildern beispielsweise stets die Repräsentation einer Welt vermutet, die der unserer zumindest in ihrer Wahrnehmbarkeit weitgehend entspricht, ist es auch möglich, Umgekehrtes zu vertreten: Die phantastischen Welten von Comic, Manga und Animation brechen dann nicht nur punktuell lokal mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten (etwa, wenn Figuren Superkräfte besitzen), sondern können auch auf globaler Ebene eine besondere „visuelle Ontologie“ aufweisen (vgl. <bib id='Lefèvre 2007a'></bib>), die der “unseren” aus keinerlei notwendigen Gründen entsprechen muss. «The LEGO Movie» (2014) bildet dafür ein beeindruckendes Denkmodell (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Wenn das durch Lego-Steine dargestellte Wasser, der Schaum, die Dampf- und die Staubwolken durchaus naturalisiert aufgefasst werden könnten (so dass sich mit dem gleichen Material auch nicht-fiktive Geschichten erzeugen ließen), so muss den sogenannten „Master Buildern“ die “Legohaftigkeit” ihrer Welt stets wahrnehmbar bleiben. Sie können sie manipulieren und rekombinieren: „We'll build a motorcycle out of the alleyway!“ (00:14:40). Die dargestellte Welt behält also ihre besondere Ontologie, so dass die Hauptfigur Emmet seinen drehenden Lego-Kopf als Radachse einsetzen kann – was sich in keinem nicht-fiktionalen Referenzrahmen mehr plausibilisieren ließe!<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb08.jpg|thumb|Abbildung 8: Die Darstellung einer physikalisch “gewöhnlichen” Welt mit den Mitteln (computeranimierter) Lego-Steine oder Darstellung einer Welt aus Lego-Materialität?]]<br />
Ein jedes solches Urteil muss am Einzelfall durch zahlreiche analytische Argumente untermauert werden: etwa, dass es den gezeichneten Protagonisten in Comic und Manga häufig durch leichte Manipulationen ihres Äußeren möglich scheint, sich so zu maskieren und zu verkleiden, dass dies selbst von nächsten Verwandten nicht mehr durchschaut werden kann (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). In solchen Fällen scheint es, als bestünde nicht nur die Darstellung aus einfachsten Konturlinien, “hinter” der eine reichere Wahrnehmungsfülle verborgen bleibt (die doppelte Prädikation würde damit durch eine blockierte Darstellungskorrespondenz auseinandergetrieben). Stattdessen scheint hier auch die dargestellte Welt selbst der Wahrnehmbarkeit abstrahierter Bildlichkeit zu entsprechen – was nur im Fiktionalen – dort aber prinzipiell jederzeit – möglich ist. <br />
:<br />
Die ambivalente Grenze der doppelten Prädikation öffnet zusammenfassend eine Zone der künstlerischen und imaginativen Aushandlung. Gefragt – und gezweifelt – werden muss an fiktionalen Bildern dann stets, welche der Prädikationsmöglichkeiten des sichtbaren Bildinhalts darstellungsrelevant und somit auf die intersubjektiv und diskursiv konstruierte Diegese übertragbar sind. Dies aber lässt sich nicht einfach ''sehen'', sondern nur auf Ebene der Traditionsbildung, der Diskursivierung und der Anschlusskommunikation, also auf Ebene performativer Transkriptionspraktiken, rekonstruieren (vgl. <bib id='Jäger 2002a'></bib>).<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
* <br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2019''<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Verantwortlich:'' <br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra|Schirra, Jörg R.J.]]<br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Fiktion&diff=27957Fiktion2019-11-28T06:38:18Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* (Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik */</p>
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Unterpunkt zu: [[Bildpragmatik]]<br />
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==Fiktion, (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität==<br />
Theorien der Fiktion haben sich lange Zeit allein auf literarische Werke bezogen und die bildenden Künste gar nicht oder allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen.<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Klauk & Köppe 2014a'></bib>; <bib id='Enderwitz & Rajewsky 2016b'></bib>; <bib id='Bunia 2020a'></bib>.</ref> Dies gilt auch umgekehrt: Der Begriff der »Fiktion« spielt in [[Bildwissenschaft_vs._Bildtheorie|bildtheoretischen]] Ansätzen eine zumeist eher untergeordnete, in jedem Fall aber höchst widersprüchliche Rolle. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Diskussion des [[Fotografie|fotografischen Bildes]], dem etwa von Roger Scruton eine generelle „fictional incompetence“ (<bib id='Scruton 2006a'></bib>: S. 25) unterstellt worden ist. Die Vorstellung einer fotochemisch erzeugten Spur, eines [[Symbol,_Index,_Ikon|indexikalisch]] garantierten „Es-war-so-gewesen“ (vgl. <bib id='Barthes 1981a'></bib>: S. 76), hält sich hartnäckig. Dabei versperrt eine Fixierung auf diesen Index nicht nur den Blick auf viele fiktionale Einsatzmöglichkeiten des fotografischen Bildes.<ref>„Es ist leicht vorstellbar, einerseits einen fotografisch aufgenommenen, mit realen Schauspielern gedrehten Film und andererseits einen komplett gezeichneten Film zu machen, die Einstellung für Einstellung die gleiche fiktionale Geschichte erzählen“, <bib id='Schröter 2020a'></bib>: in Vorb.)</ref> Auch viele dokumentarische Praktiken können so nicht adäquat erfasst werden: Im ''historical re-enactment'' etwa können auch ''nachgestellte'' Fotos unproblematisch nicht-fiktional eingesetzt werden (vgl. <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Von den technischen Eigenschaften eines Bildmediums auf dessen Einsatzmöglichkeiten für fiktionale oder nicht-fiktionale Zwecke zu schließen ist also grundsätzlich verkürzend, wie Jens Schröter (2016a) wohl am deutlichsten herausgearbeitet hat. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb01.jpg|thumb|Abbildung 1: Eine Abbildung eines “klassischen” fiktiven Gegenstands, des Einhorns, nach Konrad Genser: „Historiae animalium“, 1551.]]<br />
Aus all diesen Gründen sollte der Begriff der »Fiktion« bildtheoretisch höchst interessant sein. Eine umfassende Diskussion taucht überraschenderweise aber innerhalb von Oliver Scholz’ (<bib id='Scholz 2004a'></bib>[<sup>1</sup>1995]), Börries Blankes (<bib id='Blanke 2003a'></bib>), oder Klaus Sachs-Hombachs (<bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>) Modellen der Bildkommunikation gar nicht auf (vgl. aber etwa <bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197-208). Dies scheint durchaus typisch; weiter unten sollen die Gründe dafür systematischer herausgearbeitet werden.<ref>Für Überblicke über den Forschungsstand zu piktorialer „Fiktion“ vgl. <bib id='Podro 1983a'></bib>; <bib id='Ryan 2009a'></bib>; <bib id='Wenninger 2014a'></bib>.</ref> Der Ausdruck spielt in bildwissenschaftlichen Ansätzen eine überwiegend [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|wahrnehmungstheoretische]] Rolle im Umkreis der [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität|Ähnlichkeitsdebatten]]. Scholz spitzte diese in seinem sogenannten „Meisterargument“ (<bib id='Scholz 1999a'></bib>: S. 33) gegen die Ähnlichkeitsthese wie folgt zu: Einem “Gegenstand”, der gar nicht existiere (wie ein Einhorn, Abb. 1), könne auch nichts ähnlich sein. Demgegenüber wurden ''internalisierte Ähnlichkeitsbegriffe'' geltend gemacht: Wir kennen Pferde und wir kennen Hörner, also können wir uns Einhörner vorstellen – und diese auch “in” Bildmedien sehen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2005c'></bib>). Oder in den Worten von Dominic Lopes: „The acquisition of recognition abilities for fictive objects largely parallels the acquisition of recognition abilities for actual objects” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 206). Löst dies in gewisser Weise ein Wahrnehmungsproblem, so lässt es doch die gewichtigere Frage unbeantwortet, wann eine ganz und gar ''alltägliche'' bildliche Darstellung nun etwas mit Fiktion zu tun hat und was mit dieser Unterscheidung für eine Kommunikations- und Zeichentheorie des Bildes auf dem Spiel steht. <br />
:<br />
Wurde »Fiktionalität« zunächst lange als ein rein sprachliches bzw. literarisches und allenfalls philosophisches Problem behandelt, lässt sich der Begriff mittlerweile als ein transmediales Konzept erachten, das in verschiedenen [[Medialität|Einzelmedien]] (wie [[Film|Filmen]], [[Fernsehen|Fernsehserien]], [[Comic|Comics]] oder auch [[Cyberspace|Computerspielen]]) unterschiedlich realisiert werden kann. Wichtige transmediale Fiktionalitätstheorien stammen etwa von Gregory Currie (<bib id='Currie 1990a'></bib>), Kendall L. Walton (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Frank Zipfel (<bib id='Zipfel 2001a'></bib>). Wie aber Jan-Noël Thon (<bib id='Thon 2014c'></bib>) und Jens Schröter (<bib id='Schröter 2020a'></bib>) feststellen, entsteht in solchen einerseits häufig eine Kluft zwischen den medienspezifischen Einzelstudien und dem transmedial verstandenen Überbau der Fiktion; darüber hinaus suchen sich transmediale Fiktionstheorien zumeist in irgendeiner Weise von leitenden Paradigmen der ''Literaturwissenschaft'' abzuwenden, wodurch die medienwissenschaftlich relevanten Spezifika ''bestimmter'' anderer Einzelmedien oft unthematisiert bleiben. Auch aus diesen Gründen bleibt ein überzeugender integrativer Entwurf ''bildlicher'' Fiktionstheorien immer noch ein schmerzliches Desiderat.<br />
:<br />
Wie auch immer eine solche Fiktionstheorie des statischen Bildes aussehen könnte, sie müsste zwischen zwei unterschiedlichen begrifflichen Traditionen vermitteln. Der ersten Position zufolge kann der Unterschied zwischen ''Fiktion'' und ''Nicht-Fiktion'' anhand der (zumeist als geklärt vorausgesetzten) ''Ontologie'' der dargestellten Gegenstände, also [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|semantisch]] bzw. [[Bedeutung und Referenz|referenziell]], festgestellt werden. Einer zweiten Tradition zufolge handelt es sich um verschiedene ''Diskurstypen'' oder ''Verwendungsweisen'' von Zeichen, also um [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|pragmatische]] Faktoren. Letzterer Ansatz ist für die Theoriebildung zweifellos der wichtigere, da sich der semantische häufig auf ihn zurückführen lässt. Als ‘fiktiv’ ließen sich demzufolge alle Gegenstände verstehen, die in ''fiktionalen'' Texten dargestellt werden. Fiktionale Texte wiederum unterscheiden sich von nicht-fiktionalen dadurch, dass ihre Produzent*innen keinen ''Anspruch'' darauf erheben, dass die dargestellten Gegenstände wirklich existieren – was sich häufig nur aus der konkreten Verwendung, [[Rahmung, Rahmen|Rahmung]] oder Auszeichnung heraus erschließen lässt, nicht aus werkinternen Faktoren. Diese begriffliche Doppelperspektive führt zu einigen interessanten Paradoxien. Nach Stephan Packard generiert Fiktion so einerseits – positiv gewendet – stets ein ''Mehr'', „weil ein Text zum Beispiel eine weitere Welt schafft und referenziert als nur die eine, in der wir demnach leben“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Negativ gewendet leistet ein fiktionaler Text so andererseits aber auch ''weniger'', „weil er zum Beispiel Verpflichtungen und Konsequenzen nicht akzeptiert, die faktuale Texte mit sich bringen“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Disziplinübergreifend hat es sich bewährt, beide Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, da sie ganz verschiedene Probleme behandeln. Die Unterscheidung »fiktiv« vs. »nicht-fiktiv« bezieht sich demnach auf ''die Ebene des Dargestellten'', die Unterscheidung »fiktional« vs. »nicht-fiktional« auf ''die Ebene der Darstellung'': <br />
:<br />
:''In diesem Sinne lässt sich also z.B. von fiktionaler Rede, von einem fiktionalen Diskurs, von fiktionalen Texten, Filmen usw. Sprechen, während sich ‘fiktiv’ auf Gegenstände, auf fiktive Entitäten bezieht''“ (<bib id='Rajewsky & Enderwitz 2016a'></bib>: S. 1f.). <br />
:<br />
Der Terminus ‘nicht-fiktional’ stellt eine differenziertere Alternative zu ‘faktual’ dar, da mit Letzterem zumeist bereits ein Urteil impliziert ist, dass die als nicht-fiktional ''ausgegebene'' Darstellung auch tatsächlich zutreffend ist; in fehlinformierten oder täuschenden Berichten ist dies aber nicht der Fall, sie wären immer noch ''nicht-fiktional'' – aber eben nicht ''faktual''. Der etwas unspezifische Ausdruck ‘Fiktion’ hingegen kann mit Stephan Packard als Dachbegriff für ein jedes Phänomen verwendet werden, „das vorliegt, wenn Fiktionales in dieser Weise als Referenz auf Fiktives verstanden wird“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 125). Wir haben es also mit ''Fiktion'' zu tun, wenn Fiktionalität und Fiktivität zugleich vorliegen. Zunächst sollten beide Bereiche aber getrennt voneinander betrachtet werden, um sie jeweils auf ihre Schnittstellen – und Spannungen – zur Bildtheorie hin zu befragen.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik ==<br />
[[Datei:Fiktion_Abb02.jpg|thumb|Abbildung 2: Ein graduell fiktionalisierter Barack Obama interagiert dank digitalen Effekten mit der Welt von Sam Esmail’s «Mr. Robot». Auf wen wird mit diesem Bild Bezug genommen?]]<br />
Betrachtet man das Problem der Fiktivität genauer, so stellt man fest, dass es keinesfalls unstrittig ist, ob auf Fiktives überhaupt Bezug genommen – also [[Referenz,_Denotation,_Exemplifikation|referenzialisiert]] – werden kann. Auch lassen sich anhand des sogenannten „Napoleon-Problems“ (vgl. <bib id='Zipfel 2001a'></bib>: S. 90–103) sehr unterschiedliche Positionen beziehen, inwiefern die Darstellung einer ''graduell'' fiktionalisierten realen Person (in einem historischen Roman wie Lew Tolstois «Krieg und Frieden», 1869) als kategorial andere Operation angesehen werden muss als die wahrheitsgemäße Beschreibung einer Person gleichen Namens in einer Reportage.<ref>Vgl. die Diskussion aktueller Beispiele wie Abb. 2 in <bib id='Jung & Wilde 2020a'></bib>.</ref> In jedem Fall aber scheint das Problem der Fiktivität ''immer'' in irgendeiner Weise an das Problem der Referenzialität gebunden. Dorrit Cohn bezeichnete fiktionale Texte beispielsweise stets als „non-referential“ (<bib id='Cohn 1999a'></bib>: S. 9). Insbesondere in analytisch-philosophischen Ansätzen überwiegt die Ansicht, dass fiktive Gegenstände (ebenso wie fiktive Welten oder Figuren) schlicht ''gar nicht'' existieren (vgl. etwa <bib id='Künne 1983a'></bib> oder <bib id='Sainsbury 2010a'></bib>). Die Unterscheidung zwischen »Fiktivität« und »Nicht-Fiktivität« würde demnach zugleich mit der Klärung der Bezugnahme getroffen. Ein Bild von Napoleon hätte als Bezugsgegenstand eben die reale Person Napoleon; ein Bild eines fiktiven Gegenstands hingegen wäre in dieser Hinsicht “leer” und würde eine „Null-Denotation“ aufweisen (vgl. <bib id='Goodman 1969a'></bib>: S. 21; <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30-34). In den Worten von Lopes könnte man zusammenfassen: „A fictive picture is one whose subject does not exist” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197). Gleichzeitig gesteht Scholz fiktionalen Bildern aber selbstredend doch „wiedererkennbare Themen oder Sujets“ zu (<bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30), auf die in irgendeiner Weise dennoch ein Bezug hergestellt werden muss (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 164-213). <br />
:<br />
Diese Annahmen ließen sich zwar noch in erheblichem Maße verkomplizieren, wenn man die Rolle unterschiedlicher [[Stil|Darstellungsstile]] mit einbezieht (vgl. hierzu etwa <bib id='Ryan 2009a'></bib>); dessen aber ungeachtet, steht eine jede referenzielle Herangehensweise vor dem Problem, immer an bereits semantisch interpretierten [[Bildhandeln|Bildverwendungsweisen]] ansetzen zu müssen, in denen die pragmatische erschlossene Referenzialität als geklärt gelten kann. Damit kommt »Fiktivität« (oder »Nicht-Fiktionalität«) zwangsläufig ein kontingenter Status zu, der nicht unbedingt Teil eines ersten Verstehens- und Interpretationsprozesses sein kann oder muss. Häufig ''kann'' dieser Status wohl auch gar nicht entschieden werden, wenn piktoriale Bezugnahmen vom jeweiligen Verwendungskontext des entsprechenden Artefakts abhängen. Im Verstehen einer dargestellten Situation macht es demgegenüber zunächst keinen Unterschied, ob sich später herausstellen sollte, dass diese ''auch'' zur Bezugnahme auf eine reale Situation verwendet werden kann oder soll. Was noch entscheidender ist: Um solche begleitenden Urteile überhaupt fällen zu können, muss ein Verstehen der dargestellten Situation in den meisten Fällen bereits vorausgesetzt werden können. Thon betont daher mit Bezug auf den Filmwissenschaftler Edward Branigan, was in der kognitiven Narratologie lange eine „standart position“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 67) darstelle: „[O]ur ability to ''understand'' a narrative […] is distinct from our ''beliefs'' as to its truth, appropriateness, plausibility, rightness, or realism“ (<bib id='Branigana 1992'></bib>: S. 192; Herv. im Orig.). Inwiefern etwa monoszenische Einzelbilder überhaupt ''narrativ'' sein können, bleibt zwar weiterhin umstritten, doch dürfte die vorige Feststellung auch für nicht-narrative piktoriale Darstellungen gelten (etwa rein topologische Darstellungen). <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb03.jpg|thumb|Abbildung 3: Um zu entscheiden, ob es sich um ''fiktive'' oder ''nicht-fiktive'' Kinder handelt, bräuchte es kontextrelativer Verankerungen: In welcher Situation und zu welcher Zeit werden sie als existent ausgegeben oder als nur ''möglich'' imaginiert?]]<br />
Auch eine einfache sprachliche Aussage wie ‘ein Mann mit einem Hut steht im Park’ könnte ''ebenso gut'' eine [[Kontext|Situation]] in der realen Welt repräsentieren wie es sich um die Eröffnung einer phantastischen Erzählung handeln kann; um die Referenzfixierung – und damit auch die Fiktivität dieser Aussage – überhaupt bestimmen zu können, bräuchte es [[Kontextbildung|kontextrelative Verankerungen]]: In welchem Park? Zu welcher Zeit? „Obwohl ein Satz wie ‘Hans ist müde’, für sich genommen, weder wahr noch falsch ist, hat er in einer bestimmten Situation einen bestimmten Wahrheitswert, weil in einer konkreten Situation das mit der Äußerung dieses Satzes Gesagte wahr ist“ (<bib id='Plunze 2002a'></bib>: S. 167; vgl. für Bilder ausführlicher <bib id='Schirra 2005a'></bib>: S. 48-53). Das Gleiche gilt wohl auch für piktoriale Darstellungen wie in Abbildung 3, deren Fiktionalitätsgrad für sich genommen nicht beantwortet werden kann. Um erneut mit Marie-Laure Ryan zu sprechen: <br />
:<br />
:''The same text could, at least in principle, be presented as a creation of the imagination or as a truthful account of facts, and we must be guided by extra-textual signs, such as generic labels (‘novels’, ‘short stories’) to assess its fictional status'' (<bib id='Ryan 2007a'></bib>: S. 32). <br />
:<br />
In vielen Fällen ist daher immer noch John R. Searle zuzustimmen: „[T]here is no textual property that will identify a stretch of dicourse as a work of fiction” (<bib id='Searle 1975a'></bib>: S. 327). In einigen sprachlichen Gattungen (wie lyrischer Dichtung) können solche lektüreleitenden Fiktionalitätssignale gänzlich fehlen (vgl. <bib id='Ryan 2009a'></bib>: S. 83). Ryan argumentiert zutreffend, dass dies in noch viel stärkerem Maße für Bildmedien gelte: „Eine große Zahl von Menschenhand gemachter Bilder gehört in dieses Niemandsland zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion“ (S. 82). Die besonders komplizierte Frage, ob es sich bei vielen Bildern wie Abb. 3 daher zunächst um weder fiktionale noch nicht-fiktionale, sondern um fiktional unmarkierte Artefakte handeln könnte (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 214-269), führt unmittelbar zu unserem zweiten Begriffspaar, nämlich »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität«.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktionalität als Frage der Pragmatik==<br />
Fiktionalität bezeichnet nach Werner Wolf „im Gegensatz zur Fiktivität nicht zunächst eine ontologische oder referentielle Qualität, sondern […] einen kognitiven Rahmen, der bestimmte Erwartungen und Einstellungen bei der Rezeption eines Artefakts vorprogrammiert“ (<bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231). Die kommunikative Absicht einer fiktionalen Rede (auf die etwa anhand meta-kommunikativer und [[Kontext|kontextueller Signale]] geschlossen werden kann) ist demnach nicht, den Adressaten von etwas zu überzeugen, sondern ihn zu einem ''Als-ob-Spiel'', einem Imaginations- bzw. Vorstellungsspiel, einzuladen, wie Gregory Currie herausgearbeitet hat: <br />
:<br />
:''[Der Autor] verläßt sich darauf, daß seine Leser sich bewußt sind, es mit einem fiktionalen Werk zu tun zu haben, und er nimmt an, daß sie Äußerungen in der Aussageform nicht als Behauptungen verstehen. Er gibt also nichts vor. Er lädt uns ein, etwas vorzugeben, oder vielmehr, so zu tun, als ob. Denn ein Werk als fiktional zu lesen heißt, ein internalisiertes So-tun-als-ob-Spiel zu spielen'' (<bib id='Currie 2007a'></bib>: S. 41).<br />
:<br />
Mit Jens Eder könnte man diese Position wie folgt auf den Punkt bringen: Die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« hängt „nicht vom Wahrheitsgehalt oder der Wahrheit von Texten ab, sondern vom Wahrheits''anspruch'' des Kommunikators“ (<bib id='Eder 2008a'></bib>: S. 34f.; Herv. im Orig.). Die kommunikative Haltung der Kommunikator*in gegenüber dem Darstellungsinhalt, hier also dem Bildinhalt, wird mit Searles [[Bildhandeln|Sprechakttheorie]] als ‘Illokution’ bezeichnet (vgl. <bib id='Searle 1986a'></bib>: S. 213). Die ersten umfassenden Versuche, eine [[Bildakt-Theorie|Bildakttheorie]] nach Vorbild der Sprechakttheorie zu entwickeln, kamen von Søren Kjørup (<bib id='Kjörup 1974a'></bib>) und David Novitz (<bib id='Novitz 1977a'></bib>: S. 67-85; vgl. auch <bib id='Schirra & Sachs-Hombach 2006a'></bib>). Zur Markierung eines bestimmten Typs von Illokutionen scheint es aber wiederum keine genuin bildlichen Mittel zu geben. Für Scholz macht das Erfassen der illokutionären Funktion eines Bildes daher erst die achte Stufe seiner Verstehensebenen aus („modales Verstehen“, <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 187). Blanke geht in diesem Punkt sogar noch weiter und erklärt die Klassifikation von Typen illokutionärer Akte im Bildverstehen als eher marginal – keinesfalls aber als konstitutiv (vgl. <bib id='Blanke 2003a'></bib>: S. 167).<br />
:<br />
Dass man Fiktionalität nicht ''alleine'' an mutmaßliche Autor*innenintentionen binden kann scheint umgekehrt auch einleuchtend – dagegen sprechen nicht nur “subversive” Rezeptionspraktiken, sondern auch widersprüchliche Artefakte, deren fiktionaler Status sich im Laufe der Rezeption verändert hat. Eine Synthese zwischen Rezipient*innen-orientierten ''make-believe''-Ansätzen und Produzent*innen-orientierten Intentionalitätsansätzen – also letztlich zwischen Rezeptionsästhetik und Texthermeneutik – sieht J. Alexander Bareis (<bib id='Bareis 2014a'></bib>) darin, zwei Fragen prinzipiell zu trennen: der ''Unterscheidung'' zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« (was wohl nur vom Gebrauch eines Artefakts, also in letzter Konsequenz von der tatsächlichen Rezipient*innenschaft abhängt) sowie der ''Entscheidung'' zwischen beiden Verwendungs- und Interpretationsweisen (wofür dann doch Fiktionalitätssignale, wie Markierungen der Produzent*innenintentionen, zentrale Steuerungsfunktionen übernehmen). Bareis führt aus: <br />
:<br />
:''Wer sich für eine fiktionale Rezeption ''ent''scheidet folgt entweder der gängigen paratextuellen Markierung oder der momentanen Praxis, kann sich aber auch in solchen Fällen für eine fiktionale Rezeption eines Artefakts entscheiden, in denen dies der gegenwärtigen Praxis ''nicht'' entspricht'' (<bib id='Bareis 2014a'></bib>: S. 64; Herv. im Orig.).<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb04.jpg|thumb|Abbildung 4: Kategoriale Fiktionalität trotz gradueller Fiktivität: Obwohl die meisten realweltlichen Annahmen über “unser” New York ebenso auf Spider-Mans gleichnamige Heimatstadt zutreffen, verknüpfen die Autor*innen mit dem Film keinerlei Wahrheitsansprüche.]]<br />
Diese Auffassung ließe sich als ‘intentionalistisch-pragmatisch’ bezeichnen. Ihr zufolge kommt, zusammenfassend, den angenommenen (also hypothetisch erschlossenen) Intentionen einer Kommunikator*in zwar zentrale Signalfunktionen zu; der tatsächliche Status eines Artefakts – und die Entscheidung darüber, ob es zu einer Änderung realer Überzeugungen, oder lediglich zur Imagination möglicher Welten und Situationen verwendet wird – legt sich jedoch erst in der tatsächlichen Rezeption fest. Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« zumeist als eine ''kategoriale'' angesehen, in welcher eine Rezipient*in sich immer ''eher'' für die eine oder die andere Seite entscheiden wird (vgl. <bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231f.). Das Urteil »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« hingegen ist notwendig ''immer'' äußerst graduell: Bereits der Planet Erde, der in den allermeisten Darstellungen zumindest impliziert ist, ist schließlich nicht fiktiv (vgl. Abb. 4). <br />
:<br />
In jedem Fall aber scheint es sinnvoll, die beiden Begriffspaare »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« und »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« deutlich voneinander zu unterscheiden. Man wäre sonst gezwungen, fehlerhafte oder bewusst täuschende Darstellungen (deren Gegenstände fiktiv sind, obwohl ihre Repräsentation gemäß nicht-fiktionaler Signale wahrhaftig sein sollte) als ''fiktional'' aufzufassen. Eine Lüge aber würden wir üblicherweise schlicht als täuschend – und eben nicht als ''fiktional'' – bezeichnen.<br />
<br />
==Piktorialer Panfiktionalismus==<br />
Für Bildmedien existieren zudem einflussreiche Ausprägungen eines Panfiktionalismus (vgl. <bib id='Konrad 2014a'></bib>). Diesen zufolge müssten Bildmedien ''prinzipiell immer'' als „Fiktionen“ erachtet werden – und zwar bereits durch die Konstitution eines [[Bildinhalt|Bildinhalts]] voll mentaler, imaginärer oder eben: ''fiktiver'' Gegenstände. Eine solche Ansicht vertreten etwa Kendall L. Waltons (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Benita Herder (<bib id='Herder 2017a'></bib>). Bilder wären demnach „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351).<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Bareis 2014a'></bib> und die Beiträge in <bib id='Bareis & Nordrun 2015a'></bib>.</ref> Ein solcher Fiktions-Begriff wäre ein inhärenter des Mediums bzw. der Zeichenmodalität.<ref>Vgl. dazu auch kritisch <bib id='Wenninger 2014a'></bib>: S. 472-475.</ref> Nach den zuvor explizierten Zusammenhängen zwischen (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität erscheint dies allerdings für ''beide'' Begriffspaare wenig überzeugend.<ref>Vgl. dazu ausführlicher <bib id='Wilde 2018a'></bib>: S. 160-173 sowie <bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 71-74.</ref> Die (referenzbezogene) Unterscheidung »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« käme von vorneherein “zu spät”, um Bildmedien ''grundsätzlich'' zur Fiktion zu erklären, da für Vertreter*innen eines piktorialen Panfiktionalismus bereits der Bildinhalt – das, was wir “im” Bild sehen – der “fiktive” Gegenstand darstellt (und nicht erst das, worauf mit dieser Ebene weiter Bezug genommen werden kann). <br />
:<br />
Somit bliebe nur die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« zur Legitimierung eines entsprechenden Urteils. Diese Unterscheidung aber kommt zur Unterstellung einer ''prinzipiellen'' “Fiktion” von Bildmedien ebenfalls nicht in Frage, da sie an angenommene Kommunikations''absichten'' und Wahrheits''ansprüche'' einer Kommunikator*in gekoppelt ist. Von diesen aber ist die Ebene des Bildinhalts erneut weitgehend unabhängig (solange eine ikonische Kategorisierungsschwelle hinreichend überschritten wird, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 82-115). Wenn sich in Bildmedien die Annahme einer (fiktiven, nicht-fiktiven oder in dieser Hinsicht unbestimmbaren) Existenz des Dargestellten nur aus der konkreten Verwendung heraus erklären lässt (der hypothetischen Verwendungsabsicht einer Kommunikator*in und der tatsächlichen Verwendungspraxis von Rezipient*innenseite), so scheint dies deutlich gegen die These zu sprechen, dass die (Nicht-)Fiktionalität von Bildern medial oder modal determiniert wäre.<br />
:<br />
Auf einer grundlegenderen Ebene hat Jens Schröter (<bib id='Schröter 2016a'></bib>) prinzipielle Argumente dafür geboten, dass sich die Fiktionspotentiale unterschiedlicher Darstellungsmedien niemals als aus einem gegebenen ''a priori'' medialer Eigenschaften ableiten lassen. Fotografische Bilder der realen Person Sean Connery lassen sich ebenso dazu einsetzen, um die fiktive Figur James Bond darzustellen – und sie werden dies auch sehr häufig (vgl. auch <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Umgekehrt lassen sich Handzeichnungen ebenso in nicht-fiktionaler (etwa dokumentarischer) Absicht einsetzen, wie dies etwa in den Comic-Gattungen von ''graphic memoirs'', ''graphic journalism'', oder auch Sachcomics durchweg der Fall ist (vgl. <bib id='Schröer 2016a'></bib>). <br />
:<br />
:''Die tatsächlichen Operationen verschiedener Medien für dokumentarische oder fiktionale (oder gemischte) Praktiken lassen sich aber nicht generell aus den Eigenschaften von Medien deduzieren, sondern grundsätzlich nur historisch und/oder in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen'' (<bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 124).<br />
<br />
==Partikularisierung und Piktogrammatik==<br />
Der Zusammenhang zwischen Bildinhalt und Fiktion ist aber komplexer als es aussieht – insbesondere in medien- bzw. zeichenvergleichender Perspektive. Genauer betrachtet nutzt etwa Walton seinen „Fiktions“-Begriff, der gegenüber Bildmedien ''grundsätzlich'' geltend gemacht werden sollte, in uneinheitlicher Weise und wendet ihn ein zweites Mal auf die Relation des (angeblich bereits „fiktiven“) Bildinhalts zu einem weiteren dargestellten Referenzobjekt an („portraying fictitious things beyond itself“, <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 57). Daher scheint Walton, ebenso wie Herder, mit „fiktiven“ Darstellungen im Kern etwas spezifisch Anderes zu meinen. Gleiches dürfte für eine ähnliche Anwendung des „Fiktions“-Begriffs in Jörg R.J. Schirras Kontexttheorie des Bildes gelten, wo sich ebenfalls die Formulierung findet, wir könnten uns „Bilder als fiktive referentielle Kontexte“ vorstellen (<bib id='Schirra 2001a'></bib>: S. 90). Da hier erneut der Bildinhalt angesprochen wird, scheint mir dies mindestens in medienvergleichender Perspektive unintuitiv: Einem generellen Terminus der deutschen Sprache (wie ‘Katze’) würde man sicherlich nicht einen zunächst „fiktiven Inhalt“ zusprechen. In kommunikativer Hinsicht verweist ‘eine Katze’ lediglich auf das Lexikon (vgl. <bib id='Eco 2000a'></bib>: S. 280-336), nicht auf eine Situation, deren Darstellung fiktional oder nicht-fiktional sein könnte. Sprachliche Zeichen stellen vor ihrer kontextrelativen Verwendung zunächst lediglich generelle Terme dar, denen man deswegen auch keinen grundsätzlich “fiktiven Kern” zusprechen würde – da ein Ausdruck wie ‘Katze’ zunächst gar kein Individuum referenzialisiert (das nun erst fiktiv oder nicht fiktiv sein könnte). Demgegenüber scheinen Bilder – bereits auf Ebene des Bildinhalts – stets wesentlich konkreter und damit partikularisierter zu sein (was die zuvor angesprochenen panfiktionalistischen Annahmen nun zumindest naheliegender erscheinen lässt). <br />
:<br />
===Die semantische Paradoxie von Bildmedien===<br />
Hieran wird deutlich, dass das Problem der ''Partikularisierung'' des Bildinhalts in besonderer Weise mit dem Problem der Bildfiktion verbunden ist. Das Argument könnte etwa lauten: Weil wir auf Bildträgern meist nicht nur Zeichen, sondern komplexe und konkrete Situationen voll individuierter Einzelgegenstände zu sehen meinen, ''müsste'' der Bildinhalt zunächst immer als fiktiv eingeschätzt werden, ''wenn'' eine tatsächliche non-fiktionale Referenzfixierung notwendig gebrauchsabhängig bleibt. Betrachtet man fiktive Welten als ''mögliche'' (i.S.v. imaginierbare, vorstellbare) Welten (vgl. <bib id='Ryan 2014b'></bib>), so könnte man Bilder als „Ansichten möglicher Welten“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) und damit die Bildsemantik als eine „Mögliche-Welten-Semantik“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) auffassen, was das panfiktionalistische Urteil zu bekräftigen scheint. Dieses Problem wurde auch als „semantische Anomalie“ (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77) oder als „semantisches Paradox“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 25) von Bildmedien bezeichnet. Sachs-Hombach formuliert dieses so, dass <br />
:<br />
:''die Bildbedeutung (verglichen mit sprachlichen Äußerungen) ''zugleich bestimmter und unbestimmter'' ist. Sie ist bestimmter, insofern wir mit Bildern den Eindruck einer Szene (den wahrnehmungsvermittelten Inhalt) sehr unmittelbar hervorrufen können. Sie ist jedoch zugleich unbestimmter, insofern bei der Bildverwendung (1) die faktische Beschaffenheit einer realen Szene nicht verbürgt wird […] und (2) der kommunikative Gehalt oft vage bleibt'' (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77; Herv. L.W.).<br />
:<br />
Wenn sich die semantische Paradoxie aber erst dadurch ergibt, dass – oder besser: falls – Bilder partikulare Objekte zu zeigen scheinen (und zwar bereits auf Ebene des Bildinhalts), so verschiebt sich das Problem von Bild und Fiktion in eigentümlicher Weise. Tatsächlich würde man von nicht-gegenständlichen Bildern gewöhnlich etwa weder behaupten, dass sie fiktional oder dass sie nicht-fiktional wären, da sie eben keinen Gegenstand darstellen und folglich die Frage unsinnig wäre, ob der dargestellte Gegenstand bzw. die dargestellte Situation tatsächlich so existiert haben könnte. Umgekehrt darf dieser Zusammenhang für gegenständliche Bilder aber auch keineswegs als trivial gelten.<br />
: <br />
[[Datei:Fiktion_Abb05.jpg|thumb|Abbildung 5: Piktogrammatische Klassifikatoren für Gegenstandsklassen (indefinit bestimmbare Genusbilder), kein Blick in fiktive (oder nicht-fiktive) Diegesen.]] <br />
Zunächst ist es natürlich richtig, dass auch Allgemeinbilder fiktiver Gegenstandsklassen existieren (wie Bilder von Elfen auf Wikipedia), so dass man behaupten könne (wie Jens Schröter dies tut, <bib id='Schröter 2020a'></bib>), der Unterschied singuläre/generelle Bilder läge vollständig quer zur Differenz fiktionaler/non-fiktionaler Bilder. Dagegen muss aber eingewandt werden, dass ein Elfen-Bild in einem Comic-Panel durchaus die Existenz eines bestimmten Elfen in einem bestimmten diegetischen Kontext “behauptet” (vgl. <bib id='Wilde 2017a'></bib>). Im Rahmen einer solchen möglichen Welt bleiben fiktionale und nicht-fiktionale Elfen-Darstellungen also weiterhin auf konkrete, partikularisierte Elfen beschränkt. Elfen-Piktogramme an Toiletten-Türen hingegen würden weder die Existenz von Elfen behaupten noch fiktive Elfen vorstellig machen, sondern lediglich kommunizieren, dass jene Wesen (alles, was als „Elfen“ gelten mag) hier erwünscht und willkommen Einlass erhalten sollten. Insofern scheint mir die Frage nach der Partikularisierung des bildlich Dargestellten weiterhin ganz zentral dafür, ob sich die Frage nach Fiktionalität überhaupt stellt (vgl. ausführlicher <bib id='Wilde 2017a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245). Die piktogrammatische Spezifizierung einer Abbiege-Regelung für PKWs und Motorräder – nicht aber für Fahrräder – (Abb. 5) bildet keinerlei bestimmte Gegenstände ab und wird daher wohl auch nicht als Blicke in eine fiktive oder nicht-fiktive Diegese erachtet werden; sie macht lediglich die Bezugnahme auf Objektklassen zugänglich: Die Regelung, nur links abbiegen zu dürfen, gilt hier (lokale Deixis) für alle Verkehrsteilnehmer*innen, deren Fahrzeuge unter die zu erschließenden Klassifikatoren fallen. Ein piktogrammatischer Bildgebrauch scheint die Fiktionalitätsfrage also durchaus zu suspendieren.<br />
:<br />
===Drei bildtheoretische Positionen ===<br />
In der Bildtheorie sind drei unterschiedliche Positionen denkbar, mit dieser Differenz und einem möglichen Primat umzugehen. Walton und Sachs-Hombach scheinen mir am deutlichsten für die zwei konträrsten Einschätzungen zu argumentieren. Walton geht, wie angesprochen, davon aus, jedes Bild eines Bisons stelle primär einen partikularen (und daher in seinen Termini: einen „fiktiven“) Bison dar (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 125). Wenn ein Bild somit als Gattungsbild gebraucht wird, wäre dies ein ''reflexiver'', kontingenter Einsatz. Insbesondere für fotografische Bilder lässt sich dies mit einer gewissen Berechtigung vertreten.<ref>Currie spricht hierbei von „representation-by-origin“, vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>, S. 19–21.</ref> Aber ist diese Ebene der Semantik nicht allein unserem Vorwissen um das fotografische Dispositiv geschuldet, demzufolge irgendwann einmal ein konkretes Einzelding vor einer Kamera gestanden haben müsste? Für viele Autor*innen jedenfalls scheint vorausgesetzt, dass Bildmedien ''grundsätzlich'' nur Individuelles, bzw. nur in abgewandeltem Gebrauch Allgemeines zeigen könnten. Einer viel beachteten Aussage von Jurij M. Lotman zufolge zeige ein Film etwa ''immer'' Konkretes: <br />
:<br />
:''[D]as Wort der natürlichen Sprache kann einen Gegenstand, eine Gruppe von Gegenständen und eine Klasse von Gegenständen jeder beliebigen Abstraktion bezeichnen […]. Das ikonische Zeichen besitzt eine ursprüngliche Konkretheit, eine Abstraktion kann man nicht sehen'' (<bib id='Lotman 1977a'></bib>, S. 69). <br />
:<br />
Sachs-Hombach vertritt die gegenteilige Position (vgl. etwa <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 166 sowie ausführlich in <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>). Die Referenzialisierung von Einzeldingen mit Bildern muss demnach aus ''notwendigen'' Gründen nachgeordnet und kontingent sein: „Die Veranschaulichung konkreter Gegenstände erfolgt immer analog zu Kennzeichnungen, indem begriffliche Charakterisierungen derart kombiniert werden, dass sie sich in einem bestimmten Kontext zur Charakterisierung individueller Dinge eignen“ (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 182). Dies dürfte auf fiktive oder in dieser Hinsicht unbestimmbare Gegenstände in möglichen Welten ebenso zutreffen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass der Fiktionsbegriff bei Sachs-Hombach kaum eine zentrale Rolle einnimmt. Ferdinand Fellmanns kommt zu einem gleich lautendem Urteil: <br />
:<br />
:''Für das richtige Verständnis von Ähnlichkeit ''[des Bildes – L.W.]'' ist es demnach notwendig, daß sich diese nicht wie die Spur auf bestimmte Gegenstände oder Vorgänge beziehen muß, sondern daß sie Typen oder Klassen betrifft, die sprachlich durch Allgemeinbegriffe bezeichnet werden. Historisch scheint die Darstellung von Typen der detailgetreuen Reproduktion von Individuen voranzugehen, wie die Tierdarstellungen der Höhlenmalerei zeigen'' (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21). <br />
:<br />
Damit wären die allermeisten Bilder zunächst tatsächlich ''primär'' als „Allgemeinbilder“ oder als „Genusbilder“ zu bezeichnen, bevor sie anders (partikularisierend) eingesetzt werden. Dass wir uns zumindest bei vielen piktogrammatischen Darstellungssystemen ''nicht'' dazu angehalten fühlen, eine Partikularisierung zu unterstellen (die daraufhin fiktional oder nicht-fiktional sein müsste), räumt auch Walton ein. Entgegen seiner eigentlichen Vorannahme, Bilder seien „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351) gelten Piktogramme und Verkehrszeichen für ihn als nur „ornamental“; es handele sich um „nicht-funktionale Imaginationsrequisiten“ (''non-functional props'', <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 281). Neil McDonells durchaus typische These hierzu lautet: „The picture of a man on a restroom sign does not refer to any particular man but to all men” (<bib id='McDonell 1983a'></bib>, S. 85; vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 134-145). <br />
:<br />
Eine dritte Option bestünde darin, keiner dieser beiden Alternativen das Primat einzuräumen und den Unterschied nur ''case-by-case'' geltend zu machen. Wolfram Pichler und Ralph Ubl arbeiten hierfür mit der begrifflichen Opposition zwischen „indefinit“ vs. „definit bestimmbaren“ Bildern, die stets am konkreten Einzelfall getroffen werden muss (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51): <br />
:<br />
:''Die definite Bildbestimmung fängt […] schon da an, wo man bereit ist zu sagen: Das ist derselbe Mann mit Bart wie in jenem anderen Bild. Ob es den so identifizierten Mann mit Bart auch als einen wirklichen gibt, ist unter dieser Voraussetzung gleichgültig; bedeutsam ist allein die Möglichkeit oder Erwartung, dass das gegebene Bildobjekt ''re-identifiziert'' werden kann, sei es auch nur in einem anderen Bild'' (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51; Herv. im Orig.)<br />
:<br />
Packard formuliert diese Alternative mit Peirce als die Opposition, Bilder entweder als dicentisch-indexikalische Sinzeichen oder als rhematisch-ikonische Qualizeichen aufzufassen: <br />
:<br />
:''Diese reine Möglichkeit einer Qualität ist Voraussetzung der Behauptung, die die Qualität einem konkreten Gegenstand zuschreiben könnte und dann sagte, dieser sei so; aber diese Zuschreibung ist in dem Bild eben anders als die Darstellung einer ikonischen Qualität noch nicht durchgeführt. Es ist erst eine Interpretation, die gerade diese Durchführung und Ausführung sistiert. Ihr fehlt die Referenz auf ein Einzelding, von dem die gezeigte Qualität behauptet wird – auf den Raum, in dem die Szene des Stilllebens zu sehen gewesen sei, auf den Menschen, der die emotionale Erfahrung des Schreis gemacht, oder auf die biblische oder historische Figur mit ihrem Eigennamen, die den abgeschnittenen Kopf in einer Schale getragen habe'' (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 135).<br />
:<br />
===Medialität als Rahmung===<br />
Ein Foto werden wir zumeist prinzipiell als definit – also partikularisiert – interpretieren, auch wenn wir keine Kriterien dafür besitzen, seinen Referenten tatsächlich bestimmen zu können! Und in diesem Fall müssten wir uns auch entscheiden, ob es sich um ein ''reales'' (nicht-fiktionales) oder eben fiktionalisiert eingesetztes (oder manipuliertes) Foto handelt. Doch auch dies ist womöglich eher einer medialen Konvention geschuldet, denn Eingriffe, Manipulationen, Montagen und nicht zuletzt andere Verwendungszusammenhänge der Fotografie (etwa als Gattungsbilder in Lexika oder in fiktional gerahmten Kontexten wie dem Foto-Roman) hat es schon immer gegeben (vgl. <bib id='Fineman 2012a'></bib>). Schon bei der Fotografie handelt es sich daher lediglich um eine Rezeptionskonvention. Es gilt daher, den Zusammenhang zu bestimmten Bildverwendungstypen bzw. Bildmedien noch genauer in den Blick zu nehmen. <br />
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[[Datei:Fiktion_Abb06.jpg|thumb|Abbildung 6: Frank Flöthmann (<bib id='Flöthmann 2013a'></bib>) erzählt bekannte Grimm-Märchen (hier «Daumesdick») mit Infografiken und Piktogrammen nach, behauptet dabei aber stets die (fiktionale) Existenz seines partikularisierten Personals.]]<br />
Mit (bestimmten) Bildmedien sind hierbei nicht technisch-apparative Herstellungs- und Übertragungsweisen gemeint, sondern Bildtypen, die als konventionell-distinkte Einzelmedien (wie die Fotografie) auftreten und kulturell als solche etabliert sind. Beispielsweise lassen sich die Unterschiede zwischen Gebrauchsanweisungen, Comics oder Fotoromanen nicht alleine anhand technisch-apparativer oder semiotischer Kriterien festmachen. In der multimodalen Lingustik spricht man schlicht von Textsorten oder Genres: „Ist das Genre einmal erkannt, d.h. sind wir z.B. sicher, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt, wird das Verstehen insgesamt befördert. Es vollzieht sich dann im Rahmen der Textsortenkonventionen, auf die Rezipienten in Form von abstrahierten semiotischen Erfahrungen, d.h. gespeicherten Mustern zurückgreifen können“ (<bib id='Stöckl 2016a'></bib>: S. 102). Dies lässt sich mit Sachs-Hombachs und Schirras Überlegungen zum Bildstil als einem „illokutionärem Indikator“ verbinden (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 181), das bestimmte „Bild-Spiele“ (gegenüber anderen) als solche ausweist (vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>, S. 154-162). Wendet man dies auf den Zusammenhang zwischen piktogrammatischen vs. partikularisierenden Verwendungsweisen von Bildern an – und damit auch auf die Frage, ob ein Fiktionalitätsurteil getroffen werden muss – so zeigt es sich, dass keineswegs alle Bildverwendungspraktiken über alle konventionellen Medientypen gleich verteilt sind (vgl. erneut <bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 123). Um erneut Comics als Beispiele heranzuziehen: „Nun sind aber gerade die (vielen) narrativen Comics jene, die typischerweise Einzeldinge darstellen, und zwar im Sinne eines Minimums an Realismus als Gegenstände einer extensionalen Welt“ (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 180). Dies wiederum macht ein Fiktionalitätsurteil notwendig, was bei piktogrammatischen Bildverwendungsweisen nicht der Fall ist, die in kommunikativer Hinsicht lediglich Klassen hinreichend ähnlicher Gegenstände ins Spiel bringen sollen. <br />
:<br />
Mit diesen Konventionen spielt der Grafikdesigner Frank Flöthmann in seinen populären „Piktogramm-Comics“. Trotz der offenkundigen Hybridisierung beider Bildmedienbereiche ist eine Differenzlogik ''zwischen'' Comic und Piktogramm zum Verständnis der Geschichten vorausgesetzt. Denn obwohl die Bildästhetik an die Kennzeichnung von Gegenstandstypen erinnert, stellt der Autor hier doch “reguläre” fiktive Welten aus 16 Märchen der Gebrüder Grimm dar, in welchen die Protagonist*innen auch als ''existent'' behauptet werden – was bei Piktogrammen in gewöhnlicher Verwendung (Genusbilder oder indefinit bestimmbare Bilder) gerade nicht der Fall ist. Wenn wir also von (konventionell als distinkt verstandenen) Einzelmedien wie »dem Spielfilm« sprechen, dann umfasst dessen Medialität, zusammenfassend, nicht nur seine technisch-materiellen und institutionellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen (also beispielsweise auch sozialsystemische Institutionen oder eine arbeitsteilige Autor*innenschaft zwischen vielen Akteuren), sondern auch semiotische und fiktionsbezogene Erwartungen, die über Rahmungen und konventionalisierte Ästhetiken aufgerufen werden können.<br />
<br />
<br />
==Der fiktionale Gebrauch von Bildmedien==<br />
Während der »Fiktions«-Begriff in der Bildtheorie (im engeren Sinne) also in vielfacher Hinsicht merkwürdig untertheoretisiert ist, können doch zwei unterschiedliche Bereiche piktorialer Bezugnahmen auf fiktive Entitäten (Personen, Ereignisse, Welten) nicht ausgeblendet bleiben. Zum einen dürfte es ganz unbestritten sein, dass Bildmedien bereits etablierte fiktive Entitäten ebenso darstellen können wie real existierende Dinge. In kunstgeschichtlichen Beschäftigungen obliegt die Klärung dieser ''Referenz'' anhand bildlicher Kodes etwa der Ikonologie (vgl. <bib id='Panofsky 1939a'></bib>: S. 6). Wenn wir mit den relevanten Ikonografien vertraut sind, so wissen wir, dass ein bildlich dargestellter Mann mit einer Filzkappe immer Odysseus darstellt und können Odysseus-Repräsentationen auch in unbekannten Bildern identifizieren. Die komplexen Diskussionen um die fragliche Ontologie dieses Wesens (zwischen fiktivem Referenzobjekt und davon unterschiedenem ''Sujet'') müssen und können an dieser Stelle ausgeblendet bleiben, denn relevanter für den Zusammenhang von Bild und Fiktion scheint mir ein zweiter Bereich fiktionalen Bildgebrauchs. Hier wird nicht eine bereits bestehende fiktive Entität irgendwie durch bildliche Codes “anzitiert”, sondern genuin ''erzeugt''.<ref>Der Zusammenhang zwischen beidem ist noch einigermaßen unklar, vgl. erneut <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245.</ref> Es sollte nämlich nicht übersehen werden, dass weite Teile der Medienwissenschaft sich im “Tagesgeschäft” mit exakt solchen Bildmedien auseinandersetzen, die im “unmarkierten Standardfall” stets als fiktional gelten, wie Thon zutreffend argumentiert hat (vgl. <bib id='Thon 2014c'></bib>, S. 452-459): Realfilme, Animationsfilme, Fernsehserien, Comics oder Computerspiele. Die Befähigung dieser weiten Bereiche der Bildmedien zur ''Nicht-Fiktionalität'' muss – umgekehrt – zumeist mühevoll hergeleitet und gesondert begründet werden, mit verschieden hohem Aufwand bei unterschiedlichen Medientypen. Denn auch wenn nicht-fiktionale (dokumentarische oder essayistische) Realfilme in der Filmwissenschaft insgesamt ebenfalls weniger Aufmerksamkeit als fiktionale Spielfilme erhalten haben, scheint hier das fotografische Dispositiv doch zumindest eine unbestreitbar dokumentarische Qualität zu sichern.<ref>Allerdings fallen dadurch differenzierte Praktiken des ''re-entactments'' häufig erneut unter den Tisch, vgl. <bib id='Mundhenke 2017a'></bib>: S. 196-205; <bib id='Wilde 2019a'></bib>.</ref> Die Legitimation der Nicht-Fiktionalität von Animationsfilmen (z.B. «Waltz with Bashir», Ari Folman 2008), Comics (z.B. Art Spiegelmans «Maus: A Survivor’s Tale», 1991), oder Computerspielen (z.B. «JFK Reloaded», Traffic Games, 2004) muss hingegen immer wieder mühsam begründet und verteidigt werden (vgl. dazu <bib id='Thon 2019a'></bib>). Dass diese Bildmedien typischerweise fiktive Entitäten (Figuren, Ereignisfolgen, Welten) repräsentieren, stellt in jedem Fall keinen theoretischen Streitpunkt dar. Hier scheint mir eine merkwürdige Dissonanz gegenüber allgemeinen bildtheoretischen Prämissen zu liegen, die selten genauer in den Blick genommen worden ist. Abschließend soll daher noch einmal der Blick darauf gewendet werden, welche besonderen Funktionen und Leistungen Bildmedien in der Darstellung fiktiver Dinge, Ereignisse und Welten zufallen. <br />
<br />
===Die notwendige Unvollständigkeit fiktiver Entitäten ===<br />
Alles, was in fiktionalen Medien dargestellt wird, muss in sehr grundlegender Hinsicht als ''unvollständig'' erachtet werden. Lubomír Doležel arbeitete diesen Punkt in seiner Variante der ''possible world''-Theorie unter der Bezeichnung ‘ontologische Unvollständigkeit’ heraus: <br />
:<br />
:''Fictional worlds are brought into existence by means of fictional texts, and it would take a text of infinite lengths to construct a complete fictional world. Finite texts that humans are capable of producing, necessarily create incomplete worlds'' (<bib id='Doležel 1995a'></bib>: S. 201). <br />
:<br />
Die Bezeichnung der „ontologischen“ Unvollständigkeit geht auf Barry Smith zurück, der sich damit begrifflich gegenüber einer „epistemischen“ Unvollständigkeit absetzen wollte, welche bloß unser gerechtfertigtes Wissen betrifft (vgl. <bib id='Smith 1979a'></bib>). Wenn Eigenschaften und Merkmale des Dargestellten in Texten schlichtweg ''nicht'' definiert seien, so Smith, Doležel und viele andere, so “fehlen” uns nicht nur bestimmte Informationen (temporär), die wir etwa noch in Erfahrungen bringen könnten; sie ''existieren'' im Gegenteil ''nirgendwo'', und zwar, auf einer grundsätzlichen und daher ontologischen Ebene.<ref>Es existieren jedoch Gründe, dennoch an der Bezeichnung einer ''epistemischen'' Unvollständigkeit festzuhalten, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 208.</ref> Dennoch setzen wir im Rezeptionsprozess zumeist voraus, dass alle dargestellten Welten grundsätzlich konsistent und vollständig sind, sofern nicht explizite (phantastische) Gründe vorliegen, warum dem anders sein sollte. <br />
:<br />
Rezipient*innen können gemeinhin auf ihr Weltwissen zurückgreifen, um solche “Lücken” zu füllen. Marie-Laure Ryan führt dies auf das von David Lewis übernommene Konzept des ''principle of minimal departure'' zurück: <br />
:<br />
:''the imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world, and it will import knowledge from the real world to fill out incomplete descriptions […]. For instance, when a text refers to a location in the real world, all of the real geography is implicitly part of the storyworld, and when it refers to a historical individual, this individual enters the storyworld with all of his or her biographical data except for those features that the text explicitly overrules'' (<bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35; vgl. bereits <bib id='Ryan 1991a'></bib>: S. 51).<br />
:<br />
Die Literaturwissenschaft verwendet in der rezeptionsästhetischen Tradition Roman Ingardens den Begriff der »Unbestimmtheitsstelle« (vgl. <bib id='Ingarden 1972a'></bib>) oder Wolfgang Isers Konzept der »Leerstelle« (vgl. <bib id='Iser 1978a'></bib>: S. 194), um auf die Notwendigkeit der „Mitarbeit des Lesers“ (<bib id='Eco 1987a'></bib>: S. 1) in dieser inferenziellen Ergänzung von Unvollständigkeiten hinzuweisen. Die Filmwissenschaft operiert mit dem Terminus des ‘Suture’, die Comicforschung mit dem des ‘Closures’. In den Bildwissenschaften wurden diese Ansätze bisher erst mit großem Zögern aufgenommen, vermutlich aus des zuvor angeführten Theoriedefizits in der Fiktionsdebatte (vgl. <bib id='Lobsien 1980a'></bib>; <bib id='Kimmich 2003a'></bib>). <br />
:<br />
Unbestritten scheint, dass Bildmedien besondere Leistungen und Funktionen geltend machen können, um fiktionale Objekte zu konkretisieren. Filmfiguren etwa besitzen für gewöhnlich eine „sensory specificity that at the same time diminishes the range of individual imaginations by the recipients“ (<bib id='Eder et al. 2010a'></bib>: S. 18). Über das Aussehen fiktiver Dinge im Film scheinen wir so zumeist viel zu wissen und epistemisch begründen zu können, weil vor der Kamera Objekte standen, deren Aussehen weitgehend auf die diegetischen Entitäten übertragbar ist. Mit anderen Worten: Die [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|Wahrnehmungsnähe]] von Bildmedien kann sich dergestalt niederschlagen, dass jeder wahrnehmbare Aspekt des Bildinhalts auch in der Konkretisierung fiktiver Situationen relevant bleibt. Mit wieder anderen Worten: Die [[Prädikation|Prädikationsmöglichkeiten]], die Bilder zur Verfügung stellen, sind größtenteils auf die fiktive Diegese übertragbar. Externe Prädikationsmöglichkeiten der Darstellungsmittel lassen sich als interne Prädikate des Dargestellten verrechnen (vgl. <bib id='Reicher 2010a'></bib>: S. 117).<br />
<br />
===Darstellungskorrespondenz und doppelte Prädikation ===<br />
<br />
Die Wahrnehmungsnähe von Bildmedien lässt sich durch Gregory Curries Begriff der »Darstellungskorrespondenz« (''representational correspondence'') noch genauer fassen (vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>: S. 58-64): „ [F]or a given representational work, only certain features of the representation serve to represent features of the things represented“ (S. 59). Es sind also niemals ''alle'' Eigenschaften einer Darstellung hinsichtlich der fiktiven Situation relevant, wie Thon in Bezug auf die gleiche Textstelle von Currie weiter ausführt: „[I]t makes sense to distinguish more systematically between ''presentational'' and ''representational'' aspects of a given narrative representation in this context“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 60; Herv. im Orig.). Dass diese Differenz selbst im fotografischen Filmbild nie völlig überwunden werden kann lässt sich leicht vor Augen führen: Man denke etwa an Schwarzweißfilme oder Rückblenden in Sepia-Kolorierungen, die nur in speziellen Ausnahmefällen eine “monochrome Welt” repräsentieren (etwa im medienreflexiven Film «Pleasantville», USA 1998; vgl. dazu umfassender <bib id='Thon 2017a'></bib>; <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Etwas technischer ausgedrückt: Die Prädikationsmöglichkeiten, die ein Bild in einem Schwarzweißfilm anhand wahrnehmbarer Graustufen und monochromer Kontraste anbietet, treffen nur auf den Bildinhalt, nicht aber auf die fiktive Situation zu (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 171; <bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 85-91). <br />
:<br />
All dies bedeutet zusammenfassend, dass fiktional eingesetzte Bildmedien stets eine doppelte Prädikation aufweisen: Die Prädikationsmöglichkeiten, die der Bildinhalt zur Verfügung stellt (begründete Aussagen über das Aussehen der Bildobjekte), stehen in relativer Darstellungskorrespondenz zur Ebene der fiktiven Diegese, auf die sie sich häufig – aber eben nicht immer, und niemals notwendig – “mappen” lassen. Im interpretativen Verstehen müssen beide Ebenen voneinander differenziert werden, indem zwischen abbildungsrelevanter Form und “bloßem” medialem Kontext differenziert wird. Als nicht abbildungsrelevanter medialer Kontext wären aber nicht nur limitierende Faktoren der Materialität zu nennen (Schwarzweiß-Druckverfahren in der Darstellung farbiger Welten). Auch viele Aspekte des medialen Produktionszusammenhangs fließen häufig nicht in die Konkretisierung fiktionaler Gegenstände mit ein. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb07.jpg|thumb|Abbildung 7: Zwei mal die identische fiktive Figur: Magische Transformation oder bloßer Darstellungsunterschied? ]]<br />
Mit Kendall L. Walton gesprochen wäre es beispielsweise eine „silly question“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 174-183), danach zu fragen, warum die fiktive Figur Daario Naharis in der HBO-Serie «A Game of Thrones» plötzlich auf mysteriöse Weise ihr Aussehen verändert. In Staffel drei wurde die Figur vom Briten Ed Skrein, ab Staffel vier vom niederländischen Michiel Huisman verkörpert (vgl. Abb. 7), ohne dass dafür eine diegetische Erklärung angeboten wurde. Gültige fiktionale Rückschlüsse, dass Daario Naharis über magische Fähigkeiten verfügen und – wie die diegetisch etablierten ''faceless men'' – sein Aussehen beliebig transformieren könnte, wären ganz offensichtlich falsch (oder vorsichtiger: kommunikativ kaum anschlussfähig; zu fiktionalen Fakten vgl. <bib id='Bareis 2015a'></bib>). Der wahrnehmbare Unterschied, den die Prädikationsmöglichkeiten der Bilder zur Verfügung stellen, wird also nicht auf Seite des fiktional Dargestellten, sondern auf den medialen Ermöglichungshintergrund “verrechnet”. Dieser wird hier als institutioneller Produktionszusammenhang der TV-Serie kenntlich, mit dem die konventionalisierte semiotische Form des doppelten Darsteller*innenkörpers und dem Schauspieler*innen-Starsystem verbunden ist (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Eine fundamentale Differenz zwischen den im Bild sichtbaren Objekten und den dadurch repräsentierten, diegetischen Entitäten ist also unauflösbar. Über Wahrnehmungsnähe und Darstellungskorrespondenz kann die doppelte Prädikation aber so eng geführt werden, dass sie gänzlich transparent erscheint, insbesondere in fotografischen oder illusionistischen Bildmedien, wo wir nahezu ''in die Diegese'' zu blicken meinen.<br />
<br />
===Gemeinsamkeiten und Differenzen fiktionaler und nicht-fiktionaler Weltbezüge===<br />
Grundsätzlich ist eine doppelte Prädikation zwischen sichtbarem Bildinhalt und den dadurch repräsentierten Entitäten (vermittelt über eine skalierte Darstellungskorrespondenz) auch für nicht-fiktionale, dokumentarische Formate unumgänglich: In nicht-fotografischen Bildmedien ist dies unmittelbar evident: Die Wahrnehmbarkeit der tatsächlich vorgefallenen Situationen wird hier doch in erheblichem Maße von den Wahrnehmungsparametern der (etwa gezeichneten, gemalten oder computergenerierten) Bildlichkeit abweichen; auch ist davon auszugehen, dass nicht alle Bildelemente in Vorder- und Hintergrund, in Zentrum und Peripherie, die gleichen Wahrheitsansprüche erheben. Packard geht daher von einer „gradierte[n] Fiktionalität“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 139) gezeichneter Bilder aus, Thon mit gleicher Stoßrichtung von einer „referential multimodality“ (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271): <br />
:<br />
:''[T]here is no simple one-to-one relationship between the semiotic resources a given narrative work employs and the referential claims it makes […]. Accordingly, it seems helpful to expand previous conceptualizations of multimodality by distinguishing between ''semiotic multimodality'', on the one hand, and ''referential multimodality'', on the other'' (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271; Herv. um Orig.).<br />
:<br />
In nicht-fiktionalen Bildmedien fungiert ein geteiltes Wissen um die intersubjektive Wirklichkeit aber zumindest stets als Korrektiv, was sich mit Walton als „reality principle“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 44) ausbuchstabieren ließe. Auch in der Fiktionstheorie ist das bereits angesprochene ''principle of minimal departure'' zwar fest etabliert.<ref>„The imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world“, <bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35.</ref> Es besteht aber ein zentraler Unterschied in seinem Referenzbereich. Nach Ryan muss nämlich nicht zwangsläufig unsere (als ''real'' erachtete) Welt den Ausgangspunkt des inferenziellen “Lücken-Füllens” darstellen. Ebenso können andere mediale, selbst bereits fiktionale Repräsentationen als interpretative Ausgangspunkte genutzt werden, etwa was das Verstehen von “Zentauren” oder “Superhelden” betrifft. Eine solche Loslösung der Darstellung und des Dargestellten von Ansprüchen lebensweltlicher Realität hat auch bildtheoretisch interessante Konsequenzen. <br />
Gegenüber einer “naturalisierenden” Lesung, die in phantastischen, abstrahierten und überzeichneten Cartoon-Bildern beispielsweise stets die Repräsentation einer Welt vermutet, die der unserer zumindest in ihrer Wahrnehmbarkeit weitgehend entspricht, ist es auch möglich, Umgekehrtes zu vertreten: Die phantastischen Welten von Comic, Manga und Animation brechen dann nicht nur punktuell lokal mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten (etwa, wenn Figuren Superkräfte besitzen), sondern können auch auf globaler Ebene eine besondere „visuelle Ontologie“ aufweisen (vgl. <bib id='Lefèvre 2007a'></bib>), die der “unseren” aus keinerlei notwendigen Gründen entsprechen muss. «The LEGO Movie» (2014) bildet dafür ein beeindruckendes Denkmodell (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Wenn das durch Lego-Steine dargestellte Wasser, der Schaum, die Dampf- und die Staubwolken durchaus naturalisiert aufgefasst werden könnten (so dass sich mit dem gleichen Material auch nicht-fiktive Geschichten erzeugen ließen), so muss den sogenannten „Master Buildern“ die “Legohaftigkeit” ihrer Welt stets wahrnehmbar bleiben. Sie können sie manipulieren und rekombinieren: „We'll build a motorcycle out of the alleyway!“ (00:14:40). Die dargestellte Welt behält also ihre besondere Ontologie, so dass die Hauptfigur Emmet seinen drehenden Lego-Kopf als Radachse einsetzen kann – was sich in keinem nicht-fiktionalen Referenzrahmen mehr plausibilisieren ließe!<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb08.jpg|thumb|Abbildung 8: Die Darstellung einer physikalisch “gewöhnlichen” Welt mit den Mitteln (computeranimierter) Lego-Steine oder Darstellung einer Welt aus Lego-Materialität?]]<br />
Ein jedes solches Urteil muss am Einzelfall durch zahlreiche analytische Argumente untermauert werden: etwa, dass es den gezeichneten Protagonisten in Comic und Manga häufig durch leichte Manipulationen ihres Äußeren möglich scheint, sich so zu maskieren und zu verkleiden, dass dies selbst von nächsten Verwandten nicht mehr durchschaut werden kann (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). In solchen Fällen scheint es, als bestünde nicht nur die Darstellung aus einfachsten Konturlinien, “hinter” der eine reichere Wahrnehmungsfülle verborgen bleibt (die doppelte Prädikation würde damit durch eine blockierte Darstellungskorrespondenz auseinandergetrieben). Stattdessen scheint hier auch die dargestellte Welt selbst der Wahrnehmbarkeit abstrahierter Bildlichkeit zu entsprechen – was nur im Fiktionalen – dort aber prinzipiell jederzeit – möglich ist. <br />
:<br />
Die ambivalente Grenze der doppelten Prädikation öffnet zusammenfassend eine Zone der künstlerischen und imaginativen Aushandlung. Gefragt – und gezweifelt – werden muss an fiktionalen Bildern dann stets, welche der Prädikationsmöglichkeiten des sichtbaren Bildinhalts darstellungsrelevant und somit auf die intersubjektiv und diskursiv konstruierte Diegese übertragbar sind. Dies aber lässt sich nicht einfach ''sehen'', sondern nur auf Ebene der Traditionsbildung, der Diskursivierung und der Anschlusskommunikation, also auf Ebene performativer Transkriptionspraktiken, rekonstruieren (vgl. <bib id='Jäger 2002a'></bib>).<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
* <br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2019''<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Verantwortlich:'' <br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra|Schirra, Jörg R.J.]]<br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Fiktion&diff=27956Fiktion2019-11-28T06:37:32Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Fiktion, (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität */</p>
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<!--beides sollte in der Regel der gleiche Text sein--><br />
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==Fiktion, (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität==<br />
Theorien der Fiktion haben sich lange Zeit allein auf literarische Werke bezogen und die bildenden Künste gar nicht oder allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen.<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Klauk & Köppe 2014a'></bib>; <bib id='Enderwitz & Rajewsky 2016b'></bib>; <bib id='Bunia 2020a'></bib>.</ref> Dies gilt auch umgekehrt: Der Begriff der »Fiktion« spielt in [[Bildwissenschaft_vs._Bildtheorie|bildtheoretischen]] Ansätzen eine zumeist eher untergeordnete, in jedem Fall aber höchst widersprüchliche Rolle. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Diskussion des [[Fotografie|fotografischen Bildes]], dem etwa von Roger Scruton eine generelle „fictional incompetence“ (<bib id='Scruton 2006a'></bib>: S. 25) unterstellt worden ist. Die Vorstellung einer fotochemisch erzeugten Spur, eines [[Symbol,_Index,_Ikon|indexikalisch]] garantierten „Es-war-so-gewesen“ (vgl. <bib id='Barthes 1981a'></bib>: S. 76), hält sich hartnäckig. Dabei versperrt eine Fixierung auf diesen Index nicht nur den Blick auf viele fiktionale Einsatzmöglichkeiten des fotografischen Bildes.<ref>„Es ist leicht vorstellbar, einerseits einen fotografisch aufgenommenen, mit realen Schauspielern gedrehten Film und andererseits einen komplett gezeichneten Film zu machen, die Einstellung für Einstellung die gleiche fiktionale Geschichte erzählen“, <bib id='Schröter 2020a'></bib>: in Vorb.)</ref> Auch viele dokumentarische Praktiken können so nicht adäquat erfasst werden: Im ''historical re-enactment'' etwa können auch ''nachgestellte'' Fotos unproblematisch nicht-fiktional eingesetzt werden (vgl. <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Von den technischen Eigenschaften eines Bildmediums auf dessen Einsatzmöglichkeiten für fiktionale oder nicht-fiktionale Zwecke zu schließen ist also grundsätzlich verkürzend, wie Jens Schröter (2016a) wohl am deutlichsten herausgearbeitet hat. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb01.jpg|thumb|Abbildung 1: Eine Abbildung eines “klassischen” fiktiven Gegenstands, des Einhorns, nach Konrad Genser: „Historiae animalium“, 1551.]]<br />
Aus all diesen Gründen sollte der Begriff der »Fiktion« bildtheoretisch höchst interessant sein. Eine umfassende Diskussion taucht überraschenderweise aber innerhalb von Oliver Scholz’ (<bib id='Scholz 2004a'></bib>[<sup>1</sup>1995]), Börries Blankes (<bib id='Blanke 2003a'></bib>), oder Klaus Sachs-Hombachs (<bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>) Modellen der Bildkommunikation gar nicht auf (vgl. aber etwa <bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197-208). Dies scheint durchaus typisch; weiter unten sollen die Gründe dafür systematischer herausgearbeitet werden.<ref>Für Überblicke über den Forschungsstand zu piktorialer „Fiktion“ vgl. <bib id='Podro 1983a'></bib>; <bib id='Ryan 2009a'></bib>; <bib id='Wenninger 2014a'></bib>.</ref> Der Ausdruck spielt in bildwissenschaftlichen Ansätzen eine überwiegend [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|wahrnehmungstheoretische]] Rolle im Umkreis der [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität|Ähnlichkeitsdebatten]]. Scholz spitzte diese in seinem sogenannten „Meisterargument“ (<bib id='Scholz 1999a'></bib>: S. 33) gegen die Ähnlichkeitsthese wie folgt zu: Einem “Gegenstand”, der gar nicht existiere (wie ein Einhorn, Abb. 1), könne auch nichts ähnlich sein. Demgegenüber wurden ''internalisierte Ähnlichkeitsbegriffe'' geltend gemacht: Wir kennen Pferde und wir kennen Hörner, also können wir uns Einhörner vorstellen – und diese auch “in” Bildmedien sehen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2005c'></bib>). Oder in den Worten von Dominic Lopes: „The acquisition of recognition abilities for fictive objects largely parallels the acquisition of recognition abilities for actual objects” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 206). Löst dies in gewisser Weise ein Wahrnehmungsproblem, so lässt es doch die gewichtigere Frage unbeantwortet, wann eine ganz und gar ''alltägliche'' bildliche Darstellung nun etwas mit Fiktion zu tun hat und was mit dieser Unterscheidung für eine Kommunikations- und Zeichentheorie des Bildes auf dem Spiel steht. <br />
:<br />
Wurde »Fiktionalität« zunächst lange als ein rein sprachliches bzw. literarisches und allenfalls philosophisches Problem behandelt, lässt sich der Begriff mittlerweile als ein transmediales Konzept erachten, das in verschiedenen [[Medialität|Einzelmedien]] (wie [[Film|Filmen]], [[Fernsehen|Fernsehserien]], [[Comic|Comics]] oder auch [[Cyberspace|Computerspielen]]) unterschiedlich realisiert werden kann. Wichtige transmediale Fiktionalitätstheorien stammen etwa von Gregory Currie (<bib id='Currie 1990a'></bib>), Kendall L. Walton (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Frank Zipfel (<bib id='Zipfel 2001a'></bib>). Wie aber Jan-Noël Thon (<bib id='Thon 2014c'></bib>) und Jens Schröter (<bib id='Schröter 2020a'></bib>) feststellen, entsteht in solchen einerseits häufig eine Kluft zwischen den medienspezifischen Einzelstudien und dem transmedial verstandenen Überbau der Fiktion; darüber hinaus suchen sich transmediale Fiktionstheorien zumeist in irgendeiner Weise von leitenden Paradigmen der ''Literaturwissenschaft'' abzuwenden, wodurch die medienwissenschaftlich relevanten Spezifika ''bestimmter'' anderer Einzelmedien oft unthematisiert bleiben. Auch aus diesen Gründen bleibt ein überzeugender integrativer Entwurf ''bildlicher'' Fiktionstheorien immer noch ein schmerzliches Desiderat.<br />
:<br />
Wie auch immer eine solche Fiktionstheorie des statischen Bildes aussehen könnte, sie müsste zwischen zwei unterschiedlichen begrifflichen Traditionen vermitteln. Der ersten Position zufolge kann der Unterschied zwischen ''Fiktion'' und ''Nicht-Fiktion'' anhand der (zumeist als geklärt vorausgesetzten) ''Ontologie'' der dargestellten Gegenstände, also [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|semantisch]] bzw. [[Bedeutung und Referenz|referenziell]], festgestellt werden. Einer zweiten Tradition zufolge handelt es sich um verschiedene ''Diskurstypen'' oder ''Verwendungsweisen'' von Zeichen, also um [[Pragmatik,_Semantik,_Syntax|pragmatische]] Faktoren. Letzterer Ansatz ist für die Theoriebildung zweifellos der wichtigere, da sich der semantische häufig auf ihn zurückführen lässt. Als ‘fiktiv’ ließen sich demzufolge alle Gegenstände verstehen, die in ''fiktionalen'' Texten dargestellt werden. Fiktionale Texte wiederum unterscheiden sich von nicht-fiktionalen dadurch, dass ihre Produzent*innen keinen ''Anspruch'' darauf erheben, dass die dargestellten Gegenstände wirklich existieren – was sich häufig nur aus der konkreten Verwendung, [[Rahmung, Rahmen|Rahmung]] oder Auszeichnung heraus erschließen lässt, nicht aus werkinternen Faktoren. Diese begriffliche Doppelperspektive führt zu einigen interessanten Paradoxien. Nach Stephan Packard generiert Fiktion so einerseits – positiv gewendet – stets ein ''Mehr'', „weil ein Text zum Beispiel eine weitere Welt schafft und referenziert als nur die eine, in der wir demnach leben“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Negativ gewendet leistet ein fiktionaler Text so andererseits aber auch ''weniger'', „weil er zum Beispiel Verpflichtungen und Konsequenzen nicht akzeptiert, die faktuale Texte mit sich bringen“ (<bib id='Packard 2020a'></bib>: in Vorb.). Disziplinübergreifend hat es sich bewährt, beide Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, da sie ganz verschiedene Probleme behandeln. Die Unterscheidung »fiktiv« vs. »nicht-fiktiv« bezieht sich demnach auf ''die Ebene des Dargestellten'', die Unterscheidung »fiktional« vs. »nicht-fiktional« auf ''die Ebene der Darstellung'': <br />
:<br />
:''In diesem Sinne lässt sich also z.B. von fiktionaler Rede, von einem fiktionalen Diskurs, von fiktionalen Texten, Filmen usw. Sprechen, während sich ‘fiktiv’ auf Gegenstände, auf fiktive Entitäten bezieht''“ (<bib id='Rajewsky & Enderwitz 2016a'></bib>: S. 1f.). <br />
:<br />
Der Terminus ‘nicht-fiktional’ stellt eine differenziertere Alternative zu ‘faktual’ dar, da mit Letzterem zumeist bereits ein Urteil impliziert ist, dass die als nicht-fiktional ''ausgegebene'' Darstellung auch tatsächlich zutreffend ist; in fehlinformierten oder täuschenden Berichten ist dies aber nicht der Fall, sie wären immer noch ''nicht-fiktional'' – aber eben nicht ''faktual''. Der etwas unspezifische Ausdruck ‘Fiktion’ hingegen kann mit Stephan Packard als Dachbegriff für ein jedes Phänomen verwendet werden, „das vorliegt, wenn Fiktionales in dieser Weise als Referenz auf Fiktives verstanden wird“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 125). Wir haben es also mit ''Fiktion'' zu tun, wenn Fiktionalität und Fiktivität zugleich vorliegen. Zunächst sollten beide Bereiche aber getrennt voneinander betrachtet werden, um sie jeweils auf ihre Schnittstellen – und Spannungen – zur Bildtheorie hin zu befragen.<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktivität als Frage der Semantik ==<br />
[[Datei:Fiktion_Abb02.jpg|thumb|Abbildung 2: Ein graduell fiktionalisierter Barack Obama interagiert dank digitalen Effekten mit der Welt von Sam Esmail’s «Mr. Robot». Auf wen wird mit diesem Bild Bezug genommen?]]<br />
Betrachtet man das Problem der Fiktivität genauer, so stellt man fest, dass es keinesfalls unstrittig ist, ob auf Fiktives überhaupt Bezug genommen – also [[Referenz,_Denotation,_Exemplifikation|referenzialisiert]] – werden kann. Auch lassen sich anhand des sogenannten „Napoleon-Problems“ (vgl. <bib id='Zipfel 2001a'></bib>: S. 90–103) sehr unterschiedliche Positionen beziehen, inwiefern die Darstellung einer ''graduell'' fiktionalisierten realen Person (in einem historischen Roman wie Lew Tolstois «Krieg und Frieden», 1869) als kategorial andere Operation angesehen werden muss wie die wahrheitsgemäße Beschreibung einer Person gleichen Namens in einer Reportage.<ref>Vgl. die Diskussion aktueller Beispiele wie Abb. 2 in <bib id='Jung & Wilde 2020a'></bib>.</ref> In jedem Fall aber scheint das Problem der Fiktivität ''immer'' in irgendeiner Weise an das Problem der Referenzialität gebunden. Dorrit Cohn bezeichnete fiktionale Texte beispielsweise stets als „non-referential“ (<bib id='Cohn 1999a'></bib>: S. 9). Insbesondere in analytisch-philosophischen Ansätzen überwiegt die Ansicht, dass fiktive Gegenstände (ebenso wie fiktive Welten oder Figuren) schlicht ''gar nicht'' existieren (vgl. etwa <bib id='Künne 1983a'></bib> oder <bib id='Sainsbury 2010a'></bib>). Die Unterscheidung zwischen »Fiktivität« und »Nicht-Fiktivität« würde demnach zugleich mit der Klärung der Bezugnahme getroffen. Ein Bild von Napoleon hätte als Bezugsgegenstand eben die reale Person Napoleon; ein Bild eines fiktiven Gegenstands hingegen wäre in dieser Hinsicht “leer” und würde eine „Null-Denotation“ aufweisen (vgl. <bib id='Goodman 1969a'></bib>: S. 21; <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30-34). In den Worten von Lopes könnte man zusammenfassen: „A fictive picture is one whose subject does not exist” (<bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 197). Gleichzeitig gesteht Scholz fiktionalen Bildern aber selbstredend doch „wiedererkennbare Themen oder Sujets“ zu (<bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 30), auf die in irgendeiner Weise dennoch ein Bezug hergestellt werden muss (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 164-213). <br />
:<br />
Diese Annahmen ließen sich zwar noch in erheblichem Maße verkomplizieren, wenn man die Rolle unterschiedlicher [[Stil|Darstellungsstile]] mit einbezieht (vgl. hierzu etwa <bib id='Ryan 2009a'></bib>); dessen aber ungeachtet, steht eine jede referenzielle Herangehensweise vor dem Problem, immer an bereits semantisch interpretierten [[Bildhandeln|Bildverwendungsweisen]] ansetzen zu müssen, in denen die pragmatische erschlossene Referenzialität als geklärt gelten kann. Damit kommt »Fiktivität« (oder »Nicht-Fiktionalität«) zwangsläufig ein kontingenter Status zu, der nicht unbedingt Teil eines ersten Verstehens- und Interpretationsprozesses sein kann oder muss. Häufig ''kann'' dieser Status wohl auch gar nicht entschieden werden, wenn piktoriale Bezugnahmen vom jeweiligen Verwendungskontext des entsprechenden Artefakts abhängen. Im Verstehen einer dargestellten Situation macht es demgegenüber zunächst keinen Unterschied, ob sich später herausstellen sollte, dass diese ''auch'' zur Bezugnahme auf eine reale Situation verwendet werden kann oder soll. Was noch entscheidender ist: Um solche begleitenden Urteile überhaupt fällen zu können, muss ein Verstehen der dargestellten Situation in den meisten Fällen bereits vorausgesetzt werden können. Thon betont daher mit Bezug auf den Filmwissenschaftler Edward Branigan, was in der kognitiven Narratologie lange eine „standart position“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 67) darstelle: „[O]ur ability to ''understand'' a narrative […] is distinct from our ''beliefs'' as to its truth, appropriateness, plausibility, rightness, or realism“ (<bib id='Branigana 1992'></bib>: S. 192; Herv. im Orig.). Inwiefern etwa monoszenische Einzelbilder überhaupt ''narrativ'' sein können, bleibt zwar weiterhin umstritten, doch dürfte die vorige Feststellung auch für nicht-narrative piktoriale Darstellungen gelten (etwa rein topologische Darstellungen). <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb03.jpg|thumb|Abbildung 3: Um zu entscheiden, ob es sich um ''fiktive'' oder ''nicht-fiktive'' Kinder handelt, bräuchte es kontextrelativer Verankerungen: In welcher Situation und zu welcher Zeit werden sie als existent ausgegeben oder als nur ''möglich'' imaginiert?]]<br />
Auch eine einfache sprachliche Aussage wie ‘ein Mann mit einem Hut steht im Park’ könnte ''ebenso gut'' eine [[Kontext|Situation]] in der realen Welt repräsentieren wie es sich um die Eröffnung einer phantastischen Erzählung handeln kann; um die Referenzfixierung – und damit auch die Fiktivität dieser Aussage – überhaupt bestimmen zu können, bräuchte es [[Kontextbildung|kontextrelative Verankerungen]]: In welchem Park? Zu welcher Zeit? „Obwohl ein Satz wie ‘Hans ist müde’, für sich genommen, weder wahr noch falsch ist, hat er in einer bestimmten Situation einen bestimmten Wahrheitswert, weil in einer konkreten Situation das mit der Äußerung dieses Satzes Gesagte wahr ist“ (<bib id='Plunze 2002a'></bib>: S. 167; vgl. für Bilder ausführlicher <bib id='Schirra 2005a'></bib>: S. 48-53). Das Gleiche gilt wohl auch für piktoriale Darstellungen wie in Abbildung 3, deren Fiktionalitätsgrad für sich genommen nicht beantwortet werden kann. Um erneut mit Marie-Laure Ryan zu sprechen: <br />
:<br />
:''The same text could, at least in principle, be presented as a creation of the imagination or as a truthful account of facts, and we must be guided by extra-textual signs, such as generic labels (‘novels’, ‘short stories’) to assess its fictional status'' (<bib id='Ryan 2007a'></bib>: S. 32). <br />
:<br />
In vielen Fällen ist daher immer noch John R. Searle zuzustimmen: „[T]here is no textual property that will identify a stretch of dicourse as a work of fiction” (<bib id='Searle 1975a'></bib>: S. 327). In einigen sprachlichen Gattungen (wie lyrischer Dichtung) können solche lektüreleitenden Fiktionalitätssignale gänzlich fehlen (vgl. <bib id='Ryan 2009a'></bib>: S. 83). Ryan argumentiert zutreffend, dass dies in noch viel stärkerem Maße für Bildmedien gelte: „Eine große Zahl von Menschenhand gemachter Bilder gehört in dieses Niemandsland zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion“ (S. 82). Die besonders komplizierte Frage, ob es sich bei vielen Bildern wie Abb. 3 daher zunächst um weder fiktionale noch nicht-fiktionale, sondern um fiktional unmarkierte Artefakte handeln könnte (vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 214-269), führt unmittelbar zu unserem zweiten Begriffspaar, nämlich »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität«.<br />
<br />
<br />
==(Nicht-)Fiktionalität als Frage der Pragmatik==<br />
Fiktionalität bezeichnet nach Werner Wolf „im Gegensatz zur Fiktivität nicht zunächst eine ontologische oder referentielle Qualität, sondern […] einen kognitiven Rahmen, der bestimmte Erwartungen und Einstellungen bei der Rezeption eines Artefakts vorprogrammiert“ (<bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231). Die kommunikative Absicht einer fiktionalen Rede (auf die etwa anhand meta-kommunikativer und [[Kontext|kontextueller Signale]] geschlossen werden kann) ist demnach nicht, den Adressaten von etwas zu überzeugen, sondern ihn zu einem ''Als-ob-Spiel'', einem Imaginations- bzw. Vorstellungsspiel, einzuladen, wie Gregory Currie herausgearbeitet hat: <br />
:<br />
:''[Der Autor] verläßt sich darauf, daß seine Leser sich bewußt sind, es mit einem fiktionalen Werk zu tun zu haben, und er nimmt an, daß sie Äußerungen in der Aussageform nicht als Behauptungen verstehen. Er gibt also nichts vor. Er lädt uns ein, etwas vorzugeben, oder vielmehr, so zu tun, als ob. Denn ein Werk als fiktional zu lesen heißt, ein internalisiertes So-tun-als-ob-Spiel zu spielen'' (<bib id='Currie 2007a'></bib>: S. 41).<br />
:<br />
Mit Jens Eder könnte man diese Position wie folgt auf den Punkt bringen: Die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« hängt „nicht vom Wahrheitsgehalt oder der Wahrheit von Texten ab, sondern vom Wahrheits''anspruch'' des Kommunikators“ (<bib id='Eder 2008a'></bib>: S. 34f.; Herv. im Orig.). Die kommunikative Haltung der Kommunikator*in gegenüber dem Darstellungsinhalt, hier also dem Bildinhalt, wird mit Searles [[Bildhandeln|Sprechakttheorie]] als ‘Illokution’ bezeichnet (vgl. <bib id='Searle 1986a'></bib>: S. 213). Die ersten umfassenden Versuche, eine [[Bildakt-Theorie|Bildakttheorie]] nach Vorbild der Sprechakttheorie zu entwickeln, kamen von Søren Kjørup (<bib id='Kjörup 1974a'></bib>) und David Novitz (<bib id='Novitz 1977a'></bib>: S. 67-85; vgl. auch <bib id='Schirra & Sachs-Hombach 2006a'></bib>). Zur Markierung eines bestimmten Typs von Illokutionen scheint es aber wiederum keine genuin bildlichen Mittel zu geben. Für Scholz macht das Erfassen der illokutionären Funktion eines Bildes daher erst die achte Stufe seiner Verstehensebenen aus („modales Verstehen“, <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 187). Blanke geht in diesem Punkt sogar noch weiter und erklärt die Klassifikation von Typen illokutionärer Akte im Bildverstehen als eher marginal – keinesfalls aber als konstitutiv (vgl. <bib id='Blanke 2003a'></bib>: S. 167).<br />
:<br />
Dass man Fiktionalität nicht ''alleine'' an mutmaßliche Autor*innenintentionen binden kann scheint umgekehrt auch einleuchtend – dagegen sprechen nicht nur “subversive” Rezeptionspraktiken, sondern auch widersprüchliche Artefakte, deren fiktionaler Status sich im Laufe der Rezeption verändert hat. Eine Synthese zwischen Rezipient*innen-orientierten ''make-believe''-Ansätzen und Produzent*innen-orientierten Intentionalitätsansätzen – also letztlich zwischen Rezeptionsästhetik und Texthermeneutik – sieht J. Alexander Bareis (<bib id='Bareis 2014a'></bib>) darin, zwei Fragen prinzipiell zu trennen: der ''Unterscheidung'' zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« (was wohl nur vom Gebrauch eines Artefakts, also in letzter Konsequenz von der tatsächlichen Rezipient*innenschaft abhängt) sowie der ''Entscheidung'' zwischen beiden Verwendungs- und Interpretationsweisen (wofür dann doch Fiktionalitätssignale, wie Markierungen der Produzent*innenintentionen, zentrale Steuerungsfunktionen übernehmen). Bareis führt aus: <br />
:<br />
:''Wer sich für eine fiktionale Rezeption ''ent''scheidet folgt entweder der gängigen paratextuellen Markierung oder der momentanen Praxis, kann sich aber auch in solchen Fällen für eine fiktionale Rezeption eines Artefakts entscheiden, in denen dies der gegenwärtigen Praxis ''nicht'' entspricht'' (<bib id='Bareis 2014a'></bib>: S. 64; Herv. im Orig.).<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb04.jpg|thumb|Abbildung 4: Kategoriale Fiktionalität trotz gradueller Fiktivität: Obwohl die meisten realweltlichen Annahmen über “unser” New York ebenso auf Spider-Mans gleichnamige Heimatstadt zutreffen, verknüpfen die Autor*innen mit dem Film keinerlei Wahrheitsansprüche.]]<br />
Diese Auffassung ließe sich als ‘intentionalistisch-pragmatisch’ bezeichnen. Ihr zufolge kommt, zusammenfassend, den angenommenen (also hypothetisch erschlossenen) Intentionen einer Kommunikator*in zwar zentrale Signalfunktionen zu; der tatsächliche Status eines Artefakts – und die Entscheidung darüber, ob es zu einer Änderung realer Überzeugungen, oder lediglich zur Imagination möglicher Welten und Situationen verwendet wird – legt sich jedoch erst in der tatsächlichen Rezeption fest. Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen »Fiktionalität« und »Nicht-Fiktionalität« zumeist als eine ''kategoriale'' angesehen, in welcher eine Rezipient*in sich immer ''eher'' für die eine oder die andere Seite entscheiden wird (vgl. <bib id='Wolf 2016a'></bib>: S. 231f.). Das Urteil »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« hingegen ist notwendig ''immer'' äußerst graduell: Bereits der Planet Erde, der in den allermeisten Darstellungen zumindest impliziert ist, ist schließlich nicht fiktiv (vgl. Abb. 4). <br />
:<br />
In jedem Fall aber scheint es sinnvoll, die beiden Begriffspaare »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« und »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« deutlich voneinander zu unterscheiden. Man wäre sonst gezwungen, fehlerhafte oder bewusst täuschende Darstellungen (deren Gegenstände fiktiv sind, obwohl ihre Repräsentation gemäß nicht-fiktionaler Signale wahrhaftig sein sollte) als ''fiktional'' aufzufassen. Eine Lüge aber würden wir üblicherweise schlicht als täuschend – und eben nicht als ''fiktional'' – bezeichnen.<br />
<br />
==Piktorialer Panfiktionalismus==<br />
Für Bildmedien existieren zudem einflussreiche Ausprägungen eines Panfiktionalismus (vgl. <bib id='Konrad 2014a'></bib>). Diesen zufolge müssten Bildmedien ''prinzipiell immer'' als „Fiktionen“ erachtet werden – und zwar bereits durch die Konstitution eines [[Bildinhalt|Bildinhalts]] voll mentaler, imaginärer oder eben: ''fiktiver'' Gegenstände. Eine solche Ansicht vertreten etwa Kendall L. Waltons (<bib id='Walton 1993a'></bib>) oder Benita Herder (<bib id='Herder 2017a'></bib>). Bilder wären demnach „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351).<ref>Vgl. zur Einordnung <bib id='Bareis 2014a'></bib> und die Beiträge in <bib id='Bareis & Nordrun 2015a'></bib>.</ref> Ein solcher Fiktions-Begriff wäre ein inhärenter des Mediums bzw. der Zeichenmodalität.<ref>Vgl. dazu auch kritisch <bib id='Wenninger 2014a'></bib>: S. 472-475.</ref> Nach den zuvor explizierten Zusammenhängen zwischen (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität erscheint dies allerdings für ''beide'' Begriffspaare wenig überzeugend.<ref>Vgl. dazu ausführlicher <bib id='Wilde 2018a'></bib>: S. 160-173 sowie <bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 71-74.</ref> Die (referenzbezogene) Unterscheidung »Fiktivität« vs. »Nicht-Fiktivität« käme von vorneherein “zu spät”, um Bildmedien ''grundsätzlich'' zur Fiktion zu erklären, da für Vertreter*innen eines piktorialen Panfiktionalismus bereits der Bildinhalt – das, was wir “im” Bild sehen – der “fiktive” Gegenstand darstellt (und nicht erst das, worauf mit dieser Ebene weiter Bezug genommen werden kann). <br />
:<br />
Somit bliebe nur die Unterscheidung »Fiktionalität« vs. »Nicht-Fiktionalität« zur Legitimierung eines entsprechenden Urteils. Diese Unterscheidung aber kommt zur Unterstellung einer ''prinzipiellen'' “Fiktion” von Bildmedien ebenfalls nicht in Frage, da sie an angenommene Kommunikations''absichten'' und Wahrheits''ansprüche'' einer Kommunikator*in gekoppelt ist. Von diesen aber ist die Ebene des Bildinhalts erneut weitgehend unabhängig (solange eine ikonische Kategorisierungsschwelle hinreichend überschritten wird, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 82-115). Wenn sich in Bildmedien die Annahme einer (fiktiven, nicht-fiktiven oder in dieser Hinsicht unbestimmbaren) Existenz des Dargestellten nur aus der konkreten Verwendung heraus erklären lässt (der hypothetischen Verwendungsabsicht einer Kommunikator*in und der tatsächlichen Verwendungspraxis von Rezipient*innenseite), so scheint dies deutlich gegen die These zu sprechen, dass die (Nicht-)Fiktionalität von Bildern medial oder modal determiniert wäre.<br />
:<br />
Auf einer grundlegenderen Ebene hat Jens Schröter (<bib id='Schröter 2016a'></bib>) prinzipielle Argumente dafür geboten, dass sich die Fiktionspotentiale unterschiedlicher Darstellungsmedien niemals als aus einem gegebenen ''a priori'' medialer Eigenschaften ableiten lassen. Fotografische Bilder der realen Person Sean Connery lassen sich ebenso dazu einsetzen, um die fiktive Figur James Bond darzustellen – und sie werden dies auch sehr häufig (vgl. auch <bib id='Wilde 2019a'></bib>). Umgekehrt lassen sich Handzeichnungen ebenso in nicht-fiktionaler (etwa dokumentarischer) Absicht einsetzen, wie dies etwa in den Comic-Gattungen von ''graphic memoirs'', ''graphic journalism'', oder auch Sachcomics durchweg der Fall ist (vgl. <bib id='Schröer 2016a'></bib>). <br />
:<br />
:''Die tatsächlichen Operationen verschiedener Medien für dokumentarische oder fiktionale (oder gemischte) Praktiken lassen sich aber nicht generell aus den Eigenschaften von Medien deduzieren, sondern grundsätzlich nur historisch und/oder in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen'' (<bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 124).<br />
<br />
==Partikularisierung und Piktogrammatik==<br />
Der Zusammenhang zwischen Bildinhalt und Fiktion ist aber komplexer als es aussieht – insbesondere in medien- bzw. zeichenvergleichender Perspektive. Genauer betrachtet nutzt etwa Walton seinen „Fiktions“-Begriff, der gegenüber Bildmedien ''grundsätzlich'' geltend gemacht werden sollte, in uneinheitlicher Weise und wendet ihn ein zweites Mal auf die Relation des (angeblich bereits „fiktiven“) Bildinhalts zu einem weiteren dargestellten Referenzobjekt an („portraying fictitious things beyond itself“, <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 57). Daher scheint Walton, ebenso wie Herder, mit „fiktiven“ Darstellungen im Kern etwas spezifisch Anderes zu meinen. Gleiches dürfte für eine ähnliche Anwendung des „Fiktions“-Begriffs in Jörg R.J. Schirras Kontexttheorie des Bildes gelten, wo sich ebenfalls die Formulierung findet, wir könnten uns „Bilder als fiktive referentielle Kontexte“ vorstellen (<bib id='Schirra 2001a'></bib>: S. 90). Da hier erneut der Bildinhalt angesprochen wird, scheint mir dies mindestens in medienvergleichender Perspektive unintuitiv: Einem generellen Terminus der deutschen Sprache (wie ‘Katze’) würde man sicherlich nicht einen zunächst „fiktiven Inhalt“ zusprechen. In kommunikativer Hinsicht verweist ‘eine Katze’ lediglich auf das Lexikon (vgl. <bib id='Eco 2000a'></bib>: S. 280-336), nicht auf eine Situation, deren Darstellung fiktional oder nicht-fiktional sein könnte. Sprachliche Zeichen stellen vor ihrer kontextrelativen Verwendung zunächst lediglich generelle Terme dar, denen man deswegen auch keinen grundsätzlich “fiktiven Kern” zusprechen würde – da ein Ausdruck wie ‘Katze’ zunächst gar kein Individuum referenzialisiert (das nun erst fiktiv oder nicht fiktiv sein könnte). Demgegenüber scheinen Bilder – bereits auf Ebene des Bildinhalts – stets wesentlich konkreter und damit partikularisierter zu sein (was die zuvor angesprochenen panfiktionalistischen Annahmen nun zumindest naheliegender erscheinen lässt). <br />
:<br />
===Die semantische Paradoxie von Bildmedien===<br />
Hieran wird deutlich, dass das Problem der ''Partikularisierung'' des Bildinhalts in besonderer Weise mit dem Problem der Bildfiktion verbunden ist. Das Argument könnte etwa lauten: Weil wir auf Bildträgern meist nicht nur Zeichen, sondern komplexe und konkrete Situationen voll individuierter Einzelgegenstände zu sehen meinen, ''müsste'' der Bildinhalt zunächst immer als fiktiv eingeschätzt werden, ''wenn'' eine tatsächliche non-fiktionale Referenzfixierung notwendig gebrauchsabhängig bleibt. Betrachtet man fiktive Welten als ''mögliche'' (i.S.v. imaginierbare, vorstellbare) Welten (vgl. <bib id='Ryan 2014b'></bib>), so könnte man Bilder als „Ansichten möglicher Welten“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) und damit die Bildsemantik als eine „Mögliche-Welten-Semantik“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21) auffassen, was das panfiktionalistische Urteil zu bekräftigen scheint. Dieses Problem wurde auch als „semantische Anomalie“ (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77) oder als „semantisches Paradox“ (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 25) von Bildmedien bezeichnet. Sachs-Hombach formuliert dieses so, dass <br />
:<br />
:''die Bildbedeutung (verglichen mit sprachlichen Äußerungen) ''zugleich bestimmter und unbestimmter'' ist. Sie ist bestimmter, insofern wir mit Bildern den Eindruck einer Szene (den wahrnehmungsvermittelten Inhalt) sehr unmittelbar hervorrufen können. Sie ist jedoch zugleich unbestimmter, insofern bei der Bildverwendung (1) die faktische Beschaffenheit einer realen Szene nicht verbürgt wird […] und (2) der kommunikative Gehalt oft vage bleibt'' (<bib id='Sachs-Hombach 2011a'></bib>: S. 77; Herv. L.W.).<br />
:<br />
Wenn sich die semantische Paradoxie aber erst dadurch ergibt, dass – oder besser: falls – Bilder partikulare Objekte zu zeigen scheinen (und zwar bereits auf Ebene des Bildinhalts), so verschiebt sich das Problem von Bild und Fiktion in eigentümlicher Weise. Tatsächlich würde man von nicht-gegenständlichen Bildern gewöhnlich etwa weder behaupten, dass sie fiktional oder dass sie nicht-fiktional wären, da sie eben keinen Gegenstand darstellen und folglich die Frage unsinnig wäre, ob der dargestellte Gegenstand bzw. die dargestellte Situation tatsächlich so existiert haben könnte. Umgekehrt darf dieser Zusammenhang für gegenständliche Bilder aber auch keineswegs als trivial gelten.<br />
: <br />
[[Datei:Fiktion_Abb05.jpg|thumb|Abbildung 5: Piktogrammatische Klassifikatoren für Gegenstandsklassen (indefinit bestimmbare Genusbilder), kein Blick in fiktive (oder nicht-fiktive) Diegesen.]] <br />
Zunächst ist es natürlich richtig, dass auch Allgemeinbilder fiktiver Gegenstandsklassen existieren (wie Bilder von Elfen auf Wikipedia), so dass man behaupten könne (wie Jens Schröter dies tut, <bib id='Schröter 2020a'></bib>), der Unterschied singuläre/generelle Bilder läge vollständig quer zur Differenz fiktionaler/non-fiktionaler Bilder. Dagegen muss aber eingewandt werden, dass ein Elfen-Bild in einem Comic-Panel durchaus die Existenz eines bestimmten Elfen in einem bestimmten diegetischen Kontext “behauptet” (vgl. <bib id='Wilde 2017a'></bib>). Im Rahmen einer solchen möglichen Welt bleiben fiktionale und nicht-fiktionale Elfen-Darstellungen also weiterhin auf konkrete, partikularisierte Elfen beschränkt. Elfen-Piktogramme an Toiletten-Türen hingegen würden weder die Existenz von Elfen behaupten noch fiktive Elfen vorstellig machen, sondern lediglich kommunizieren, dass jene Wesen (alles, was als „Elfen“ gelten mag) hier erwünscht und willkommen Einlass erhalten sollten. Insofern scheint mir die Frage nach der Partikularisierung des bildlich Dargestellten weiterhin ganz zentral dafür, ob sich die Frage nach Fiktionalität überhaupt stellt (vgl. ausführlicher <bib id='Wilde 2017a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245). Die piktogrammatische Spezifizierung einer Abbiege-Regelung für PKWs und Motorräder – nicht aber für Fahrräder – (Abb. 5) bildet keinerlei bestimmte Gegenstände ab und wird daher wohl auch nicht als Blicke in eine fiktive oder nicht-fiktive Diegese erachtet werden; sie macht lediglich die Bezugnahme auf Objektklassen zugänglich: Die Regelung, nur links abbiegen zu dürfen, gilt hier (lokale Deixis) für alle Verkehrsteilnehmer*innen, deren Fahrzeuge unter die zu erschließenden Klassifikatoren fallen. Ein piktogrammatischer Bildgebrauch scheint die Fiktionalitätsfrage also durchaus zu suspendieren.<br />
:<br />
===Drei bildtheoretische Positionen ===<br />
In der Bildtheorie sind drei unterschiedliche Positionen denkbar, mit dieser Differenz und einem möglichen Primat umzugehen. Walton und Sachs-Hombach scheinen mir am deutlichsten für die zwei konträrsten Einschätzungen zu argumentieren. Walton geht, wie angesprochen, davon aus, jedes Bild eines Bisons stelle primär einen partikularen (und daher in seinen Termini: einen „fiktiven“) Bison dar (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 125). Wenn ein Bild somit als Gattungsbild gebraucht wird, wäre dies ein ''reflexiver'', kontingenter Einsatz. Insbesondere für fotografische Bilder lässt sich dies mit einer gewissen Berechtigung vertreten.<ref>Currie spricht hierbei von „representation-by-origin“, vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>, S. 19–21.</ref> Aber ist diese Ebene der Semantik nicht allein unserem Vorwissen um das fotografische Dispositiv geschuldet, demzufolge irgendwann einmal ein konkretes Einzelding vor einer Kamera gestanden haben müsste? Für viele Autor*innen jedenfalls scheint vorausgesetzt, dass Bildmedien ''grundsätzlich'' nur Individuelles, bzw. nur in abgewandeltem Gebrauch Allgemeines zeigen könnten. Einer viel beachteten Aussage von Jurij M. Lotman zufolge zeige ein Film etwa ''immer'' Konkretes: <br />
:<br />
:''[D]as Wort der natürlichen Sprache kann einen Gegenstand, eine Gruppe von Gegenständen und eine Klasse von Gegenständen jeder beliebigen Abstraktion bezeichnen […]. Das ikonische Zeichen besitzt eine ursprüngliche Konkretheit, eine Abstraktion kann man nicht sehen'' (<bib id='Lotman 1977a'></bib>, S. 69). <br />
:<br />
Sachs-Hombach vertritt die gegenteilige Position (vgl. etwa <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 166 sowie ausführlich in <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>). Die Referenzialisierung von Einzeldingen mit Bildern muss demnach aus ''notwendigen'' Gründen nachgeordnet und kontingent sein: „Die Veranschaulichung konkreter Gegenstände erfolgt immer analog zu Kennzeichnungen, indem begriffliche Charakterisierungen derart kombiniert werden, dass sie sich in einem bestimmten Kontext zur Charakterisierung individueller Dinge eignen“ (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 182). Dies dürfte auf fiktive oder in dieser Hinsicht unbestimmbare Gegenstände in möglichen Welten ebenso zutreffen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass der Fiktionsbegriff bei Sachs-Hombach kaum eine zentrale Rolle einnimmt. Ferdinand Fellmanns kommt zu einem gleich lautendem Urteil: <br />
:<br />
:''Für das richtige Verständnis von Ähnlichkeit ''[des Bildes – L.W.]'' ist es demnach notwendig, daß sich diese nicht wie die Spur auf bestimmte Gegenstände oder Vorgänge beziehen muß, sondern daß sie Typen oder Klassen betrifft, die sprachlich durch Allgemeinbegriffe bezeichnet werden. Historisch scheint die Darstellung von Typen der detailgetreuen Reproduktion von Individuen voranzugehen, wie die Tierdarstellungen der Höhlenmalerei zeigen'' (<bib id='Fellmann 2000a'></bib>: S. 21). <br />
:<br />
Damit wären die allermeisten Bilder zunächst tatsächlich ''primär'' als „Allgemeinbilder“ oder als „Genusbilder“ zu bezeichnen, bevor sie anders (partikularisierend) eingesetzt werden. Dass wir uns zumindest bei vielen piktogrammatischen Darstellungssystemen ''nicht'' dazu angehalten fühlen, eine Partikularisierung zu unterstellen (die daraufhin fiktional oder nicht-fiktional sein müsste), räumt auch Walton ein. Entgegen seiner eigentlichen Vorannahme, Bilder seien „fictions by definitions“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 351) gelten Piktogramme und Verkehrszeichen für ihn als nur „ornamental“; es handele sich um „nicht-funktionale Imaginationsrequisiten“ (''non-functional props'', <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 281). Neil McDonells durchaus typische These hierzu lautet: „The picture of a man on a restroom sign does not refer to any particular man but to all men” (<bib id='McDonell 1983a'></bib>, S. 85; vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>: S. 134-145). <br />
:<br />
Eine dritte Option bestünde darin, keiner dieser beiden Alternativen das Primat einzuräumen und den Unterschied nur ''case-by-case'' geltend zu machen. Wolfram Pichler und Ralph Ubl arbeiten hierfür mit der begrifflichen Opposition zwischen „indefinit“ vs. „definit bestimmbaren“ Bildern, die stets am konkreten Einzelfall getroffen werden muss (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51): <br />
:<br />
:''Die definite Bildbestimmung fängt […] schon da an, wo man bereit ist zu sagen: Das ist derselbe Mann mit Bart wie in jenem anderen Bild. Ob es den so identifizierten Mann mit Bart auch als einen wirklichen gibt, ist unter dieser Voraussetzung gleichgültig; bedeutsam ist allein die Möglichkeit oder Erwartung, dass das gegebene Bildobjekt ''re-identifiziert'' werden kann, sei es auch nur in einem anderen Bild'' (<bib id='Pichler & Ubl 2014a'></bib>: S. 51; Herv. im Orig.)<br />
:<br />
Packard formuliert diese Alternative mit Peirce als die Opposition, Bilder entweder als dicentisch-indexikalische Sinzeichen oder als rhematisch-ikonische Qualizeichen aufzufassen: <br />
:<br />
:''Diese reine Möglichkeit einer Qualität ist Voraussetzung der Behauptung, die die Qualität einem konkreten Gegenstand zuschreiben könnte und dann sagte, dieser sei so; aber diese Zuschreibung ist in dem Bild eben anders als die Darstellung einer ikonischen Qualität noch nicht durchgeführt. Es ist erst eine Interpretation, die gerade diese Durchführung und Ausführung sistiert. Ihr fehlt die Referenz auf ein Einzelding, von dem die gezeigte Qualität behauptet wird – auf den Raum, in dem die Szene des Stilllebens zu sehen gewesen sei, auf den Menschen, der die emotionale Erfahrung des Schreis gemacht, oder auf die biblische oder historische Figur mit ihrem Eigennamen, die den abgeschnittenen Kopf in einer Schale getragen habe'' (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 135).<br />
:<br />
===Medialität als Rahmung===<br />
Ein Foto werden wir zumeist prinzipiell als definit – also partikularisiert – interpretieren, auch wenn wir keine Kriterien dafür besitzen, seinen Referenten tatsächlich bestimmen zu können! Und in diesem Fall müssten wir uns auch entscheiden, ob es sich um ein ''reales'' (nicht-fiktionales) oder eben fiktionalisiert eingesetztes (oder manipuliertes) Foto handelt. Doch auch dies ist womöglich eher einer medialen Konvention geschuldet, denn Eingriffe, Manipulationen, Montagen und nicht zuletzt andere Verwendungszusammenhänge der Fotografie (etwa als Gattungsbilder in Lexika oder in fiktional gerahmten Kontexten wie dem Foto-Roman) hat es schon immer gegeben (vgl. <bib id='Fineman 2012a'></bib>). Schon bei der Fotografie handelt es sich daher lediglich um eine Rezeptionskonvention. Es gilt daher, den Zusammenhang zu bestimmten Bildverwendungstypen bzw. Bildmedien noch genauer in den Blick zu nehmen. <br />
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[[Datei:Fiktion_Abb06.jpg|thumb|Abbildung 6: Frank Flöthmann (<bib id='Flöthmann 2013a'></bib>) erzählt bekannte Grimm-Märchen (hier «Daumesdick») mit Infografiken und Piktogrammen nach, behauptet dabei aber stets die (fiktionale) Existenz seines partikularisierten Personals.]]<br />
Mit (bestimmten) Bildmedien sind hierbei nicht technisch-apparative Herstellungs- und Übertragungsweisen gemeint, sondern Bildtypen, die als konventionell-distinkte Einzelmedien (wie die Fotografie) auftreten und kulturell als solche etabliert sind. Beispielsweise lassen sich die Unterschiede zwischen Gebrauchsanweisungen, Comics oder Fotoromanen nicht alleine anhand technisch-apparativer oder semiotischer Kriterien festmachen. In der multimodalen Lingustik spricht man schlicht von Textsorten oder Genres: „Ist das Genre einmal erkannt, d.h. sind wir z.B. sicher, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt, wird das Verstehen insgesamt befördert. Es vollzieht sich dann im Rahmen der Textsortenkonventionen, auf die Rezipienten in Form von abstrahierten semiotischen Erfahrungen, d.h. gespeicherten Mustern zurückgreifen können“ (<bib id='Stöckl 2016a'></bib>: S. 102). Dies lässt sich mit Sachs-Hombachs und Schirras Überlegungen zum Bildstil als einem „illokutionärem Indikator“ verbinden (<bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2006a'></bib>: S. 181), das bestimmte „Bild-Spiele“ (gegenüber anderen) als solche ausweist (vgl. <bib id='Scholz 2004a'></bib>, S. 154-162). Wendet man dies auf den Zusammenhang zwischen piktogrammatischen vs. partikularisierenden Verwendungsweisen von Bildern an – und damit auch auf die Frage, ob ein Fiktionalitätsurteil getroffen werden muss – so zeigt es sich, dass keineswegs alle Bildverwendungspraktiken über alle konventionellen Medientypen gleich verteilt sind (vgl. erneut <bib id='Schröter 2016a'></bib>: S. 123). Um erneut Comics als Beispiele heranzuziehen: „Nun sind aber gerade die (vielen) narrativen Comics jene, die typischerweise Einzeldinge darstellen, und zwar im Sinne eines Minimums an Realismus als Gegenstände einer extensionalen Welt“ (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 180). Dies wiederum macht ein Fiktionalitätsurteil notwendig, was bei piktogrammatischen Bildverwendungsweisen nicht der Fall ist, die in kommunikativer Hinsicht lediglich Klassen hinreichend ähnlicher Gegenstände ins Spiel bringen sollen. <br />
:<br />
Mit diesen Konventionen spielt der Grafikdesigner Frank Flöthmann in seinen populären „Piktogramm-Comics“. Trotz der offenkundigen Hybridisierung beider Bildmedienbereiche ist eine Differenzlogik ''zwischen'' Comic und Piktogramm zum Verständnis der Geschichten vorausgesetzt. Denn obwohl die Bildästhetik an die Kennzeichnung von Gegenstandstypen erinnert, stellt der Autor hier doch “reguläre” fiktive Welten aus 16 Märchen der Gebrüder Grimm dar, in welchen die Protagonist*innen auch als ''existent'' behauptet werden – was bei Piktogrammen in gewöhnlicher Verwendung (Genusbilder oder indefinit bestimmbare Bilder) gerade nicht der Fall ist. Wenn wir also von (konventionell als distinkt verstandenen) Einzelmedien wie »dem Spielfilm« sprechen, dann umfasst dessen Medialität, zusammenfassend, nicht nur seine technisch-materiellen und institutionellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen (also beispielsweise auch sozialsystemische Institutionen oder eine arbeitsteilige Autor*innenschaft zwischen vielen Akteuren), sondern auch semiotische und fiktionsbezogene Erwartungen, die über Rahmungen und konventionalisierte Ästhetiken aufgerufen werden können.<br />
<br />
<br />
==Der fiktionale Gebrauch von Bildmedien==<br />
Während der »Fiktions«-Begriff in der Bildtheorie (im engeren Sinne) also in vielfacher Hinsicht merkwürdig untertheoretisiert ist, können doch zwei unterschiedliche Bereiche piktorialer Bezugnahmen auf fiktive Entitäten (Personen, Ereignisse, Welten) nicht ausgeblendet bleiben. Zum einen dürfte es ganz unbestritten sein, dass Bildmedien bereits etablierte fiktive Entitäten ebenso darstellen können wie real existierende Dinge. In kunstgeschichtlichen Beschäftigungen obliegt die Klärung dieser ''Referenz'' anhand bildlicher Kodes etwa der Ikonologie (vgl. <bib id='Panofsky 1939a'></bib>: S. 6). Wenn wir mit den relevanten Ikonografien vertraut sind, so wissen wir, dass ein bildlich dargestellter Mann mit einer Filzkappe immer Odysseus darstellt und können Odysseus-Repräsentationen auch in unbekannten Bildern identifizieren. Die komplexen Diskussionen um die fragliche Ontologie dieses Wesens (zwischen fiktivem Referenzobjekt und davon unterschiedenem ''Sujet'') müssen und können an dieser Stelle ausgeblendet bleiben, denn relevanter für den Zusammenhang von Bild und Fiktion scheint mir ein zweiter Bereich fiktionalen Bildgebrauchs. Hier wird nicht eine bereits bestehende fiktive Entität irgendwie durch bildliche Codes “anzitiert”, sondern genuin ''erzeugt''.<ref>Der Zusammenhang zwischen beidem ist noch einigermaßen unklar, vgl. erneut <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 221-245.</ref> Es sollte nämlich nicht übersehen werden, dass weite Teile der Medienwissenschaft sich im “Tagesgeschäft” mit exakt solchen Bildmedien auseinandersetzen, die im “unmarkierten Standardfall” stets als fiktional gelten, wie Thon zutreffend argumentiert hat (vgl. <bib id='Thon 2014c'></bib>, S. 452-459): Realfilme, Animationsfilme, Fernsehserien, Comics oder Computerspiele. Die Befähigung dieser weiten Bereiche der Bildmedien zur ''Nicht-Fiktionalität'' muss – umgekehrt – zumeist mühevoll hergeleitet und gesondert begründet werden, mit verschieden hohem Aufwand bei unterschiedlichen Medientypen. Denn auch wenn nicht-fiktionale (dokumentarische oder essayistische) Realfilme in der Filmwissenschaft insgesamt ebenfalls weniger Aufmerksamkeit als fiktionale Spielfilme erhalten haben, scheint hier das fotografische Dispositiv doch zumindest eine unbestreitbar dokumentarische Qualität zu sichern.<ref>Allerdings fallen dadurch differenzierte Praktiken des ''re-entactments'' häufig erneut unter den Tisch, vgl. <bib id='Mundhenke 2017a'></bib>: S. 196-205; <bib id='Wilde 2019a'></bib>.</ref> Die Legitimation der Nicht-Fiktionalität von Animationsfilmen (z.B. «Waltz with Bashir», Ari Folman 2008), Comics (z.B. Art Spiegelmans «Maus: A Survivor’s Tale», 1991), oder Computerspielen (z.B. «JFK Reloaded», Traffic Games, 2004) muss hingegen immer wieder mühsam begründet und verteidigt werden (vgl. dazu <bib id='Thon 2019a'></bib>). Dass diese Bildmedien typischerweise fiktive Entitäten (Figuren, Ereignisfolgen, Welten) repräsentieren, stellt in jedem Fall keinen theoretischen Streitpunkt dar. Hier scheint mir eine merkwürdige Dissonanz gegenüber allgemeinen bildtheoretischen Prämissen zu liegen, die selten genauer in den Blick genommen worden ist. Abschließend soll daher noch einmal der Blick darauf gewendet werden, welche besonderen Funktionen und Leistungen Bildmedien in der Darstellung fiktiver Dinge, Ereignisse und Welten zufallen. <br />
<br />
===Die notwendige Unvollständigkeit fiktiver Entitäten ===<br />
Alles, was in fiktionalen Medien dargestellt wird, muss in sehr grundlegender Hinsicht als ''unvollständig'' erachtet werden. Lubomír Doležel arbeitete diesen Punkt in seiner Variante der ''possible world''-Theorie unter der Bezeichnung ‘ontologische Unvollständigkeit’ heraus: <br />
:<br />
:''Fictional worlds are brought into existence by means of fictional texts, and it would take a text of infinite lengths to construct a complete fictional world. Finite texts that humans are capable of producing, necessarily create incomplete worlds'' (<bib id='Doležel 1995a'></bib>: S. 201). <br />
:<br />
Die Bezeichnung der „ontologischen“ Unvollständigkeit geht auf Barry Smith zurück, der sich damit begrifflich gegenüber einer „epistemischen“ Unvollständigkeit absetzen wollte, welche bloß unser gerechtfertigtes Wissen betrifft (vgl. <bib id='Smith 1979a'></bib>). Wenn Eigenschaften und Merkmale des Dargestellten in Texten schlichtweg ''nicht'' definiert seien, so Smith, Doležel und viele andere, so “fehlen” uns nicht nur bestimmte Informationen (temporär), die wir etwa noch in Erfahrungen bringen könnten; sie ''existieren'' im Gegenteil ''nirgendwo'', und zwar, auf einer grundsätzlichen und daher ontologischen Ebene.<ref>Es existieren jedoch Gründe, dennoch an der Bezeichnung einer ''epistemischen'' Unvollständigkeit festzuhalten, vgl. <bib id='Wilde 2018a'></bib>, S. 208.</ref> Dennoch setzen wir im Rezeptionsprozess zumeist voraus, dass alle dargestellten Welten grundsätzlich konsistent und vollständig sind, sofern nicht explizite (phantastische) Gründe vorliegen, warum dem anders sein sollte. <br />
:<br />
Rezipient*innen können gemeinhin auf ihr Weltwissen zurückgreifen, um solche “Lücken” zu füllen. Marie-Laure Ryan führt dies auf das von David Lewis übernommene Konzept des ''principle of minimal departure'' zurück: <br />
:<br />
:''the imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world, and it will import knowledge from the real world to fill out incomplete descriptions […]. For instance, when a text refers to a location in the real world, all of the real geography is implicitly part of the storyworld, and when it refers to a historical individual, this individual enters the storyworld with all of his or her biographical data except for those features that the text explicitly overrules'' (<bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35; vgl. bereits <bib id='Ryan 1991a'></bib>: S. 51).<br />
:<br />
Die Literaturwissenschaft verwendet in der rezeptionsästhetischen Tradition Roman Ingardens den Begriff der »Unbestimmtheitsstelle« (vgl. <bib id='Ingarden 1972a'></bib>) oder Wolfgang Isers Konzept der »Leerstelle« (vgl. <bib id='Iser 1978a'></bib>: S. 194), um auf die Notwendigkeit der „Mitarbeit des Lesers“ (<bib id='Eco 1987a'></bib>: S. 1) in dieser inferenziellen Ergänzung von Unvollständigkeiten hinzuweisen. Die Filmwissenschaft operiert mit dem Terminus des ‘Suture’, die Comicforschung mit dem des ‘Closures’. In den Bildwissenschaften wurden diese Ansätze bisher erst mit großem Zögern aufgenommen, vermutlich aus des zuvor angeführten Theoriedefizits in der Fiktionsdebatte (vgl. <bib id='Lobsien 1980a'></bib>; <bib id='Kimmich 2003a'></bib>). <br />
:<br />
Unbestritten scheint, dass Bildmedien besondere Leistungen und Funktionen geltend machen können, um fiktionale Objekte zu konkretisieren. Filmfiguren etwa besitzen für gewöhnlich eine „sensory specificity that at the same time diminishes the range of individual imaginations by the recipients“ (<bib id='Eder et al. 2010a'></bib>: S. 18). Über das Aussehen fiktiver Dinge im Film scheinen wir so zumeist viel zu wissen und epistemisch begründen zu können, weil vor der Kamera Objekte standen, deren Aussehen weitgehend auf die diegetischen Entitäten übertragbar ist. Mit anderen Worten: Die [[Ähnlichkeit_und_wahrnehmungsnahe_Zeichen|Wahrnehmungsnähe]] von Bildmedien kann sich dergestalt niederschlagen, dass jeder wahrnehmbare Aspekt des Bildinhalts auch in der Konkretisierung fiktiver Situationen relevant bleibt. Mit wieder anderen Worten: Die [[Prädikation|Prädikationsmöglichkeiten]], die Bilder zur Verfügung stellen, sind größtenteils auf die fiktive Diegese übertragbar. Externe Prädikationsmöglichkeiten der Darstellungsmittel lassen sich als interne Prädikate des Dargestellten verrechnen (vgl. <bib id='Reicher 2010a'></bib>: S. 117).<br />
<br />
===Darstellungskorrespondenz und doppelte Prädikation ===<br />
<br />
Die Wahrnehmungsnähe von Bildmedien lässt sich durch Gregory Curries Begriff der »Darstellungskorrespondenz« (''representational correspondence'') noch genauer fassen (vgl. <bib id='Currie 2010a'></bib>: S. 58-64): „ [F]or a given representational work, only certain features of the representation serve to represent features of the things represented“ (S. 59). Es sind also niemals ''alle'' Eigenschaften einer Darstellung hinsichtlich der fiktiven Situation relevant, wie Thon in Bezug auf die gleiche Textstelle von Currie weiter ausführt: „[I]t makes sense to distinguish more systematically between ''presentational'' and ''representational'' aspects of a given narrative representation in this context“ (<bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 60; Herv. im Orig.). Dass diese Differenz selbst im fotografischen Filmbild nie völlig überwunden werden kann lässt sich leicht vor Augen führen: Man denke etwa an Schwarzweißfilme oder Rückblenden in Sepia-Kolorierungen, die nur in speziellen Ausnahmefällen eine “monochrome Welt” repräsentieren (etwa im medienreflexiven Film «Pleasantville», USA 1998; vgl. dazu umfassender <bib id='Thon 2017a'></bib>; <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Etwas technischer ausgedrückt: Die Prädikationsmöglichkeiten, die ein Bild in einem Schwarzweißfilm anhand wahrnehmbarer Graustufen und monochromer Kontraste anbietet, treffen nur auf den Bildinhalt, nicht aber auf die fiktive Situation zu (vgl. <bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 171; <bib id='Thon 2016a'></bib>: S. 85-91). <br />
:<br />
All dies bedeutet zusammenfassend, dass fiktional eingesetzte Bildmedien stets eine doppelte Prädikation aufweisen: Die Prädikationsmöglichkeiten, die der Bildinhalt zur Verfügung stellt (begründete Aussagen über das Aussehen der Bildobjekte), stehen in relativer Darstellungskorrespondenz zur Ebene der fiktiven Diegese, auf die sie sich häufig – aber eben nicht immer, und niemals notwendig – “mappen” lassen. Im interpretativen Verstehen müssen beide Ebenen voneinander differenziert werden, indem zwischen abbildungsrelevanter Form und “bloßem” medialem Kontext differenziert wird. Als nicht abbildungsrelevanter medialer Kontext wären aber nicht nur limitierende Faktoren der Materialität zu nennen (Schwarzweiß-Druckverfahren in der Darstellung farbiger Welten). Auch viele Aspekte des medialen Produktionszusammenhangs fließen häufig nicht in die Konkretisierung fiktionaler Gegenstände mit ein. <br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb07.jpg|thumb|Abbildung 7: Zwei mal die identische fiktive Figur: Magische Transformation oder bloßer Darstellungsunterschied? ]]<br />
Mit Kendall L. Walton gesprochen wäre es beispielsweise eine „silly question“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 174-183), danach zu fragen, warum die fiktive Figur Daario Naharis in der HBO-Serie «A Game of Thrones» plötzlich auf mysteriöse Weise ihr Aussehen verändert. In Staffel drei wurde die Figur vom Briten Ed Skrein, ab Staffel vier vom niederländischen Michiel Huisman verkörpert (vgl. Abb. 7), ohne dass dafür eine diegetische Erklärung angeboten wurde. Gültige fiktionale Rückschlüsse, dass Daario Naharis über magische Fähigkeiten verfügen und – wie die diegetisch etablierten ''faceless men'' – sein Aussehen beliebig transformieren könnte, wären ganz offensichtlich falsch (oder vorsichtiger: kommunikativ kaum anschlussfähig; zu fiktionalen Fakten vgl. <bib id='Bareis 2015a'></bib>). Der wahrnehmbare Unterschied, den die Prädikationsmöglichkeiten der Bilder zur Verfügung stellen, wird also nicht auf Seite des fiktional Dargestellten, sondern auf den medialen Ermöglichungshintergrund “verrechnet”. Dieser wird hier als institutioneller Produktionszusammenhang der TV-Serie kenntlich, mit dem die konventionalisierte semiotische Form des doppelten Darsteller*innenkörpers und dem Schauspieler*innen-Starsystem verbunden ist (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Eine fundamentale Differenz zwischen den im Bild sichtbaren Objekten und den dadurch repräsentierten, diegetischen Entitäten ist also unauflösbar. Über Wahrnehmungsnähe und Darstellungskorrespondenz kann die doppelte Prädikation aber so eng geführt werden, dass sie gänzlich transparent erscheint, insbesondere in fotografischen oder illusionistischen Bildmedien, wo wir nahezu ''in die Diegese'' zu blicken meinen.<br />
<br />
===Gemeinsamkeiten und Differenzen fiktionaler und nicht-fiktionaler Weltbezüge===<br />
Grundsätzlich ist eine doppelte Prädikation zwischen sichtbarem Bildinhalt und den dadurch repräsentierten Entitäten (vermittelt über eine skalierte Darstellungskorrespondenz) auch für nicht-fiktionale, dokumentarische Formate unumgänglich: In nicht-fotografischen Bildmedien ist dies unmittelbar evident: Die Wahrnehmbarkeit der tatsächlich vorgefallenen Situationen wird hier doch in erheblichem Maße von den Wahrnehmungsparametern der (etwa gezeichneten, gemalten oder computergenerierten) Bildlichkeit abweichen; auch ist davon auszugehen, dass nicht alle Bildelemente in Vorder- und Hintergrund, in Zentrum und Peripherie, die gleichen Wahrheitsansprüche erheben. Packard geht daher von einer „gradierte[n] Fiktionalität“ (<bib id='Packard 2016c'></bib>: S. 139) gezeichneter Bilder aus, Thon mit gleicher Stoßrichtung von einer „referential multimodality“ (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271): <br />
:<br />
:''[T]here is no simple one-to-one relationship between the semiotic resources a given narrative work employs and the referential claims it makes […]. Accordingly, it seems helpful to expand previous conceptualizations of multimodality by distinguishing between ''semiotic multimodality'', on the one hand, and ''referential multimodality'', on the other'' (<bib id='Thon 2019a'></bib>: S. 271; Herv. um Orig.).<br />
:<br />
In nicht-fiktionalen Bildmedien fungiert ein geteiltes Wissen um die intersubjektive Wirklichkeit aber zumindest stets als Korrektiv, was sich mit Walton als „reality principle“ (<bib id='Walton 1993a'></bib>: S. 44) ausbuchstabieren ließe. Auch in der Fiktionstheorie ist das bereits angesprochene ''principle of minimal departure'' zwar fest etabliert.<ref>„The imagination will consequently conceive fictional storyworlds on the model of the real world“, <bib id='Ryan 2014a'></bib>: S. 35.</ref> Es besteht aber ein zentraler Unterschied in seinem Referenzbereich. Nach Ryan muss nämlich nicht zwangsläufig unsere (als ''real'' erachtete) Welt den Ausgangspunkt des inferenziellen “Lücken-Füllens” darstellen. Ebenso können andere mediale, selbst bereits fiktionale Repräsentationen als interpretative Ausgangspunkte genutzt werden, etwa was das Verstehen von “Zentauren” oder “Superhelden” betrifft. Eine solche Loslösung der Darstellung und des Dargestellten von Ansprüchen lebensweltlicher Realität hat auch bildtheoretisch interessante Konsequenzen. <br />
Gegenüber einer “naturalisierenden” Lesung, die in phantastischen, abstrahierten und überzeichneten Cartoon-Bildern beispielsweise stets die Repräsentation einer Welt vermutet, die der unserer zumindest in ihrer Wahrnehmbarkeit weitgehend entspricht, ist es auch möglich, Umgekehrtes zu vertreten: Die phantastischen Welten von Comic, Manga und Animation brechen dann nicht nur punktuell lokal mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten (etwa, wenn Figuren Superkräfte besitzen), sondern können auch auf globaler Ebene eine besondere „visuelle Ontologie“ aufweisen (vgl. <bib id='Lefèvre 2007a'></bib>), die der “unseren” aus keinerlei notwendigen Gründen entsprechen muss. «The LEGO Movie» (2014) bildet dafür ein beeindruckendes Denkmodell (vgl. <bib id='Wilde 2019b'></bib>). Wenn das durch Lego-Steine dargestellte Wasser, der Schaum, die Dampf- und die Staubwolken durchaus naturalisiert aufgefasst werden könnten (so dass sich mit dem gleichen Material auch nicht-fiktive Geschichten erzeugen ließen), so muss den sogenannten „Master Buildern“ die “Legohaftigkeit” ihrer Welt stets wahrnehmbar bleiben. Sie können sie manipulieren und rekombinieren: „We'll build a motorcycle out of the alleyway!“ (00:14:40). Die dargestellte Welt behält also ihre besondere Ontologie, so dass die Hauptfigur Emmet seinen drehenden Lego-Kopf als Radachse einsetzen kann – was sich in keinem nicht-fiktionalen Referenzrahmen mehr plausibilisieren ließe!<br />
:<br />
[[Datei:Fiktion_Abb08.jpg|thumb|Abbildung 8: Die Darstellung einer physikalisch “gewöhnlichen” Welt mit den Mitteln (computeranimierter) Lego-Steine oder Darstellung einer Welt aus Lego-Materialität?]]<br />
Ein jedes solches Urteil muss am Einzelfall durch zahlreiche analytische Argumente untermauert werden: etwa, dass es den gezeichneten Protagonisten in Comic und Manga häufig durch leichte Manipulationen ihres Äußeren möglich scheint, sich so zu maskieren und zu verkleiden, dass dies selbst von nächsten Verwandten nicht mehr durchschaut werden kann (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). In solchen Fällen scheint es, als bestünde nicht nur die Darstellung aus einfachsten Konturlinien, “hinter” der eine reichere Wahrnehmungsfülle verborgen bleibt (die doppelte Prädikation würde damit durch eine blockierte Darstellungskorrespondenz auseinandergetrieben). Stattdessen scheint hier auch die dargestellte Welt selbst der Wahrnehmbarkeit abstrahierter Bildlichkeit zu entsprechen – was nur im Fiktionalen – dort aber prinzipiell jederzeit – möglich ist. <br />
:<br />
Die ambivalente Grenze der doppelten Prädikation öffnet zusammenfassend eine Zone der künstlerischen und imaginativen Aushandlung. Gefragt – und gezweifelt – werden muss an fiktionalen Bildern dann stets, welche der Prädikationsmöglichkeiten des sichtbaren Bildinhalts darstellungsrelevant und somit auf die intersubjektiv und diskursiv konstruierte Diegese übertragbar sind. Dies aber lässt sich nicht einfach ''sehen'', sondern nur auf Ebene der Traditionsbildung, der Diskursivierung und der Anschlusskommunikation, also auf Ebene performativer Transkriptionspraktiken, rekonstruieren (vgl. <bib id='Jäger 2002a'></bib>).<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
* <br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2019''<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Verantwortlich:'' <br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra|Schirra, Jörg R.J.]]<br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Benutzer:Lukas_R.A._Wilde&diff=27815Benutzer:Lukas R.A. Wilde2019-11-06T15:05:36Z<p>Lukas R.A. Wilde: </p>
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'''Dr. Lukas R.A. Wilde''': <br />
Magisterabschluss an der Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Gakugei Universität Tokyo in den Fächern Theater- und Medienwissenschaften, Japanologie und Philosophie. Seine medienwissenschaftliche Dissertation, veröffentlicht als <i>Im Reich der Figuren</i> (Halem Verlag 2018), untersucht die japanische ‚Mangaisierung‘ öffentlicher Räume und die Implementierung von transmedialen ‚Figuren‘ (<i>kyara</i>) in funktionaler Kommunikation und wurde mit dem Roland-Faelske-Preis für die beste Dissertation im Bereich der Comic- und Animationsforschung 2018 ausgezeichnet. Lukas Wilde ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor), Co-Sprecher der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaften (GfM) und Mitinitiator des GINCO-Awards (der Inklusive Deutsche Comicpreis der Independent-Szene).<br />
Vollständiger Lebenslauf und Publikationsliste unter http://lukasrawilde.de.<br />
<br />
<br />
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''Verantwortlich für:'' <br />
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* [[Comic]]<br />
* [[Draft:Fiktion]]<br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26489Comic2016-05-11T06:24:27Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
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[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
==Probleme der Definition des »Comic«==<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands »Comic« festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (mehr dazu im nächsten Abschnitt) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. verschiedene Formen der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) finden sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
==Medialität des Comic==<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: hinsichtlich<br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in «Scott Pilgrim» (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue „Trägermedien“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und “sozialen Netzwerken” werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte „Infinite Canvas“ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar (vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. 8).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
<br />
==Intersemiotizität und Multimodalität des Comic==<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität«&#8203; vs. »Spatialität«,&#8203; »Arbitrarität«&#8203; vs. »Motiviertheit«,&#8203; »Kognition«&#8203; vs. »Perzeption«&#8203; oder »Transparenz«&#8203; vs. &#8203;»Komplexität«&#8203; (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 4: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu – 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu – 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatische Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
<br />
==Narrativität des Comic ==<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narrativität als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64. ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktive oder nicht-fiktive, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: „non sequitur“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint immer dann unsichtbar zu werden, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie «The Oatmeal» oder Randall Munroes «XKCD», verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
==Bildlichkeiten des Comic==<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder (oder Lexia) als Elemente in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152. ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine „cartoonhafte“ Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72. ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere von Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>. Siehe auch [https://de.wikipedia.org/wiki/Metalepse#Die_Metalepse_der_Erz.C3.A4hltheorie Wikipedia: Metalepse – Die Metalepse der Erzähltheorie]: „In der Literaturwissenschaft wird von einer Metalepse immer dann gesprochen, wenn (mindestens) zwei getrennte Erzählebenen (z.B. die extradiegetische Ebene des Erzählers und die fiktive Intradiegese dessen, was er erzählt) logikwidrig miteinander vermischt werden.“ </ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43. ]]<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“ (chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra| Schirra, Jörg R.J. ]]<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26477Comic2016-05-08T12:51:56Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des »Comic« */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
<br />
Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
==Probleme der Definition des »Comic«==<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands »Comic« festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (mehr dazu im nächsten Abschnitt) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. verschiedene Formen der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) finden sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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==Medialität des Comic==<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: hinsichtlich<br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in «Scott Pilgrim» (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue „Trägermedien“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und “sozialen Netzwerken” werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte „Infinite Canvas“ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar (vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. 8).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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==Intersemiotizität und Multimodalität des Comic==<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität«&#8203; vs. »Spatialität«,&#8203; »Arbitrarität«&#8203; vs. »Motiviertheit«,&#8203; »Kognition«&#8203; vs. »Perzeption«&#8203; oder »Transparenz«&#8203; vs. &#8203;»Komplexität«&#8203; (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 4: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu – 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu – 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatische Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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==Narrativität des Comic ==<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narrativität als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64. ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktive oder nicht-fiktive, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: „non sequitur“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint immer dann unsichtbar zu werden, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie «The Oatmeal» oder Randall Munroes «XKCD», verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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==Bildlichkeiten des Comic==<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder (oder Lexia) als Elemente in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152. ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine „cartoonhafte“ Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72. ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>. Siehe auch [https://de.wikipedia.org/wiki/Metalepse#Die_Metalepse_der_Erz.C3.A4hltheorie Wikipedia: Metalepse – Die Metalepse der Erzähltheorie]: „In der Literaturwissenschaft wird von einer Metalepse immer dann gesprochen, wenn (mindestens) zwei getrennte Erzählebenen (z.B. die extradiegetische Ebene des Erzählers und die fiktive Intradiegese dessen, was er erzählt) logikwidrig miteinander vermischt werden.“ </ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43. ]]<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“ (chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra| Schirra, Jörg R.J. ]]<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26475Comic2016-04-30T10:58:31Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
==Probleme der Definition des »Comic«==<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands »Comic« festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. verschiedene Formen der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) finden sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
<br />
==Medialität des Comic==<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: hinsichtlich<br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in «Scott Pilgrim» (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue „Trägermedien“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und “sozialen Netzwerken” werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte „Infinite Canvas“ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar (vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. 8).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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==Intersemiotizität und Multimodalität des Comic==<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität«&#8203; vs. »Spatialität«,&#8203; »Arbitrarität«&#8203; vs. »Motiviertheit«,&#8203; »Kognition«&#8203; vs. »Perzeption«&#8203; oder »Transparenz«&#8203; vs. &#8203;»Komplexität«&#8203; (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 4: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu – 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu – 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatische Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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==Narrativität des Comic ==<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narrativität als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64. ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktive oder nicht-fiktive, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: „non sequitur“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint immer dann unsichtbar zu werden, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie «The Oatmeal» oder Randall Munroes «XKCD», verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
==Bildlichkeiten des Comic==<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder (oder Lexia) als Elemente in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152. ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine „cartoonhafte“ Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72. ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>. Siehe auch [https://de.wikipedia.org/wiki/Metalepse#Die_Metalepse_der_Erz.C3.A4hltheorie Wikipedia: Metalepse – Die Metalepse der Erzähltheorie]: „In der Literaturwissenschaft wird von einer Metalepse immer dann gesprochen, wenn (mindestens) zwei getrennte Erzählebenen (z.B. die extradiegetische Ebene des Erzählers und die fiktive Intradiegese dessen, was er erzählt) logikwidrig miteinander vermischt werden.“ </ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43. ]]<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“ (chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
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{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra| Schirra, Jörg R.J. ]]<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26439Comic2016-04-07T20:45:12Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
==Probleme der Definition des »Comic«==<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands »Comic« festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. verschiedene Formen der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) finden sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
<br />
==Medialität des Comic==<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: hinsichtlich<br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in «Scott Pilgrim» (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue „Trägermedien“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und “sozialen Netzwerken” werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte „Infinite Canvas“ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar (vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. 8).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
<br />
==Intersemiotizität und Multimodalität des Comic==<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität«&#8203; vs. »Spatialität«,&#8203; »Arbitrarität«&#8203; vs. »Motiviertheit«,&#8203; »Kognition«&#8203; vs. »Perzeption«&#8203; oder »Transparenz«&#8203; vs. &#8203;»Komplexität«&#8203; (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 4: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu – 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu – 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatische Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
<br />
==Narrativität des Comic ==<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narrativität als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64. ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: „non sequitur“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint immer dann unsichtbar zu werden, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie «The Oatmeal» oder Randall Munroes «XKCD», verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
==Bildlichkeiten des Comic==<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder (oder Lexia) als Elemente in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152. ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine „cartoonhafte“ Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72. ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>. Siehe auch [https://de.wikipedia.org/wiki/Metalepse#Die_Metalepse_der_Erz.C3.A4hltheorie Wikipedia: Metalepse – Die Metalepse der Erzähltheorie]: „In der Literaturwissenschaft wird von einer Metalepse immer dann gesprochen, wenn (mindestens) zwei getrennte Erzählebenen (z.B. die extradiegetische Ebene des Erzählers und die fiktive Intradiegese dessen, was er erzählt) logikwidrig miteinander vermischt werden.“ </ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43. ]]<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“ (chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
* [[Benutzer:Joerg R.J. Schirra| Schirra, Jörg R.J. ]]<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26383Comic2016-02-24T07:57:06Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
<br />
Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
==Probleme der Definition des ‘Comic’==<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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==Medialität des Comic==<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. 8).<br />
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[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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==Intersemiotizität und Multimodalität des Comic==<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 4: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatische Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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==Narrativität des Comic ==<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: ‘non sequitur’ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint immer dann unsichtbar zu werden, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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==Bildlichkeiten des Comic==<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder (oder Lexia) als Elemente in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine 'cartoonhafte' Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72... ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26381Comic2016-02-24T07:52:08Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
==Probleme der Definition des ‘Comic’==<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
<br />
==Medialität des Comic==<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. 8).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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==Intersemiotizität und Multimodalität des Comic==<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 4: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatische Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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==Narrativität des Comic ==<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: ‘non sequitur’ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint immer dann unsichtbar zu werden, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
==Bildlichkeiten des Comic==<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine 'cartoonhafte' Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72... ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
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{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26377Comic2016-02-22T17:02:07Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Intersemiotizität und Multimodalität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. 8).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 4: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatische Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: ‘non sequitur’ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine 'cartoonhafte' Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72... ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26375Comic2016-02-22T17:00:49Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Medialität des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. 8).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 4: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: ‘non sequitur’ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine 'cartoonhafte' Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72... ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Bibliography&diff=26345Bibliography2016-02-21T16:23:30Z<p>Lukas R.A. Wilde: </p>
<hr />
<div>===McCloud 2006a===<br />
<bibentry><br />
@book{McCloud 2006a,<br />
author = {McCloud, Scott},<br />
title = {Making Comics. Storytelling Secrets of Comics, Manga and Graphic Novels},<br />
year = {2006},<br />
publisher = {Harper Perennial},<br />
address = {New York},<br />
note = {},<br />
hidden = {},<br />
}<br />
</bibentry><br />
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<!--- --><br />
<!--- --><br />
<!--- Dies ist eine Kommentarzeile --><br />
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<!--- also wirklich a l l e für dieses Glossar. --><br />
<!--- Wer es kennt, wird erkennen, dass wir uns an BibTex orientieren. --><br />
<!--- --><br />
<!--- !!!!! Bitte erst mal durchsuchen, ob der geplante Eintrag !!! --><br />
<!--- !!!!! hier nicht schon unter anderer Bezeichnung steht! !!! --><br />
<!--- --><br />
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<!--- so dass eine alphabetisch geordnete Liste erhalten bleibt. --><br />
<!--- --><br />
<!--- Derzeit sind folgende Formen möglich: Monographie (= book), --><br />
<!--- Sammelband (= Proceedings), Artikel in Sammelband (= inproceedings),--><br />
<!--- Zeitschriftenartikel (= article), Rest (= misc.) --><br />
<!--- (An einer Übersetzung dieser Typbezeichnungen wird gearbeitet) --><br />
<!--- In allen sind die jeweils üblichen Felder verfügbar; weitere Daten --><br />
<!--- können im Feld note deponiert werden -- die werden jeweils am Ende --><br />
<!--- der damit produzierten Literaturangabe angezeigt. --><br />
<!--- --><br />
<!--- Nun die Einträge; wenn möglich die Namen (1. Zeile nach bibentry) --><br />
<!--- alle nach gleichem Schema bauen und alphabetisch geordnet eintragen.--><br />
<!--- Angabe des Jahres am Besten immer mit fortlaufendem Kleinbuchstaben --><br />
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<!--- --><br />
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<!--- (insbesondere Umlaut) beginnt, bitte die Normalumschrift benutzen, --><br />
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<!--- --><br />
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<!--- kürzen. Sonst nach Möglichkeit ausschreiben; immer Nachname zuerst. --><br />
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<!--- Immer sowohl Verlagsname als auch -ort angeben --><br />
<!--- --><br />
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<!--- und auf jeweils einzelne Dateien pro Anfanbgsbuchstaben --><br />
<!--- umgestellt. Falls die sich nicht bearbeiten lassen sollten, bitte --><br />
<!--- bei JRJS Bescheid geben; neue Einträge sollten aber in dieser Datei --><br />
<!--- funktionieren: Man erreicht die neuen Dateien unter --><br />
<!--- "Vorlage:Bibliography-X" (wobei "X" jeweils durch den gewünschten --><br />
<!--- Anfangsbuchstaben ersetzt wird --><br />
{{GlossarBoxSub}}__TOC__</div><br />
<!--- --><br />
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==A==<br />
{{Bibliography-A}}<br />
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==B==<br />
{{Bibliography-B}}<br />
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==C==<br />
{{Bibliography-C}}<br />
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==D==<br />
{{Bibliography-D}}<br />
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==E==<br />
{{Bibliography-E}}<br />
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==F==<br />
{{Bibliography-F}}<br />
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==G==<br />
{{Bibliography-G}}<br />
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==H==<br />
{{Bibliography-H}}<br />
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==I==<br />
{{Bibliography-I}}<br />
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==J==<br />
{{Bibliography-J}}<br />
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==K==<br />
{{Bibliography-K}}<br />
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==L==<br />
{{Bibliography-L}}<br />
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==M==<br />
{{Bibliography-M}}<br />
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==N==<br />
{{Bibliography-N}}<br />
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==O==<br />
{{Bibliography-O}}<br />
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==P==<br />
{{Bibliography-P}}<br />
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==Q==<br />
{{Bibliography-Q}}<br />
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==R==<br />
{{Bibliography-R}}<br />
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==S==<br />
{{Bibliography-S}}<br />
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==T==<br />
{{Bibliography-T}}<br />
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==U==<br />
{{Bibliography-U}}<br />
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==V==<br />
{{Bibliography-V}}<br />
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==W==<br />
{{Bibliography-W}}<br />
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==X==<br />
{{Bibliography-X}}<br />
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==Y==<br />
{{Bibliography-Y}}<br />
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==Z==<br />
{{Bibliography-Z}}<br />
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<br />
==Fehlerhafte Angaben==<br />
<br />
<br />
===Lunenfeld 2002a===<br />
<bibentry><br />
@inproceedings{Lunenfeld 2002a,<br />
author = {Levinson, Jerrold},<br />
title = {Digitale Fotografie. Das dubitative Bild},<br />
booktitle = {Paradigma Fotografie},<br />
year = {2002},<br />
editor = {Wolf, H.},<br />
pages = {158-177},<br />
publisher = {Suhr&shy;kamp},<br />
address = {Frank&shy;furt/M.},<br />
note = {},<br />
}<br />
</bibentry><br />
<br />
<!--- Die folgende Zeile muß immer am Ende der Seite stehen!! --><br />
<!--- Nicht entfernen und keinen Biblio-Eintrag danach setzen --><br />
<bibexport/></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26343Comic2016-02-21T16:19:37Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
<br />
Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 5: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: ‘non sequitur’ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:Comic_Abb8.jpg|thumb|Abbildung 8: Basisoperation Linie (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 152... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref><bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden (Abb. 8):<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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[[Datei:Comic_Abb9.jpg|thumb|Abbildung 9: Asterix und Obelix als Beispiel für eine 'cartoonhafte' Darstellung (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 72... ]]<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft (Abb. 9). Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Ab10.jpg|thumb|Abbildung 10: Unterschiedliche Wahrnehmungsnähen (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 43... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (Abb. 10): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
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{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26341Comic2016-02-21T16:11:48Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Medialität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 5: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: ‘non sequitur’ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
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''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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''Lektorat:'' <br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26339Comic2016-02-21T16:09:47Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 5: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb6.jpg|thumb|Abbildung 6: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt (Abb. 6): <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb7.jpg|thumb|Abbildung 7: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: ‘non sequitur’ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (Abb. 7): <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26337Comic2016-02-21T16:07:51Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Intersemiotizität und Multimodalität des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben (Abb. 4):<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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[[Datei:Comic_Abb.4.jpg|thumb|Abbildung 5: Schriftbildlichkeit (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 134.]]<br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang (Abb. 4), während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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[[Datei:Comic_Abb5.jpg|thumb|Abbildung 5: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 99]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic (Abb. 5), die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: non sequitur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
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{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26335Comic2016-02-21T16:00:15Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des ‘Comic’ */</p>
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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[[Datei:Comic_Abb.1.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 32]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: non sequitur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26333Comic2016-02-21T15:59:16Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Medialität des Comic */</p>
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 32]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: non sequitur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26331Comic2016-02-21T15:57:58Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Medialität des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
<br />
Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb2.jpg|thumb|Abbildung 2: Intermediale Referenzen in <i>Scott Pilgrim</i> (USA, 2010)]<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) (Abb. 2) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung auch eine punktuell andere Formensprache: Der von McCloud propagierte ‚Infinite Canvas‘ (die Möglichkeit auf Seitenumbrüche zu verzichten, Abb. 3) stellt hier nur das bekannteste Beispiel dar(vgl. <bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222; <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
[[Datei:Comic_Abb3.jpg|thumb|Abbildung 3: Veränderung der Formensprache durch neue 'Trägermedien' (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 222.]]<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 32]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: non sequitur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
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{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
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<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26329Comic2016-02-21T15:52:40Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des ‘Comic’ */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit (Abb.1) mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abbildung 1: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 32]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: non sequitur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26299Comic2016-02-19T16:46:49Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Intersemiotizität und Multimodalität des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma (vgl. Abb. XY) angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die diagrammatisches Seitenarchitektur (<bib id='McCloud 2006a'></bib>: S. 32]]<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: non sequitur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26297Comic2016-02-19T16:37:06Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma (vgl. Abb. XY) angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern: non sequitur (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 72]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26295Comic2016-02-19T14:48:26Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des ‘Comic’ */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Verräumlichung der Zeit (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma (vgl. Abb. XY) angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>: S. 166... ]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26293Comic2016-02-19T14:47:34Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma (vgl. Abb. XY) angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>: S. 166... ]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
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<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26291Comic2016-02-19T14:43:43Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des ‘Comic’ */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206.]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma (vgl. Abb. XY) angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>: S. 166... ]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26289Comic2016-02-19T14:18:03Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma (vgl. Abb. XY) angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>: S. 166... ]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ‘Basis-Narrativität’ zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen (‘non sequitur’), in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten (vgl. Abb. XY): <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26287Comic2016-02-19T12:02:53Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des ‘Comic’ */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Die Bildsequenz als Merkmal des Comic (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 64... ]]<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma (vgl. Abb. XY) angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>: S. 166... ]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26285Comic2016-02-19T11:56:09Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>: S. 166... ]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26283Comic2016-02-19T11:54:56Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Narrativität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Abstrakte Comics mit gegenständlichen Bildern (<bib id='Groensteen 2014'></bib>: S. 166... ]]<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
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{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26281Comic2016-02-19T11:51:36Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. Abb. XY <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Flexible Wahrnehmungsnähe des Bildes (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44... ]]<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel (vgl. Abb.XY): Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26279Comic2016-02-19T11:48:31Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i> (<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26277Comic2016-02-19T11:48:03Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Abb. XY: Fotografische Abbildungen in Art Spiegelmans <i>Maus</i>(<bib id='Spiegelman 2011a'></bib>: S. 294... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26275Comic2016-02-19T11:23:39Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Medialität des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (vgl. <bib id='Schmidt 2000b'></bib>; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26273Comic2016-02-19T11:18:38Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Medialität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic daher um ein (konventionell als distinkt wahrgenommenes) Einzelmedium handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
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{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
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<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26271Comic2016-02-19T11:09:57Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des ‘Comic’ */</p>
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 85) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 79ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26269Comic2016-02-19T11:06:22Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des ‘Comic’ */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 71) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. 71ff.): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26267Comic2016-02-19T11:03:09Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Intersemiotizität und Multimodalität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 71) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. ..): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Die Konventionalisierung dieser comic-spezifischen Zeichen (japanisch: man’pu 漫符) führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26265Comic2016-02-19T11:00:40Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 71) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. ..): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Deren Konventionalisierung führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
<br />
Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
:<br />
Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
:<br />
Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
<br />
* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Bibliography&diff=26255Bibliography2016-02-19T10:48:15Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Frahm 2011a */</p>
<hr />
<div>===Frahm 2011a===<br />
<bibentry><br />
@inproceedings{Frahm 2011a,<br />
author = {Frahm, Ole},<br />
title = {Populäres Bild. Stereotyp. Antisemitismus},<br />
booktitle = {Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics},<br />
year = {2011},<br />
editor = {Palandt, R.},<br />
pages = {149-157},<br />
publisher = {Archiv der Jugendkulturen},<br />
address = {Berlin},<br />
note = {},<br />
hidden = {},<br />
url = {},<br />
}<br />
</bibentry><br />
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<!--- also wirklich a l l e für dieses Glossar. --><br />
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<!--- so dass eine alphabetisch geordnete Liste erhalten bleibt. --><br />
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<!--- In allen sind die jeweils üblichen Felder verfügbar; weitere Daten --><br />
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<!--- alle nach gleichem Schema bauen und alphabetisch geordnet eintragen.--><br />
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<!--- indizieren, auch wenn noch kein zweites Werk des Autors im gleichen --><br />
<!--- Jahr aufgenommen wurde; kann ja noch kommen. --><br />
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<!--- kürzen. Sonst nach Möglichkeit ausschreiben; immer Nachname zuerst. --><br />
<!--- Bei mehreren Personen: letzte mit Kaufmannsund abtrennen; sonst ; --><br />
<!--- Eintragsschlüssel: bei zwei Personen "1 & 2", bei mehr "1 et al." --><br />
<!--- Immer sowohl Verlagsname als auch -ort angeben --><br />
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<!--- und auf jeweils einzelne Dateien pro Anfanbgsbuchstaben --><br />
<!--- umgestellt. Falls die sich nicht bearbeiten lassen sollten, bitte --><br />
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<!--- "Vorlage:Bibliography-X" (wobei "X" jeweils durch den gewünschten --><br />
<!--- Anfangsbuchstaben ersetzt wird --><br />
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{{Bibliography-C}}<br />
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{{Bibliography-F}}<br />
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{{Bibliography-H}}<br />
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{{Bibliography-J}}<br />
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==K==<br />
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==Q==<br />
{{Bibliography-Q}}<br />
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{{Bibliography-S}}<br />
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{{Bibliography-T}}<br />
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==U==<br />
{{Bibliography-U}}<br />
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==V==<br />
{{Bibliography-V}}<br />
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==W==<br />
{{Bibliography-W}}<br />
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{{Bibliography-X}}<br />
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==Y==<br />
{{Bibliography-Y}}<br />
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==Z==<br />
{{Bibliography-Z}}<br />
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==Fehlerhafte Angaben==<br />
<br />
<br />
===Lunenfeld 2002a===<br />
<bibentry><br />
@inproceedings{Lunenfeld 2002a,<br />
author = {Levinson, Jerrold},<br />
title = {Digitale Fotografie. Das dubitative Bild},<br />
booktitle = {Paradigma Fotografie},<br />
year = {2002},<br />
editor = {Wolf, H.},<br />
pages = {158-177},<br />
publisher = {Suhr&shy;kamp},<br />
address = {Frank&shy;furt/M.},<br />
note = {},<br />
}<br />
</bibentry><br />
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<!--- Die folgende Zeile muß immer am Ende der Seite stehen!! --><br />
<!--- Nicht entfernen und keinen Biblio-Eintrag danach setzen --><br />
<bibexport/></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Bibliography&diff=26251Bibliography2016-02-19T10:45:04Z<p>Lukas R.A. Wilde: </p>
<hr />
<div>===Frahm 2011a===<br />
<bibentry><br />
@inproceedings{Frahm 2011a,<br />
author = {Frahm Ole},<br />
title = {Populäres Bild. Stereotyp. Antisemitismus},<br />
booktitle = {Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics},<br />
year = {2011},<br />
editor = {Palandt, Ralf},<br />
pages = {149-157},<br />
publisher = {Archiv der Jugendkulturen},<br />
address = {Berlin},<br />
note = {},<br />
hidden = {},<br />
url = {},<br />
}<br />
</bibentry><br />
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<!--- also wirklich a l l e für dieses Glossar. --><br />
<!--- Wer es kennt, wird erkennen, dass wir uns an BibTex orientieren. --><br />
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<!--- !!!!! Bitte erst mal durchsuchen, ob der geplante Eintrag !!! --><br />
<!--- !!!!! hier nicht schon unter anderer Bezeichnung steht! !!! --><br />
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<!--- eingeblendet, wenn ein neuer Literaturverweis in einer Seite --><br />
<!--- eingebaut wurde und man dem entsprechenden Link dort im --><br />
<!--- Literaturverzeichnis folgt. Bitte nach Anlegen nach unten kopieren, --><br />
<!--- so dass eine alphabetisch geordnete Liste erhalten bleibt. --><br />
<!--- --><br />
<!--- Derzeit sind folgende Formen möglich: Monographie (= book), --><br />
<!--- Sammelband (= Proceedings), Artikel in Sammelband (= inproceedings),--><br />
<!--- Zeitschriftenartikel (= article), Rest (= misc.) --><br />
<!--- (An einer Übersetzung dieser Typbezeichnungen wird gearbeitet) --><br />
<!--- In allen sind die jeweils üblichen Felder verfügbar; weitere Daten --><br />
<!--- können im Feld note deponiert werden -- die werden jeweils am Ende --><br />
<!--- der damit produzierten Literaturangabe angezeigt. --><br />
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<!--- Nun die Einträge; wenn möglich die Namen (1. Zeile nach bibentry) --><br />
<!--- alle nach gleichem Schema bauen und alphabetisch geordnet eintragen.--><br />
<!--- Angabe des Jahres am Besten immer mit fortlaufendem Kleinbuchstaben --><br />
<!--- indizieren, auch wenn noch kein zweites Werk des Autors im gleichen --><br />
<!--- Jahr aufgenommen wurde; kann ja noch kommen. --><br />
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<!--- Wenn ein als Identifier benutzter Nachname mit einem Sonderzeichen --><br />
<!--- (insbesondere Umlaut) beginnt, bitte die Normalumschrift benutzen, --><br />
<!--- sonst sind die Literaturangaben auf den Seiten falsch geordnet. --><br />
<!--- Den korrekt geschriebenen Namen zwischen den <bib>Klammern nutzen. --><br />
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<!--- Bei "Artikel in Sammelband" (inproceedings) Herausgebervornamen ab- --><br />
<!--- kürzen. Sonst nach Möglichkeit ausschreiben; immer Nachname zuerst. --><br />
<!--- Bei mehreren Personen: letzte mit Kaufmannsund abtrennen; sonst ; --><br />
<!--- Eintragsschlüssel: bei zwei Personen "1 & 2", bei mehr "1 et al." --><br />
<!--- Immer sowohl Verlagsname als auch -ort angeben --><br />
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<!--- Achtung! Gegenwärtig wird das Gesamtverzeichnis umstrukturiert --><br />
<!--- und auf jeweils einzelne Dateien pro Anfanbgsbuchstaben --><br />
<!--- umgestellt. Falls die sich nicht bearbeiten lassen sollten, bitte --><br />
<!--- bei JRJS Bescheid geben; neue Einträge sollten aber in dieser Datei --><br />
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<!--- "Vorlage:Bibliography-X" (wobei "X" jeweils durch den gewünschten --><br />
<!--- Anfangsbuchstaben ersetzt wird --><br />
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==A==<br />
{{Bibliography-A}}<br />
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==B==<br />
{{Bibliography-B}}<br />
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==C==<br />
{{Bibliography-C}}<br />
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==D==<br />
{{Bibliography-D}}<br />
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==E==<br />
{{Bibliography-E}}<br />
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{{Bibliography-Z}}<br />
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==Fehlerhafte Angaben==<br />
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===Lunenfeld 2002a===<br />
<bibentry><br />
@inproceedings{Lunenfeld 2002a,<br />
author = {Levinson, Jerrold},<br />
title = {Digitale Fotografie. Das dubitative Bild},<br />
booktitle = {Paradigma Fotografie},<br />
year = {2002},<br />
editor = {Wolf, H.},<br />
pages = {158-177},<br />
publisher = {Suhr&shy;kamp},<br />
address = {Frank&shy;furt/M.},<br />
note = {},<br />
}<br />
</bibentry><br />
<br />
<!--- Die folgende Zeile muß immer am Ende der Seite stehen!! --><br />
<!--- Nicht entfernen und keinen Biblio-Eintrag danach setzen --><br />
<bibexport/></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26245Comic2016-02-19T10:37:07Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 71) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. ..): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Deren Konventionalisierung führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
:<br />
:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
:<br />
In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
:<br />
Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2011a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
:<br />
Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
:<br />
Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1994a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26243Comic2016-02-19T10:33:49Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Bildlichkeiten des Comic */</p>
<hr />
<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 71) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. ..): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
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:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
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Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
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=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Deren Konventionalisierung führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2010a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1994a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
<br />
{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26241Comic2016-02-19T10:29:53Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Probleme der Definition des ‘Comic’ */</p>
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
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{{GlossarBoxMain}}<br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
:<br />
Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
<br />
<br />
=====Probleme der Definition des ‘Comic’=====<br />
<br />
Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
:<br />
Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
:<br />
Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 71) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. ..): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
:<br />
Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
:<br />
Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität des Comic=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
:<br />
In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
:<br />
Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Deren Konventionalisierung führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2000a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2000a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1994a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26239Comic2016-02-19T10:29:25Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Medialität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
<!--Den folgenden Header, bitte nicht verändern--><br />
{{GlosHeader}}<br />
[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt; Überschriften gegebenenfalls anpassen--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition von ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
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Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 71) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. ..): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
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=====Medialität des Comic=====<br />
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In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
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Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
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Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
<br />
Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
:<br />
: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
: <br />
Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Deren Konventionalisierung führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
:<br />
Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
<br />
=====Narrativität des Comic =====<br />
<br />
Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
:<br />
Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
:<br />
''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
:<br />
:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
:<br />
Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
:<br />
Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
:<br />
:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
:<br />
Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
<br />
=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
:<br />
[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2000a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2000a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1994a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
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<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
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* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
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{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wildehttp://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Comic&diff=26237Comic2016-02-19T10:29:03Z<p>Lukas R.A. Wilde: /* Intersemiotizität und Multimodalität des Comic */</p>
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<div><!-- "This is comment" --><br />
<!--Vorlage für Unterpunkte--><br />
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[[Kategorie:Unterpunkt]]<br />
[[Kategorie:Bildmedien]]<br />
Unterpunkt zu: [[Bildmedien]]<br />
{{GlosTab1}}<br />
{{GlossarBoxMain}}<br />
<!--Ende header--><br />
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Der Ausdruck ‘Comic’ ist zunächst eine Kurzform von ‘comic print’ oder ‘comic strip’, womit kurze [[Bildkomik|komische]] Bildfolgen bezeichnet wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Zeitungen auftauchten und rasch weite Verbreitung fanden. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche amerikanische und europäische Traditionen der Bildererzählung, der narrativen Bilderserie, aber auch der satirischen Karikatur stützen, die je nach der zugrunde gelegten Comic-Definition als Ahnenväter oder Proto-Comics angesehen werden. In den 1930er und 1940er Jahren ging gleichzeitig mit der Verkürzung auf ‘Comic’ nicht nur die Beschränkung auf humoristisches Material, sondern auch die Bindung an das Trägermedium Zeitung verloren. Heute wird das Wort, trotz seiner für manche pejorativ konnotierten Wurzeln, gerne als mediale Überbezeichnung verschiedenster Subgattungen von ''Comic Strips'', ''Web Comics'' oder auch ''Graphic Novels'' verstanden und manchmal auch kulturübergreifend eingesetzt; wer die Unterschiede amerikanischer Werke zu anderen Traditionen herausstreichen will, besteht auf einer Differenzierung gegenüber französischen ''BDs'' (''bande dessinée'', ‹gezeichnete Streifen›), japanischen ''Mangas'' (漫画 oder マンガ – ‹spontane Bilder›) oder auch italienischer ''fumettis'' (nach den Sprechblasen-“Wölkchen”). <br />
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Traditions- und kulturübergreifend wird der Comic zumeist als narratives Medium verstanden, das die gesamte Bandbreite journalistischer, literarischer und filmischer Genres abdeckt und auch eigene Genres ausbildete. Spätestens seit den 1950er Jahren steht diese Entwicklung auch in enger Verbindung mit Erzähltraditionen im [[Film|Real- und Animationsfilm]]. Dennoch ist eine konsensfähige Definition des Comic ausgesprochen problematisch, da dieser auf keinerlei bestimmenden oder bestimmbaren Technologie beruht und damit die Frage, ob es sich um eine Kunstform, ein Genre (der Literatur?) oder ein Medium handelt, auf keinerlei einhellige Antwort stößt. <br />
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=====Probleme der Definition von ‘Comic’=====<br />
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Das lange verfolgte „definitional project“ (<bib id='Meskin 2007a'></bib>: S. 269), eine verbindliche Definition des Gegenstands ‘Comic’ festzulegen, wird mittlerweile größtenteils als prinzipiell uneinlösbar angesehen.<ref>Vgl. <bib id='Bouyer 2014a'></bib>; <bib id='Hague 2014a'></bib>; <bib id='Helms 2015a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Es lässt sich aber recht deutlich zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die das Augenmerk auf die medialen Zeichenträger, auf Produktion, Distribution und die kulturelle Rezeption von Comics lenken, und solchen, die unter Abstraktion historischer Bezüge eine eher formale oder semiotische Bestimmung suchen: Begrifflich ist es so auch sinnvoll, zwischen der [[Medialität]] (multimedialen Zeichenträgern) und der Modalität des Comic (multimodalen [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichenangeboten]]) deutlich zu unterscheiden (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62ff.).<br />
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Innerhalb der Vertreter formalästhetischer Comic-Definitionen stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite wird die Sequenzialität der Bildfolge, auf der anderen Seite das besondere Zusammenspiel von [[Bild und Sprache|Textlichkeit und Bildlichkeit]] zum wichtigsten Definitionskriterium erhoben. Die Nähe zur Komik, die inhaltlich schon lange nur eine erzählerische Option unter vielen darstellt, spielt zumindest in einigen Definitionen noch eine bildtheoretische Rolle, insofern Comic-Bilder typischerweise eine bestimmte Darstellungsästhetik aufweisen: Comics sind zumeist nicht fotografisch realisiert und häufig nicht einmal “naturalistisch” gestaltet, sondern weisen eine Tendenz zum überformten, stilisierten oder abstrahierten Körper auf, der sie in die Nähe zur Karikatur rückt. <br />
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Obgleich unzählige Beispiele für wortlose Comics existieren, wurde die Verbindung von Textlichkeit und Bildlichkeit insbesondere in Robert C. Harveys einflussreichem Entwurf (<bib id='Harvey 2001a'></bib>) als bestimmendes Merkmal vertreten; in noch spezielleren Fassungen wird gar ein höchst konventionalisiertes Zeichen wie die Sprechblase zum definitorischen Kernstück erhoben (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 4). Der Faktor der Sequenzialität hingegen wurde prominent in Scott McClouds Meta-Comic «Understanding Comics» vertreten, das die bis heute vermutlich einflussreichste Definition bietet: „Juxtaposed pictorial or other images in deliberate sequence.“ (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 9). McCloud konnte sich hierbei selbst auf einen Praktiker berufen, Will Eisner, der die wirkungsmächtige Bezeichnung ‘Sequential Arts’ (sequenzielle Künste) prägte (<bib id='Eisner 1985a'></bib>), unter denen Comics den für ihn wichtigsten Vertreter bilden. Die theoretisch avancierteste Fassung dieses Aspekts prägte der französische Comic-Theoretiker Thierry Groensteen, dem zufolge die ''differentia specifica'' in der „ikonischen Solidarität des spatio-topischen Apparats“ (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 17) bestehe: „the relational play of a plurality of interdependent images“ (ibd: S. 17). Eine solche ikonische Solidarität – eine Relation von Einzelbildern (Panels) zum Seitenganzen (Makro-Panel) – kann zwar auch andere Beziehungen als zeitliche Progressionen umfassen; dennoch stellt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Zeitmomente in einem räumlichen und statischen Medium die prototypische Form der Comic-Bildfolge dar. Auch für McCloud wurde die Verräumlichung von Zeit mehr und mehr zur „essence of comics“ (<bib id='McCloud 2000a'></bib>: S. 206). <br />
:<br />
Durch die Sequenzialität verändert sich auch der Status des Einzelbildes insofern, als dass es als Element in einem größeren narrativen Syntagma angesehen werden kann und dem Comic darin eine „primäre Hybridisierung“ von Linearität und Spatialität (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 71) attestiert werden muss – und dies noch vor der Integration von Texten: Der Comic “hybridisiert” damit nicht zwangsläufig Text und Bild, immer aber Bilder selbst, indem er sie gewissermaßen wie Schrift verwendet (vgl. <bib id='Krafft 1978a'></bib>). Wo nicht einmal mehr von Bildern die Rede sein kann, weil die einzelnen Panels über keinerlei piktoriale Inhalte mehr verfügen,<ref>Es existieren abstrakte und narrative Comics ohne gegenständliche Bilder, vgl. <bib id='Baetens 2011a'></bib>; <bib id='Miodrag 2015a'></bib>.</ref> lässt sich auf Gene Kannenberg Jr.s Begriff der ''lexias'' zurückgreifen: „a smaller sub-unit in a larger structure such as a panel or a page“ (<bib id='Kannenberg 2001a'></bib>: S. 178). Stephan Packard demonstriert, dass dieses mereologische Verhältnis nicht nur als Verbindung einzelner Teile zu einem Ganzen, sondern häufig auch umgekehrt, als „Anatomie“, gedacht werden muss (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>): S. ..): als Zerteilung eines graphischen Ganzen in Teile, die in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander stehen können. Die meisten auf Bildsequenzialität aufbauenden Comic-Definitionen schließen den Einbild-Cartoon damit zumeist aus, was vielfach auch problematisch ist: nicht nur, da eine Sequenzialität häufig über die Serialität des fortlaufenden Strips hergestellt wird, sondern auch, da in manchen Cartoons durchaus ein “virtuelles” Nachfolgebild angelegt ist und vom Rezipienten erschlossen werden muss, um die Pointe überhaupt zu verstehen (vgl. <bib id='Carrier 2000a'></bib>: S. 108; <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 18). <br />
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Alle formalästhetischen und semiotischen Definitionen des Comics stoßen aber auch aus prinzipiellen Gründen auf zahlreiche Schwierigkeiten. Nicht nur existieren stets Gegenbeispiele, die dennoch eindeutig ''als Comic'' verstanden werden (ein Sub-Genre an stummen ''sans parole''-Comics kommt beispielsweise ganz ohne Texte aus; mit der Sequenzialität wird in zahlreichen Webcomic-Serien gebrochen). Noch problematischer erscheint, dass so auch historische Artefakte in die Comic-Geschichtsschreibung integriert werden, die üblicherweise keinesfalls so aufgefasst werden: Ahistorische Inklusionsversuche reichen dann vom Wandteppich von Bayeux, über die Trajanssäule bis hin zu griechischen Vasenbildern. Essenzialisierende Definitionen stehen so sicherlich nicht zu Unrecht unter dem Verdacht politischer Nobilitierungsstrategien (vgl. <bib id='Sabin 1993a'></bib>: S. 13). Nicht zuletzt werden durch rein formale Bestimmungen häufig die politischen und soziologischen Dimensionen des Comics verwischt. Die Legitimationskämpfe um seine produktive Marginalität zwischen [[Massenmedien|Massenmedium]] und Subkultur machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz aus (vgl. <bib id='Becker 2010a'></bib>): Comics sind, anders als etwa [[Film|Filme]], von jedermann leicht produzierbar, und seit der Jahrtausendwende durch den Medienwechsel ins Web (als Webcomics) zu einer weithin genutzten Form der Alltagkommentierung- und Beobachtung avanciert (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>; <bib id='Mitchell 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>).<br />
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Aus all diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Comic als ein kulturell konstituiertes Medium nicht abschließend oder außerhalb wandelbarer Einigungsprozesse zu definieren ist. Formale Bestimmungsgrößen wie Sequenzialität oder Multimodalität sind zwar dann typische, keinesfalls aber bestimmende Merkmale: Die “Comic-Haftigkeit” eines Gegenstands kann dann als skalierte Qualität verstanden werden, die anhand eines Clusters heterogener Merkmale identifizierbar wird, welche keinesfalls bei allen als Comics produzierten und rezipierten Artefakten zugleich vorhanden sein müssen.<ref>Vgl. <bib id='Miodrag 2015a'></bib>; <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Witek 2009a'></bib>.</ref> Die einzelnen Ausgestaltungen von beispielsweise Comic-Strips, Webcomics, Gekiga-Mangas, ''ligne claire''-Alben, amerikanischen ''underground comix'' usw. können daraufhin in Hinblick auf Produktions-, Distributions-, und Rezeptionsprozesse, auf ihre Einbettung in serielle und transmediale Erzählpraktiken, aber auch mit Hinsicht auf spezifische Materialitäten, Ästhetiken und Bildlichkeiten genauer spezifiziert werden. Das „Prinzip Bildergeschichte“ (<bib id='Grünewald 2010a'></bib>) bzw. der „graphischen Narrative“ (<bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; vgl. <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>) findet sich etwa auch bei Bilderbüchern und anderen Hybridtexten, gegen die eine eindeutige Abgrenzung ebenfalls unmöglich ist (vgl. <bib id='Gibson 2010a'></bib>). Selbst die Unsicherheit, ob Comics zwangsläufig narrativ sein oder unbedingt als Kunstform – und nicht etwa als interpersonelles [[Kommunikationsmedien|Kommunikationsmittel]] – aufgefasst werden müssen, scheint einen immer wieder neu verhandelbaren Teil ihrer medialen Identität zu bilden.<br />
<br />
=====Medialität=====<br />
<br />
In mindestens dreierlei Hinsichten lässt sich im Zusammenhang mit dem Comic von einem ‘Medium’ sprechen: <br />
* seiner technologisch-materiellen Basis, insbesondere durch die Einbettung in bestimmte ''Trägermedien''; <br />
* seiner integrierten ''Basismedien'' Text und Bild; <br />
* sowie schließlich seiner Identität als selbst distinkt wahrgenommenem ''Einzelmedium''.<ref>Vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>; <bib id='Wilde 2015a'></bib>.</ref> <br />
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Zunächst treten Comics in Trägermedien wie Zeitungen, gedruckten Alben oder (immer häufiger) in digitalen Lesetechnologien wie der «ComiXology»-App auf; in gedruckter Form handelt es sich daher also um [[Typologien der Medien|Sekundärmedien]], in digitaler um [[Typologien der Medien|Tertiärmedien]] (vgl. <bib id='Hammel 2014a'></bib>: S. 48ff.; <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 59). Viele halten es darum für ungeeignet, beim Comic selbst von einem Medium zu sprechen und bevorzugen die Bezeichnungen ‘Format’, ‘Prinzip’ oder auch ‘Kunstform’.<br />
:<br />
Der aus der Tradition der Intertextualitätsforschung und der Interart-Studies stammende Begriff der Intermedialität hat sich dennoch in der Comicforschung als sehr tragfähig erwiesen. Nach den Begrifflichkeiten von Irina O. Rajewsky und Werner Wolf muss es sich beim Comic darher um ein „konventionell als distinkt wahrgenommenes Einzelmedium“ handeln (vgl. <bib id='Rajewsky 2010a'></bib>: S. ...; <bib id='Wolf 2005a'></bib>), da dieses durch diskursiv-soziale Prozesse als solches ausdifferenziert worden ist. Seit den 1990er Jahren etwa nehmen zahlreiche Filmproduktionen auf Formensprache und Ästhetik des Comic Bezug: etwa durch die Integration Comic-typischer ''Soundwords'' in «Scott Pilgrim vs. the World» (Wright, 2010) oder einer besonderen Bildersprache in «Sin City» (Rodriguez & Miller 2005) (vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>). Ein solcher, aus der Literaturwissenschaft stammender Intermedialitätsbegriff untersucht situierte ästhetische Praxen, die durch Formzitate Bezüge zwischen Mediensystemen herstellen und dabei werkspezifische Strategien verfolgen. <br />
:<br />
Demgegenüber lässt sich der Comic auch mit einem eher medientheoretischen Zugang, wie er etwa von Jay D. Bolter und Richard Grusin vertreten wird, unter die Lupe nehmen (<bib id='Bolter & Grusin 2000a'></bib>; vgl. <bib id='Sina 2016a'></bib>). Hier interessieren nicht die Strategien einzelner Werke oder Artefakte, sondern die historische Ausdifferenzierung der medialen Identität des Comic selbst, etwa durch Anleihen bei (und Abgrenzungen gegenüber) anderen Medien, die ebenfalls als distinkt wahrgenommen werden. Intermedialität ist hier ein Basisphänomen, das der Identifizierbarkeit einzelner Medien paradoxerweise vorausgehen muss (vgl. <bib id='Schröter 2012a'></bib>: S. 29; <bib id='Wilde 2014a'></bib>). Die Konzeption des Comic als ''Graphic Novel'' (also als eine Form der Literatur) ist schließlich ebenso eine fremdmediale Metapher wie jene von ''Sequential Art'' (als eine Form der bildenden Künste); durch jüngste Digitalisierungsprozesse und die Einbettung des Comic in Webseiten, Blogs und sozialen Netzwerken werden diese Konzeptionen durch neue mediale Metaphern (wie “graphisches Bloggen”) transformiert (vgl. <bib id='Wilde 2015a'></bib>: S. ...).<br />
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In jedem Fall erscheint es sinnvoll, die Medialität der so verstandenen Gegenstandsklasse insofern als multidimensional zu konzipieren, als dass sie semiotische, technologische und institutionelle Ebenen gleichermaßen umfasst, und eben auch anhand prototypischer Werke und Produkte identifiziert werden kann (vgl. <bib id='Thon 2014a'></bib>). Nach Siegfried J. Schmidt ist ein solcher Medienbegriff eher als mediales Dispositiv zu verstehen (<bib id='Schmidt 2000b'></bib>: S. ...; <bib id='Schmidt 2004a'></bib>), das im Falle des Comics eben auch sozialsystemische Institutionen wie Verlagshäuser, Händler und Internet-Communities, sowie eine arbeitsteilige Autorschaft zwischen vielen Akteuren umfasst (vgl. <bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 58). Ein Entwurf zu einer von Bruno Latour inspirierten Lesung der Comic-Medialität als einem Netzwerk heterogener Akteure, zu denen gleichermaßen Produzenten wie [[Materialität|Materialitäten]] gehören, stammt von Sebastian Bartosch (<bib id='Bartosch 2016a'></bib>).<br />
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Die semiotische bzw. multimodale Verschränkung der ''Basismedien'' »Text« und »Bild« kann prinzipiell ebenfalls als ''Medienkombination'' angesehen werden, die Bestimmungen des Comics als prinzipiell intermedial zugrunde liegt; da dieses Zusammenspiel jedoch zumeist nicht mehr als Hybridisierung – oder gar als fremdmediale Markierung – wahrgenommen wird,<ref>Das Zusammenspiel scheint ja sogar konstitutiv für die mediale Identität des Comic, vgl. <bib id='Heyden 2013a'></bib>; <bib id='Rippl & Etter 2013a'></bib>; <bib id='Stein 2015a'></bib>.</ref> haben sich für Textlichkeit und Bildlichkeit als „two different sign systems or modes of mediation“ (<bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>: S. 237) zunehmend die Bezeichnungen ‘Multimodalität’ oder ‘Intersemiotizität’ etabliert: <br />
:<br />
:''Dass mehrere Bilder nebeneinander und bisweilen im Verein mit Schrift rezipiert werden, wird dann kaum mehr als Kombination mehrerer etablierter Formen, sondern selbst als gewohnte Form rezipiert.'' (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 62) <br />
:<br />
Dadurch lässt sich der Ausdruck ‘Intermedialität’ entweder für konkrete intermediale Bezüge innerhalb bestimmter Werke oder aber für generelle Ausdifferenzierungsprozesse zwischen dem Comic als medialem Dispositiv und seinen Nachbarmedien freihalten. Das jeweilige Zusammenspiel von Text und Bild wird so erst als Symptom dieser Verhältnisse interpretier- und deutbar. »Form« und »Medium« müssen so wechselseitig zueinander bestimmt werden, ohne dass sich ein Phänomen ahistorisch einer der beiden Seiten zuschlagen ließe (vgl. <bib id='Wilde 2014a'></bib>: S. ...). Eine medienwissenschaftliche Comicforschung interessiert sich so für das wandelbare Wechselspiel von normalisierenden Konventionalisierungen und grenzüberschreitenden Innovationen. Packard hat den von Dick Higgins entliehenen Terminus ‘Intermedium’ vorgeschlagen (<bib id='Packard 2016a'></bib>: S. 61; vgl. <bib id='Higgins & Higgins 2001a'></bib>), wann immer der Comic sich in seiner Formsprache konventionellen Mediengrenzen versperrt und so seine “Lesbarkeit” inmitten der visuellen Kultur neu aushandelt – insbesondere auch dadurch, dass seine Bildlichkeit uns in irgendeiner Weise wieder unvertraut wird.<br />
<br />
<br />
=====Intersemiotizität und Multimodalität des Comic=====<br />
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Obgleich sich Text und Bild also selbstredend auch als ''Basismedien'' verstehen lassen, deren Ermöglichungshorizonte der Welterschließung insbesondere im medienphilosophischen Diskurs eine zentrale Rolle zukommt, werden diese semiotischen Ressourcen immer häufiger als ''Modes'' im sozialsemiotischen Sinn verstanden. Eine Interaktion dieser semiotischen Modes – wie im Comic – wäre dann als „Multimodalität“ zu betrachten (vgl. <bib id='Kress 2010a'></bib>; <bib id='van Leeuwen 2005a'></bib>). Dem Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Bildlichkeit kommt im Comic in jedem Fall eine herausragende Bedeutung zu; je nach Autor ist dieses als Nebeneinander oder als Hybridisierung zu verstehen, mit allen daran angeschlossenen Dichotomien wie »Sequenzialität« vs. »Spatialität«, »Arbitrarität« vs. »Motiviertheit«, »Kognition« vs. »Perzeption« oder »Transparenz« vs. &#8203;»Komplexität« (vgl. <bib id='Hochreiter & Klingenböck 2014a'></bib>; <bib id='Miodrag 2013a'></bib>: S. 83ff.; <bib id='Varnum & Gibbons 2001a'></bib>). Einigkeit scheint zumindest insofern zu bestehen, als dass die narrativ und ästhetisch relevanten Informationen zumeist über beide “Kanäle” zugleich verteilt werden. Eine Dichotomisierung übersieht jedoch, dass auch innerhalb dieser beiden Zeichenklassen (vielleicht medienspezifische) Spannungen wirksam bleiben:<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib>.</ref> <br />
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: ''We continue to distinguish between the function of words and the function of images, despite the fact that comics continually work to destabilize this very distinction. This tension is fundamental to the art form.'' (<bib id='Hatfield 2005a'></bib>: S. 34). <br />
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Sind autonome Erzählertexte in ''Caption-Boxen'' (Erzähl-Blöcke) am deutlichsten am schriftlich-literarischen Ende des Spektrums positioniert, so verschränkt bereits die Sprechblase verschiedenste semiotische Dimensionen: Die visuelle Gestaltung von Blasenform und [[Typographie]] verrät oft viel über prosodische Informationen und suprasegmentalen Klang, während sie durch ihre Platzierung im Bildraum und ihre Zuordnung zu einem sprechenden Aktanten einen zeitlichen und räumlichen [[Symbol, Index, Ikon|Index]] verliehen bekommt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 209). Der “Dorn” ermöglicht so einen „transfer between iconic and linguistic codes“ (<bib id='Khordoc 2001a'></bib>: S. 159; vgl. <bib id='Wilde 2016a'></bib>). ''Soundwords'' oder Onomatopoiesien organisieren den Bildraum gar unmittelbar mit, indem sie [[Perspektive und Projektion|perspektivische Projektionen]] nachvollziehen, in Tiefenräume eindringen oder dynamische Bewegungs- und Fluchtlinien erzeugen. Die [[Schriftbildlichkeit]] sagt hier oftmals mehr über den dargestellten Klang aus als der alphabetische Code. Besonders relevant ist dies im Manga, wo verschiedene Gattungen an ''Soundwords'' (on’yu 音喩) fast [[Kalligraphie (allgemein)|kalligraphische]] Züge besitzen und ihre schiere Bandbreite weitaus größer ist als in westlichen Traditionen. Von den ''Soundwords'' des alphabetische Codes lassen sich all jene [[Bilderschrift und Piktogramm|piktogrammatischen Symbole]] unterscheiden, die eher dem Bilde entliehen scheinen, obgleich sie ebenfalls nicht diegetisch sichtbar sind: Sternchen als Ausdruck von Schmerz, Wölkchen für Zorn und Ärger ... . Deren Konventionalisierung führte von [[Visuelle und multimodale Metaphern|visuellen]] oder [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|sprachlich bereits vorhandenen Metaphern]] und [[Metonymie|Metonymien]] über [[Abstraktion]] und Wiederholung zu einem zunehmend arbiträren Code. Charles Forceville hat den durch George Lakoff und Mark Johnson etablierten Begriff der »konzeptuellen Metapher« (<bib id='Lakoff & Johnson 2003a'></bib>) auf das visuelle Vokabular des Comic übertragen (<bib id='Forceville 2005b'></bib>; <bib id='Forceville 2011a'></bib>). Die Intersemiotizität des Comic könnte daher weniger als Zusammenspiel konzeptueller Einheiten (wie Schrift und Bild) zu verstehen sein, sondern als interpretative Spannung, die auch innerhalb der einzelnen Zeichenklassen selbst besteht (vgl. <bib id='Wilde 2016b'></bib>). <br />
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Häufig wird zwischen beiden durch die „vielgestaltige Materialität der gezogenen Linie“ vermittelt (<bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 235), die primär indifferent gegenüber Textlichkeit und Bildlichkeit ist (vgl. <bib id='Weltzien 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016b'></bib>). Kulturvergleichende Perspektiven auf die Linie – wie die sehr unterschiedlichen Studien von Jared Gardner zum westlichen Comic (<bib id='Gardner 2011a'></bib>) und von Thomas LaMarre zum Manga (<bib id='LaMarre 2010a'></bib>) – lassen die Vielseitigkeit ihres Einsatzes hervortreten. Ein Gegenüber von Text und Bild übersieht nicht zuletzt die große Bedeutung [[Diagramm|diagrammatischer]] Formen im Comic, die etwa durch Panel-[[Rahmung, Rahmen|Rahmen]], Sprechblasen und die grundlegende ''mise en page'' (das Seiten-Layout) ein relationales Beziehungsgeflecht generieren, noch bevor Panel mit Bildern und Blasen mit Text “gefüllt” werden. Dieser „strukturelle Rhythmus“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 133ff.; vgl. <bib id='Barbieri 2002a'></bib>; <bib id='Magnussen 2011a'></bib>) liegt letztlich auch der ikonischen Solidarität und der primären Hybridisierung des Comic zugrunde.<br />
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=====Narrativität des Comic =====<br />
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Obgleich die meisten Comic-Definitionen implizit oder explizit den Faktor der »Narrativität« mit sich führen und der Konsens vorherrscht, dass Comics in erster Linie ein narratives Medium darstellen (vgl. <bib id='Chute 2008a'></bib>; <bib id='Packard 2013a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>), wurde dieser Begriff lange eher intuitiv verwendet. Wo eine Problematisierung stattfand, wurde zumeist auf Lessings Unterscheidung zwischen den ''Raum- und Zeitkünsten'' Bezug genommen. Lessings spekulative Überlegungen zu einer Synthese beider (in denen der Maler „fünf, sechs besondere Gemälde […auf eine] Leinwand bringen“ könnte, <bib id='Lessing 1990a'></bib>: S. 118) wird gerne als vorweggreifende Imagination des Comic gedeutet – vermutlich die meistzitierte Passage der jungen Comicforschung.<br />
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Eine Annäherung an die Narratologie fand hingegen erst recht spät, nach der als ‘postklassisch’ verstandenen Integration transmedialer und kognitiver Forschungsansätze, statt.<ref>Vgl. <bib id='Chute & DeKoven 2006a'></bib>; <bib id='Gardner & Herman 2011a'></bib>; insb. <bib id='Lefèvre 2011a'></bib>; <bib id='Stein & Thon 2013a'></bib>.</ref> Mit Bezug auf Werner Wolfs wegweisenden Text «Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik» (<bib id='Wolf 2002a'></bib>) und seine daran anschließenden Arbeiten wird »Narrativität« demzufolge nicht mehr als Eigenschaft eines Textes, sondern als kognitives Schema verstanden, das von unterschiedlichen Stimuli (‘Narremen’) aktiviert werden kann. Wurden »Narration« und »Repräsentation« zuvor manchmal als Gegensatzpaare angesehen, so ist es für transmediale Narratologen wie David Herman, Marie-Laure Ryan oder Jan-Noël Thon möglich, „diegetische“ und „mimetische“ Narration als zwei verschiedene Modi der narrativen Darstellung zu erachten.<ref>Vgl. <bib id='Herman 2002a'></bib>; <bib id='Herman 2013a'></bib>; <bib id='Thon 2014b'></bib>; <bib id='Thon 2016a'></bib>; <bib id='Ryan 2005a'></bib> und <bib id='Ryan 2014a'></bib>. Ebenfalls ⊳ logische und empirische [[Kontextbildung]].</ref> Die bislang umfassendsten Entwürfe zu einer solchen Comic-Narratologie stellen Martin Schüwers «Wie Comics erzählen» (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>) und Karin Kukkonens «Contemporary Comics Storytelling» (<bib id='Kukkonen 2013a'></bib>) dar. Einige Beachtung erhielten auch die Arbeiten des Kognitionswissenschaftlers Neil Cohn, der in zahlreichen Aufsätzen und einer Monographie (<bib id='Cohn 2013a'></bib>) ein empirisch gestütztes Modell für eine „narrative Grammatik“ des Comic konzipierte.<br />
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''Klassische'' narratologische Minimalkriterien fordern meist die [[Darstellung]] mindestens einer Zustandsveränderung (vgl. <bib id='Schmid 2010a'></bib>: S. 3) als Demarkationskriterium gegenüber etwa bloß deskriptiven “Texten”; auch Groensteen unterscheidet so ein bloßes „Andeuten“ einer zeitlichen Progression von der Erschließbarkeit bestimmter Ereignisfolgen. Erst bei letzterem könne von ‘Narrativen’ gesprochen werden.<ref>Damit ergibt sich ein weiterer Ausschlussgrund gegen den Einbild-Cartoon (vgl. <bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 27).</ref> Die medienspezifischen Möglichkeiten zur Darstellung von Zeitlichkeit und Zustandsveränderungen verdienen zweifellos besondere Beachtung: Im Anschluss an McCloud wird der Zwischenraum zweier Bilder gerne als ‘Gutter’, als ‘Rinnstein’, bezeichnet (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 66), der ein besonderes elliptisches Erzählen bedingt: <br />
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:''Das Erzählen im Comic funktioniert grundsätzlich so, dass der Leser die Sequenz der einzelnen Bilder zu einer fließenden Narration verbindet, die Lücken zwischen den Einzelbildern überbrückt und die abgebildeten Formen mit Hilfe seines Wissens über die Welt mit Bedeutung füllt.'' (<bib id='Dittmar 2008a'></bib>: S. 27).<ref>Vgl. auch <bib id='Horstkotte 2013a'></bib> und <bib id='Wildfeuer & Bateman 2014a'></bib>.</ref><br />
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Konzipiert man hingegen ‘Narrativität’ – unterschieden von ‘Narrativen’ – als ein skaliertes und allenfalls prototypisch vorhandenes Merkmalsbündel, einem „Fuzzy Set“,<ref> Vgl. etwa <bib id='Abbot 2011a'></bib>; <bib id='Ryan 2007a'></bib> und <bib id='Thon 2014b'></bib>.</ref> so steht in dessen Zentrum lediglich die (selektive) Darstellung einer raumzeitlich lokalisierten [[Kontext|Situation]]. Dazu können verschiedene, eher fakultativ angesehene narrativitätssteigernde Elemente hinzukommen. So müssen auch Einbild-Cartoons insofern als narrativ erachtet werden, als sie ein „referential meaning“ (<bib id='Bordwell 1989a'></bib>: S. 8), eine [[Referenz, Denotation, Exemplifikation|Bezugnahme]] auf [[Sortale Gegenstände und Individuation|individuierte]] fiktionale oder non-fiktionale, in jedem Fall aber extensionale Gegenstände voraussetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bilder des Comic und verwandter Gegenstandsklassen etwa grundsätzlich von Verkehrsschildern, Piktogrammen oder Emoticons, aber auch von den Gattungsbildern in Bildlexika, denen wir allesamt keine Ausschnitte selektiv dargestellter Situationen in möglichen ''Storyworlds'' unterstellen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach & Schirra 2011a'></bib>; <bib id='Wilde 2016c'></bib>).<br />
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Diese besondere Konsequenz der vorausgesetzten ''Basis-Narrativität'' zeigt sich vor allem in Hinblick auf Grenzfälle wie abstrakte Comics: Jan Baetens etwa zeigt, dass darunter nicht nur solche Werke fallen, die über keinerlei gegenständliche und figurative Bilder mehr verfügen, sondern auch solche, deren gegenständliche Bilder sich keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zuordnen lassen, in denen die dargestellten Objekte eine individuierte Existenz hätten: <br />
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:''Abstract’s opposite is not only ‘figurative’ or ‘representational’ but also […] ‘narrative’. Abstraction seems to be what resists narrativization, and conversely narrativization seems to be what dissolves abstraction.'' (<bib id='Baetens 2011a'></bib>: S. 95). <br />
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Wo eine Referenz auf eine ''Storyworld'' voll individuierter Einzeldinge nicht mehr möglich ist, verändert sich darum auch das [[Interaktion und Kommunikation|Kommunikationsgefüge]] des Comic grundlegend (vgl. <bib id='Packard 2013a'></bib>). Groensteen unterscheidet im inferenziellen Verstehen von Bildzusammenhängen zwischen den beiden Modi „what has intervened?“ und „what is signified?“ (<bib id='Groensteen 2013a'></bib>: S. 39ff.): Während beim Schluss darauf, ''was vorgefallen sei'', alle [[Bildinhalt|Bildinhalte]] einem raumzeitlichen Kontinuum attribuiert werden können, muss andernfalls davon ausgegangen werden, dass andere (poetische, argumentative, metaphorische oder rhethorische) Funktionen den Zusammenhang der Bilder legitimieren und daher eine Instanz außerhalb der Diegese etwas ''anzeigen'' oder eben kommunizieren möchte. Damit wird eine Festlegung auf die vieldiskutierte Frage notwendig, ob es sich dabei um den biographischen oder hypothetischen Autor des Comics, oder eine comicspezifische „visuelle Erzählinstanz“ handelt.<ref>Vgl. <bib id='Kuhn & Veits 2015a'></bib>; <bib id='Marion 1993a'></bib>; <bib id='Packard 2014a'></bib> und <bib id='Thon 2013a'></bib>.</ref> Eine solche scheint sich immer dann zu invisibilisieren, wo ein Bezug auf eine ''Storyworld'' möglich ist, die sich „quasi von selbst“ zeigt (vgl. <bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 22ff.). Groensteen arbeitete jedoch auch verschiedene „infra-narrative“ Strukturen zwischen non-narrativen Comic-Bildern heraus, die ein translineares Beziehungsgeflecht bilden. Dieses bleibt auch innerhalb narrativer Comics noch wirksam und wird hier vielfach erzählerisch einsetzbar, wofür er eine komplexe Theorie des ''Braiding'' (der „Verflechtung“) entwickelte (<bib id='Groensteen 2014a'></bib>). Viele populäre Webcomic-Serien der Alltagskommentierung, wie Matthew Inmans Eisner-Award-prämierte Serie »The Oatmeal« oder Randall Munroes »XKCD«, verzichten allerdings häufig auf die Etablierung einer raumzeitlichen Ebene der situierten Einzeldinge (vgl. <bib id='Wilde 2016c'></bib>), wodurch das Diktum der generellen Narrativität von Comics auch außerhalb abstrakter Experimente neu zu prüfen wäre.<br />
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=====Bildlichkeiten des Comic=====<br />
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Wenn es möglich ist, Comics unter anderem auch als Medien zu betrachten, so lässt sich mit William J.T. Mitchell danach fragen, ob sich ein spezieller „comic view of the world“ bestimmen lässt (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 256). Durch die primäre Hybridsierung der einzelnen Comic-Bilder als Elemente (oder Lexia) in größeren narrativen Syntagmen ist vielfach die Rede davon, dass ein Comic nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen werden muss. Auf Ebene der ''mise en page'', des Seitenganzen, adressiert dies „the manifold schemata, assumptions, inferences, and hypotheses that readers rely on to impute narrative meanings to a sequence of images" (<bib id='Horstkotte 2013a'></bib>: S: 39). Trotz einer großen Vielfalt von Genres, Stilen, Traditionen und kulturellen Bezugspunkten spricht jedoch vieles dafür, dass auch dem Einzelbild des Comics (zumindest typischerweise) eine spezielle Bildlichkeit zu eigen ist, die im Folgenden genauer bestimmt werden soll.<br />
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[[Datei:abcde.jpg|thumb|Ab&shy;bil&shy;dung xyz: Comic mit integrierter Fotografie ....(nur zum Beispiel)... ]]<br />
In technologischer Hinsicht spricht nichts dagegen, auch [[Fotografie|fotografisches Material]] im Comic zu integrieren – was auch häufig geschieht. Zumeist wird ein solches Verfahren jedoch aufgrund konventioneller Mediengrenzen als intermediale Referenz bzw. als ''remediation'' gewertet;<ref>Vgl. <bib id='Schmitz-Emans 2012a'></bib> sowie <bib id='Wilde 2014a'></bib>.</ref> auch Fotoroman und Foto-Comic wird zumeist deutlich vom “eigentlichen” Comic unterschieden. Handgezeichnete Bilder werden als besonders typisch für den Comic erachtet, vor allem Linienzeichnungen sind besonders stark mit seiner Bildlichkeit verbunden:<ref>Siehe hierzu <bib id='Gardner 2011a'></bib> und <bib id='LaMarre 2010a'></bib>. Allerdings gilt das im Westen aus ganz anderen Gründen als im asiatischen Raum, vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>; <bib id='Berndt 2015a'></bib>.</ref>: <br />
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:''As media, comics are […] a transmedium that, in contrast to the modern media, maintain a direct link to the most primitive forms of mark-making, from cave-painting to hieroglyphics.'' (<bib id='Mitchell 2014a'></bib>: S. 260)<br />
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Die Urheberschaft dieser Bilder verteilt sich im Ganzen zumeist auf viele Akteure, wie initiale Szenaristen (Texter), Bleistift- und Tuschezeichner, Koloristen oder Letterer. Manchmal ist die Feststellung der Urheberschaft schwierig, etwa in frühen amerikanischen Superhelden-Produktion, wo die Rechte alleine beim Verlagshaus lagen (vgl. <bib id='Stein 2014a'></bib>). Davon wiederum distanzieren sich insbesondere ''Autorencomics'', als welche etwa ''Graphic Novels'' auftreten. Hier bilden Zeichner und Texter eine Personalunion und verhandeln häufig auch autobiographische Stoffe – beides ist auch beim ''graphischen Bloggen'' von Webcomic-Serien eher die Regel.<br />
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In einer ersten Heuristik lässt sich zwischen einem ''cartoonhaften'' und einem ''[[Naturalismus und Realismus|naturalistischen]]'' Bildstil oder Bildmodus unterschieden, die (zumindest im Westen) auf die zwei unterschiedlichen Zeichentechniken Illustration vs. Karikatur zurückgehen (vgl. <bib id='Witek 2011a'></bib>). In der Praxis existiert natürlich ein fließendes Spektrum zwischen beiden Polen, die oft auch innerhalb des gleichen Werks nebeneinander zum Einsatz kommen. Als typisch für den Comic gilt dennoch eine abstrahierte Darstellung, insbesondere was Figurenkörper betrifft. Die zeichnerische Reduktion konzentriert sich zumeist auf synekdochisch wichtige Elemente, insbesondere auf solche, die unmittelbar handlungs- und kommunikationsrelevant sind (vgl. <bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 162; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 121ff.). McCloud prägte für eine solche piktoriale Reduktion den Begriff des »Cartoons« neu (<bib id='McCloud 1993a'></bib>: S. 31), der insbesondere vom Packard zu einer avancierten Bildtheorie ausgearbeitet worden ist. Als Annäherung an unmittelbar handlungsrelevante Körperschemata (v.a. des menschlichen [[Gesichtsdarstellung|Gesichts]]) bietet der so verstandene Cartoon demnach ein besonderes Imaginations- und Identifikationspotential, das die Blickführung des Lesers und den Seitenaufbau als Ganzes zentral mit organisiert (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 159ff.).<br />
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Die Nähe zu einem fast schon [[Symbol, Index, Ikon|symbolischen]] Code ergibt sich oft alleine aus produktionsökonomischen Gründen: Während der literarische Text die Identität seiner Protagonisten durch ein schlichtes Pronomen sicherstellen kann, muss der Comic-Körper von Panel zu Panel wiederholt gezeichnet werden. Er steht damit nicht nur in ständiger räumlicher Konkurrenz zu allen anderen Zeichenkonfigurationen auf der Seite; seine Identität unterliegt auch selbst dem Prinzip der Serialität, was ihn etwa auch vom Protagonisten des [[Animation|Animationsfilms]] unterscheidet: Die Konventionen des Mediums weisen die verschiedenen co-präsenten Darstellungen als denselben Köper in verschiedenen Zeitmomenten aus (vgl. <bib id='Klar 2011a'></bib>: S. 129). Diese Wiederholungslast verändert auch den Status der Einzeldarstellung: Die Etablierung einer Token/Type-Relation, eines Systems relativerer Ähnlichkeiten von Abbildungsexemplaren zu einer implizit erschlossenen Gattung, ist so Grundvoraussetzung der Comic-Narration (vgl. <bib id='Bachmann 2013a'></bib>). Insbesondere im japanischen Diskurs werden die “Bilder” des Comics so eher als eine Art von Symbol- bzw. [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs|Hieroglyphenschrift]] verstanden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Itô Gô arbeitete in seiner in Japan enorm wirkungsmächtiger Manga-Theorie heraus, wie Figuren (kyaras) durch solche initialen Kodierungsverfahren entstehen: Erst durch die Aufrechterhaltung unterscheidender Anzeichen und Charakteristiken (koyûsei – 固有性) lässt sich von der gleichen Figur sprechen (<bib id='Itô 2005a'></bib>: S. 147ff.; vgl. <bib id='Frahm 2000a'></bib>: S. 72; <bib id='Krafft 1978a'></bib>: S. 30). Itô unterscheidet die „Figuren-Ikonographien“ (zuzô – 図像) daher auch von „Bildern im eigentlichen Sinne“ (e – 絵), da ''zuzôs'' ihre besondere „Identitätspräsenz“ (dôitsusei-sonzaikan – 同一性存在感, ibid: S: 139) besonders im transmedialen Eigenleben der Figur (in Fan Fiction, Cosplay und anderen Bereichen der japanischen Partizipationskultur) erhalten – was mit einer anderen Art der Bildlichkeit kaum zu realisieren wäre. <br />
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Durch diese visuelle Kodierung sind Protagonisten – nun wieder kulturübergreifend – häufig auf einen Blick von Antagonisten zu unterscheiden; auch die sozialen oder moralischen Zugehörigkeiten sind häufig durch ein System ähnlicher Cartoongruppen geregelt (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 154ff.). Dadurch ist der Comic ebenso anfällig für stereotypische und rassistische Darstellungsweisen wie auch affin gegenüber satirischen und subversiven Aushandlungen von Identität (vgl. <bib id='Frahm 2010a'></bib>; <bib id='Klar 2011a'></bib>). Comicfiguren, bei denen es sich ohnehin häufig genug um phantastische, anthropomorphe Tierwesen handelt (vgl. <bib id='Grünewald 1991a'></bib>: S. 30; <bib id='Itô 2006a'></bib>), scheinen so auch geradezu über einen ''Eigensinn'' zu verfügen, der sie metaleptischen Verfahren besonders zugänglich macht.<ref>Vgl. <bib id='Fehrle 2011a'></bib>; <bib id='Meinrenken 2010a'></bib>: S. 233 und <bib id='Siebert 2005a'></bib>.</ref> In dieser „strukturellen Parodie“ der Comic-Zeichen und ihrer [[Materialität und Bildsyntax|Materialitäten]], ihrer „parodistischen Ästhetik“ (<bib id='Frahm 2000a'></bib>: S. 107; vgl. <bib id='Kashtan 2013a'></bib>; <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>), muss daher auch eine medienspezifische Herausforderung an die Comicanalyse gesehen werden.<br />
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Die typische Bildlichkeit des Comic ist zudem häufig in verschiedenen Ebenen oder Domänen organisiert, die oft auch im Produktionsprozess deutlich unterschieden werden: Landschaften und Hintergründe sind häufig detailreicher und “naturalistischer” als schematische Protagonisten (vgl. <bib id='McCloud 1993a'></bib>: S: 42); In vielen Genres ist es kulturübergreifend nicht unüblich, Hintergründe durch einfarbige “Folien” zu ersetzen (vgl. <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 209ff.) – der Verzicht auf sämtliche Raumdarstellungen zugunsten externalisierter Emotionen ist etwa eines der stilistischen Merkmale des Shôjo-Manga (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). Hier besteht wiederum eine enge Verwandtschaft zum Animationsfilm ([[Exkurs:Anime|Anime]]), wo die Differenzierbarkeit des Bildes in distinkte Sphären eine technisch-ontologische Basis im ''multiplane compositing'' besitzt (vgl. <bib id='LaMarre 2009a'></bib>). <br />
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Sowohl die Organisation des [[Theorien des Bildraums|Bildraums]] in unterschiedene Sphären, als auch die Kodierung der Figurendarstellungen durch distinkte Anzeichen laufen auf eine systematische Besonderheit des Comic-Bildes hinaus: einen extrem flexiblen Umgang mit den Möglichkeiten der piktorialen [[Prädikation]] und [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen|Wahrnehmungsnähe]]. Die Frage nach Phänomenalität und Wahrnehmbarkeit der Comic-Figur gehört sicher zu den meistdiskutierten Fragen der jüngeren Comic-Theorie: „[W]eder die Behauptung, dass Asterix im Rahmen der erzählten Welt große Füße hätte, noch die, dass er nur so gezeichnet sei, in Wirklichkeit aber ganz anders aussehe, würde der Rolle des Zeichenstils im Comic gerecht werden“, stellt etwa Schüwer fest (<bib id='Schüwer 2008a'></bib>: S. 510.<ref>Vgl. <bib id='Surdiacourt 2012a'></bib>, <bib id='Wilde 2014a'></bib> und <bib id='Wilde 2016b'></bib>.</ref> Packard hat vielfach herausgearbeitet, dass die Bilder des Comic oft gerade nicht zeigen, wie die dargestellten Welten und Figuren eigentlich aussehen (<bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 246ff.; <bib id='Packard 2016b'></bib>). <br />
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Die Prädikationsmöglichkeiten des Bildes gestalten sich so vor allem besonders flexibel: Im Manga ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Figuren in Affektmomenten durch stilisierte „super deformed“(chibi – ちび)-Versionen ihrer selbst ersetzt werden (vgl. <bib id='Berndt 2013a'></bib>). In dieser Art der Bildlichkeit ist die visuelle Prädikation des Bildes extrem eingeschränkt, da wir ihm nur noch sehr bedingt entnehmen können, wie die dargestellten Figuren innerhalb der Diegese eigentlich aussehen. Auch Gegenstände können sich von einem Bild zum anderen in „objects of iconic focalization“ verwandeln (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S. 118).<ref>Vgl. <bib id='McCloud 1994a'></bib>: S. 44; <bib id='Packard 2006a'></bib>: S. 171ff.</ref> Wie bei einem Piktogramm, dessen bildliche Eigenschaften lediglich nur noch dahingehend relevant sind, einen korrespondierenden Begriff zu exemplifizieren (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>: S. 196), ist unser Zugriff auf die ''Storyworld'' in solchen Fällen eher [[Proposition|propositionaler]] statt phänomenaler Art: Wir wissen, dass ein bestimmter Gegenstand in der dargestellten Situation existiert, nicht aber zwangsläufig, wie er aussieht. Häufig bleibt es dem Betrachter überlassen, zu entscheiden, welche der Prädikationsmöglichkeiten, die das Bild zur Verfügung stellt, darstellungsrelevant sind und somit auf die Diegese übertragen werden können. Hierin wäre womöglich eine bildwissenschaftliche Begründung für Groensteens Diktum zu finden, dass die narrativen Bilder des Comics eher erzählen statt zu [[Zeigen und Sich-Zeigen|zeigen]] (<bib id='Groensteen 2007a'></bib>: S: 121ff.) – dies stellt freilich nur eine Option dar, denn auch äußerst naturalistische Zeichnungen (oder die Integration von Fotomaterial) ist im Comic keine Seltenheit. So scheint der Bildlichkeit des Comic zusammenfassend vor allem ein besonders flexibler Umgang mit Wahrnehmungsnähe und Prädikation eingeschrieben.<br />
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{{GlossarSiehe}}<br />
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* [[Abstraktion]]<br />
* [[Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen]]<br />
* [[Animation]]<br />
* [[Bilderschrift und Piktogramm]]<br />
* [[Bildinhalt]]<br />
* [[Bildkomik]]<br />
* [[Bild und Sprache]]<br />
* [[Darstellung]]<br />
* [[Diagramm]]<br />
* [[Exkurs:Anime|Exkurs: Anime]]<br />
* [[Film]]<br />
* [[Fotografie]]<br />
* [[Gesichtsdarstellung]]<br />
* [[Hieroglyphen, Hieroglyphendiskurs]]<br />
* [[Interaktion und Kommunikation]]<br />
* [[Kalligraphie (allgemein)]]<br />
* [[Kommunikationsmedien]]<br />
* [[Kontext]]<br />
* [[Kontextbildung]]<br />
* [[Massenmedien]]<br />
* [[Materialität]]<br />
* [[Materialität und Bildsyntax]]<br />
* [[Medialität]]<br />
* [[Metonymie]]<br />
* [[Naturalismus und Realismus]]<br />
* [[Perspektive und Projektion]]<br />
* [[Prädikation]]<br />
* [[Proposition]]<br />
* [[Rahmung, Rahmen]]<br />
* [[Referenz, Denotation, Exemplifikation]]<br />
* [[Schriftbildlichkeit]]<br />
* [[Sortale Gegenstände und Individuation]]<br />
* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]<br />
* [[Symbol, Index, Ikon]]<br />
* [[Theorien des Bildraums]]<br />
* [[Typographie]]<br />
* [[Typologien der Medien]]<br />
* [[Visuelle und multimodale Metaphern]]<br />
* [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]]<br />
* [[Zeigen und Sich-Zeigen]]<br />
<br />
<!--den folgenden Befehl, der die drei rechten Kästen einfügt, nicht verändern--><br />
<!--Anmerkungen und Literatur wird automatisch eingesetzt --><br />
<!--Literatur muß dazu mit entsprechender Bezeichnung in der Bibliogryphy-Seite eingetragen sein--><br />
<!-- ... dazu den "Sammlung"-Link im Literaturkasten verwenden --><br />
{{GlosTab2}}<br />
{{GlosTab3}}<br />
''Ausgabe 1: 2016''<br />
{{GlosTab4}}''Verantwortlich:'' <br />
<br />
* [[Benutzer:Lukas R.A. Wilde|Wilde, Lukas R.A.]]<br />
<br />
{{GlosTab4}}<br />
''Lektorat:'' <br />
*<br />
<!--den Schluß nicht verändern--><br />
{{GlosEnd}}<br />
<!--Das war's--></div>Lukas R.A. Wilde