Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen: Unterschied zwischen den Versionen
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+ | ==Zur Typologie der Zeichen== | ||
− | + | Nach traditioneller Vorstellung werden Begriffe durch die An­gabe des rele­vanten Ober­begriffs und der jewei­ligen spezi­fischen Differenz im Ver­hältnis zu diesem unter­geordneten Begriffen expli­ziert. Bilder können diesem Ver­fahren gemäß als spezielle [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichen]] einge­führt werden. Hier­bei dient der Zeichen­begriff als Ober­begriff, der in einem zweiten Schritt durch ein spezi­fisches, die unter­schiedlichen Zeichen unter­scheidendes Merk­mal einge­grenzt werden muss. Wahr­nehmungs­nähe ist als ein solches Merk­mal intendiert, das nur den bild­lichen Zeichen zu­kommen und das daher als spezi­fische Differenz zu anderen Zeichen dienen soll. Die Eigen­schaft der Wahr­nehmungs­nähe besitzt eine gewisse Nähe zum Begriff der [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität|Ähn­lich­keit]], ist aber keineswegs mit Ähn­lich­keit zu iden­tifi­zieren. Gegen­stände, die nach Ähn­lich­keits­krite­rien inter­pretiert werden, müssen keine wahr­nehmungs­nahen Zeichen sein, zudem ist Ähn­lich­keit auch nicht das einzige Kriterium einer wahr­nehmungs­nahen Rezep­tion. | |
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− | + | Die Explikation von Bildern als wahr­nehmungs­nahe Zeichen (vgl. <bib id='Sachs-Hombach 2003a'></bib>) geht auf die ein­fluss­reiche Typo­logie von [[Bildsemiotik|Charles S. Peirce]] zurück, nach dem die [[Symbol, Index, Ikon|ikoni­schen]] Zeichen eine von drei Zeichen­klassen (neben den indexi­kalischen und symbo­lischen Zeichen) bilden. Das Ikoni­sche soll mit dem Begriff der Wahr­nehmungs­nähe genauer spezi­fiziert werden, ohne damit den Gedanken von Peirce aufzu­geben, dass der Status des jewei­ligen Zeichen nicht an sich besteht, sondern durch die beson­dere Rezep­tion, insbe­sondere durch das jeweils verwen­dete Schluss­verfahren, zustande kommt. Ein und derselbe Gegen­stand kann nach Peirce daher Index, Ikon oder Symbol sein, je nachdem ob er in kausalen Zusammen­hängen (als Wirkung und damit als An­zeichen) oder in assozia­tiven, ähn­lich­keits­beding­ten Zusammen­hängen oder auch in regel­geleiteten, konven­tionellen Zusammen­hängen inter­pretiert wird. Entsprechend ist Wahr­nehmungs­nähe eine Eigen­schaft, mit der die­jenigen Schluss­verfahren charakte­risiert werden sollen, die auf wahr­nehmungs­eigene Standards beruhen. | |
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+ | Was zeichnet ''bildliche'' Zeichen aus? Die spezi­fische Differenz, die Bilder vor allem von sprach­lichen Zeichen abhebt, liegt dem Krite­rium der Wahr­nehmungs­nähe zufolge darin, dass ihre Ver­wendung in beson­derer Weise an bestimmte [[Bildrezeption als Kommunikationsprozess|Wahr­nehmungs­prozesse]] gekoppelt ist. Diese Koppe­lung muss natür­lich mehr als die Wahr­nehmung der Zeichen­träger sein, denn auch sprach­liche Zeichen müssen offen­sicht­lich wahrge­nommen werden. Über die Wahr­nehmung der Zeichen­träger hinaus soll Wahr­nehmungs­nähe für die Zeichen­inter­preta­tion rele­vant sein: Zumin­dest einige Aspekte der Bedeu­tung, die mit Bildern vermittelt werden sollen, müssen sich dem­nach aus der Struktur der Zeichen­träger ergeben, während die Zeichen­träger arbi­trärer Zeichen in der Regel keiner­lei Hin­weise auf die ent­sprechen­de Bedeu­tung ent­halten. Dies entspricht dem semio­tischen Begriff der Moti­viert­heit. Ein Gegen­stand kann also immer dann als ein wahr­nehmungs­nahes Zeichen aufge­fasst werden, wenn wir ihm einen Inhalt auf Grund­lage unserer Wahr­nehmungs­kompe­tenzen zuweisen. | ||
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+ | Dem Begriff der Wahrnehmungsnähe ist der Begriff der Wahr­nehmung logisch vorge­schaltet. Während der Wahr­nehmungs­begriff eine spezielle Klasse psychi­scher Erleb­nisse umfasst, be­zeichnet der Begriff der Wahr­nehmungs­nähe eine Relation, die wir einem Gegen­stand mit Bezug auf eine spezi­fische Ein­stellung bzw. Wahr­nehmung zu­schreiben: Ein Zeichen ist wahr­nehmungs­nah relativ zum Wahr­nehmen­den und zu dessen Wahr­nehmungs­kompe­tenzen, seien diese nun kultur­inva­riant oder nicht. Der Begriff der Wahr­nehmungs­nähe meint so­dann eine vom Zeichen­ver­wender ab­hängige gradu­elle Eigen­schaft. | ||
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+ | Die Besonderheit einer wahrnehmung­snahen Inter­pretation liegt am stärksten bei [[Simulation / Illusion|illu­sionisti­schen Bildern]] vor. Zwar müssen wir auch hier bereits ver­standen haben, dass es sich um ein Bild handelt, und damit eine all­gemeine Zeichen­kompetenz besitzen, die auch konven­tionelle Vor­gaben enthält; aber um zu bestimmen, was im Bild darge­stellt ist, können wir im Wesent­lichen auf die Prozesse zurück­greifen, die wir mit der Fähig­keit zur Gegen­stands­wahr­nehmung bereits besitzen. Wahr­nehmungs­nähe meint in diesem Fall also eine weit­gehende Iden­tität von [[Bildwahrnehmung vs. Objektwahrnehmung|Gegen­stands- und Bild­wahr­nehmung]]. | ||
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+ | Exemplarisch kommt die Wahrnehmungsnähe entsprechend immer ins Spiel, wenn wir einen Gegen­stand als figür­liches Bild und damit in Relation zur üblichen Gegen­stands­wahrnehmung rezipieren. Der Begriff der Wahr­nehmungs­nähe ist aber durch­aus weiter gefasst. Er betrifft nicht nur die übrigen Wahr­nehmungs­modalitäten, sondern ist zudem auf Gegen­stände anwendbar, die wir üblicher­weise gar nicht als Zeichen auf­fassen. Dies ist der Fall, wenn wir etwa in beliebigen Gegen­ständen etwas anderes erkennen, als es tatsächlich ist. Eine spezielle Form hier­von liegt bei [[Wahrnehmungsillusion|Wahr­nehmungs­täuschungen]] vor, wenn wir beispiels­weise im Dämmer­licht einen Strauch für eine Person halten. Mit Bezug auf den Begriff der Wahr­nehmungs­nähe sehen wir den Strauch als etwas, das er selber nicht ist, weil er auf Grund seiner visu­ellen Eigen­schaften und relativ zu unseren Wahr­nehmungs­standards eine Wahr­nehmungs­[[gestalt]] zu evo­zieren ver­mag, die üblicher­weise für die Wahr­nehmung von Per­sonen vorge­sehen ist (⊳ [[Dezeptiver und immersiver Modus|Dezep­tiver und immer­siver Modus]]). | ||
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+ | Die Fähigkeit zur wahrnehmungsnahen Rezeption wird bewusst einge­setzt, wenn wir beispiels­weise im wolken­durch­zogenen Abend­himmel ausge­dehnte Land­schaften erkennen oder – einer Empfeh­lung Leo­nardo da Vincis folgend (vgl. <bib id='da Vinci 1990a'></bib>: S. 385) – bei der Betrach­tung alter Mauern die verschie­densten phan­tastischen und wunder­samen Gestalten erblicken. Hier­bei bleibt uns in der Regel bewusst, dass wir Wolken oder Mauern anschauen, offen­sichtlich lassen sich ihre Ober­flächen­strukturen aber in mehr oder weniger phantasie­voller Weise inter­pretieren, da sie einen mit­unter sehr plastischen Eindruck von selbst nicht anwesenden Gegen­ständen bieten. Das so beschriebene Phänomen ist ein Wahr­nehmungs­erleb­nis, bei dem wir von der Wahr­nehmungs­nähe Gebrauch machen, die [[Gegenstand der visuellen Wahrnehmung|Gegen­stände]] relativ zu unserer beste­henden Wahr­nehmungs­kompe­tenz anderen Gegen­ständen gegenüber aufweisen. | ||
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+ | ==Der Begriff der Wahrnehmungsnähe in Relation zu ver­wandten Be­griffen== | ||
+ | Der Begriff der Wahrnehmungsnähe steht in enger Beziehung zu den in der Semio­tik gebräuch­lichen Begriffen der Moti­viert­heit und der Ikoni­zität (vgl. <bib id='Sonesson 1989a'></bib>). In neueren Arbeiten zur semio­tischen Bild­theorie, die sich nicht selten kritisch zur Goodman-Tradi­tion verhalten, lässt sich eine enge Verbin­dung des Ikoni­zitäts­modells sowohl zu pragma­tischen als auch zu wahr­nehmungs­theore­tischen und kogni­tions­wissen­schaft­lichen Frage­stellungen fest­stellen (vgl. <bib id='Blanke 2003a'></bib>). Ent­sprechend sind diese Modelle gleicher­maßen perzep­tuellen und semio­tischen Intui­tionen verpflichtet. | ||
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+ | Die Explikation des Begriffs der Wahrnehmungsnähe orientiert sich zudem und insbe­sondere an Richard Wollheims Theorie der Bild­wahr­nehmung, für die er den Ausdruck ‘Seeing-in’ vorge­schlagen hat (vgl. <bib id='Wollheim 1982a'></bib> und <bib id='Wollheim 1987a'></bib>). Die Bild­wahr­nehmung zeichnet sich nach Woll­heim dadurch aus, dass wir etwas ''in'' etwas sehen. Sie ent­hält deshalb not­wendig zwei Kompo­nenten: Die Wahr­nehmung des als Bild geltenden Gegen­standes als Ober­fläche und die Wahr­nehmung eines weiteren Gegen­standes oder Sach­verhaltes in bzw. auf dieser Ober­fläche. Hierbei wird voraus­gesetzt, dass beide Kompo­nenten beständig bewusst bleiben, auch wenn der Betrachter auf einen dieser Aspekte fokussiert ist (vgl. <bib id='Hopkins 1998a'>Hopkins 1998</bib>: S. 15-20). Diese Eigen­schaft der Bild­wahr­nehmung hat Wollheim als ‘Two­fold­ness’ bezeichnet. | ||
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+ | Wollheims Theorie des ''Seeing-In'' wird oft der Gombrich zuge­schriebe­nen ''Illusions­theorie'' gegen­über­gestellt. Gombrich hatte in «Art and Illusion» die Bild­wahr­nehmung in Zusammen­hang mit dem [[Sehen|Aspekt­sehen]] erläu­tert (vgl. <bib id='Gombrich 1962a'></bib>: S. 6) und gefol­gert, dass der Bild­betrachter entweder nur die Ober­flächen­struktur oder aber diese als etwas anderes wahrnimmt (wie wir beim [[Kippbild|Hasen-Enten-Bild]] entweder nur den Hasen oder nur die Ente sehen). Gegen diese Ansicht richtet sich berech­tigter­weise Wollheims Two­foldness-Bedingung, die ihrer­seits aber dem Vorwurf ausge­setzt ist, dass sie den Unter­schied zu anderen Formen der Wahr­nehmung nicht plausibel machen kann und daher keine inhalt­liche Aussage darüber trifft, in welcher Weise Bilder abbilden (vgl. <bib id='Lopes 1996a'></bib>: S. 43-51, insbes. S. 50). Woll­heims Theorie ist damit indiffe­rent gegen­über den beste­henden Theorien. | ||
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+ | Die Relevanz von Wahrnehmungsaspekten für die Bild­theorie, wie sie etwa Woll­heim beschreibt, wird von [[Phänomenologische Bildtheorien|phäno­meno­logischer]] Seite üblicher­weise akzep­tiert. Diffe­renzen gibt es in der Regel mit der Good­man nahe stehenden Tradi­tion der semio­tischen Bild­theorie, wenn diese als dezi­diert anti-perzep­tual­istisch verstanden wird. Legt man jedoch Woll­heims Charak­teri­sierung der Bild­wahr­nehmung zugrunde, dann bleibt beim derzeitigen Stand der Über­legungen offen, ob sie mit Good­mans Theorie in Konflikt steht. Denn Good­man bestrei­tet nicht generell die Rele­vanz von Wahr­nehmungs­aspek­ten für die Bild­rezep­tion, sondern ledig­lich die ähn­lich­keits­theore­tische Variante der perzep­tuellen Bild­theorie. | ||
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+ | * [[Bildsemiotik]] | ||
+ | * [[Bildrezeption als Kommunikationsprozess]] | ||
+ | * [[Bildwahrnehmung vs. Objektwahrnehmung]] | ||
+ | * [[Dezeptiver und immersiver Modus]] | ||
+ | * [[Gegenstand der visuellen Wahrnehmung]] | ||
+ | * [[Gestalt]] | ||
+ | * [[Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität]] | ||
+ | * [[Sehen]] | ||
+ | * [[Simulation / Illusion]] | ||
+ | * [[Symbol, Index, Ikon]] | ||
+ | * [[Wahrnehmungsillusion]] | ||
+ | * [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem]] | ||
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Aktuelle Version vom 15. Dezember 2019, 00:43 Uhr
Unterpunkt zu: Bildsemantik
Zur Typologie der ZeichenNach traditioneller Vorstellung werden Begriffe durch die Angabe des relevanten Oberbegriffs und der jeweiligen spezifischen Differenz im Verhältnis zu diesem untergeordneten Begriffen expliziert. Bilder können diesem Verfahren gemäß als spezielle Zeichen eingeführt werden. Hierbei dient der Zeichenbegriff als Oberbegriff, der in einem zweiten Schritt durch ein spezifisches, die unterschiedlichen Zeichen unterscheidendes Merkmal eingegrenzt werden muss. Wahrnehmungsnähe ist als ein solches Merkmal intendiert, das nur den bildlichen Zeichen zukommen und das daher als spezifische Differenz zu anderen Zeichen dienen soll. Die Eigenschaft der Wahrnehmungsnähe besitzt eine gewisse Nähe zum Begriff der Ähnlichkeit, ist aber keineswegs mit Ähnlichkeit zu identifizieren. Gegenstände, die nach Ähnlichkeitskriterien interpretiert werden, müssen keine wahrnehmungsnahen Zeichen sein, zudem ist Ähnlichkeit auch nicht das einzige Kriterium einer wahrnehmungsnahen Rezeption. Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem. Eintrag in Sammlung zeigen) geht auf die einflussreiche Typologie von Charles S. Peirce zurück, nach dem die ikonischen Zeichen eine von drei Zeichenklassen (neben den indexikalischen und symbolischen Zeichen) bilden. Das Ikonische soll mit dem Begriff der Wahrnehmungsnähe genauer spezifiziert werden, ohne damit den Gedanken von Peirce aufzugeben, dass der Status des jeweiligen Zeichen nicht an sich besteht, sondern durch die besondere Rezeption, insbesondere durch das jeweils verwendete Schlussverfahren, zustande kommt. Ein und derselbe Gegenstand kann nach Peirce daher Index, Ikon oder Symbol sein, je nachdem ob er in kausalen Zusammenhängen (als Wirkung und damit als Anzeichen) oder in assoziativen, ähnlichkeitsbedingten Zusammenhängen oder auch in regelgeleiteten, konventionellen Zusammenhängen interpretiert wird. Entsprechend ist Wahrnehmungsnähe eine Eigenschaft, mit der diejenigen Schlussverfahren charakterisiert werden sollen, die auf wahrnehmungseigene Standards beruhen.
Der Begriff der Wahrnehmungsnähe als spezifische Eigenschaft von BildernWas zeichnet bildliche Zeichen aus? Die spezifische Differenz, die Bilder vor allem von sprachlichen Zeichen abhebt, liegt dem Kriterium der Wahrnehmungsnähe zufolge darin, dass ihre Verwendung in besonderer Weise an bestimmte Wahrnehmungsprozesse gekoppelt ist. Diese Koppelung muss natürlich mehr als die Wahrnehmung der Zeichenträger sein, denn auch sprachliche Zeichen müssen offensichtlich wahrgenommen werden. Über die Wahrnehmung der Zeichenträger hinaus soll Wahrnehmungsnähe für die Zeicheninterpretation relevant sein: Zumindest einige Aspekte der Bedeutung, die mit Bildern vermittelt werden sollen, müssen sich demnach aus der Struktur der Zeichenträger ergeben, während die Zeichenträger arbiträrer Zeichen in der Regel keinerlei Hinweise auf die entsprechende Bedeutung enthalten. Dies entspricht dem semiotischen Begriff der Motiviertheit. Ein Gegenstand kann also immer dann als ein wahrnehmungsnahes Zeichen aufgefasst werden, wenn wir ihm einen Inhalt auf Grundlage unserer Wahrnehmungskompetenzen zuweisen. Dem Begriff der Wahrnehmungsnähe ist der Begriff der Wahrnehmung logisch vorgeschaltet. Während der Wahrnehmungsbegriff eine spezielle Klasse psychischer Erlebnisse umfasst, bezeichnet der Begriff der Wahrnehmungsnähe eine Relation, die wir einem Gegenstand mit Bezug auf eine spezifische Einstellung bzw. Wahrnehmung zuschreiben: Ein Zeichen ist wahrnehmungsnah relativ zum Wahrnehmenden und zu dessen Wahrnehmungskompetenzen, seien diese nun kulturinvariant oder nicht. Der Begriff der Wahrnehmungsnähe meint sodann eine vom Zeichenverwender abhängige graduelle Eigenschaft. Die Besonderheit einer wahrnehmungsnahen Interpretation liegt am stärksten bei illusionistischen Bildern vor. Zwar müssen wir auch hier bereits verstanden haben, dass es sich um ein Bild handelt, und damit eine allgemeine Zeichenkompetenz besitzen, die auch konventionelle Vorgaben enthält; aber um zu bestimmen, was im Bild dargestellt ist, können wir im Wesentlichen auf die Prozesse zurückgreifen, die wir mit der Fähigkeit zur Gegenstandswahrnehmung bereits besitzen. Wahrnehmungsnähe meint in diesem Fall also eine weitgehende Identität von Gegenstands- und Bildwahrnehmung. Exemplarisch kommt die Wahrnehmungsnähe entsprechend immer ins Spiel, wenn wir einen Gegenstand als figürliches Bild und damit in Relation zur üblichen Gegenstandswahrnehmung rezipieren. Der Begriff der Wahrnehmungsnähe ist aber durchaus weiter gefasst. Er betrifft nicht nur die übrigen Wahrnehmungsmodalitäten, sondern ist zudem auf Gegenstände anwendbar, die wir üblicherweise gar nicht als Zeichen auffassen. Dies ist der Fall, wenn wir etwa in beliebigen Gegenständen etwas anderes erkennen, als es tatsächlich ist. Eine spezielle Form hiervon liegt bei Wahrnehmungstäuschungen vor, wenn wir beispielsweise im Dämmerlicht einen Strauch für eine Person halten. Mit Bezug auf den Begriff der Wahrnehmungsnähe sehen wir den Strauch als etwas, das er selber nicht ist, weil er auf Grund seiner visuellen Eigenschaften und relativ zu unseren Wahrnehmungsstandards eine Wahrnehmungsgestalt zu evozieren vermag, die üblicherweise für die Wahrnehmung von Personen vorgesehen ist (⊳ Dezeptiver und immersiver Modus). Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. München: Schirmer/Mosel. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 385) – bei der Betrachtung alter Mauern die verschiedensten phantastischen und wundersamen Gestalten erblicken. Hierbei bleibt uns in der Regel bewusst, dass wir Wolken oder Mauern anschauen, offensichtlich lassen sich ihre Oberflächenstrukturen aber in mehr oder weniger phantasievoller Weise interpretieren, da sie einen mitunter sehr plastischen Eindruck von selbst nicht anwesenden Gegenständen bieten. Das so beschriebene Phänomen ist ein Wahrnehmungserlebnis, bei dem wir von der Wahrnehmungsnähe Gebrauch machen, die Gegenstände relativ zu unserer bestehenden Wahrnehmungskompetenz anderen Gegenständen gegenüber aufweisen.
Der Begriff der Wahrnehmungsnähe in Relation zu verwandten BegriffenDer Begriff der Wahrnehmungsnähe steht in enger Beziehung zu den in der Semiotik gebräuchlichen Begriffen der Motiviertheit und der Ikonizität (vgl. [Sonesson 1989a]Sonesson, Göran (1989).Pictorial Concepts: Inquiries into the Semiotic Heritage and its Relevance to the Interpretation of the Visual World. Lund: Lund University Press. Eintrag in Sammlung zeigen). In neueren Arbeiten zur semiotischen Bildtheorie, die sich nicht selten kritisch zur Goodman-Tradition verhalten, lässt sich eine enge Verbindung des Ikonizitätsmodells sowohl zu pragmatischen als auch zu wahrnehmungstheoretischen und kognitionswissenschaftlichen Fragestellungen feststellen (vgl. [Blanke 2003a]Blanke, Börries (2003). Vom Bild zum Sinn. Das ikonische Zeichen zwischen strukturalistischer Semiotik und analytischer Philosophie. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Eintrag in Sammlung zeigen). Entsprechend sind diese Modelle gleichermaßen perzeptuellen und semiotischen Intuitionen verpflichtet. Sehen-als, sehen-in und bildliche Darstellung. In Objekte der Kunst, 192-210. Eintrag in Sammlung zeigen und [Wollheim 1987a]Wollheim, Richard (1987). Painting, Metaphor, and the Body: Titian, Bellini, De Kooning, etc.. In Painting as an Art, 305-356. Eintrag in Sammlung zeigen). Die Bildwahrnehmung zeichnet sich nach Wollheim dadurch aus, dass wir etwas in etwas sehen. Sie enthält deshalb notwendig zwei Komponenten: Die Wahrnehmung des als Bild geltenden Gegenstandes als Oberfläche und die Wahrnehmung eines weiteren Gegenstandes oder Sachverhaltes in bzw. auf dieser Oberfläche. Hierbei wird vorausgesetzt, dass beide Komponenten beständig bewusst bleiben, auch wenn der Betrachter auf einen dieser Aspekte fokussiert ist (vgl. [Hopkins 1998]Hopkins, Robert (1998). Picture, Image and Experience. Cambridge: Cambridge University Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 15-20). Diese Eigenschaft der Bildwahrnehmung hat Wollheim als ‘Twofoldness’ bezeichnet. Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation. London: Phaidon. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 6) und gefolgert, dass der Bildbetrachter entweder nur die Oberflächenstruktur oder aber diese als etwas anderes wahrnimmt (wie wir beim Hasen-Enten-Bild entweder nur den Hasen oder nur die Ente sehen). Gegen diese Ansicht richtet sich berechtigterweise Wollheims Twofoldness-Bedingung, die ihrerseits aber dem Vorwurf ausgesetzt ist, dass sie den Unterschied zu anderen Formen der Wahrnehmung nicht plausibel machen kann und daher keine inhaltliche Aussage darüber trifft, in welcher Weise Bilder abbilden (vgl. [Lopes 1996a]Lopes, Dominic (1996). Understanding Pictures. Oxford: Claredon Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 43-51, insbes. S. 50). Wollheims Theorie ist damit indifferent gegenüber den bestehenden Theorien. Die Relevanz von Wahrnehmungsaspekten für die Bildtheorie, wie sie etwa Wollheim beschreibt, wird von phänomenologischer Seite üblicherweise akzeptiert. Differenzen gibt es in der Regel mit der Goodman nahe stehenden Tradition der semiotischen Bildtheorie, wenn diese als dezidiert anti-perzeptualistisch verstanden wird. Legt man jedoch Wollheims Charakterisierung der Bildwahrnehmung zugrunde, dann bleibt beim derzeitigen Stand der Überlegungen offen, ob sie mit Goodmans Theorie in Konflikt steht. Denn Goodman bestreitet nicht generell die Relevanz von Wahrnehmungsaspekten für die Bildrezeption, sondern lediglich die ähnlichkeitstheoretische Variante der perzeptuellen Bildtheorie. Siehe auch:
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Anmerkungen
[Blanke 2003a]: Blanke, Börries (2003). Vom Bild zum Sinn. Das ikonische Zeichen zwischen strukturalistischer Semiotik und analytischer Philosophie. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.
[da Vinci 1990a]: da Vinci, Leonardo (1990). Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. München: Schirmer/Mosel. [Gombrich 1962a]: Gombrich, Ernst H. (1962). Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation. London: Phaidon. [Hopkins 1998]: Hopkins, Robert (1998). Picture, Image and Experience. Cambridge: Cambridge University Press. [Lopes 1996a]: Lopes, Dominic (1996). Understanding Pictures. Oxford: Claredon Press. [Sachs-Hombach 2003a]: Sachs-Hombach, Klaus (2003). Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem. [Sonesson 1989a]: Sonesson, Göran (1989). Pictorial Concepts: Inquiries into the Semiotic Heritage and its Relevance to the Interpretation of the Visual World. Lund: Lund University Press. [Wollheim 1982a]: Wollheim, Richard (1982). Sehen-als, sehen-in und bildliche Darstellung. In: Wollheim, R. (Hg.): Objekte der Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 192-210. [Wollheim 1987a]: Wollheim, Richard (1987). Painting, Metaphor, and the Body: Titian, Bellini, De Kooning, etc.. In: Wollheim, R. (Hg.): Painting as an Art. Princeton: Princeton University Press, S. 305-356. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [18], Mark A. Halawa [3] und Stefan Kahl [1] — (Hinweis) Zitierhinweis: in Literatursammlung. Eintrag in Sammlung zeigen Sachs-Hombach, Klaus (2013). Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024). |