Ästhesiologie

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Der Ausdruck ‘Ästhesiologie’

Der Ausdruck ‘Ästhesiologie’ ist abgeleitet vom griechischen Wort ‘aisthesis’, ‘Wahrnehmung’. Er bedeutet im allgemeinen naturwissenschaftlichen oder medizinischen Sprachgebrauch die “Sinneslehre” oder die “Lehre von den Sinnesorganen bzw. Sinneswerkzeugen”.


Ästhesiologie bei Plessner
Im Anschluss an diese Begriffsbedeutung, aber mit dem spezifischen Zusatz “des Geistes”, konzipiert der Philosoph Helmuth Plessner (1892-1985) in seinem Buch Einheit der Sinne, dem frühen Hauptwerk von 1923, eine umfassende Philosophie der menschlichen Sinne ([Plessner 1923a]Plessner, Helmuth (1980).
Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923).
In Gesammelte Schriften, Band III, 7-315.

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). Dabei versucht Plessner, den “Sinn” der einzelnen sinnlichen Modalitäten zu verstehen. Die “Ästhesiologie des Geistes” läuft damit auf eine “Hermeneutik der Sinne” hinaus. In ihrem Eigensinn verstanden werden die sinnlichen Modalitäten dadurch, dass exklusive Kooperationen der einzelnen Sinne mit bestimmten Sinngebungsformen analysiert werden. Plessner versucht dadurch den Nachweis zu liefern, “dass zwischen der Differenzierung unserer Sinnlichkeit in optische, akustische und andere Modalitäten, unseren Bewegungsmöglichkeiten genauer gesagt: motorischen Ausdrucksmöglichkeiten, und den Richtungen, in denen unser Verständnis (künstlerisch, sprachlich, wissenschaftlich) sich bewegen kann, Entsprechungen bestehen, welche einen genaueren Einblick in den menschlichen Funktionszusammenhang zwischen Leib und Seele gestatten, als er uns bisher möglich gewesen war” ([Plessner 1951a]Plessner, Helmuth (1982).
Zur Anthropologie der Musik.
In Gesammelte Schriften, Band VII, 184-199.

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: S. 184).
Plessners “Ästhesiologie des Geistes” unterscheidet sich in signifikanter Weise von einer physikalischen, psychologischen oder physiologischen, d.h. empirischen Erforschung der menschlichen Sinnesmodalitäten. Ähnlich wie die philosophischen Normwissenschaften Logik, Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik, die ebenfalls nicht-emprisch verfahren, begreift Plessner die von ihm intendierte Theorie der Sinnesqualitäten als eine Normwissenschaft, die von ihm auch im Anschluss an eine Formulierung Goethes als eine “Kritik der Sinne” bezeichnet wird ([Plessner 1923a]Plessner, Helmuth (1980).
Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923).
In Gesammelte Schriften, Band III, 7-315.

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: S. 31). Damit steht seine Ästhesiologie unter einem strikt durchgehaltenen “Primat des Geistes” ([Plessner 1923a]Plessner, Helmuth (1980).
Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923).
In Gesammelte Schriften, Band III, 7-315.

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: S. 260).
Diese “Kritik der Sinne” zielt auf die Freilegung der “Sinngesetze der Sinnlichkeit” ([Plessner 1923a]Plessner, Helmuth (1980).
Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923).
In Gesammelte Schriften, Band III, 7-315.

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: S. 32). Dazu arbeitet Plessner eine sehr komplexe und voraussetzungsreiche neue Theorie des Geistes aus, mit deren Hilfe er den Versuch unternimmt, den “Sinn” der verschiedenen sinnlichen Modalitäten zu entdecken (vgl. [Lessing 1998a]Lessing, Hans-Ulrich (1998).
Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer „Ästhesiologie des Geistes“ nebst einem Plessner-Ineditum. Freiburg/München: Karl Alber.

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).
Im Zentrum dieser Theorie des Geistes steht eine Theorie der Sinngebungsformen (Schematismus, Thematismus, Tagmatismus), die er mit dem Ziel konzipiert, “aus der Einheit des Sinns” die “Mannigfaltigkeit der physischen Sinne” zu verstehen ([Plessner 1923a]Plessner, Helmuth (1980).
Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923).
In Gesammelte Schriften, Band III, 7-315.

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: S. 197). Plessners Grundgedanke ist dabei, dass die qualitative Verschiedenheit der menschlichen Sinne durch “je besondere geistige Leistungen” ausgewertet wird ([Plessner 1923a]Plessner, Helmuth (1980).
Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923).
In Gesammelte Schriften, Band III, 7-315.

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: S. 201). Dazu muss sich die Ästhesiologie auf Auswertungsbeziehungen von Sinnesfeld oder –funktion durch je spezifische Leistungen des Geistes, also Formen der Sinngebung, konzentrieren, die sich als unvertretbare erweisen. Plessner macht drei Wertbereiche aus, die auf einer ausschließlichen Kooperation sinnlicher und geistiger Faktoren beruhen. Diese sind die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft. Da für Plessner nur diejenigen kulturellen Phänomene ästhesiologisch bedeutsam sind, bei denen jeweils nur eine Sinngebungsform mit nur einer Sinnesmodalität ein Verbindung eingegangen sind, konzentriert sich die ästhesiologische Untersuchung auf die euklidische Geometrie (als Verbindung der Modalität des Sehens mit der Sinngebungsform “Schematismus”) und die absolute Musik (als Verbindung der Modalität des Hörens mit der Sinngebungsform “Thematismus”). An diesen kulturellen Objektivationen entwickelt Plessner differenzierte Ästhesiologien des Sehens und Hörens und gewinnt dadurch ein Einblick in den jeweiligen “Sinn” dieser Modi.


Ästhesiologie und Ästhetik
Mit seiner Ästhesiologie verfolgt Plessner nicht nur insbesondere naturhermeneutische, erkenntnistheoretische und anthropologische, sondern auch dezidiert ästhetische Intentionen wie beispielsweise seine Kritik des Expressionismus, die er aus der “Wesensunvertauschbarkeit von Auge und Ohr” ableitet. Zusammen damit hängt die Entwicklung der “Grundlegung einer Philosophie der Musik”, die Plessner gewissermaßen als die “Theorie des musikalischen Verstehens” begreift, als ihre “aller Musikästhetik” vorausgehende Erkenntnistheorie ([Plessner 1923b]Plessner Helmuth (1998).
Selbstanzeige der „Einheit der Sinne“ (ca. 1923).
In Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer „Ästhesiologie des Geistes“ nebst einem Plessner-Ineditum, 375-385.

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: S. 384). Als Konsequenz seiner Ästhesiologien des Sehens und Hörens behauptet Plessner, dass es “Licht (und Farben) und Schall (und Töne)” gibt, sei nicht zufällig, sondern “sinngemäß”. Damit ist verbunden “der werttheoretische, d.h. kulturkritische Nachweis einer gewissen Unvertauschbarkeit der Sinne, ihrer Unvertretbarkeit als wertspezifischer materiae primae”. Diese Unvertretbarkeit bedeutet einerseits, dass “in Farben und Umrißlinien nicht musiziert werden kann – was der Expressionismus wollte” und andererseits, dass in Tönen und Melodien nicht schematisiert werden könne ([Plessner 1923b]Plessner Helmuth (1998).
Selbstanzeige der „Einheit der Sinne“ (ca. 1923).
In Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer „Ästhesiologie des Geistes“ nebst einem Plessner-Ineditum, 375-385.

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: S. 380).
Der späte Plessner greift das sinnesphilosophische Projekt der “Einheit der Sinne” wieder auf, indem er nun eine dezidierte “Anthropologie” der Sinne entwickelt ([Plessner 1970a]Plessner, Helmuth (1980).
Anthropologie der Sinne (1970).
In Gesammelte Schriften, Band III, 317-393.

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) und sich von der Geisttheorie und dem transzendentalen Ansatz seines früheren Buches verabschiedet. Dabei revoziert er u.a. seine Kritik am Expressionismus, insofern er nun das Programm einer “Musikalisierung des Sehens” ([Plessner 1970a]Plessner, Helmuth (1980).
Anthropologie der Sinne (1970).
In Gesammelte Schriften, Band III, 317-393.

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: S. 340) nicht mehr als “Verirrung oder Abweichung vom rechten Weg” begreift ([Plessner 1970a]Plessner, Helmuth (1980).
Anthropologie der Sinne (1970).
In Gesammelte Schriften, Band III, 317-393.

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: S. 341).


Anmerkungen
Literatur                             [Sammlung]

[Lessing 1998a]: Lessing, Hans-Ulrich (1998). Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer „Ästhesiologie des Geistes“ nebst einem Plessner-Ineditum. Freiburg/München: Karl Alber.

[Plessner 1923a]: Plessner, Helmuth (1980). Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923). In: Dux, G.; Marquard, O. & Ströker, E. (Hg.): Gesammelte Schriften, Band III. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 7-315. [Plessner 1923b]: Plessner Helmuth (1998). Selbstanzeige der „Einheit der Sinne“ (ca. 1923). In: Lessing, H.-U. (Hg.): Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer „Ästhesiologie des Geistes“ nebst einem Plessner-Ineditum. Freiburg/München: Karl Aber, S. 375-385. [Plessner 1951a]: Plessner, Helmuth (1982). Zur Anthropologie der Musik. In: Dux, G.; Marquard, O. & Ströker, E. (Hg.): Gesammelte Schriften, Band VII. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 184-199. [Plessner 1970a]: Plessner, Helmuth (1980). Anthropologie der Sinne (1970). In: Dux, G.; Marquard, O. & Ströker, E. (Hg.): Gesammelte Schriften, Band III. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 317-393.


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