Beobachtung
Unterpunkt zu: Bildwahrnehmung
Das BeobachtenDie aufmerksamste und am intensivsten an einem Geschehen beteiligte visuelle Aktivität ist das Beobachten. Das deutsche Universalwörterbuch kennt vier verschiedene Bedeutungen von ‘beobachten’. Erstens: ‹etwas über eine gewisse Zeit aufmerksam und genau betrachten, mit den Augen verfolgen›. Zweitens: ‹über eine gewisse Zeit zu einem bestimmten Zweck auf etwas oder jemanden achten, jemanden oder etwas kontrollieren oder überwachen›, zum Beispiel in der Redewendung: ‘einen Patienten beobachten’, ‘jemanden beobachten lassen’, ‘jemanden zur Beobachtung ins Krankenhaus einweisen’. Drittens: ‹eine bestimmte Feststellung an jemandem oder an etwas machen, etwas bemerken›. Viertens: ‹eine Vorschrift, Abmachung oder ähnliches beachten oder einhalten› ([Dudenredaktion 2003a]: S. 261). Der Sozialpsychologe Carl Friedrich Graumann hat den Begriff der Beobachtung 1966 wie folgt definiert:
‘Beobachten’ als eine aktive, sensomotorische Tätigkeit bezeichnet also eine längere, aufmerksame, selektive und vor allem auf ein Ergebnis hin ausgerichtete Tätigkeit. Interessant ist hier der Zusammenhang mit dem aus dem 17. Jahrhundert stammenden Substantiv ‘Obacht’, das von ‘Acht’ kommt und ›Vorsicht‹ oder ›Aufmerksamkeit‹ meint. Es kommt heute nur noch im süddeutschen ‘Obacht geben’ vor, was soviel wie ›aufpassen, aufmerksam, wachsam sein‹ bedeutet ([Drosdowski 1989a]: S. 493). Nach Kluge gibt ‘Obacht’ in größerem Umfang das lateinische ‘observare’ und das französische ‘observer’ wieder ([Kluge 2002a]: S. 109). In Beobachten ist also ein besonders aufmerksamer, wachsamer, kontrollierender oder überwachender Aspekt vorhanden. Auch die anderen europäischen Sprachen besitzen ein eigenes Wort für ein aufmerksames, kontrollierendes, überwachendes oder wachsames Sehen: griech. ‘skopein’, das lateinische ‘observare’, das italienische ‘guardare’ und das französische ‘garder’.
Das BetrachtenDie Tätigkeit des Betrachtens ist hinsichtlich ihrer Semantik eine deutlich entspanntere und kontemplativere Tätigkeit. Das «Stilwörterbuch der deutschen Sprache» umschreibt ‘betrachten’ in dreierlei Hinsicht. Erstens: ‹jemanden, sich, etwas längere Zeit ansehen›. Zweitens: ‹jemanden, sich, etwas für etwas halten›: zum Beispiel ‘er betrachtet sich als meinen Freund’, ‘jemanden als Verbündeten betrachten’, ‘jemanden als politisch tot betrachten’, ‘jemanden als einen Betrüger betrachten’, ‘jemanden als enterbt betrachten’. Drittens: ‹etwas genauer erörtern oder beurteilen›, wie in ‘etwas objektiv betrachten’, ‘etwas unter einem anderen Aspekt betrachten’, ‘etwas von zwei Seiten betrachten’, ‘die finanzielle Situation der Firma betrachten’, ‘genau betrachtet ist die Sache etwas anders’ ([Drosdowski 1988a]: S. 156). Betrachten ist also ein Vorgang, der wie das Beobachten zwar ebenfalls längere Zeit benötigt, aber stärker als das aufmerksame, gespannte und ergebnisorientierte Beobachten in sich gekehrt ist und mit Überlegen, Einschätzen und Beurteilen zu tun hat. Betrachten hängt eng mit den lateinischen Verben ‘contemplari’ und ‘considerare’ zusammen, besitzt also eine deutlich kontemplativere und nachdenklichere Konnotation. Das Verb entsteht im 8. Jahrhundert und ist eine Verstärkung des einfachen ‘trachten’. Es bedeutet zunächst ›erwägen‹. Erst in frühneuhochdeutscher Zeit, also etwa um 1350, kommt es zu der heutigen Bedeutung von ›beim Anschauen erwägen‹. In dieser Zeit wird es allmählich mehr und mehr mit dem visuellen Sinn in Verbindung gebracht. Das Substantiv ‘Betracht’, wie in der Redewendung ‘in Betracht ziehen’ oder ‘in Betracht kommen’, bewahrt noch heute die ältere Bedeutung von ›erwägen‹. Adverb und Adjektiv ‘beträchtlich’ entwickeln sich aus der ursprünglichen Bedeutung mit Überlegung zu der allgemeineren Bedeutung ›erheblich‹. Das Abstraktum ‘Betrachten’ bezieht sich dagegen stärker auf das inhaltliche Betrachten ([Kluge 2002a]: S. 116).
Das BlickenWie steht es mit der Tätigkeit des Blickens? Das deutsche Universalwörterbuch charakterisiert das Substantiv als ‹ein kurzes Anschauen oder Hinschauen›, als ‹einen Ausdruck der Augen›, ‹einen Ausblick oder eine Aussicht› und als ‹eine Form der Urteilskraft› im Sinne von ‹ein sicherer Blick› oder ‹einen Blick für etwas haben› ([Dudenredaktion 2003a]: S. 298). Auffällig ist, dass es sich beim Blicken um einen, zeitlich gesehen, relativ kurzen Vorgang handelt, während Beobachten, Betrachten und Zuschauen beide als zeitlich länger andauernde Tätigkeiten verstanden werden. Ein Blick ist also etwas Kurzes und etwas Aktives. Er kann sich auf etwas richten. Das Verb ‘blicken’ hat im Wesentlichen drei Bedeutungen: Erstens: ‹bewusst seinen Blick irgendwo hin richten›. Zweitens: ‹in einer bestimmten Weise dreinschauen›, wie in ‘freundlich blicken’, ‘kühl blicken’ oder ‘streng blicken’. Die dritte Bedeutung ist jugendsprachlich und meint ‹begreifen, kapieren, schnallen›, wie ‘der blickt es nicht’, oder ‘ich blick da nicht durch’ ([Dudenredaktion 2003a]: S. 298). Interessant ist hier, dass es zwar das Substantiv ‘der Blick’ gibt, aber kein nomen agentis, also keinen Blicker. Ähnlich verhält es sich mit den sinnverwandten Verben wie ‘äugen’, ‘glotzen’, ‘gucken’, ‘kieken’, ‘linsen’, ‘luchsen’, ‘lugen’, ‘schauen’, ‘schielen’, ‘sehen’, ‘starren’ oder ‘stieren’ ([Müller 1985a]: S. 151). Sie alle kennen kein nomen agentis.
Das Schauen‘Schauen’ ist ein Ausdruck, der vorwiegend im süddeutschen, österreichischen oder schweizerischen Sprachraum Verwendung findet. Das Stilwörterbuch des Duden unterscheidet sechs verschiedene Bedeutungsvarianten von ‘Schauen’. Erstens: ‹blicken, irgendwohin schauen›; zweitens: ‹etwas ansehen, betrachten› (‘ich habe den ganzen Abend Fernsehen geschaut’); drittens: ‹auf etwas Wert legen› (wie zum Beispiel ‹auf Ordnung, Pünktlichkeit oder Äußerlichkeiten schauen›); viertens: ‹zusehen› (‘er soll schauen, dass er damit fertig wird’); fünftens: ‹etwas schauen› (zum Beispiel die Herrlichkeit Gottes) und sechstens: ‹nach jemandem schauen, sich um jemanden oder etwas kümmern› ([Drosdowski 1989a]: S. 622f.). Etymologisch gesehen, bezeichnet das westgermanische Verb (mittelhochdeutsch ‘schouwen’ oder althochdeutsch ‘scouwen’) den Bedeutungskomplex ›sehen, betrachten‹. Das englische Verb ‘to show’ (‘zeigen’) gehört mit den beiden altisländischen Verben ‘skygn’ (‘scharfsichtig’) und ‘skygna’ (‘spähen’) zu einer gemeinsamen Wurzel [s]keu- (‹auf etwas achten, aufpassen, bemerken›), die auch der Wortsippe von ‘schön’ zugrunde liegt (eigentlich ‘ansehnlich’). Im Unterschied zu ‘sehen’ bezeichnet ‘schauen’ meist das absichtliche Beobachten und Blicken. In gehobener Sprache steht ‘schauen’ auch für das innere, geistige Sehen ([Dudenredaktion 2003a]: S. 663f.). Ableitungen stellen die Worte ‘Schau’, ‘anschauen’, ‘anschaulich’, ‘veranschaulichen’, ‘Anschauung’, ‘beschauen’, ‘Beschauer’, ‘beschaulich’, ‘Schaufenster’, ‘Schauplatz’, ‘Schauspieler’, aber auch ‘zuschauen’ und ‘Zuschauer’ dar.
Das ZuschauenDer Zuschauer wird im «Universalwörterbuch der deutschen Sprache» als jemand definiert, der einem Vorgang, besonders einer Aufführung, einer Vorführung oder etwas Ähnlichem zusieht ([Dudenredaktion 2003a]: S. 1881). Das Entscheidende am Zuschauer ist, dass er nicht aktiv in das von ihm beobachtete Geschehen eingreift, sondern passiv bleibt. Er bleibt unbeteiligt. Zuschauer sind zwar ebenfalls relativ aufmerksame Beobachter, aber nicht alle Beobachter sind Zuschauer. Der Psychologe Bernd Strauss definiert Zuschauer folgendermaßen:
Etymologisch stammt ‘Zuschauer’ von ‘schauen’, dem mittelhochdeutschen ‘scouwen’. Außergermanisch lässt sich das Wort mit dem griechischen ‘thyo-skóos’ der ‘Opferschauer’ und ohne anlautendes ‘s-’ ‘koéo’ (‘ich bemerke, fasse auf’) vergleichen. Lateinisch stehen ‘cavere’ und eventuell das altitalienische ‘akuvate’ (‘beabsichtigt’) nahe. Als Substantive kennen wir ‘Schau’ oder ‘Anschauung’, als altertümliche nomina agentis den ‘Beschauer’, englisch ‘beholder’, als Adjektiv das Wort ‘beschaulich’.
Das SehenDer Ausdruck ‘Sehen’ ist das am meisten und im umfassendsten Sinne gebrachte Wort für die visuelle Tätigkeit eines Beobachters. Das Wort bedeutete wohl ursprünglich ›mit den Augen verfolgen‹. Denn es ist mit dem lateinischen ‘sequi’ (‘folgen’) verwandt. Wahrscheinlich liegt hier ein altes Wort der Jägersprache zu Grunde, das sich auf den verfolgenden und spürenden Hund bezog. Das «Universalwörterbuch der deutschen Sprache» kennt elf unterschiedliche Bedeutungen und Verwendungsweisen des Verbs, was für seine verbreiteten, wichtigen und vielfältigen Einsatz im Deutschen spricht. Erstens: ‹mit dem Gesichtssinn, mit den Augen optische Eindrücke wahrnehmen›. Zweitens: ‹den Blick irgendwohin richten, gerichtet halten›; ‹blicken, um etwas festzustellen oder zu ermitteln›, sowie ‹seine Aufmerksamkeit, sein Interesse, seine Erwartung auf jemanden oder auf etwas gerichtet halten›. Drittens: ‹aus etwas heraus ragen und zu sehen sein, hervorsehen›. Viertens: ‹eine Lage mit Blick in eine bestimmte Richtung haben›. Fünftens: ‹erblicken, bemerken, als vorhanden feststellen›. Sechstens: ‹sich jemanden oder etwas ansehen, betrachten› oder ‹durch Sehen in einen bestimmten Zustand gelangen›, wie bei ‘satt sehen’ oder ‘müde sehen’. Siebtens: ‹erleben›. Achtens: ‹bemerken, feststellen›, aber auch ‹beurteilen, einschätzen, erkennen, erfassen, überlegen und prüfen›. Neuntens: ‹zu jemandem oder etwas hingehen und sich darum kümmern› wie im Ausdruck ‘nach den Kindern sehen’. Zehntens: ‹auf etwas besonders achten, besonderen Wert legen›, aber auch ‹auf jemanden oder etwas aufpassen, etwas im Auge behalten›. Elftens: ‹sich darum kümmern, etwas Bestimmtes zu erreichen›, wie bei ‘sieh zu, dass du bald fertig wirst’ ([Dudenredaktion 2003a]: S. 1432f.). Etymologisch betrachtet, beruht das gemeingermanische, mittelhochdeutsche Verb ‘sehen’ (althochdeutsch ‘sehan’) mit verwandten Wörtern in anderen indogermanischen Sprachen auf der indogermanischen Wurzel ‘sek-’ (‘bemerken’, ‘sehen’). Deren eigentliche Bedeutung ›mit den Augen verfolgen‹ ergibt sich aus den verwandten Wortsippen von lateinisch ‘sequi’ (‘folgen’, ‘verfolgen’), dem altindischen ‘sacaté’ (‘er begleitet, folgt’) und dem lettischen ‘sekt’ (‘folgen’, ‘spüren’, ‘wittern’). Aus der Bedeutung ›bemerken‹ hat sich weiterhin über ‘zeigen’, ‘ankündigen’ die Bedeutung ‘sagen’ entwickelt ([Drosdowski 1989a]: S. 662).
Das PublikumVon einem Publikum spricht man dann, wenn man ein Personenkollektiv vor sich hat, das durch den gleichzeitigen Konsum eines bestimmten Erlebnisangebotes wie ein Konzert, eine Vernissage, einen Kinofilm oder ein Fußballspiel gekennzeichnet ist ([Schulze 2000a]: S. 460). Die zeitliche Dauer des Zuschauens kann unterschiedlich lange währen. Je nach der Länge der Veranstaltung kann sie von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden dauern. Bei Zeitschriften kann die Teilnahmedauer in Tagen und Wochen gezählt werden. Bei Modeartikeln, Büchern oder Musikkonserven in Monaten, bei Autos, Möbelstücken oder Moden sogar in Jahren. Meistens lässt sich der Zeitpunkt, zu dem ein Publikum entsteht oder zusammenkommt, durch das Erlebnisangebot selbst relativ genau bestimmen, während sein Ende und das Zerstreuen und Auseinanderfallen von Publika schwerer abzugrenzen sind. Publika stellen jedenfalls temporär verdichtete Szenen dar, die sich aus Anlass des kollektiven Konsums eines Erlebnisangebotes an einem bestimmten Ort treffen und versammeln, um gemeinsam als soziale Gruppe das Ereignis zu erleben.[1] |
Inhaltsverzeichnis
Anmerkungen
[Drosdowski 1988a]: Drosdowski, Günther (1988). Die Verwendung der Wörter im Satz. In: Drosdowski, G. (Hg.): Duden Stilwörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim [u.a.]: Dudenverlag, (= Duden Bd. 2).
[Drosdowski 1989a]: Drosdowsi, Günther (1989). Duden Etymologie. Herkunftwörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim [u.a.]: Dudenverlag. [Dudenredaktion 2003a]: Duden (Hg.) (2003). Duden. Das Stilwörterbuch. Mannheim [u.a.]: Dudenverlag. [Graumann 1966a]: Graumann, Carl Friedrich (1966). Grundzüge der Verhaltensbeobachtung. In: Meyer, E. & Maier, H. (Hg.): Fernsehen in der Lehrerbildung, Neue Forschungsansätze in Pädagogik. München: Manz, S. 86-107. [Kluge 2002a]: Kluge, Friedrich (2002). Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York: de Gruyter. [Müller 1985a]: Müller, Wolfgang (1985). Duden Bedeutungswörterbuch. Mannheim [u.a.]: Dudenverlag, (= Duden Bd. 10). [Schulze 2000a]: Schulze, Gerhard (2000). Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M., New York: Campus. [Strauß 1998a]: Strauß, Bernd (Hg.) (1998). Zuschauer. Göttingen [u.a.]: Hogrefe. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [27], Franziska Kurz [12] und Eva Schürmann [3] — (Hinweis) Zitierhinweis: [Huber 2013g-a]
Huber, Hans Dieter (2013). Beobachtung. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024). |