Bildanthropologie
Unterpunkt zu: Bildtheoretische Ansätze
Der Mensch als animal pictor: Bildkompetenz und die conditio humanaEs hat Tradition, den Menschen als sprachbegabtes Tier zu charakterisieren. Aber auch die merkwürdige Fähigkeit, Bilder zu verwenden, ist, nach allem was wir empirisch wissen, nur dem Menschen eigen. Gibt es begriffliche Gründe für diese empirische Koinzidenz? Ist, anders gefragt, der homo sapiens ganz wesentlich ein animal pictor – ein Wesen, das durch seine Bildkompetenz bestimmt ist? Die Freiheit des Bildens – Homo pictor und die differentia des Menschen. In Zeitschrift für Philosophische Forschung, 15, 161–176. Eintrag in Sammlung zeigen) reflektiert er aus phänomenologischer Perspektive über den Stellenwert des Bildvermögens für den Begriff des Menschen. Jonas beginnt seine Überlegungen mit einem Gedankenexperiment zur Frage „Was ist Menschsein?“: Wie könnten, so fragt er, Weltraumforscher erkennen, ob es sich bei Wesen, denen sie auf einer anderen Welt begegnen, um „Menschen“ handelt? Natürlich ist vom Menschen hier nicht im Sinne der biologischen Gattung die Rede, ebenso wenig, wie ja die philosophische Anthropologie mit der empirischen Anthropologie zusammenfällt (vgl. etwa [Tugendhat 2007a]Tugendhat, Ernst (2007). Anthropologie statt Metaphysik. München: C. H. Beck. Eintrag in Sammlung zeigen). An welche Symptome lassen sich also Kriterien knüpfen, die, der Charakterisierung »sapiens« entsprechend, bei jenen Wesen auf „Verstehen“, „Geist“, „Kultur“, „Zivilisation“ etc. schließen lassen? Das Vermögen, Bilder zu verwenden, mutet Jonas hierzu als eine besonders günstige Wahl an, da diese Fähigkeit einfacher als etwa das Sprachvermögen zu sein scheint, andererseits aber auch keine graduellen Übergänge zu rein biologisch erklärbaren Phänomenen erkennbar sind, wie sie etwa beim Werkzeuggebrauch auftreten. Würden die Astronauten aus dem Gedankenexperiment in einer Höhle künstlich erzeugte Linien und sonstige Farbkonfigurationen finden, d.h. Artefakte, die sie als Bilder interpretieren, dann wäre, so Jonas, ihre spontane Folgerung, dass es Menschen (im weiten Sinn) waren, die diese Artefakte gemacht haben. Die grundsätzliche Fragestellung, die bildanthropologische Ansätze charakterisiert, richtet sich genau genommen auf den Begriff, den wir uns von Wesen mit der Fähigkeit, Gegenstände als Bilder verwenden zu können, auf sinnvolle und rational kontrollierte Weise bilden können (und sollten; ⊳ Bildlichkeit: Bedingungen und Folgen). Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen) stehen anthropologische Bildtheorien insbesondere neben semiotischen, wahrnehmungstheoretischen und medientheoretischen Ansätzen, wobei der wesentliche Unterschied darin besteht, unter welchen Oberbegriff Bilder gebracht werden. Richteten semiotische Ansätze den Blick auf Bilder als eine besondere Art von Zeichen, wahrnehmungstheoretische Ansätze auf Bilder als Werkzeuge zur Herstellung einer besonderen Art von Gegenständen und medientheoretische Ansätze auf Bilder als eine spezielle Art von Medium, zeichneten sich anthropologische Ansätze vor allem dadurch aus, dass in ihnen Bilder als eine Art von Artefakt verstanden werden, die eine spezifisch-anthropologische Kompetenz erfordern. Wiesing identifiziert diese Kompetenz des homo pictor als die Fähigkeit, sich vom Hier-und-Jetzt lösen zu können, Distanz zur unmittelbaren Umwelt gewinnen zu können.
Weitere VerweiseBildanthropologische Vorschläge wurden insbesondere von A. Leroi-Gourhan [Leroi-Gourhan 1964/65a]Leroi-Gourhan, André (1964/65).Le geste et la parole. Paris: Albin Michel. Eintrag in Sammlung zeigen, V. Flusser [Flusser 1999a]Flusser, Vilém (1999). Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen: European Photography. Eintrag in Sammlung zeigen, J.-P. Sartre [Sartre 1940a]Sartre, Jean-Paul (1940). L'Imaginaire: Psychologie phénoménologique de l'imagination. Paris: Gallimard. Eintrag in Sammlung zeigen, M. Donald [Donald 1993a]Donald, Merlin (1993). Origins of the Modern Mind: Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition. Cambridge MA: Harvard University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, I. Davidson & W. Noble [Davidson & Noble 1989a]Davidson, Iain & William Noble (1989). The Archaeology of Perception: Traces of Depiction and Language. In Current Anthropology, 30, 2, 125-155. Eintrag in Sammlung zeigen, H. Belting [Belting 2001a]Belting, Hans (2001). Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink. Eintrag in Sammlung zeigen sowie J. Schirra & K. Sachs-Hombach [Schirra & Sachs-Hombach 2006b]Schirra Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2006). Fähigkeiten zum Bild- und Sprachgebrauch. In Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 54, 6, 887-905. Eintrag in Sammlung zeigen und [Schirra & Sachs-Hombach 2013a]Schirra, Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2013). The Anthropological Function of Pictures. In Origins of Pictures. Anthropological Discourses in Image Science, 132-159. Eintrag in Sammlung zeigen ausgearbeitet. Anthropologische / kulturalistische Ansätze. In Bild und Methode. Theoretische Hintergründe und methodische Verfahren der Bildwissenschaft, ??, im Erscheinen. Eintrag in Sammlung zeigen. |
Anmerkungen
[Belting 2001a]: Belting, Hans (2001). Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink.
[Davidson & Noble 1989a]: Davidson, Iain & William Noble (1989). The Archaeology of Perception: Traces of Depiction and Language. Current Anthropology, Band: 30, Nummer: 2, S. 125-155. [Donald 1993a]: Donald, Merlin (1993). Origins of the Modern Mind: Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition. Cambridge MA: Harvard University Press. [Flusser 1999a]: Flusser, Vilém (1999). Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen: European Photography. [Halawa & Grabbe 2014a]: Halawa, Mark & Grabbe, Lars (2014). Anthropologische / kulturalistische Ansätze. In: Netzwerk Bildphilosophie (Hg.): Bild und Methode. Theoretische Hintergründe und methodische Verfahren der Bildwissenschaft. Köln: Halem, S. ??, im Erscheinen. [Jonas 1961a]: Jonas, Hans (1961). Die Freiheit des Bildens – Homo pictor und die differentia des Menschen. Zeitschrift für Philosophische Forschung, Band: 15, S. 161–176. [Leroi-Gourhan 1964/65a]: Leroi-Gourhan, André (1964/65). Le geste et la parole. Paris: Albin Michel. [Sartre 1940a]: Sartre, Jean-Paul (1940). L'Imaginaire: Psychologie phénoménologique de l'imagination. Paris: Gallimard. [Schirra & Sachs-Hombach 2006b]: Schirra Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2006). Fähigkeiten zum Bild- und Sprachgebrauch. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band: 54, Nummer: 6, S. 887-905. [Schirra & Sachs-Hombach 2013a]: Schirra, Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2013). The Anthropological Function of Pictures. In: Sachs-Hombach, K. & Schirra, J.R.J. (Hg.): Origins of Pictures. Anthropological Discourses in Image Science. Köln: Halem, S. 132-159. [Tugendhat 2007a]: Tugendhat, Ernst (2007). Anthropologie statt Metaphysik. München: C. H. Beck. [Wiesing 2005a]: Wiesing, Lambert (2005). Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [28] und Emilia Didier [1] — (Hinweis) Zitierhinweis: in Literatursammlung. Eintrag in Sammlung zeigen Schirra, Jörg R.J. (2013). Bildanthropologie. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024). |