Bildbewusstsein

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
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Unterpunkt zu: Bildbewusstsein und Einbildungskraft


Bildbewusstsein als phänomenologischer Forschungsgegenstand

Das Bildbewusstsein ist vor allem innerhalb der philosophischen Schule der Phänomenologie ein relativ beliebtes Thema. Die phänomenologische Methode untersucht ihre Gegenstände als Phänomene, d.h. sie nimmt das Bewusstsein als Ausgangspunkt und fragt, auf welche Weise etwas – in diesem Fall: das Bild – dem Bewusstsein erscheint. Aus diesem Grund ist es auch nicht verwunderlich, dass vom Bildbewusstsein eben in der Phänomenologie und nicht etwa in den sprachanalytischen und semiotischen Schulen die Rede ist, welche ja gerade das Primat des Bewusstseins in Abrede stellen (vgl. etwa [Wittgenstein 1971a] sowie [). Unter den Phänomenologen, die sich primär mit dem Bildbewusstsein beschäftigt haben, sind vor allem Edmund Husserl, Eugen Fink, Roman Ingarden und Jean-Paul Sartre zu nennen.

Entscheidend ist dabei, dass diese Autoren sich weniger für die Analyse konkreter Einzelbilder oder Bildgruppen interessieren. Vielmehr geht es ihnen um das ''Wesen'' des Bildes: Gefragt ist also, was ein Bild überhaupt ist bzw. welche Eigenschaften es sind, aufgrund derer ein einzelnes Phänomen sich als Bild bestimmen lässt. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen [[Bildwissenschaft vs. Bildtheorie|Bildwissenschaft]] und Bildtheorie, die Lambert Wiesing, ein zeitgenössischer Vertreter der phänomenologischen Bildtheorie, vorgeschlagen hat: Während die Bild''wissenschaft'' empirisch vorgeht und eine Analyse konkreter Bilder beispielsweise aus filmwissenschaftlicher, kunsthistorischer oder werbepsychologischer Perspektive vornimmt, versucht die Bild''theorie'' ganz grundsätzlich erst einmal zu klären, was überhaupt unter dem Begriff des Bildes zu verstehen ist (vgl. ]: S. 9-16). Wenn die Phänomenologen also fragen, wodurch sich das Bildbewusstsein von anderen Bewusstseinsarten wie dem Wahrnehmungs- oder dem Zeichenbewusstsein unterscheidet, dann fallen ihre Untersuchungen nach Wiesing nicht in den Bereich der empirischen Bildwissenschaften, sondern in den einer Bildtheorie, die sich als eine Philosophie des Bildes begreifen lässt.

Edmund Husserl

Edmund Husserl, der als Begründer der Phänomenologie gilt, nimmt mit seiner Deskription des Bildbewusstseins auch die entscheidenden Weichenstellungen für die Entwicklung der phänomenologischen Bildtheorie bis in die heutige Zeit vor. In seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften finden sich nur verstreut einige Bemerkungen zum Bildbewusstsein, vor allem in dem Paragraphen 111 des ersten Bandes der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (vgl. [Husserl 1976a]). Diese knappen Ausführungen sind von kaum zu unterschätzenden Einfluss auf Ingarden, Fink oder Sartre gewesen und enthalten in nuce die Grundgedanken der Bildtheorie Husserls, die systematisch in der Vorlesung Phantasie und Bildbewußtsein, gehalten im Wintersemester 1904/05 in Göttingen, entwickelt worden ist – diese Vorlesungen sind allerdings in schriftlicher Form erst 1980 zusammen mit anderen Aufzeichnungen zu dieser Thematik aus dem Nachlass unter dem Titel Phantasie, Bildbewußtsein und Erinnerung publiziert worden (vgl. [Husserl 1980a]).

Im Unterschied zum Wahrnehmungsbewusstsein, dessen Gegenstand nach Husserl unmittelbar und leibhaftig da ist, wird derjenige des Bildbewusstseins durch einen Repräsentanten vergegenwärtigt oder vorgestellt. Ein Mensch, der im Bildbewusstsein erscheint, ist also nicht selbst gegeben, sondern ich sehe z.B. ein Foto oder eine Zeichnung von ihm. Zwar ist auch in der Phantasie im Unterschied zur Wahrnehmung das Objekt nicht 'leibhaftig da', aber die Phantasie ist anders als das Bildbewusstsein direkt, also ohne repräsentierendes Zwischenglied, auf ihr Objekt gerichtet.

Im Bildbewusstsein gibt es nach Husserl somit eine doppelte Gegenständlichkeit: Es gibt dasjenige, von dem das Bild ein Abbild ist, kurz: das Repräsentierte. Dieses intendierte Objekt, das auf dem Bild selbst nicht erscheint, nennt Husserl das Bildsujet. Von diesem unterscheidet Husserl wiederum das physische Bild und das Bildobjekt: Das physische Bild ist das reale – also wahrgenommene – Objekt, z.B. der bearbeitete Marmor, die bemalte Leinwand oder das bedruckte Papier – also das Repräsentierende. Das Bildobjekt ist hingegen dasjenige, das man auf dem Bild sieht, kurz: die Repräsentation. Demzufolge lassen sich also drei notwendige Momente des Bildbewusstseins unterscheiden: „1) Das physische Bild, das Ding, aus Marmor usw. 2) Das repräsentierende oder abbildende Objekt, und 3) das repräsentierte oder abgebildete Objekt“ ([Husserl 1980a]: S. 19).

In dem schon erwähnten Paragraphen 111 der Ideen I wendet sich Husserl einem einzelnen Werk – wie man mit Wiesing sagen könnte – in einer bildtheoretischen und nicht in einer bildwissenschaftlichen Intention zu: Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel wird nicht analysiert, um seinen Sinngehalt zu verstehen oder seinen Kunstcharakter zu würdigen. Vielmehr will Husserl auf der Grundlage der phänomenologischen Beschreibung eines einzelnen Bildes die allgemeinen Wesensbestimmungen des Bildes überhaupt aufspüren. Die Dreiteilung in physisches Bild, Bildobjekt und Bildsujet lässt sich auch hier finden, insofern es sich hierbei um eine Wesensgesetzlichkeit des Bildes handelt: „Wir unterscheiden hier fürs Erste die normale Wahrnehmung, deren Korrelat das Ding ›Kupferstichblatt‹ ist, dieses Blatt in der Mappe. Fürs Zweite das perzeptive Bewußtsein, in dem uns in den schwarzen Linien farblose Figürchen 'Ritter auf dem Pferde', 'Tod' und 'Teufel' erscheinen. Diesen Figürchen sind wir in der ästhetischen Betrachtung nicht als Objekten zugewendet; zugewendet sind wir den ›im Bilde‹ dargestellten, genauer, den 'abgebildeten' Realitäten, dem Ritter aus Fleisch und Blut usw.“ ([Husserl 1976a]: S. 252)

Jean-Paul Sartre

Eugen Fink macht in einem längeren Aufsatz mit dem Titel „Vergegenwärtigung und Bild“ aus dem Jahr 1929 in Weiterentwicklung der Lehre Husserls geltend, dass sich das Bildbewusstsein von der Vergegenwärtigung bzw. der Phantasie dadurch unterscheidet, dass die Bildwelt „immer und wesensmäßig mit einem realen Träger verbunden ist“ ([Fink 1966a]: S. 74). Jean-Paul Sartre hat Finks Aufsatz allem Anschein nach wohl nicht gekannt, aber in seiner ebenso detaillierten wie systematischen Studie Das Imaginäre von 1940 nimmt er auf der Grundlage desselben phänomenologischen Befunds eine Zweiteilung innerhalb des Bereichs des Imaginären vor, die Fink allerdings – wie sich gleich herausstellen wird – wohl abgelehnt hätte.

Sartre unterscheidet die images mentales (die reinen Vorstellungen) von den images physiques (den physischen Bildern). Als Unterscheidungskriterium fungiert hierbei das sogenannte Analogon, das als die Materie der Imagination vom eigentlichen Objekt der Imagination unterschieden wird (vgl. [Sartre 1994b]: S. 37). Die images mentales greifen für die Konstitution der Imagination auf den Wissensbestand, die Affektivität und Bewegungsempfindungen des imaginierenden Bewusstseins zurück, wohingegen bei den images physiques ein Wahrnehmungsobjekt als Analogon fungiert, um ein abwesendes Objekt imaginär zur Erscheinung zu bringen. Für Sartre ändert diese Verwurzelung in der Wahrnehmungswelt allerdings nichts daran, dass die image physique immer noch eine image ist, denn wie die image mentale intendiert sie ein abwesendes oder nicht-existierendes Objekt. Finks Gegenüberstellung von Vergegenwärtigung und Bild stimmt im Wesentlichen mit der von image mentale und image physique bei Sartre überein. Er erklärt jedoch aufgrund desselben phänomenologischen Befundes – das Bild hat einen wahrnehmbaren Träger –, konträr zu Sartre, dass die „Bildwahrnehmung […] eine bestimmte Art von Wahrnehmung“ ([Fink 1966a]: S. 75) ist.

Sartres Begriff des Analogon meint im Grunde dasselbe wie Husserls physisches Bild und schließt auch das ein, was der polnische Husserl-Schüler Roman Ingarden in seiner Bildtheorie von 1928 als „Gemälde“ und „physische[s] Seinsfundament des Bildes“ ([Ingarden 1962a]: S. 207) bezeichnet. Anders als etwa Wiesing, der Husserls und Sartres Überlegungen vor allem für eine Theorie der Bilder im engeren Sinne – Zeichnungen, Gemälde, Fotos, Film- und Computerbilder – fruchtbar macht, versteht Sartre das Verhältnis zwischen Analogon und Imagination allerdings in einem denkbar weiten Sinn: In seinem Verständnis kann beispielsweise das wahrgenommene Teppichmuster ebenso ein Analogon für imaginäre Gesichter sein wie die wahrgenommenen Wolken ein Analogon für imaginäre Gebilde, und der wahrgenommene Körper des Parodisten Thomas Freitag ebenso als Analogon für die abwesende Bundeskanzlerin fungieren wie der wahrgenommene Schauspieler Leonardo DiCaprio als Analogon für einen imaginären J. Edgar Hoover. Sartre zufolge wären also nicht nur die Phänomene auf dem Papier, der Leinwand, dem Fernsehbildschirm oder dem Monitor Bilder – vielmehr kann jedes Wahrnehmungsobjekt in der imaginierenden Einstellung zum Bild (also zu einer image physique) werden.

Sartres vertritt dabei die häufig kritisierte These, dass das imaginäre Objekt unzerstörbar ist, auch wenn sein Analogon als ein reales Ding den Gesetzen der Physik unterworfen ist: Die Beleuchtungsstärke der Leinwand kann verändert werden, die Farbe kann abbröckeln, und es kann schließlich sogar verbrennen – aber das imaginäre Objekt ist unerreichbar für all diese Veränderungen (vgl. [Sartre 1994b]: S. 288). Diese Einstellung, die vor allem für Sartres frühe Kunsttheorie von Bedeutung ist, kommt auch schon in seinem Roman Der Ekel zum Ausdruck: „Die Platte muß an der Stelle einen Kratzer haben, denn es macht ein komisches Geräusch. Und da ist etwas, was das Herz zusammenschnürt: nämlich, daß die Melodie überhaupt nicht von dem leichten Krächzen der Nadel auf der Platte berührt wird. Sie ist so weit – so weit dahinter. Auch das verstehe ich: die Platte wird verkratzt und nutzt sich ab, die Sängerin ist vielleicht tot […]. Aber hinter dem Existierenden, das von einer Gegenwart in die nächste fällt, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, hinter diesen Klängen, die von Tag zu Tag zerfallen, zerkratzt werden und in den Tod gleiten, bleibt die Melodie dieselbe, jung und fest, wie ein erbarmungsloser Zeuge.“ ([Sartre 1989a]: S. 196f.)

So kommt auch Wiesing ganz ähnlich wie Sartre zu dem Schluss, dass das Bildobjekt ein Phänomen jenseits der Wahrnehmungswelt ist: Es lässt sich weder berühren, hören oder riechen, noch ist es in irgendeiner Weise den Einflüssen der realen physischen Welt unterworfen. Daher ist es keine reale, sondern eine „artifizielle Präsenz“ ([Wiesing 2005a]: S. 31). So bleiben wir etwa auf Porträts und Fotos ewig jung – eine Tatsache, die Oscar Wilde in seiner berühmten Erzählung Das Bildnis des Dorian Gray in ihr Gegenteil verkehrt hat: Dort altert das Bildobjekt anstelle des Bildsujets.

Sartres und Wiesings These, dass sich das Bildobjekt gegenüber dem physischen Bild in einem letztlich von der Realität unerreichbaren physikfreien Raum befindet, würde wiederum Ingarden entschieden widersprechen: Insofern das Gemälde als reales Ding unvermeidlich einem Alterungsprozess unterworfen ist, bleibt davon auch das Bild nicht unberührt. Wenn die realen Farben im Zuge von Witterungseinflüssen verblassen, so verblassen auch die imaginären Farben des Bildobjekts. Das Gemälde verliert seine Fähigkeit, „immer dasselbe Bild zu konstituieren“: Nicht nur das Gemälde, sondern auch das „Bild […] ist somit ein historisches Gebilde, das eine bestimmte Lebenslänge und Lebensgrenze hat“ ([Ingarden 1962a]: S. 211). In späteren Texten vertritt Sartre selbst die Auffassung einer Kluft zwischen physischen Bild und Bildobjekt: „Der Gegenstand ist Träger der Irrealisierung, aber die Irrealisierung verleiht ihm seine Notwendigkeit, weil er sein muß, damit sie stattfindet“ ([Sartre 1980a]: S. 147f.).

Auswirkungen auf andere Begriffe

Bonnemann, Jens

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [15] und Mark A. Halawa [12] — (Hinweis)