Bilderschrift und Piktogramm
Unterpunkt zu: Schriftbildlichkeit
Die Grenze zwischen Schrift und BildWenn man die Schriften natürlicher Sprachen in historischer oder systematischer Perspektive kategorisieren, also eine Schriftgeschichte oder –typologie entwerfen möchte, muß man zwei grundsätzliche Fragen beantworten: die Frage nach den “Außengrenzen” des Bereichs der Schrift (was gilt noch als Schrift, was als historische Vorstufe zu voll entwickelten Schriften, was schon als Bild?) und die Frage nach den Funktionsprinzipien unterschiedlicher Schrifttypen (gibt es ein gemeinsames Funktionsprinzip oder mehrere unterschiedliche?). Ein wichtiges Problem in diesem Zusammenhang ist die Beschreibung und die Definition von Bilderschriften, da sich u.a. an diesem Problem die Grenze zwischen Schrift und Bild verhandelt.
Bilderschrift als MythosMan spricht traditionell von ‘Bilderschriften’, wo Schriftzeichen erkennbar Bildern von Gegenständen ähneln, die Bezeichnung ‘Bilderschriften’ dient manchmal aber auch als Sammelname für Vorformen von Schrift und schriftartige Mnemotechniken. Man spricht also einerseits von einer bestimmten graphischen Gestalt und andererseits von einer bestimmten Funktionsweise, der direkten Referenz auf den Gegenstand, ohne dass notwendig eine Bindung an eine bestimmte Lautung gegeben sein muß. Oft wird auch angenommen, die Ikonizität der Gestalt bedinge eine solche Gebrauchsweise. In diesem zweiten Sinne wären Bilderschriften etwas Ähnliches wie Piktogramme, eine Art mehr oder weniger standardisierte ikonische Kurzformeln. Ägyptische Hieroglyphen zwischen Schrift und Bild. In Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, ???. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 124). Ikonische Eigenschaften können aber in bestimmten Gebrauchskontexten für semantische Effekte „ausgebeutet” werden (vgl. [Seidlmayer 2011a]Seidlmayer, Stephan Johannes (2011). Ägyptische Hieroglyphen zwischen Schrift und Bild. In Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, ???. Eintrag in Sammlung zeigen); Assmann spricht in diesem Zusammenhang nachgerade von einer „Etymographie“ ([Assmann 2011a]Assmann, Jan (2011). Schriftbildlichkeit: Etymographie und Ikonographie. In Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, XXX. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 139). Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In Schriften zur Sprachphilosophie, Werke Bd. III, hg. von Flitner, Andreas & Giel, Klaus, 82-112. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 86ff.) zunächst zwischen „Bilderschriften“ (die wie die ägyptischen Hieroglyphen ikonische Zeichen verwenden), „Figurenschriften“, „welche Begriffe bezeichne[n]“ (op.cit. S. 87) (wie die chinesischen Zeichen) und „Buchstabenschriften“ (Alphabetschriften) unterscheidet, um dann aber klarzumachen, dass die Verhältnisse komplizierter sind. Humboldt stand in Briefkontakt mit Champollion und kannte dessen kurz zuvor (1822) erschienene «Lettre à M. Dacier». Er wußte, dass „die Aegyptier Bilder- und Buchstabenschrift in einander übergehen liessen“ ([Humboldt 1988a]Humboldt, Wilhelm von (1988). Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In Schriften zur Sprachphilosophie, Werke Bd. III, hg. von Flitner, Andreas & Giel, Klaus, 82-112. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 83), mit anderen Worten die Hieroglyphen einen alphabetischen Anteil haben. „Bilderschriften“ können als „Buchstabenschriften“ fungieren. Unterschied Humboldt bereits zwischen den Aspekten Zeichengestalt und Funktion, so sah er in der Schriftbildlichkeit der Hieroglyphen jedoch kein Reservoir für etymographische Lesungen oder ein schriftspielerisches Potential. Vielmehr sah er in der Bildlichkeit der Zeichen eine Ablenkung: Während Buchstabenschriften vor Augen führen, was den Sprachlaut als solchen auszeichnet (nämlich, dass er ein artikulierter Laut ist ([Humboldt 1988a]Humboldt, Wilhelm von (1988). Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In Schriften zur Sprachphilosophie, Werke Bd. III, hg. von Flitner, Andreas & Giel, Klaus, 82-112. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 93), lenken Bilderschriften durch die zusätzliche Referenz auf den Gegenstand der Rede von dieser selbst ab (op.cit. S. 86). The Blackwell Encyclopedia of Writing Systems. Oxford u.a.: Blackwell. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 382 und 407) hat versucht, diese Unterscheidung zwischen Gestalt und Funktionsweise terminologisch unter den Bezeichnungen ‘inner form’ und ‘outer form’ zu fassen und stellt fest: „No writing system is pictographic with respect to its inner form“ (op.cit. S. 407). Er faßt damit zusammen, was Konsens in der Forschung ist: Ein voll entwickeltes natürlichsprachliches Schriftsystem wie die Hieroglyphen zeichnet sich dadurch aus, dass es – in den Worten Humboldts – „bestimmte Wörter in bestimmter Folge andeutet“ ([Humboldt 1988a]Humboldt, Wilhelm von (1988). Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In Schriften zur Sprachphilosophie, Werke Bd. III, hg. von Flitner, Andreas & Giel, Klaus, 82-112. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 110), und diese Funktionsweise ist grundsätzlich unabhängig von der Bildlichkeit der Gestalt. schriftbildliche Aspekte an der Gestalt des Zeichens können aber ein zusätzliches Bedeutungspotential bergen.[1] Bilderschrift als typologisches ProblemDamit sind aber noch nicht sämtliche systematischen Probleme gelöst, die mit dem Begriff der Bilderschriften verbunden sind. Was für Schriftsysteme wie die ägyptischen Hieroglyphen allgemein als geklärt gilt, ist hinsichtlich der allgemeinen Typologie von Schriftsystemen und der Charakterisierung der historischen Vorformen von Schrift immer noch umstritten. Hier geht es um Bilderschriften im zweiten oben angeführten Sinn des Ausdrucks. Writing Systems. A linguistic introduction. Stanford, California: Stanford University Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 32ff.) legt eine Einteilung der Schriftsysteme in semasiographische („semasiographic“) und glottographische („glottographic“) Systeme vor. Unter der Bezeichnung ‘semasiographisch’ verbirgt sich ein weiter Schriftbegriff, der Piktogramme und die in Schriftgeschichten weitverbreiteten Felszeichnungen etc. umfaßt; ‘glottographisch’ sind alle Schriftsysteme, insofern sie bestimmte Sprachen schreiben. Sampson räumt durchaus ein, dass man die Bezeichnung ‘Schrift’ auf die Systeme beschränken könnte, die er glottographisch nennt. Es ist für ihn aber theoretisch durchaus vorstellbar, semasiographische Systeme (Piktogramme) so weit auszudifferenzieren, dass sie die Ausdrucksmächtigkeit einer Schrift bekommen – und zwar unabhängig von einer bestimmten Sprache. Die glottographischen Systeme wiederum sind eingeteilt in phonographische („phonographic“) Systeme einerseits (Silbenschriften, Alphabete und Systeme wie das Koreanische, die zwar Silbenschriften sind, aber eine aufgeschlüsselte Binnenstruktur haben) und logographische („logographic“) Systeme andererseits, die Morpheme schreiben, wie das Chinesische. Visible Speech. The Diverse Oneness of Writing Systems. Honolulu: University of Hawaii Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 58ff.) unterscheidet sich davon vor allem in zwei Punkten: Erstens kann laut DeFrancis das, was Sampson ‘semasiographische Systeme’ nennt auf keinen Fall als Schrift gelten; semasiographische Systeme sind für ihn „dead-end symbols“ (op.cit. S. 58), da Piktogramme etc. nicht nur keine Schriften sind, sondern auch nicht zu welchen werden können. Das können sie deshalb nicht, weil echte Schriften für DeFrancis notwendig phonographisch sind (op.cit. S. 7). Für DeFrancis, gibt es deswegen zweitens auch grundsätzlich keine logographischen Schriften in dem Sinne wie Sampson den Ausdruck verwendet. Das Chinesische klassifiziert er als „morpho-syllabisch“ ([DeFrancis 1989a]DeFrancis, John (1989). Visible Speech. The Diverse Oneness of Writing Systems. Honolulu: University of Hawaii Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 58), d.h. als eine Silbenschrift, deren Elemente außerdem auch noch mit Morphemen korrespondieren. Language, Technology, and Society. Oxford u.a.: Oxford University Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 72) mit einem Schriftbegriff, der etwa der Position von DeFrancis entspricht, dagegen versucht z.B. Elkins ([Elkins 1999a]Elkins, James (1999). The Domain of Images. Ithaca, London: Cornell University Press. Eintrag in Sammlung zeigen: Kap. 8) mit seinen Anmerkungen über semasiographische Zeichen („semasiographs“), die Debatte um die Taxonomie im Grenzbereich zwischen Schrift und Bild neu zu beleben.
Die Kategorie »Bilderschrift« im Kontext schrifttheoretischer DiskussionenDie Frage nach dem Sinn einer Kategorie »Bilderschrift« hängt so mit der Beantwortung einer Reihe weiterer Fragen zusammen:
Allgemein ist die Debatte auch von deutlich unterschiedlichen Erkenntnisinteressen geprägt: Wer in historischer Perspektive die Konstitutionsprinzipien von Schriften untersucht, wird hier andere Entscheidungen treffen als jemand der Schriften ausschließlich in ihrer Funktion als Notationssysteme für gesprochene Sprachen im Blick hat, und wieder andere Unterscheidungen werden sich ergeben, wenn man die Funktionsprinzipien von Schriften in der Systematik zeichentheoretischer Überlegungen betrachtet.[3] |
Anmerkungen
[Assmann 2011a]: Assmann, Jan (2011). Schriftbildlichkeit: Etymographie und Ikonographie. In: Krämer, Sybille; Cancik-Kirschbaum, Eva & Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Akademie, S. XXX.
[Coulmas 1999a]: Coulmas, Florian (1999). The Blackwell Encyclopedia of Writing Systems. Oxford u.a.: Blackwell. [DeFrancis 1989a]: DeFrancis, John (1989). Visible Speech. The Diverse Oneness of Writing Systems. Honolulu: University of Hawaii Press. [Elkins 1999a]: Elkins, James (1999). The Domain of Images. Ithaca, London: Cornell University Press. [Humboldt 1988a]: Humboldt, Wilhelm von (1988). Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Humboldt, Wilhelm von (Hg.): Schriften zur Sprachphilosophie, Werke Bd. III, hg. von Flitner, Andreas & Giel, Klaus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 82-112. [Sampson 1985a]: Sampson, Geoffrey (1985). Writing Systems. A linguistic introduction. Stanford, California: Stanford University Press. [Seidlmayer 2011a]: Seidlmayer, Stephan Johannes (2011). Ägyptische Hieroglyphen zwischen Schrift und Bild. In: Krämer, Sybille; Cancik-Kirschbaum, Eva & Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Akademie, S. ???. [Sproat 2010b]: Sproat, Richard (2010). Language, Technology, and Society. Oxford u.a.: Oxford University Press. [Stetter 1999a]: Stetter, Christian (1999). Schrift und Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, (stw 1415). Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [18] und Elisabeth Birk [13] — (Hinweis) Zitierhinweis: [Birk 2013-g-a]Literaturangabe fehlt. [Birk 2013-g-a]: |