Bildmorphologie

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Unterpunkt zu: Bildsyntax

English Version: Image Morphology


Einordnung der Bildmor­pholo­gie

Der Ausdruck ‘Bildmorphologie’ wird im allge­meinen nicht mit einer spezi­fischen, von ‘Bildgram­matik’ oder ‘Bildkom­posi­tion’ verschie­denen Bedeu­tung gebraucht. Ange­sprochen wird mit all diesen Termi­ni eine ana­lyti­sche Betrach­tung des Bildträ­gers als zusam­menge­setzt aus für die Bildfunk­tion rele­vanten, im wesent­lichen durch visu­ell wahrnehm­bare Eigen­schaften bestimm­ten Teilen, die auch in ande­ren Bildträ­gern, die sich durch die Zusam­menstel­lung der Teile unter­scheiden, Verwen­dung finden können. Es ist die Zusam­menstel­lung der Teile zu einem Ganzen, die gemein­sam mit ande­ren (nicht-​syntak­tischen) Fakto­ren die (Typ-) Iden­tität des Bildträ­gers und damit letztlich auch die mögli­chen Verwen­dungen des Bildträ­gers als Bild deter­miniert.

Allerdings legt es die Unterschei­dung von im enge­ren Sinne gramma­tischen gegen­über morpho­logi­schen Aspek­ten bei der Betrach­tung von Sprache (⊳ Morpho­logie und Syntax) nahe, den Ausdruck ‘Bildmor­pholo­gie’ mit einem spezi­fische­ren Sinn aufzu­laden und ihn so von der Bildgram­matik (die eben damit zu einer Bildgram­matik im enge­ren Sinn wird) abzu­heben. Die Bildgram­matik im enge­ren Sinn versucht vor allem syntak­tische Kompo­sitio­nali­tät bei Bildern im Sinne der forma­len (Chomsky-) Gramma­tiken nachzu­weisen, die die Unter­scheidung von​ »Satz«​ und​ »Wort«​ voraus­setzen[1] und durch ein begrenz­tes Set von Erset­zungsre­geln über einer endli­chen Menge von Satzkon­stitu­enten als Zwischen­stufen („nonter­mina­le Symbo­le“, etwa ‘Nomi­nalphra­se’) aus endlich vielen Wörtern (im menta­len Lexi­kon) auf eindeu­tige Weise unend­lich viele Sätze abzu­leiten oder zu ana­lysie­ren gestat­ten ([Chomsky 1957a]Chomsky, Noam (1957).
Syntactic Structures. Den Haag: Mouton.

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; [Sachs-​Hom­bach 1999a]Sachs-Hom­bach, (1999).
Gibt es ein Bildalphabet?.
In Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen, 57-66.

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).[2] Dage­gen ist eine Bildmor­pholo­gie im hier verwen­deten Sinn an einer syntak­tischen Bildkom­posi­tiona­lität ande­rer Art inte­ressiert: Können Bildträ­ger mithil­fe allge­meiner Gruppie­rungsre­geln – etwa ana­log zu den wesent­lich “weiche­ren”, im geomet­rischen Konti­nuum wirken­den Gestalt­geset­zen – als aus “pikto­rialen Primi­tiven” beste­hend beschrie­ben werden, die nicht bereits als Zeichen (Wörter) gelten und aus einer mögli­cherwei­se unbe­grenzten Grundmen­ge stammen, wobei auch die Bedin­gung der Eindeu­tigkeit der Ablei­tung abge­schwächt sein könnte? In Ana­logie zu den Wortbil­dungsre­geln bei extrem poly­synthe­tisch-​fusio­nieren­den Sprachen, ohne dabei aber schon voraus­zuset­zen, dass eine Anwen­dung der Unter­scheidung zwischen​ »Satz«​ und​ »Wort«​ auf bildhaf­te Zeichen­syste­me sinnvoll sei, müsste eine solche Bildmor­pholo­gie der charak­teris­tischen Eigen­schaft der syntak­tischen Dichte von bildli­chen Zeichen­syste­men gerecht werden.

Lässt sich eine solche morpho­logi­sche Bildkom­posi­tiona­lität ratio­nal einfüh­ren, so sind Bilder, obschon eben­falls komple­xe Zeichen­syste­me, sehr deutlich von Sprachzei­chensys­temen unter­schieden (⊳ Iko­nische Diffe­renz). Ihnen fehlt die Aufglie­derung der einzel­nen Gesamt­zeichen­handlun­gen in partiell unab­hängi­ge, wenn auch im Sinne Freges mehr oder minder unge­sättig­te, d.h. immer Ergän­zungen bedür­fender Teil­zeichen­handlun­gen – eben den Wörtern. Insbe­sonde­re bleibt dabei offen, ob die Verwen­dungen iso­lierter syntak­tischer Ele­mente bildhaf­ter Zeichen­syste­me immer selbst bereits unge­sättig­te Zeichen­handlun­gen sind.

Sicherlich lassen sich die für ein Objekt in seiner Funktion als Bildträ­ger rele­vanten physi­schen Eigen­schaften vor allem in der visu­ell wahrnehm­baren geome­trischen Anord­nung von Farbflä­chen finden. In diesem Sinn können die syntak­tischen Ele­mente, in die bei einer eigen­wertli­chen Betrach­tung der Bildsyn­tax der Bildträ­ger zerlegt wird, als pikto­riale morpho­logi­sche Elemente betrach­tet werden. Diese sind über ihren Eigen­wert hinaus weder notwen­diger Weise mit einer bestimm­ten Bedeu­tung – einem bestimm­ten Abbil­dungswert – aufge­laden, noch kommt ihnen unbe­dingt eine genau defi­nierte pragma­tische Funktion – ein festge­legter Darstel­lungswert – zu.


Visuelle Gestalten, Colo­reme und Pixe­me

Ab­bil­dung 1: Als Bei­spiel: Glo­ria Te­mar­re Pe­tyar­re: «Arn­kerrt­he​(Berg-​Teufel-​Eidechse)-​Traum»

Kurz ge­fasst bil­den al­so ge­nau die En­ti­tä­ten, in die der Bild­trä­ger – oder ge­nau­er: der durch Rah­mung aus­ge­zeich­ne­te Teil sei­ner Ober­flä­che – in der vi­su­el­len Wahr­neh­mung ein­ge­teilt er­scheint, das mor­pho­lo­gi­sche Re­per­toire bei Bil­dern. Psy­cho­lo­gisch wird die­se Ein­tei­lung durch die Ge­stalt­ge­set­ze be­stimmt: Sie de­ter­mi­nie­ren, wel­che Raum­stel­len als zu­sam­men­hän­gend ge­se­hen wer­den, und zwar nicht nur im Sin­ne ei­nes in sich un­ge­teil­ten, gleich­far­bi­gen und zu­sam­men­hän­gen­den Ge­biets, son­dern auch im Sin­ne von Grup­pie­run­gen hö­he­rer Ord­nung, et­wa Fol­gen von gleich­far­bi­gen Stri­chen. Dies führt bei­spiels­wei­se in Ab­bil­dung 1 da­zu, dass ne­ben den ro­ten, brau­nen, schwar­zen, gel­ben und wei­ßen Ele­men­tar­ge­bie­ten auch die Grup­pen von gelb- bzw. weiß-​ge­fass­ten, dun­kel ge­füll­ten Bö­gen und Bal­ken als zu­sam­men­ge­hö­ri­ge vi­su­el­le Ge­stal­ten wahr­ge­nom­men wer­den.

In ihrem einflussreichen Buch zur Bildsyn­tax ([Saint-​Martin 1990a]Saint-Martin, Fernande (1990).
Semiotics of Visual Language. Bloomington, IN: Indiana Uni­versity Press.

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) führt Fernan­de Saint-​Martin als morpho­logi­sche Basis­einheit die so genann­ten ‘Colo­reme’ ein:
[A coloreme] corresponds to that aggre­gate of visual vari­ables per­ceived in the visual repre­sen­tation by the way of an ocu­lar fixa­tion, or focus of the gaze. … A col­oreme is de­fined […] as the zone of the visual linguis­tic field corre­lated to a centra­tion of the eye. It is consti­tuted by a mass of ener­getic matter present­ing a given set of visual vari­ables. ([Saint-​Martin 1990a]Saint-Martin, Fernande (1990).
Semiotics of Visual Language. Bloomington, IN: Indiana Uni­versity Press.

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: S. 5).[3]
Ab­bil­dung 2: Vi­su­a­li­sie­rung ei­nes Co­lo­rems nach Saint-​Mar­tin (sche­ma­ti­sche Dar­stel­lung): Das das Co­lo­rem be­stim­men­de kreis­för­mi­ge fo­ve­a­le Zen­trie­rungs­ge­biet ist he­raus­ge­ho­ben und ver­grö­ßert, der Rest hin­ge­gen et­was ab­ge­dun­kelt dar­ge­stellt

Saint-​Mar­tins Ver­ständ­nis der Co­lo­re­me kon­zen­triert sich of­fen­sicht­lich auf mo­men­ta­ne psy­cho­phy­si­sche As­pek­te: Zu je­dem Zeit­punkt kann je­weils nur ei­ne oku­la­re Fi­xa­ti­on er­fol­gen und folg­lich nur ein Co­lo­rem wahr­ge­nom­men wer­den (vgl. Abb. 2). Al­ler­dings soll auf die­ser Ba­sis ei­ne „co­lo­re­ma­ti­sche (oder co­lo­re­mi­sche) Ana­ly­se“ auf­bau­en, die

de­scribes the trans­for­ma­tions which a col­oreme un­der­goes by its in­ter­re­la­tions with the other co­loremes of its im­me­di­ate en­tourage through mac­ular cen­tra­tions. The analy­ses pro­ceeds thus at a first re­group­ing of co­loremes through the topo­logi­cal re­la­tions which es­tab­lish the first per­cep­tual con­struc­tion and struc­ture the en­er­getic ex­changes be­tween co­loremes. ([Saint-​Mar­tin 1990a]Saint-Martin, Fernande (1990).
Semiotics of Visual Language. Bloomington, IN: Indiana Uni­versity Press.

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: S. 194).

In ihrer Dynamik und direkten Abhän­gigkeit von den psycho­physi­schen Eigen­heiten eines wahrneh­menden Indi­vidu­ums sind Colo­reme vor allem theore­tische Enti­täten. Praktisch schlägt Saint-​Martin vor, die Bildflä­che in ein regel­mäßi­ges 5*5-​Raster aufzu­teilen, das als Basis für eine ange­näher­te Beschrei­bung der mögli­chen oder wahrschein­lichen Colo­reme dient: Jedes Raster ist wiede­rum in ein 5*5-​Subras­ter aufge­teilt, das die Gliede­rung in fove­ale Zentren und maku­lare Randbe­reiche aufgreift (ibid.: S. 197ff).

Um nicht zu stark an die recht spezi­fische Konzep­tion Saint-​Martins gebun­den zu sein, empfiehlt es sich allge­meiner, die – letztlich auf einen hypo­theti­schen Normal­betrach­ter bezo­genen – visu­ellen Gestal­ten im bildsyn­takti­schen Zusam­menhang zunächst eher struktu­ralis­tisch zu betrach­ten und in Ana­logie zu dem lingu­isti­schen Ausdruck ‘Morphem’ als ‘Pixe­me’ zu bezeich­nen. Dabei kann in erster Nähe­rung auch von der Dyna­mik abge­sehen werden, die bei Saint-​Martin die morpho­logi­sche Beschrei­bung eines Bildträ­gers beträcht­lich erschwert.[4]

Pixem-Attribute

Saint-Martin unterscheidet zwei Arten von Eigen­schaften der syntak­to-​morpho­logi­schen Ele­mente bildhaf­ter Zeichen, die häufig auf folgen­de Weise inter­pretiert werden (vgl. z.B. [Dölling 1999a]Literaturangabe fehlt.
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): Plasti­sche Eigen­schaften gehö­ren zum Mate­rial des Bildträ­gers, während ande­re Eigen­schaften im Auge des Betrach­ters liegen und von eher visu­eller also wahrneh­mungsab­hängi­ger Art sind. Die geomet­rischen Formen und ihre topo­logi­schen Rela­tionen werden als typi­sche Beispie­le für den letzte­ren Eigen­schaftstyp gege­ben, während Farben und Textu­ren als Exem­pel für Eigen­schaften des Mate­rials selbst betrach­tet werden. Colo­reme sind stets Kombi­nati­onen von plasti­schen und visu­ell-​perzep­tiven Eigen­schaften.

Tatsächlich kann auch der allge­meine­re Begriff des Pixems logisch ana­lysiert werden in eine rein geomet­rische Basis­struktur einer­seits und ein Begriffs­feld von diese Struktu­ren sichtbar machen­den Marker­dimen­sionen ande­rerseits, denn Raum als solcher wäre ja nicht wahrnehm­bar. Erst die Segmen­tation in zusam­menge­höri­ge – nämlich gleich markier­te – Gebie­te ergibt eine Struktu­rierung in die räumli­chen Ele­mente eines Ganzen.[5]

Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Geome­trie (d.h. Räumlich­keit) und Farbe nicht (oder jeden­falls nicht wesent­lich) abhän­gig von der Diffe­renzie­rung zwischen Eigen­schaften, die zum Mate­rial des Bildträ­gers gehö­ren – und daher als objek­tive Eigen­schaften zu betrach­ten wären – und Eigen­schaften, die vom Betrach­ter konstru­iert werden – und folglich als subjek­tive Eigen­schaften zu bewer­ten wären.[6] Vielmehr können Bildphi­loso­phen über Farben und die Bezie­hungen zwischen ihnen einer­seits und über räumli­che Enti­täten und die geomet­rischen oder topo­logi­schen Bezie­hungen zwischen ihnen ande­rerseits disku­tieren, ohne dabei die beiden Argu­menta­tionen mitein­ander vermi­schen zu müssen. Sie können als unab­hängig vonein­ander betrach­tet und als von – jeden­falls auf den ersten Blick – auto­nomen Begriffs­feldern gere­gelt behan­delt werden.[7] Argu­menta­tionen über Pixe­me müssen hinge­gen die Logik der Farben und die Logik des Raums mitein­ander kombi­nieren, d.h. in einer begriff­lichen Synthe­se verei­nigen.

Grundlegende Eigenschaften von Pixe­men sind mithin genau die Attri­bute, die belie­bige gefärb­te Enti­täten der zwei­dimen­siona­len Geome­trie aufwei­sen, sowie die Rela­tionen, die sie unter­einan­der einneh­men können. Neben den charak­teris­tischen Eigen­schaften geomet­rischer Enti­täten – insbe­sonde­re topo­logi­sche, metri­sche und direk­tiona­le Rela­tionen zwischen ihren Teilen (Form) und zu ande­ren Gebie­ten (Lage) – und den etwa durch Farb­ton, Hellig­keit und Sätti­gung näher bestimm­ten Farbmar­kierun­gen im enge­ren Sinn[8] können auch homo­gene Farbver­läufe oder spezi­elle Farbva­riati­onen – Textu­ren – als Attri­bute höhe­rer Ordnung rele­vant sein. Zudem treten Wechsel­wirkun­gen auf, die sich aus der räumli­chen Anord­nung verschie­dener Farben zuein­ander erge­ben, vor allem Kontrast-​Effek­te.

Kombinationen von Pixemen, Ma­ximal­pixem

Da die Unterteilung in​ »Wort«​ und​ »Satz«​ für eine morpho­logi­sche Ana­lyse von Bildern irre­levant ist, können auch Zusam­menset­zungen aus mehre­ren Pixe­men ohne weite­res wieder als Pixe­me betrach­tet werden: Die Morpho­logie von Bildern besteht damit aus Teil-​Ganzes-​Ordnun­gen von Pixe­men, die sich zwischen dem Bildgan­zen – als Maxi­malpi­xem – und den als mini­mal betrach­teten Gebie­ten mit jeweils nur einer einzi­gen homo­genen Marker­bele­gung in meist mehre­ren Stufen aufspan­nen.

Pixemen höherer Ordnung kommt mithin nicht nur eine Marker­bele­gung im oben erwähn­ten Sinn zu. Sie haben vielmehr eine quasi-​pikturale Substruk­tur. So bilden beispiels­weise in Abbil­dung 1 die mittig ange­ordne­ten bandför­migen, braun gefüllt und gelb umran­deten Pixe­me ein säulen­arti­ges komple­xes Pixem höhe­rer Ordnung. Seine geomet­rische Basis­struktur wird nicht einfach durch Farb- oder Textur­werte, sondern gera­de durch die es konsti­tuieren­den Pixe­me niede­rer Ordnung markiert.

Obwohl die Pixeme “mittlerer” Ordnung in ihrer morpho­logi­schen Struktur einem Bildträ­ger gleichen, sind sie noch nicht ohne weite­res als Bildträ­ger zu verwen­den. Das liegt insbe­sonde­re an zwei zusam­menhän­genden Fakto­ren:

  • a) Gestalttheoretisch gesprochen bilden Pixe­me jeweils Figu­ren: der Hinter­grund, vor dem sie als solche unaus­weichlich betrach­tet werden, gehört entspre­chend nicht zu ihnen. Im oben erwähn­ten Beispiel sind die die gelb-​braunen Bänder um­schließen­den roten Berei­che nicht einge­schlossen. Obwohl durch die Pixem-​Segmen­tierung prinzi­piell in eine Vielfalt von Figur-​Grund-​Paaren zerleg­bar, gilt doch für den Bildträ­ger, dass er insge­samt nur in einer Hinsicht Figur ist, nämlich vor dem Rahmen. Das gilt unter allen betei­ligten Pixe­men nur für das Maxi­malpi­xem und hat dort eine beson­dere Wirkung.
Ab­bil­dung 3: Pi­xem-​Aus­schnitt als Bild
  • b) Die Rah­mung des Ma­xi­mal­pi­xems setzt letz­te­res näm­lich in den Ver­wen­dungs­zu­sam­men­hang, der die­se Fi­gur als Gan­ze zu ei­ner Zei­chen­mar­ke in ei­ner Zei­chen­hand­lung macht, d.h.: zu ei­nem Bild­trä­ger. Na­tür­lich ist es prin­zi­pi­ell durch­aus mög­lich, die­se Rah­mungs­hand­lung auch bei je­dem der Pi­xe­me nie­de­rer Ord­nung zu voll­zie­hen, sie al­so als se­pa­rier­te Bild­trä­ger (und da­mit als an­de­re Bil­der) zu be­trach­ten. Doch blei­ben bei ei­nem sol­chen Vor­ge­hen die prag­ma­ti­schen und se­man­ti­schen Be­zü­ge nicht er­hal­ten:[9] Schnitte man eines der gelb umran­deten, braun gefüll­ten Bänder aus dem Mittel­teil von Abbil­dung 1 aus und montier­te es allei­ne auf den Hinter­grund einer neutral gefärb­ten Fläche (oder auch freischwe­bend im Raum), so kann man das Resul­tat durchaus als ein Bild mit etwas unge­wöhnlich gewölb­tem Rand (also eine Rahmung ohne expli­ziten Rahmen) begrei­fen (Abb. 3). Verwen­dungszu­sammen­hänge und Bedeu­tungszu­schreibun­gen dieses Bildes hängen indes besten­falls sehr locker mit denen von Abbil­dung 1 zusam­men.

Pixem-bildende Opera­tionen

Die Pixem-bildenden Operationen gehen letztlich auf die elemen­taren Pixem-​Attri­bute zurück. Begrün­det in den psycho­physio­logi­schen Wahrneh­mungsme­chanis­men, laufen sie in der Regel unbe­wusst ab. Dabei sind beson­ders zwei gegen­läufi­ge Aspek­te wichtig: Kontrast­verstär­kung und Gestalt­bildung.

Die Konstitution von Pixemen bei der Betrach­tung eines Bildträ­gers ist – als Vari­ante der Segmen­tierung beim Sehen ganz allge­mein – stark kontext­sensi­tiv: So führen lokal wirksa­me kontrast­verstär­kende Kompo­nenten des Wahrneh­mungsap­para­tes zu Grenzen zwischen als einheit­lich wahrge­nomme­nen Gebie­ten. Bemerk­bar werden diese Ope­rati­onen vor allem dann, wenn sie zu Täuschun­gen, d.h. zu zusätz­lichen Pixe­men (bzw. allge­meiner: Wahrneh­mungsseg­menten[10]) führen, etwa bei der Kontrast­täuschung.[11]

Die Mechanismen der Kontrastver­stärkung unter­stützen ande­rerseits das Zusam­menfas­sen homo­gener Gebie­te durch Gestalt­bildung im Sinne der Gestalt­geset­ze. Deren unbe­wusstes Wirken bestimmt die wahrge­nomme­nen Teil-​Ganzes-​Hierar­chien der zusam­menge­setzten Pixe­me. Das Wechsel­spiel von Grenzzie­hung durch Kontrast­verstär­kung und Inte­gration gemäß der Gestalt­geset­ze führt letztlich zur Konsti­tution einer bildmor­pholo­gischen (Normal-)​Struktur zwischen Maxi­malpi­xem und ele­menta­ren Gebie­ten, die aller­dings bei der alltäg­lichen Bildwahr­nehmung bereits beim Aufbau sehr stark von seman­tischen und pragma­tischen Randbe­dingun­gen deter­miniert wird. Eben aus diesem Grund heben etwa Gestal­tungslehr­bücher stets beson­ders hervor, dass “das Auge” in der gestal­teri­schen Sehwei­se geschult werden müsse, die gera­de von solchen Einflüs­sen absieht und letztlich einen rein eigen­wertli­chen Zugang zur Bildmor­pholo­gie errei­chen will (etwa [Klee 1956a]Literaturangabe fehlt.
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).


Anwendungen

Ab­bil­dung 4: Er­geb­nis ei­ner au­to­ma­ti­schen Seg­men­tie­rung: Tex­tur­ba­sier­te Pi­xem­bil­dung. Rechts sind die ge­fun­de­nen Pi­xe­me farb­lich mar­kiert dar­ge­stellt.

Das al­go­rith­mi­sche Nach­bil­den pi­xem-​bil­den­der Ope­ra­ti­o­nen führt zur Mög­lich­keit bild­mor­pho­lo­gi­scher Ana­ly­sen in der Com­pu­ter­vi­su­a­lis­tik und bil­det ei­nen zen­tra­len Be­stand­teil der di­gi­ta­len Bild­ver­ar­bei­tung: Auf in­for­ma­ti­sche Ko­die­run­gen (No­ta­ti­o­nen) von Bild­trä­gern kön­nen ent­spre­chen­de Seg­men­tie­rungs­ver­fah­ren pro­gram­miert wer­den, die (in der ent­spre­chen­den Li­te­ra­tur oft als ‘Ob­jek­te’ be­zeich­ne­te) Pi­xe­me zu be­stim­men er­lau­ben (Abb. 4). Hier­bei wer­den vor al­lem die Ge­stalt­ge­set­ze der Nä­he, Ähn­lich­keit und Gu­ten Kon­ti­nu­i­tät über den Farb- und Tex­tur­mar­kern ope­ra­ti­o­na­li­siert.

Auf lange Sicht mag es möglich sein, der Bildwis­senschaft auf diese Weise ein Set von techni­schen Standard­werkzeu­gen zur morpho­logi­schen Bild­ana­lyse bereit­zustel­len. Dies ist insbe­sonde­re sinnvoll, inso­fern die Pixem-​Kompo­sition des Bildträ­gers, wie oben erwähnt, auf einen theore­tisch voraus­gesetz­ten Normal­betrach­ter bezo­gen werden muss. Zu beden­ken bleibt dabei aller­dings, dass die menschli­che Wahrneh­mung von Bildern, wie u.a. von Saint-​Martin beschrie­ben, neben den mögli­chen indi­vidu­ellen Abwei­chungen vom Normal­betrach­ter auch dyna­mische Aspek­te umfasst, die durch eine solche rein struktu­relle Ana­lyse eben­falls ausge­blendet bleiben.

Auf begrifflicher Ebene erlaubt die Synthe­se der bildli­chen Morpho­syntax aus geome­trischem Basis­kalkül und dem Begriffs­feld der farbli­chen Marker­werte schließlich, eine lang geheg­te Vermu­tung zu wider­legen: dass nämlich der Begriff der syntak­tischen (Nicht-)​Wohlge­formtheit auf Bilder über­haupt nicht anzu­wenden wäre (vgl. [Plüma­cher 1999a]Plümacher, Martina (1999).
Wohlgeformtheitsbedingugen für Bilder?.
In Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen, 47-56.

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). Da durch Beschä­digun­gen des Bildträ­gers die geomet­rische Basis­struktur des Maxi­malpi­xems gestört werden kann, ist der Begriff eines syntak­tisch unkor­rekten Bildes sehr wohl sinnvoll.
Anmerkungen
  1. Das be­deu­tet: Die Zei­chen die­ser Zei­chen­sys­te­me wer­den als aus kom­mu­ni­ka­tiv wir­ken­den Ein­hei­ten zu­sam­men­ge­setzt ver­stan­den, de­nen zu­min­dest zum Teil selbst wie­de­rum Zei­chen­cha­rak­ter im sel­ben Sys­tem zu­kommt. Ei­ne Kom­po­si­ti­on aus kom­mu­ni­ka­ti­ven Ele­men­ten, die nicht be­reits sel­ber Zei­chen sind, wird da­bei nicht be­rück­sich­tigt.
  2. Ge­nau ge­nom­men ist da­her die Fra­ge nach der Bild­gram­ma­tik nicht auf ein Bild­al­pha­bet ge­rich­tet, son­dern eher auf ein “men­ta­les Le­xi­kon” zu ei­ner end­li­chen Men­ge von “Bild­wör­tern”.
  3. Vgl. hier­zu auch den Ein­trag Ko­lo­rem im «Le­xi­kon der Film­be­grif­fe».
  4. In neu­ro­phy­si­o­lo­gi­scher Per­spek­ti­ve ver­schiebt sich da­bei der Fo­kus vom Au­ge zu den so ge­nann­ten neu­ra­len Kar­ten des vi­su­el­len Kor­tex oder bes­ser der lo­gi­schen Struk­tur der dort en­ko­dier­ten vi­su­el­len Mus­ter.
  5. Auf den ers­ten Blick mag die­ser Ana­ly­se so­gar ei­ne ge­wis­se Ähn­lich­keit mit ei­ner gram­ma­ti­schen Struk­tur im en­ge­ren Sinn eig­nen, wo­bei der geo­met­ri­sche Kal­kül ge­wis­ser­ma­ßen als Gram­ma­tik fun­giert und die Re­geln zur Ab­lei­tung non-​ter­mi­na­ler “Satz”-​Tie­fen­struk­tu­ren be­reit­stellt, wäh­rend die mög­li­chen Aus­prä­gun­gen der Mar­ker­di­men­si­o­nen das pik­to­ri­a­le “Le­xi­kon” – die ter­mi­na­len Sym­bo­le – zu­fü­gen, die die bild­li­che Ober­flä­chen­struk­tur er­gibt.
  6. Es er­scheint schon merk­wür­dig, dass aus­ge­rech­net​ »Far­be«​ – ge­mein­hin als Pa­ra­de­bei­spiel für ei­ne se­kun­dä­re Qua­li­tät an­ge­führt – bei Saint-​Mar­tin zu den ob­jek­ti­ven Ma­te­ri­al­ei­gen­schaf­ten ge­hört und nicht dem Wahr­neh­mungs­ap­pa­rat zu­ge­schla­gen wird.
  7. Eben aus die­sem Grund ist ei­ne von Farb­the­o­ri­en un­ab­hän­gi­ge Geo­met­rie mög­lich. Zwar kom­men in Farb­the­o­ri­en oft geo­met­ri­sche Aus­drü­cke vor (‘Farb­raum’, ‘Farb­dis­tanz’, ‘Farb­kör­per’), doch sind die­se raum­me­ta­pho­risch ge­mein und be­zie­hen sich ge­ra­de nicht auf die geo­met­ri­schen Ei­gen­schaf­ten far­bi­ger Ge­gen­stän­de.
  8. Zu be­ach­ten ist al­ler­dings, dass die Di­men­si­o­nen​ »Farb­ton«,​ »Hel­lig­keit«​ und​ »Sät­ti­gung«​ zur Cha­rak­te­ri­sie­rung ei­nes pik­to­ri­a­len Mar­ker­werts nicht ab­so­lut ge­se­hen wer­den kön­nen, son­dern in star­ker Wei­se von ih­rer Um­ge­bung ab­hän­gen: So­wohl Be­leuch­tung (ob­jek­tiv) als auch die Far­ben der um­ge­ben­den Pi­xe­me (sub­jek­tiv) be­ein­flus­sen die Wahr­neh­mung von Far­be.
  9. Ei­ne Aus­nah­me zu die­ser Re­gel dürf­ten die­je­ni­gen Pi­xe­me bil­den, die ab­bil­dungs­wert­lich als Bild im Bild in­ter­pre­tiert wer­den. De­ren prag­ma­ti­schen und se­man­ti­schen Re­la­ti­o­nen sind dann al­ler­dings in die Sze­ne des Bild­rau­mes ver­scho­ben.
  10. Der Hin­weis auf den mög­li­chen Un­ter­schied zwi­schen vi­su­el­ler Wahr­neh­mung ganz all­ge­mein und Bild­wahr­neh­mung im Be­son­de­ren ist im Zu­sam­men­hang mit “op­ti­schen” Täu­schun­gen (⊳ Wahr­neh­mungs­il­lu­si­on) durch­aus er­wäh­nens­wert, fin­den doch die psy­cho­lo­gi­schen Tests et­wa zur Kon­trast­täu­schung wie auch die Ex­pe­ri­men­te zur vi­su­el­len Ge­stalt­bil­dung in der Re­gel mit­hil­fe von Bild­ma­te­ri­al statt, wäh­rend die Schluß­fol­ge­run­gen da­raus sich auf die vi­su­el­le Wahr­neh­mung ganz un­ab­hän­gig von Bil­dern be­zie­hen sol­len.
  11. Ein gut prä­sen­tier­tes Bei­spiel der Kon­trast­täu­schung fin­det sich auf der fol­gen­den Sei­te: Kon­trast­täu­schung bei seh­test­bil­der.de.
Literatur                             [Sammlung]

[Chomsky 1957a]: Chomsky, Noam (1957). Syntactic Structures. Den Haag: Mouton.

[Dölling 1999a]:
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[Klee 1956a]:
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[Plüma­cher 1999a]: Plümacher, Martina (1999). Wohlgeformtheitsbedingugen für Bilder?. In: Sachs-Hom­bach, K. & Rehkämper, K. (Hg.): Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Magdeburg: Scriptum, S. 47-56. [Sachs-​Hom­bach 1999a]: Sachs-Hom­bach, (1999). Gibt es ein Bildalphabet?. In: Sachs-Hom­bach, K. & Rehkämper, K. (Hg.): Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Magdeburg: Scriptum, S. 57-66. [Saint-​Mar­tin 1990a]: Saint-Martin, Fernande (1990). Semiotics of Visual Language. Bloomington, IN: Indiana Uni­versity Press.


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Ausgabe 1: 2013

Verantwortlich:

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [48] und Klaus Sachs-Hombach [10] — (Hinweis)

Zitierhinweis:

[Schirra 2013g-f]Literaturangabe fehlt.
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[Dölling 1999a]:
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[Klee 1956a]:
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[Schirra 2013g-f]:
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