Bildung (historisch)

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
Wechseln zu: Navigation, Suche

Unterpunkt zu: Historische Bildbegriffe


‘Bild’ und ‘Bildung’

Nicht allein die etymologischen Nähen von ‘Bild’ und ‘Bil­dung’ im deutsch­sprachi­gen Raum be­zeugen den Zu­sammen­hang der mit diesen Aus­drücken bedeu­teten Sach­verhalte. Insbe­sondere die jüdisch-christ­liche Tradi­tion kennt in der Eben­bild­lich­keit des von seinem Schöp­fer ge­schaffe­nen Menschen auch einen Bil­dungs­auf­trag, wo­bei diese Gott­eben­bild­lich­keit in ein Spannungs­verhält­nis zu dem eben­falls im Alten Testa­ment ausge­sproche­nen Bil­derver­bot tritt. Allem voran in der Philo­sophie Meister Eck­harts doku­mentiert sich dieses Span­nungs­ver­hält­nis, wenn sie – eine seman­tische Tradi­tion begrün­dend – Bildung in einen gleich­zeitigen Prozess einer Ent­bildung und Über­bildung ein­bettet (vgl. [Mojsisch 1983a]Mojsisch, Burkhard (1983).
Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit. Ham­burg: Meiner.

  Eintrag in Sammlung zeigen
). Aller­dings findet sich auch jen­seits und zeit­lich vor der jüdisch-christ­lichen Konzep­tion die Vor­stellung einer Er­schaffung des Menschen gemäß seiner gött­lichen Vor­lage: Im Gilgá­mesch-Epos zeigen sich gleich­falls Hin­weise auf Sint­flut und Arche sowie auf die Gleich­ur­sprüng­lich­keit von mensch­licher Sexu­ali­tät, Zivi­lisie­rung und Ent­wick­lung der mensch­lichen Ver­standes­tätig­keit, da­rüber hinaus aber auch Pa­ralle­len in der Er­schaffung des Menschen: Gil­gámesch – zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel Mensch – ge­sellen die Götter einen mensch­lichen Antago­nisten zu, der aus Ton oder Lehm ge­schaffen und seinem Vor­bild Gilgá­mesch nach­gebildet wird. Damit tritt auch hier der Mensch „wie ein Gott ins Sein“, gott­ähnlich, nicht gott­gleich ([Maul 2007a]Maul, Stefan M. (2007).
Gilgamesch. München: Beck.

  Eintrag in Sammlung zeigen
: Tafel 1, Zeile 207).
Es scheint, dass das Bild des Menschen von sich selbst eine hervor­ragende, wenn­gleich auch eine nur um­wegige und un­voll­ständi­ge Weise der Selbst­thema­tisie­rung des Menschen ist.[1] In Hin­blick auf den bild­lich wied­erge­gebe­nen Gegen­stand zeigt sich damit eine erste Ein­gren­zung auf das Menschen­bild, wel­ches inner­halb der Seins­hierar­chie zwischen Gott und orga­nischer Natur zu ver­orten ist, hin­sicht­lich der Bil­dung eine zweite, eben­falls auf die Bil­dung der condi­tio humana und inner­halb der­selben auf die innere Natur des Menschen: bei Meister Eck­hart be­zogen auf den obe­ren Seelen­teil, im Neu­huma­nismus auf kogni­tiv-ästhe­tische mensch­liche Fähig­keiten. Aus­gespart bleibt somit eine mög­liche Bil­dung der äuße­ren Natur, wie sie bei­spiels­weise in der grie­chischen kalo­kagathia, in der früh­neu­zeit­lichen Natur­philo­sophie als (Ein-) Bil­dung der gegen­ständ­lichen Natur (Para­celsus, Jakob Böhme) oder in den „bilden­den Künsten“ thema­tisiert wird ([Witte 2010a]Witte, Egbert (2010).
Zur Geschichte der Bildung. Eine philosophische Kritik. Freiburg/München: Karl Alber.

  Eintrag in Sammlung zeigen
).[2]


Bildung als subjektive Bildung

Das Schillernde im Bildungs­begriff, der auf innere wie äußere, auf die orga­nische wie die anor­gani­sche Natur be­zogen werden kann, wird deut­lich, wenn Vor­läufer in der latei­nischen Sprache be­nannt werden: Mit ‘Bil­dung’ wird nicht nur die latei­nische »eru­ditio«, sondern eben­so die »for­matio« wie auch die »insti­tutio« wieder­gegeben.[3] Da mit dem Neu­huma­nismus eine be­stimmte Kontu­rierung einer subjek­tiven Bil­dung in Aus­ein­ander­setzung mit der ledig­lich als Wider­spiel verstan­denen Welt – beim jungen Wilhelm von Humboldt zwischen „Mensch“ und „Nicht­Mensch“ – eine hege­moniale Posi­tion ein­nimmt, die bis zur Gegen­wart die Seman­tik von ‘Bil­dung’ domi­niert, wird die Vor­stellung, dass der Bil­dungs­prozess eines äuße­ren Sub­strats be­darf, in den Hinter­grund ge­rückt. Fußend auf der dem deut­schen Idea­lismus nahe­stehen­den Subjekt­konzep­tion gerät eine solche Bil­dungs­seman­tik dann unter Ideo­logie­verdacht, wenn nach­gerade die „bürger­liche Bil­dung“ seit Mitte des 19. Jahr­hunderts den „Schuld­zusammen­hang des Privi­legs“, in dem diese ver­strickt ist (Adorno), ver­gisst.

Angesichts dieses Verdachts mangelt es auch nicht an Vor­schlä­gen, auf den Bil­dungs­be­griff gänz­lich zu ver­zichten (wie Ver­treter der Er­ziehungs­wissen­schaft aus ideo­logie­kritischen Gründen seit Ende der 1960er vor­schlagen) oder diesen durch andere Be­grif­fe zu er­setzen.[4] In­des zeigen sich seit den 1980ern dem­gegen­über Ten­denzen, dezi­diert am Bil­dungs­begriff fest­zuhal­ten, weil sich mit ihm seman­tische Poten­ziale – ästhe­tische, eman­zipa­tori­sche, kri­tische – ver­binden, die sich im Kanon anderer er­zie­hungs­wissen­schaft­licher Grund­begriffe wie »Unter­richt«, »Lernen«, »Er­zie­hung«, »Sozia­lisa­tion« nicht finden lassen. Diese Tenden­zen werden durch einen seit den 1990ern grassie­renden Begriffs­gebrauch von ‘Bildung’ konter­kariert, welcher durch eine immense Erwei­terung seiner Begriffs­exten­sion dessen seman­tische Ent­leerung betreibt: ‘Bil­dungs­öko­nomie’, ‘Bil­dungs­manage­ment’, ‘Bil­dungs­wissen­schaft’, ‘Empi­rische Bil­dungs­forschung’ sind Kompo­sita mit ‘Bil­dung’, welche diese zur »Aus­bildung« ein­dampfen lassen und damit jene seman­tischen Poten­ziale zum Ver­gessen bringt, die mit ihm ver­bunden waren.

Anmerkungen
  1. Zur bild­lichen Um­wegig­keit: [Jonas 1973a]Jonas, Hans (1973).
    Homo pictor. Von der Freiheit des Bildens.
    In Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, 226-257.

      Eintrag in Sammlung zeigen
    ; zur Un­voll­stän­dig­keit mensch­li­cher Selbst­er­fah­rung: [Blumenberg 1986a]Blumenberg, Hans (1986).
    Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik.
    In Wirklichkeiten in denen wir leben, 104-136.

      Eintrag in Sammlung zeigen
    ; vgl. zu diesem Zu­sam­men­hang: [Witte 2009a]Witte, Egbert (2009).
    Selbstbild und Bildung. Ein Versuch.
    In Bild – Bildung – Argumentation, 81-100.

      Eintrag in Sammlung zeigen
    .
  2. Gegen­über der hier vor­ge­leg­ten Ent­ge­gen­set­zung re­kon­stru­iert Di­mi­tri Liebsch einen Zu­sam­men­hang zwi­schen der an­ti­ken Pla­stik und der Kunst­re­zep­tion in der zwei­ten Hälf­te des 18. Jahr­hun­derts, die auf die Ge­ne­se einer „to­ta­len Per­son“ ab­zie­le, al­so zwi­schen ei­ner äu­ße­ren und ei­ner in­ne­ren, äs­the­ti­schen Bil­dung: [Liebsch 2001a]Liebsch, Dimitri (2001).
    Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800. Ham­burg: Meiner.

      Eintrag in Sammlung zeigen
    .
  3. Ein Gellius-Zitat aus dem zwei­ten nach­christ­lichen Jahr­hun­dert bün­delt wie in einem Nuk­leus eine Viel­zahl von Be­stim­mun­gen; dort wird die grie­chi­sche ‘pai­deia’ nicht nur mit ‘eru­ditio’ und ‘insti­tutio’ wie­der­ge­ge­ben, son­dern zu­gleich auch mit ‘hu­mani­tas’ ver­bunden: „quod Graeci paideia uocant, nos eruditionem institutionemque in bonas artis dicimus. Quas qui sinceriter cupiunt adpetuntque, ii sunt maxime humanissimi. Huius enim scientiae cura et disciplina ex uiuentibus animantibus uni homini data est idcircoque ‘humanitas’ appellata est.“ ([Marshall 1968a]Marshall, Peter K. (1968).
    Gellius: Noctes Atticae XIII, 17. Ox­ford: Ox­ford Uni­versity Press.

      Eintrag in Sammlung zeigen
    : B. II, S. 399-400. — [Gellius 1987a]Gellius, Aulus (1987).
    Attische Nächte. Aus einem Lesebuch der Zeit des Kaisers Marc Aurel. Leipzig: Insel.

      Eintrag in Sammlung zeigen
    : S. 171: „was die Grie­chen ‘gute Er­zie­hung’ – paideia – nen­nen, wäh­rend wir von Aus­bil­dung und Un­ter­wei­sung in Kün­sten und Wis­sen­schaf­ten spre­chen. Al­le nun, die sich ehr­lich hie­rum be­mü­hen und an­stren­gen, sind Men­schen im ei­gent­li­chen Sin­ne des Wor­tes. Denn Pfle­ge und Ü­bung die­ser Art Gei­stes­tä­tig­keit ist un­ter al­len Le­be­we­sen al­lein dem Men­schen mög­lich; da­her ja e­ben die Be­zeich­nung ‘Mensch­lich­keit’ – huma­nitas“).
  4. So etwa aus system­theo­reti­scher Pers­pek­tive [Lenzen 1997a]Lenzen, Dieter (1997).
    Lebenslauf oder Humanontogenese? Vom Erziehungssystem zum kurativen System – von der Erziehungswissenschaft zur Humanvitologie.
    In Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, 228-247.

      Eintrag in Sammlung zeigen
    .
Literatur                             [Sammlung]

[Blumenberg 1986a]: Blumenberg, Hans (1986). Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik. In: Blumenberg, H. (Hg.): Wirklichkeiten in denen wir leben. Stutt­gart: Reclam, S. 104-136.

[Gellius 1987a]: Gellius, Aulus (1987). Attische Nächte. Aus einem Lesebuch der Zeit des Kaisers Marc Aurel. Leipzig: Insel. [Jonas 1973a]: Jonas, Hans (1973). Homo pictor. Von der Freiheit des Bildens. In: Jonas, H. (Hg.): Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 226-257. [Lenzen 1997a]: Lenzen, Dieter (1997). Lebenslauf oder Humanontogenese? Vom Erziehungssystem zum kurativen System – von der Erziehungswissenschaft zur Humanvitologie. In: Lenzen, D. & Luhmann, N. (Hg.): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form. Frank­furt/M.: Suhr­kamp, S. 228-247. [Liebsch 2001a]: Liebsch, Dimitri (2001). Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800. Ham­burg: Meiner. [Marshall 1968a]: Marshall, Peter K. (Hg.) (1968). Gellius: Noctes Atticae XIII, 17. Ox­ford: Ox­ford Uni­versity Press. [Maul 2007a]: Maul, Stefan M. (2007). Gilgamesch. München: Beck. [Mojsisch 1983a]: Mojsisch, Burkhard (1983). Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit. Ham­burg: Meiner. [Witte 2009a]: Witte, Egbert (2009). Selbstbild und Bildung. Ein Versuch. In: Helmer, K.; Herchert, G. & Löwenstein, S. (Hg.): Bild – Bildung – Argumentation. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 81-100. [Witte 2010a]: Witte, Egbert (2010). Zur Geschichte der Bildung. Eine philosophische Kritik. Freiburg/München: Karl Alber.


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Ausgabe 1: 2013

Verantwortlich:

Lektorat:

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [32] — (Hinweis)