Bildwissenschaftliche Abgrenzungen
Hauptpunkt zu: Bildtheorie/Bildwissenschaft/Bildkritik
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts haben zahlreiche geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplinen das Phänomen des Bildes als einen zentralen Forschungsgegenstand für sich entdeckt. Nachdem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildwerken lange Zeit vorwiegend in der Kunstgeschichte stattgefunden hat, spielt sich die bildwissenschaftliche Forschung inzwischen in einem ausgesprochen breiten interdisziplinären Rahmen ab. Davon betroffen sind nicht zuletzt solche Disziplinen, die den Stellenwert, den bildliche Darstellungen wie Fotografien, Zeichnungen, Skizzen oder Diagramme in ihnen als methodisch unverzichtbare Werkzeuge einnehmen, in der Regel nicht eigens zum Thema gemacht haben - genannt seien als Beispiele neben der Politik- und der Rechtswissenschaft unter anderem die Soziologie sowie die Archäologie.[1] Obwohl daran gezweifelt werden darf, dass sich "[e]rst im 20. Jahrhundert [...] Ansätze für einen wissenschaftlichen Bilddiskurs aus[bildeten]" ([Boehm 2007]Literaturangabe fehlt. Folgende Fragen stehen in diesem Zusammenhang für viele Bildforscher im Mittelpunkt: Worin besteht die Besonderheit von Bildern? Wie werden Bilder wahrgenommen und verwendet? Inwieweit unterscheidet sich die Betrachtung eines Bildes von der Betrachtung nicht-bildlicher Gegenstände? Wie wirken Bilder auf ihre Betrachter? Worin unterscheiden sich Bilder von anderen Medien, insbesondere von der gesprochenen und der geschriebenen Sprache? Wie lässt sich die vielbeschworene Macht der Bilder erklären?[3] Auch wenn diese Fragen auf alltägliche und damit offenbar triviale Sachverhalte hindeuten, berühren sie eine Problematik, die sich keineswegs leicht auflösen lässt. Was in der Praxis wie eine Selbstverständlichkeit behandelt wird, erweist sich in der Theorie oft als überaus kompliziert und rätselhaft. So mag es zwar vorstellbar oder gar sehr wahrscheinlich sein, dass eine Person, die täglich mit Bildern produzierend und/oder rezipierend zu tun hat, weiß, worauf sich der Begriff des Bildes im Einzelnen bezieht. Aus dieser Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit folgt allerdings nicht, dass eine im Umgang mit Bildern geübte Person zugleich problemlos erklären kann, woran genau sich die Einordnung eines bestimmten Gegenstandes unter den Begriff des Bildes unter allgemeinen Gesichtspunkten festmacht. Dieses Ungleichgewicht zwischen praktischem Wissen und theoretischer Erklärbarkeit hängt gewiss zu guten Teilen mit etlichen sprachlichen Gepflogenheiten zusammen. Nicht nur im Deutschen, sondern auch in einer Vielzahl von anderen Sprachen taucht die Kategorie der Bildlichkeit in Zusammenhängen auf, die neben Gemälden, Fotografien, Skulpturen oder Simulationen auch Ausdrücke wie »Traumbild«, »Hörbild«, »mentales Bild«, »Schriftbild« oder den Begriff der »Metapher« umfassen.[4] Wissenschaftler, die den Begriff des Bildes durch eine Definition zu bestimmen versuchen, die möglichst alle Facetten des Bildlichen zusammenzufassen vermag, sehen sich aufgrund der schieren Mannigfaltigkeit von bildlichen Darstellungs- und Erscheinungsformen folglich vor erhebliche klassifikatorische Probleme gestellt.[5] Tatsächlich bringt die Auseinandersetzung mit der Frage "Was ist ein Bild?" Schwierigkeiten mit sich, die von den Problemen, die beispielsweise in der Erörterung der Frage "Was ist Zeit?" zum Vorschein kommen, nicht sonderlich verschieden sind. Was Augustinus in Bezug auf die Zeit eingestehen musste, lässt sich in ähnlicher Form auch über den Begriff des Bildes sagen: "Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht." ([Augustinus 2002]Augustinus (2002).Was ist Zeit? Confessiones XI/Bekenntnisse 11. Hamburg: Felix Meiner, lateinisch-deutsche Ausgabe, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer. Eintrag in Sammlung zeigen: 25) Der Bildbegriff ist nicht weniger komplex als der Begriff der Zeit oder des Raumes. Daraus folgt, dass eine systematische Erörterung des Bildbegriffs immer auch von philosophischer Relevanz ist, gehört doch die Arbeit an Begriff seit jeher zum philosophischen Geschäft. Aufgrund des gestiegenen Interesses an bildwissenschaftlichen Problemstellungen sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Publikationen erschienen, die sowohl eine Klärung des Bildbegriffs herbeizuführen hoffen als auch Vorschläge unterbreiten, welche Methoden und Ziele von einer allgemeinen Bildwissenschaft verwendet und anvisiert werden sollten. Alleine im deutschsprachigen Raum sind innerhalb kürzester Zeit mehr als ein halbes Dutzend Entwürfe für eine allgemeine Theorie des Bildes vorgestellt worden.[6] Sie alle versuchen dazu beizutragen, die Schwierigkeiten aufzulösen, die bei dem Versuch auftreten, dem Kern des Bildbegriffs auf den Grund zu kommen. Obwohl sich zwischen vielen dieser Arbeiten etliche Überschneidungen ausfindig machen lassen, ist die bildwissenschaftliche Forschung weit von der Formulierung und Etablierung einer konsensfähigen allgemeinen Bildtheorie entfernt. So trivial es ist, dass sich "[e]ine Wissenschaft, die sich ‚Bildwissenschaft‘ nennt, [...] der Erforschung des Bildes [widmet]" ([Wiesing 2005a]Wiesing, Lambert (2005).Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen: 9), so strittig ist es, „welche spezifischen Aufgaben, Inhalte oder Methoden mit ihr verbunden sein sollen“ (ebd.). So wundert es nicht, dass sich die Bildwissenschaft auf der Suche nach ihren theoretischen, methodischen und disziplinären Grundlagen aus Sicht einiger Bildwissenschaftler noch in einem "vorparadigmatischen Stadium" ([Sachs-Hombach 2003a]Sachs-Hombach, Klaus (2003). Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Herbert von Halem. Eintrag in Sammlung zeigen: 12) befindet. Dieser Umstand bringt es mit sich, dass in der gegenwärtigen bildwissenschaftlichen Theoriedebatte etliche Positionen aufgefunden werden können, die im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn und Zweck bildwissenschaftlichen Forschens oft zu vollkommen unterschiedlichen Antworten gelangen. Eine große Uneinigkeit herrscht zum Beispiel in Bezug auf die Frage, ob Bilder prinzipiell als Zeichen sowie kommunikative Medien zu verstehen sind und die Semiotik von daher als zentrales Forschungsprogramm betrachtet werden sollte (Bildsemiotik). Alleine dieses Beispiel zeigt, dass von der Bildwissenschaft - im Sinne eines theoretisch, methodisch sowie disziplinär fest umrissenen wissenschaftlichen Forschungsprogramms - nicht die Rede sein kann. Ganz im Gegenteil zeichnet sich der bildwissenschaftliche Forschungsdiskurs durch ein hohes Maß an Heterogenität aus.
AufteilungDie Uneinigkeit, die den bildwissenschaftlichen Forschungsdiskurs charakterisiert, lässt sich bereits im Hinblick auf die Frage, welcher Oberbegriff für die wissenschaftliche Erforschung des Bildes gewählt werden sollte, beobachten. Dass das Wort ‚Bildwissenschaft‘ „in den letzten Jahren zu einem oft pauschal eingesetzten Sammelbegriff für jegliche Art der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bildern geworden [ist]“ ([Wiesing 2008a]Wiesing, Lambert (2008).Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Frankfurt am Main/New York: Campus, mit einem aktuellen Vorwort des Autors zur Neuausgabe. Eintrag in Sammlung zeigen: S. II), sorgt beispielsweise bei Lambert Wiesing für großen Missmut. Um schon terminologisch den programmatischen Unterschied zwischen einer eher empirischen und einer vorwiegend theoretischen Auseinandersetzung mit bildwissenschaftlichen Fragestellungen kenntlich zu machen, differenziert er deshalb eine bildwissenschaftliche von einer bildtheoretischen Untersuchungsebene. Lambert Wiesing ist nicht der einzige Autor, der das weitverzweigte bildwissenschaftliche Forschungsfeld mit Hilfe von terminologisch klar umrissenen Trennlinien übersichtlicher gestalten möchte. So halten auch Klaus Sachs-Hombach und Jörg R.J. Schirra eine Aufteilung der Bildwissenschaft in Bilderwissenschaft vs. Bildwissenschaft für sinnvoll, die sich aus ihrer Sicht sowohl inhaltlich als auch methodisch grundsätzlich voneinander unterscheiden. Was Wiesing und Sachs-Hombach/Schirra für den Bereich der Philosophie demonstrieren, lässt sich nun ebenfalls auf dem Gebiet der Kunstgeschichte beobachten. So nutzt der Kunsthistoriker Hans Belting seine bildwissenschaftlichen Untersuchungen in einer ausgesprochen reformatorischen Absicht: Sein Ziel ist es, der Kunstgeschichte durch eine historische Reflexion auf den Bildbegriff sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer Hinsicht ein neues Gesicht zu geben: Kunstgeschichte als Bildgeschichte. Wie das Beispiel Hans Beltings zeigt, repräsentiert die philosophische Erörterung allgemeiner Bildfragen lediglich eine von vielen weiteren Facetten bildwissenschaftlichen Forschens; und auch wenn sich in ihr eine ausgesprochen populäre Annäherung an das Phänomen des Bildes widerspiegelt, ist sie keineswegs unumstritten. Einer der schärfsten Kritiker ist der Kunsthistoriker Horst Bredekamp: das Wort ‚Bildwissenschaft‘ verbindet er in erster Linie mit einer lange Zeit „vernachlässigten Tradition“ ([Bredekamp 2003a]Bredekamp, Horst (2003).A Neglected Tradition? Art History as Bildwissenschaft. In Critical Inquiry, 29, 3, 418-428. Eintrag in Sammlung zeigen:S. 418-428), die in der Kunstgeschichte ihre Heimat findet, von dieser aber zu Gunsten anderer Methoden nachhaltig an den Rand gedrängt worden ist: Kunstgeschichte als historische Bildwissenschaft. Was Horst Bredekamp und Hans Belting unter überwiegend kunsthistorischen Vorzeichen realisieren möchten, eruiert Gottfried Boehm an der Schnittstelle zwischen Kunstgeschichte und Philosophie. Ebenso wie Bredekamp begreift Boehm die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Bild als ein sprachkritisches Unternehmen: Bildwissenschaft als Sprach- und Bildkritik.
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UnterpunkteInhaltsverzeichnis
Anmerkungen
[Augustinus 2002]: Augustinus (2002). Was ist Zeit? Confessiones XI/Bekenntnisse 11. Hamburg: Felix Meiner, lateinisch-deutsche Ausgabe, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer.
[Belting 2001a]: Belting, Hans (2001). Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag.
[Belting 2004a]: Belting, Hans (2004). Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 6. Auflage.
[Boehm 1994c]: Boehm, Gottfried (1994). Was ist ein Bild?. München: Wilhelm Fink Verlag.
[Boehm 2007]: Verantwortlich: Seitenbearbeitungen durch: Mark A. Halawa [35], Joerg R.J. Schirra [33] und Franziska Kurz [1] — (Hinweis) |