Chinesische Kalligraphie
Unterpunkt zu: Schriftbildlichkeit
Auf der Basis der chinesischen Schriftzeichen entwickelte sich Schrift zu einer hohen Kunst des persönlichen Ausdrucks. Die Schrifttypen, die charakteristische graphische Form und die Struktur der chinesischen Schriftzeichen haben diese Entwicklung der Kalligraphie erst ermöglicht ([Chen 2009a], S. 13).
Die Schrift – Entwicklung der SchrifttypenDie vier Hauptschriftarten entwickelten sich aufeinander folgend ([Heng 2003a]). Die ersten bekannten Schriftzeichen sind Inschriften auf Orakelknochen (jiǎgǔwén 甲骨文, „Orakelknochenschrift“, vgl. Abb. 1) der Shang 商-Dynastie (ca. 16.-11. Jh. v. Chr.), sowie auf Bronzegefäßen (jīnwén 金文, „Bronzeschrift“) der Shang und Zhou 周 (ca. 1045-256 v. Chr.). In dieser frühen Phase existierte von den meisten Schriftzeichen eine Vielzahl an Schreibweisen ([Ch’en 1966a], S. 12ff., S. 15ff.). Zur Zeit der Reichseinigung Chinas in der Qin 秦-Dynastie (221-206 v. Chr.) wurde durch die Einführung der Kleinen Siegelschrift (xiǎozhuàn 小篆; vgl. Abb. 2) ein einheitliches Schriftsystem konstituiert ([Ch’en 1966a], S. 26). Etwa im 1. Jh. n. Chr. löste die an Strichformen reduzierte, schneller schreibbare Kanzleischrift (lìshū 隸書; vgl. Abb. 3) diese als Gebrauchsschrift ab ([Ch’en 1966a], S. 35). Damit und mit der Einführung des Pinsels und dem Papier war der Weg für die Schriftkunst gebahnt ([Ch’en 1966a], S. 38). Mit den Kursivschriften des 4. Jh., der halbkursiven Schreib- bzw. Aktionsschrift (xíngshū 行書) und der Grasschrift (cǎoshū 草書), kamen weitere, schnellere Schriftformen hinzu, die Individualität und künstlerischen Ausdruck förderten ([Tseng 1993a], S. 287). Mit der Standardisierung der Kanzleischrift zur Normal- oder Modellschrift (kǎishū 楷書; vgl. Abb. 4) war die Entwicklung der Typen vorläufig (bis zum 20. Jh.) abgeschlossen ([Ledderose 2003a] ).[1] Seit der Tang 唐–Dynastie (618-907) ist sie die Standardschrift in China. In der Folge bildeten sich aus den bestehenden Typen eine Vielzahl an Schul- und Individualstilen heraus ([Ch’en 1966a], S. 50). Zur Zeit der Sechs Dynastien (Liù Cháo 六朝 3.-6.Jh.) entwickelte sich die Schrift zu einer von der Schicht der Literaten-Beamten[2] gepflegten Kunstform und löste sich infolgedessen aus der handwerklichen Anonymität. Man begann Schriftkunstwerke aufgrund ihres ästhetischen Wertes zu schätzen. Technische Meisterschaft sowie die in der Schrift zum Ausdruck kommende Persönlichkeit und kunsthistorische Bildung des Schreibers wurden zu Bewertungskriterien der ästhetischen Qualität von Schrift(kunstwerken). Zwar musste eine gute Schrift Individualität besitzen, jedoch musste sie zudem erkennen lassen, dass ihr Schreiber die Geschichte der Schriftkunst theoretisch wie auch praktisch beherrschte. Sowohl dem Schreiber als auch dem Betrachter waren die stilistischen Zitate und Schichten eines Schriftkunstwerkes bewusst. Seit der Zeit der Sechs Dynastien gibt es Schriftsammlungen und eine theoretische Literatur zur Schriftkunst, deren ästhetische Terminologie weitgehend der Poetik entlehnt ist und die ihrerseits auf die um ca. 500 entstehende Maltheorie einwirkte. Wang Xizhi 王羲之 (303-361) ist der berühmteste Kalligraph jener Zeit und der gesamten Kalligraphiegeschichte überhaupt ([Ledderose 1985a]; [Ledderose 2003a]; vgl. Abb. 5).
Engere BegriffsbestimmungDie ästhetische Dimension der chinesischen Kalligraphie gründet auf den chinesischen Schriftzeichen (hànzi 漢字). Durch sie wird die Komposition, d.h. werden Striche und Abstände, wie auch die Richtung des Schreibens und Lesens, festgelegt. Die innere Struktur der Schriftzeichen wird durch die darin vorkommenden Striche bestimmt.[3] Es gibt acht grundlegende Striche: Punkt (diǎn 點), horizontal (héng 橫), vertikal (shù 豎), abgesetzt und gekrümmt (zhé 折), Haken (goū 鈎), links hinunter (piě 撇), rechts hinauf (tí 提) und rechts hinunter (nà 捺). Die Striche werden in einer festgelegten Reihenfolge geschrieben, wobei jedes Schriftzeichen unabhängig vom Komplexitätsgrad den gleichen Raum eines imaginären Quadrats einnimmt ([Alleton 2003a]; [Chen 2009a], S. 14; [Heng 2003a]). Der Schreiber muss die gegebene graphische Form der Schriftart akzeptieren, in der er das Schriftkunstwerk zu verfassen gedenkt, auch ist der umzusetzende Text nicht immer sein eigener. Sein Beitrag liegt vielmehr in der Nuancierung des Stils, die er in die Schrift einbringt. Durch die Grenzen, die der Kalligraphie mittels der gegebenen Schrifttypen gesetzt sind, ist jede Variation identifizierbar und einem bestimmten Kalligraphen zuzuordnen ([Ch’en 1966a], S. 222; [Heng 2003a]). Das Erlernen der Kalligraphie erfordert Jahre gewissenhafter und steter Übung, wozu zunächst Schriftvorlagen alter Meister kopiert werden. Erst wenn der Schreiber die verschiedenen Stile durchdrungen hat, ist er in der Lage, einen eigenen Stil zu entwickeln. Von alters her haben die Meister ihre Schüler dazu angeregt, dafür zusätzlich Inspiration in der Natur zu suchen ([Chen 2009a], S.60; [Kwo 1981a], S. 57f.). Ein zentrales ästhetisches Problem der Kalligraphie besteht darin, entgegen der durch stete Übung bedingten Rationalisierung spontaner Effekte eine ursprüngliche Spontaneität zu erhalten bzw. wiederzugewinnen ([Ledderose 2003a]). Die Grasschrift, insbesondere die Wilde Grasschrift (kuángcǎo 狂草), ist der freieste Schrifttyp, die Gesetze und Regeln der übrigen Stile schränken sie nicht ein. Die Striche der einzelnen Schriftzeichen sind durchgehend miteinander verbunden ([Chen 2009a], S.77; vgl. Abb. 6 und 7). Mit den Typen der Grasschriften, die zum Teil an die Grenze der Lesbarkeit gehen, gewinnt die Linie, die gesamte Komposition, an Eigenleben. Der Inhalt tritt zugunsten des ästhetischen Moments in den Hintergrund. Kalligraphie wird damit zur abstrakten Kunst. Der Akt des Schreibens selbst wird zur Aktionskunst, die den vergänglichen Moment der Performanz übersteigt, denn in den Pinselspuren bleiben die Bewegungen des Schreibers, festgehalten auf Papier, für jeden Betrachter nachvollziehbar ([Heng 2003a]). Da sich Technik und Materialien der Kalligraphie seit dem 4. Jh. nicht mehr änderten, sind die ästhetischen Maßstäbe über die Jahrhunderte hinweg auf Schriftkunstwerke anwendbar ([Ledderose 1985a]). Der Ästhetik der Kalligraphie liegt die Vorstellung zugrunde, dass der individuelle Pinselzug ein unmittelbarer, sichtbar gewordener “Abdruck” der Persönlichkeit ist ([Ledderose 1985a]). Da Kalligraphie somit gewissermaßen in einem graphologischen Sinne als Ausdruck des Charakters verstanden wird, gibt es keine scharfe Trennlinie zwischen rein ästhetischen und etwa moralisch-politischen Wertkategorien. Das bedeutet, dass eine Schrift aufgrund der in ihr zum Ausdruck kommenden moralischen Qualitäten des Schreibenden an ästhetischem Wert gewinnen kann ([Ledderose 2003a]). Kalligraphie erhält damit eine ethische Dimension: Wer schön schreiben will, muss vordringlich nach innerer Schönheit streben ([Chen 2009a], S. 60). Die Überzeugung, dass der Mensch durch die Disziplin der Kunst geformt werden, dass Ästhetik somit im Dienste der Ethik nutzbar gemacht werden kann, führte zu einer Vervielfältigung von Regeln, Methoden und Gesetzen der Kalligraphie ([Heng 2003a]). Mit der Vorstellung, dass jedes Schriftzeichen die inneren Regungen des Schreibers offenbare, ist Kalligraphie zudem eine einzigartige Direktheit bzw. Prägnanz zu eigen: yī zì jiàn xīn 一字見心 („in einem Zeichen sieht man schon das Herz“) ([Chen 2009a], S. 65). Ein druckschriftlicher Text benötigt demgegenüber eine Anzahl von Wörtern, um etwas auszudrücken. Kalligraphie vermag damit direkt zu erreichen, was einem Zeichensystem nur indirekt gelingen kann ([Heng 2003a]; auch ⊳ Text als Bild, konkrete Poesie). Eine gute Kalligraphie ist eine ausgewogenen Komposition ihrer integralen Bestandteile, die einzelnen Striche und Punkte müssen ein harmonisches Ganzes bilden ([Chen 2009a], S. 54; [Ch’en 1966a], S. 197-199). Lebendigkeit, Energie, Spannung und Rhythmus sind hierbei ausschlaggebende Charakteristika ([Chen 2009a], S. 43). Da ein ausgeführter Strich nicht mehr korrigiert werden kann, steht vor der Ausführung ein Konzept der Komposition, yì zài bǐ qián 議在筆前 ([Ch’en 1966a], S. 222). Hierzu zählt auch die richtige Platzierung der Leerräume zwischen den konstitutiven Elementen des Bildes ([Kwo 1981a], S. 66). „Leere und Fülle“ sollen dabei ein organisches Ganzes bilden ([Chen 2009a], S. 54f.). Des Weiteren muss die richtige Technik angewandt werden. Neben der Kontrolle des Pinsels ist ein angemessener Tuscheauftrag erforderlich ([Ch’en 1966a], S. 200f.). Fundamentales und konstituierendes Element eines Zeichens ist die Linie. Eine gute Linie muss Kraft (lì 力) enthalten, d.h. sie muss eine gewisse Stärke und Festigkeit widerspiegeln. Einer kraftvollen Linie ist zudem Qi (qì 氣) zueigen. Qi ist hier als innere Dynamik zu begreifen, welche die Linien und Punkte umgibt, sie alle als eine Einheit zusammenfasst ([Kwo 1981a], S. 64f.) und somit die direkt sichtbare Schönheit der äußeren Form bestimmt. Die innere Schönheit, die passende Zusammenstellung der Striche, Punkte, Zeichen und Zeilen, ein wohlproportioniertes Arrangement, wird als Yun (yùn 韵) bezeichnet. Die Schönheit in der Kalligraphie, ihr ästhetischer Gehalt ist Qiyun 氣韵, die Verbindung von Qi und Yun ([Chen 2009a], S. 86ff.; [Kwo 1981a], S. 74f.).
Der Einfluss der Kalligraphie auf die MalereiIn dem Bestreben, sich von der professionellen handwerklichen Malerei, die sich im allgemeinen durch starke Farbigkeit und eine sehr realistische Darstellung auszeichnete, zu distanzieren, setzten die Literaten auf eine Malerei, die sich nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch an der Kalligraphie orientierte. Die bildnerischen Mittel, insbesondere der Pinselstrich, gewannen dadurch an Selbständigkeit und gestalterischem Eigenleben. Die Darstellung wurde dem gewählten Pinselduktus angepasst. Diese Tendenz setzte sich in der Yuan 元-Zeit (1260-1368) allgemein durch – womit die Malerei von ihrer reinen Abbildfunktion und der unbedingten Forderung nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit befreit wurde ([Heng 2003a]; [Ledderose 1985a]). Wie schon die Kalligraphie wandelte sich das Bild damit zur „gestalteten Manifestation der Künstlerpersönlichkeit“ ([Ledderose 1985a]).[4] |
Anmerkungen
[Alleton 2003a]:
Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Chen 2009a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Chiang 1973a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Ch’en 1966a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Heng 2003a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Kwo 1981a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Ledderose 1985a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Ledderose 2003a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Qiu 2000a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Tseng 1993a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. Ausgabe 1: 2014 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Julia Nissen [83], Joerg R.J. Schirra [45] und Sandra Gilgan [10] — (Hinweis) Zitierhinweis: [Gilgan & Nissen 2014g-a]
[Alleton 2003a]: |