Cyberspace

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
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Ein Wort zwischen techni­scher All­machts­phan­ta­sie und medi­aler Marke­tingek­stase

Erfunden wurde das Kunstwort ‘Cyber­space’ in der Science-fiction-Lite­ratur ([Neu­haus 2006a]Neuhaus, Wolfgang (2006).
Als William Gibson den Cyberspace erfand ... - Die Faszination für ein Vielzweck-Symbol aus der Science Fiction-Literatur. In Telepolis.

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):[1] Gemeint war damit eine fikti­ve, von Compu­tern erzeug­te Welt “neben” der Wirklich­keit mit eige­nen Gesetz­lichkei­ten – eine virtu­elle Wirklich­keit hinter den Spiegeln der Moni­tore, in die die Roman­figu­ren eintre­ten konnten, um in völlig frei wählba­ren Scheinkör­pern ihre Aben­teuer ohne kompli­zierte Anrei­se und meist auch ohne allzu häufi­ge ernsthaf­te Gefähr­dung für Leib und Leben an einer Vielzahl von exo­tischen oder grotes­ken Schauplät­zen zu konsu­mieren.

Gegenüber den durchaus vorhan­denen alter­nati­ven Vorschlä­gen von ‘Phanto­matik’ bis ‘virtual reali­ty’ setzte sich die Bezeich­nung ‘Cyber­space’ durch, weil sie eine breite und unspe­zifi­sche Asso­ziation zu posi­tiv besetz­ten Themen auslöst, ohne zugleich als proble­matisch erach­tete Aspek­te (wie etwas das Refe­renzprob­lem bei ‘virtual reali­ty’) in den Aufmerk­samkeits­fokus zu bringen: Die beiden Wortbe­standtei­le verwei­sen einer­seits über die Asso­ziations­kette ‘cyber’—‘kyber­netisch’—‘infor­matisch’—‘digi­tal-’ oder ‘unter­haltungs­technisch’ auf digi­tale Medien und die mit ihnen gege­bene Inte­gration verschie­dener tradi­tionel­ler Medien und ubi­quitä­re “Vernet­zung” der Nutzer; über die Asso­ziations­kette ‘space’—‘Raum’—‘Weltraum’—‘Umwelt’ verwei­sen sie ande­rerseits auf Medien im biolo­gischen Sinn: das Einge­taucht-Sein in eine spezi­fische Umge­bung, die direkt wahrge­nommen und unmit­telbar mani­puliert werden kann und durch die man sich auf je spezi­fische vom Medium bestimm­te Weise – etwa schwebend, schwimmend, hangelnd, hüpfend, kriechend, rollend oder fliegend – fortbe­wegt: Das ist der Grundge­danke der Immer­sion. So erkun­den die Cyber­nauten in Lite­ratur und Film einen digi­tal vermit­telten unei­gentli­chen “Spielraum”, in den sie einge­taucht sind und dessen Inhal­te sie anschei­nend ohne medi­ale Distanz wahrneh­men und mani­pulie­ren können. ‘Weltraum’ evo­ziert zudem das große Unbe­kannte, das es zu ent­decken und zu ero­bern gilt, das Aben­teuer des ganz Ande­ren, das Uto­pia voller Wunder und Reich­tümer.

Der annähernde Gleichklang von ‘cyber’ mit der engli­schen Silbe ‘hyper’ zielt zudem unter­schwellig zugleich auf eine über die Geset­ze der “norma­len” Wirklich­keit hinaus­gehen­de, beson­ders spekta­kulä­re Umge­bung (⊳ Reali­tät und Hyper­reali­tät), wie auf den instan­tanen Zugang zu verschie­densten Teilwel­ten in Ana­logie zu den Möglich­keiten der Verlin­kungen bei Hyper­medien, die zur selben Zeit (um 1990) ihren Einfluss auf mehr oder weni­ger alle sozi­ale Berei­che zu entfal­ten began­nen. All diese Konno­tati­onen wurden einer­seits von Technik­begeis­terten aufge­griffen und in uto­pische Phanta­sien über das angeb­lich demnächst technisch Machba­re transpo­niert, die wiede­rum zu ambi­tionier­ten, wenngleich insge­samt eher einge­schränkt erfolg­reichen Forschungs­projek­ten zur techni­schen Umset­zung virtu­eller Reali­täten führten.[2] Ande­rerseits blieb diese Affi­nität den Marke­tingex­perten nicht verbor­gen, die ‘Cyber­space’ zu einem Mode­wort aufbläh­ten, das zumeist benutzt wurde, um Produk­te eksta­tisch mit unrea­listi­schen Verspre­chen zu bewer­ben.

Nach dieser inflationären Abnut­zung als Mode­wort wird der Ausdruck ‘Cyber­space’ gegen­wärtig in einer recht unspe­zifi­schen Weise verwen­det, um sowohl komple­xe multi­medi­ale Spielwel­ten als auch verein­facht dreidi­mensi­onal darge­stellte Visu­ali­sierun­gen der Ordner- und Datei­struktu­ren eines Rechners als Desktop­meta­pher oder aber die bloß vorge­stellten geomet­rischen wie sozi­alen Verbin­dungsstruk­turen der moder­nen digi­talen Kommu­nika­tionsnet­ze zu bezeich­nen. Vor allem für letzte­re Vari­ante hat sich dabei der defi­nite Arti­kel einge­bürgert, als ob es nur einen solchen “Weltraum” geben könne, ein eindeu­tig bestimm­tes Paral­leluni­versum, in das jeder eintritt, der etwa Zugang zum Inter­net hat. Hier wird der Ausdruck ‘Cyber­space’ zur (schrägen) Meta­pher der moder­nen Infor­mations­gesell­schaft selbst mit den ihr inhä­renten sozi­alen Abgren­zungen. Bildphi­loso­phisch ist aller­dings vor allem die erste Verwen­dungswei­se – in etwa syno­nym zu ‘virtu­al reali­ty’ – inte­ressant.[3]


Raummetaphorik und immer­sive Bild­räume

Die oben erwähnten Asso­ziations­ketten lassen sich durchaus auch um den Ausdruck ‘Bildraum’ erwei­tern: Der Begriff »Cyber­space« erscheint damit ange­reichert mit der Vorstel­lung von den ima­gina­tiven Räumen “hinter” den Bild­ober­flächen und Spiegeln, aber auch allge­meiner “hinter” den Tonkon­serven und sonsti­gen Daten­speichern. In diesem Sinn bezeich­net J. P. Barlow den Cyber­space als den Ort „... where you are when you are talking on the tele­phone“ (zitiert nach [Rucker et al. 1993a]Literaturangabe fehlt.
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: S. 78). Das ist natür­lich eine durch und durch meta­phori­sche Sprech­weise, die tatsäch­lich für jede nicht-primär­media­le Inter­aktion möglich ist: Da per defini­tionem nur die primär­medialen Inter­akti­onen im gleichen raumzeit­lichen Kontext stattfin­den, gibt es tatsäch­lich für sekun­där-, tertiär- oder quartär­medi­ale Inter­akti­onen keinen realen, allen Inter­aktions­partnern gemein­samen Ort, an dem die Inter­aktion stattfän­de. Doch tritt in diesen Fällen die Vorstel­lungskraft der Betei­ligten in Aktion, die sich in gewis­sen Grenzen so verhal­ten, als wären sie an einem gemein­samen Ort mit den ande­ren, einer geteil­ten Umge­bung in einem nur vorge­stellten Raum (und zur gleichen eben­falls nur vorge­stellten Zeit; hierzu auch ⊳ Bildre­zeption als Kommu­nika­tionspro­zess).[4]

Eben dieser Vorstellungs­kraft entspringt auch die Idee, man bewe­ge sich beim Gebrauch des Inter­netdiens­tes WWW, statt ruhig vor dem Compu­terter­minal zu sitzen und von fern über­trage­ne Zeichen­träger zu betrach­ten, selbst zu fikti­ven Orten, über die verstreut sich jene Zeichen­träger befin­den. Die abstrak­te Topo­logie der Hyper­links wird als räumli­ches Netz von Nachbar­schaftsbe­ziehun­gen gese­hen, das beschreit­bare Wege anbie­tet hin zu Infor­mations­ange­boten oder sogar dem Kontakt mit ande­ren Nutzern. In der Tat greifen wir häufig auf Vorstel­lungen von räumli­chen Rela­tionen zwischen Enti­täten zurück, wenn wir uns Abstrak­tes verge­genwär­tigen wollen. Insbe­sonde­re in der Schule der Kogni­tiven Lingu­istik ([Lang­acker 1991a]Literaturangabe fehlt.
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, [Lakoff 1987a]Lakoff, George (1987).
Women, fire, and dangerous things – What categories reveal about the mind. Chicago: Chicago University Press.

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) wird auf den zentra­len Rang hinge­wiesen, den Raumme­tapho­rik für viele Konzep­tuali­sierun­gen hat. Darü­ber hinaus bildet Raumme­tapho­rik auch die Grundla­ge des Visu­ali­sierens (⊳ Struktur­bild): Nur mit ihrer Hilfe ist es möglich, Nicht-Visu­elles, wie etwa die Netzto­polo­gie des Inter­nets, und Nicht-Räumli­ches, wie beispiels­weise die logi­schen Bezie­hungen zwischen den Teilen eines Programms, in einen Bildraum zu bringen (⊳ Seman­tik logi­scher Bilder).

Im engeren Sinn ist mit ‘Cyber­space’ aller­dings nicht nur eine bloß vorge­stellte Räumlich­keit gemeint, in der man sich ima­gina­tiv bewegt, sondern eine technisch bewerk­stellig­te Immer­sion, d.h. ein schnell arbei­tendes künstli­ches Rückkopp­lungssys­tem, das Impul­se vom Bewe­gungsap­parat des Nutzers aufnimmt, verar­beitet und in verar­beite­ter Form auf seinen Wahrneh­mungsap­parat zurück­proji­ziert.[5] Dadurch wird die natür­liche Rückkopp­lung durch “die Reali­tät”, d.h. präzi­ser: durch den aktu­ellen situ­ati­ven Kontext, über­brückt. An die Stelle der eigentlichen Umgebung tritt – zumindest im ide­alen Grenzfall – eine technisch nach bestimm­ten Regeln ablau­fende Simu­lation einer Umge­bung.[6] Daher gelingt es – in gewis­sen Grenzen – bei den durch immer­sive Syste­me simu­lierten Umge­bungen durchaus, empi­rische Befun­de zu erhe­ben, was bei bloß vorge­stellten räumli­chen Situ­ati­onen nicht möglich ist: Der Cyber­space gehört damit zu den wahrneh­mungsna­hen Zeichen­syste­men.

Für solche Rückkopplungs­syste­me spielt die visu­elle Wahrneh­mung entspre­chend ihrem Rang für die menschli­che Wahrneh­mung allge­mein eine heraus­geho­bene Rolle. Cyber­space-Anwen­dungen beru­hen daher in hohem Maße auf einer speziel­len Form des inter­akti­ven Bildes.


Bilder als konstitutiver Teil des Cyber­space

Offensichtlich ist alles, was ein Cyber­naut in einem (vollstän­dig) immer­siven System – d.h. “im Cyper­space” – sieht, tatsäch­lich ein Bild, das von dem System gemäß bestimm­ter Regeln aus dem Verhal­ten des Nutzers und weite­ren Para­metern zur Präsen­tation ausge­wählt wurde. Aller­dings spalten sich im spezi­fischen Verwen­dungszu­sammen­hang immer­siver Syste­me eini­ge Fakto­ren ab, die für Bilder anson­sten charak­teris­tisch sind, und verschie­ben sich auf eine ande­re Inter­aktions­ebene: Der Zeichen­charak­ter und die damit verbun­dene Distanz zum Bildin­halt verschwin­det. Dem Bild tritt man dann nicht mehr als einem wahrneh­mungsna­hen Zeichen gegen­über; die Verwechs­lung mit dem Abge­bilde­ten selbst, die für den dezep­tiven Modus charak­teris­tisch ist, domi­niert. Das schließt nicht aus, dass der Zeichen­charak­ter des Cyber­space insge­samt als komple­xes wahrneh­mungsna­hes Zeichen bewusst bleibt, dessen Täuschungs­poten­tial sich der Nutzer mit Absicht hingibt.

Eine solche Abspaltung des Darstel­lungscha­rakters ist zwar bereits für trompe l'oeil-Bilder im Zusamm­enhang mit der sie umge­benden Archi­tektur typisch, wie auch für beweg­te Bilder insbe­sonde­re im Zusam­menspiel mit passend einge­spielten konser­vierten oder simu­lierten Geräu­schen und der spezi­fisch iso­lierten Rezep­tionssi­tuation im abge­dunkel­ten und damit reizar­men Projek­tionsraum (⊳ Kino). Offen­bar genügt die Inte­gration der Bilder mit wahrneh­mungsnahen Zeichen ande­rer Sinnes­moda­litä­ten zu einem koor­dinier­ten multi­moda­len wahrneh­mungsna­hen Zeichen höhe­rer Ordnung, um sie in der Rezep­tion als Bilder verschwin­den zu lassen. Doch erst der digi­taltech­nisch vermit­telte Cyber­space, der dem beweg­ten Bild oder der beweg­ten Bild-Ton-Kombi­nation auch noch die Freiheits­dimen­sion der Inter­akti­vität zuge­sellt, ermög­licht jenes Eintau­chen in die gezeig­ten Bildräu­me, das neben den perzep­tiven auch die vola­tiven Aspek­te des jewei­ligen Nutzers berück­sichtigt: Die direk­te Mani­pula­tion der gezeig­ten Situ­atio­nen bei inter­akti­ven Bildern verstärkt das multi­modale Täuschungs­poten­tial, indem nun Ähnlich­keit auch auf kausa­le Aspek­te der darge­stellten Dinge ausge­dehnt wird und damit Aspekte von deren poten­tiellem Verhal­ten auf nachprüf­bare Weise einbe­zogen sind.

Abbil­dung 1: Stand­bild ent­spre­chend der sub­jek­ti­ven An­sicht ei­nes Mit­spie­lers in ei­ner der vir­tu­el­len Um­ge­bun­gen von «Se­cond Li­fe»

Dass die Ak­ti­vi­tät ei­nes Nut­zers ein Ele­ment des Cy­ber­space ist führt letzt­lich auch da­zu, dass sich im Cyber­space me­hre­re Nut­zer mit je un­ter­schied­li­cher, von ih­rer Ge­schich­te in dem je­wei­li­gen vir­tu­el­len Raum ab­hän­gi­ger Per­spek­ti­ve tref­fen und qua­si-pri­mär­me­di­al mit­ei­nan­der in­ter­agie­ren kön­nen (vgl. Abb. 1). Da­zu brau­chen le­dig­lich die den vir­tu­el­len Raum auf­bau­en­den tech­ni­schen Sys­te­me mit­ei­nan­der ver­netzt zu sein, etwa die über das In­ter­net ver­bun­de­nen PCs von Nut­zern auf ver­schie­de­nen Kon­ti­nen­ten. Aller­dings muss dazu auch die Rolle des Nutzers (als Sender oder Emp­fänger) in dem virtu­ellen “Spielraum” als sepa­rierte Figur mani­festiert sein. Diesem Zweck dienen die so genann­ten Ava­tare: Stellver­treter für die Leiber der Nutzer in der virtu­ellen Situ­ation; d.h. letztlich ein inter­akti­ves (Teil-)Bild, das von dem jewei­ligen Nutzer (in der Regel über direk­te Mani­pula­tion eines zugrun­de liegen­den 3D-Modells) gesteu­ert und den ande­ren Nutzern präsen­tiert wird. Allein schon durch die Verwen­dung von Ava­taren erge­ben sich umfang­reiche Verschie­bungen im Selbstbe­zug der kommu­nika­tiven Handlun­gen, denn die Selbstdar­stellung des Nutzers in den Inter­aktio­nen mit einem ande­ren Ava­tar im virtu­ellen Raum bezieht sich nicht notwen­dig auf den Nutzer selbst, sondern auf eine Rolle, die er in der Maske des Ava­tars annimmt.

Der Cyberspace bildet daher ein quartä­res Medium mit beson­derer Kompli­kation: Der Nutzer kommu­niziert über das System mit sich selber bzw. mit den System­auto­ren, um eine Situ­ation aufzu­bauen, in der er (gege­benen­falls in der Rolle eines ande­ren) mit den scheinkör­perli­chen Stellver­tretern (Ava­taren) ande­rer Nutzer scheinbar primär­medial kommu­niziert und direkt inter­agiert. Dabei steuern seine Bewe­gungen die Akti­vitä­ten des eige­nen Ava­tars, wie dieser den ande­ren Nutzern erscheint.


Ein (eingeschränktes) Beispiel: «Se­cond Life»

Ein besonders populäres Stück Cyber­space im Sinne eines von vielen Benut­zern gleichzei­tig und mitei­nander “bevöl­kerten”, aber dennoch eher schwach immer­siven Raumes[7] stellte für eini­ge Zeit das so genann­te «Second Life» dar: Es handelt sich um eine große Zahl mitei­nander verbun­dener virtu­eller Räume, zu denen gleichzei­tig eine Vielzahl von Nutzern Zugang haben können.

Abbildung 1 gibt einen groben, wenn auch stati­schen Eindruck von der visu­ellen Erschei­nung, die sich in einem dieser Räume zu einem bestimm­ten Zeitpunkt und von einer bestimm­ten Stelle aus bietet: die momen­tane Perspek­tive “meines” Ava­tars. Die Räume sind, wie ersicht­lich, mit einer Menge von Gegen­ständen ausge­stattet, mit oder an denen sich jeweils bestimm­te Handlun­gen vollzie­hen lassen (»Treppen steigen«, »Türen öffnen«, »sich in Stühle setzen« etc.). Zudem sind Inter­akti­onen mit den ande­ren “Bewoh­nern” möglich.[8]

Abbil­dung 2: Skiz­ze zur Ein­bet­tung pri­mär­me­di­a­ler Kom­mu­ni­ka­ti­on in das quar­tär­me­di­a­le Set­ting des Cy­ber­space

Ana­ly­siert man die kom­ple­xen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hand­lun­gen, die ein Teil­neh­mer voll­zieht, wenn er über sein Ava­tar mit dem ei­nes an­de­ren Teil­neh­mers kom­mu­ni­ziert, er­gibt sich das fol­gen­de Bild (vgl. Abb. 2): Ei­ner­seits be­trach­ten wir In­ter­ak­ti­on und Kom­mu­ni­ka­ti­on im vir­tu­el­len Raum. Die­se er­folgt meist von An­ge­sicht zu An­ge­sicht, al­so pri­mär­me­di­al. Die deik­ti­schen Kom­po­nen­ten des Sach­be­zugs rich­ten sich auf den je­wei­li­gen vir­tu­el­len Kon­text. Al­ler­dings han­delt es sich bei den Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­nern um wech­sel­sei­tig ima­gi­nier­te Rol­len, die durch Ava­ta­re ver­kör­pert wer­den: Die Selbst­dar­stel­lungs­kom­po­nen­te die­ser Kom­mu­ni­ka­ti­on ist al­so ent­spre­chend ver­zerrt.

Dem steht die Kommunikation im quar­tären Medium des inter­akti­ven Systems gegen­über: Jeder Teilneh­mer von «Second Life» führt diese Kommu­nika­tion, indem er sich selbst jene Bilder, Geräusch­konser­ven etc. vorführt. Dabei nimmt er zugleich selbst die Rolle des System­autors ein, der das immer­sive System entwor­fen hat, den der Nutzer in der Regel aber gar nicht kennt, so dass diese Rollen­über­nahme ledig­lich auf seiner Vorstel­lung der Inten­tionen des Autors beruht. Erst durch diese kommu­nika­tive Ebe­ne wird der virtu­elle Kontext für die ande­re Inter­aktions­ebe­ne etab­liert. So wird auch klar, wieso die audio­visu­ellen Bilder, über die der Nutzer den virtu­ellen Raum wahrneh­men kann, inner­halb des virtu­ellen Raums nicht als wahrneh­mungsna­he Zeichen erschei­nen: Hier wirkt nur der dezep­tive Modus, während die bildty­pische Kombi­nation aus dezep­tiver und symbo­lischer Kompo­nente nur von außer­halb, also in der Kommu­nika­tion mit dem immer­siven System zum Tragen kommt. Im quartä­ren Medium sind es Bilder und Hörbil­der, im virtu­ellen Kontext hinge­gen Situ­atio­nen mit Gegen­ständen, die so und so ausse­hen und die und die Geräu­sche abge­ben.

Zwischen beiden Ebenen vermittelt schließ­lich die Rollen­über­nahme der Nutzer, die eben­falls ein kommu­nika­tiver Akt ist: Dem Teilneh­mer von «Second Life» ist ja (im nicht-patho­logi­schen Fall) durchaus klar, dass er sein Ava­tar im virtu­ellen Raum mit dem Ava­tar eines ande­ren Benut­zers reden lässt – oder dass er mit jenem ande­ren Benut­zer in einem Modus des Als-ob redet. Er ist es ja, der sich über die komple­xe Zeichen­handlung im Cyber­space ande­ren gegen­über darstellt als eben dieser Ava­tar mit gewis­ser Vergan­genheit in einem bestimm­ten aktu­ellen Kontext und mit spezi­fischen Zukunfts­optio­nen. Und er darf durchaus davon ausge­hen, dass der ande­re dieses So-tun-als-ob ebenfalls durchschaut. Da sich die Nutzer tatsäch­lich vermut­lich noch nie begeg­net sind, handelt es sich aber – wie so oft schon bei sekun­där- oder tertiär­media­ler Kommu­nika­tion – immer um die jeweils wechsel­seiti­gen Vorstel­lungen vom Gegen­über. Das Über­nehmen der eige­nen Rolle ist dabei zugleich durch die Handha­bung des techni­schen Zugangs­systems vermit­telt.

Zusammengefasst kommuniziert also ein Teilneh­mer von «Second Life» und ähnli­chen virtu­ellen Räumen mit einem ande­ren Nutzer auf doppelt indi­rekte Weise, indem er sich (i) als jemand darstellt, der er (in der Regel) nicht ist, und der an einem Ort zu sein vorgibt, an dem er sich gar nicht befin­det; und indem er (ii) tatsäch­lich ganz ande­re Mittel­handlun­gen ausführt, um diese Kommu­nika­tion zu errei­chen, als er norma­lerwei­se zu einem solchen Zweck ausfüh­ren würde. Beide Diffe­renzen werden dadurch überbrückt, dass er sie als Teile einer quartär­media­len Inter­aktion ausführt, in der er sich selbst etwas in der Rolle des vorge­stellten System­autors vorführt, nämlich den virtu­ellen Raum mit seinen Möglich­keiten.

Anmerkungen
  1. Nach­dem be­reits Sta­nis­ław Lem das Kon­zept An­fang der 1960er Jah­re un­ter dem Na­men ‘Phan­to­ma­tik’ durch­ge­spielt hat­te («Sum­ma tech­no­lo­giae», 1964), be­nutzt Gib­son das Wort erst­mals le­dig­lich als un­er­läu­ter­tes Eti­kett in ei­ner No­vel­le von 1982 («Chrom brennt»), um es zwei Jah­re spä­ter als Be­zeich­nung ei­nes dra­ma­tur­gisch hoch-wirk­sa­men Kon­zepts aus­zu­bau­en («Neu­ro­man­cer»). Wei­te­re Vor­läu­fer sind u.a. bei D.F. Ga­louye («Si­mu­la­cron-3», 1964) und W.H. Fran­ke («Der Or­chi­de­en­kä­fig», 1961) zu fin­den; vgl. auch Wi­ki­pe­dia: Cy­ber­space.
  2. Mit Data­suits, Head-moun­ted 3D-Dis­plays, CAVEs, Kraft­rück­kopp­lungs­hand­schu­hen und ähn­li­chen Er­geb­nis­sen die­ser For­schung lässt sich zwar ein ver­hält­nis­mäßig ho­hes Maß an Im­mer­si­on in ei­ne vir­tu­el­le Um­ge­bung er­zeu­gen, doch ver­hin­dert der Auf­wand da­für ei­ne brei­te Nut­zung. Als Pen­dant mit um­ge­kehr­tem Vor­zei­chen er­schie­nen zu­gleich mit den Cy­ber­be­geis­ter­ten die Cy­ber­skep­ti­ker, die die bei ih­nen durch die uto­pi­schen All­machts­phan­ta­sien aus­ge­lös­ten Be­dro­hungs­emp­fin­dun­gen zum Un­ter­gang der Mensch­heit hoch­sti­li­sier­ten; vgl etwa [Les­sig 1999a]Literaturangabe fehlt.
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    .
  3. Von dem Cy­ber­space sei al­so ins­be­son­de­re dann die Re­de, wenn man sich vor­stellt, auch al­le im­mer­si­ven vir­tu­el­len Räu­me wä­ren als Tei­le in ei­nem fik­ti­ven Welt­raum ver­or­tet: So­bald man sich “in” ir­gend ei­nem vir­tu­el­len Raum be­fin­det, wä­re man dann stets auch im (so ge­fass­ten) Cy­ber­space.
  4. In­te­r­es­san­ter Wei­se kommt die­se ganz re­a­le Vir­tu­a­li­tät – et­wa bei ge­le­se­nen Ge­schich­ten – weit­ge­hend oh­ne hoch­tech­ni­sier­te Hilfs­mit­tel aus: Im Ge­gen­satz zur vir­tu­el­len Re­a­li­tät des Cy­ber­space im en­ge­ren Sinn ge­nügt hier das “Ki­no im Kopf”. Im­mer­si­on ist al­so kei­nes­wegs al­lein ab­hän­gig vom tech­ni­schen Auf­wand, son­dern grün­det zu ei­nem ganz we­sent­li­chen Teil da­rin, wie sehr sich der Be­tref­fen­de auf ei­ne Fik­tion ein­läßt, sich in sie “ver­tieft”.
  5. In der Ter­mi­no­lo­gie der Ky­ber­ne­tik könn­te man auch von ei­ner Art kom­ple­xem, um­ge­kehr­tem Re­gel­kreis mit künst­li­cher Rück­kopp­lung der kör­per­ei­ge­nen Ef­fek­to­ren auf die (oder ei­ni­ge der) Sen­so­ren spre­chen. So­mit er­gibt sich so­gar ei­ne in­di­rek­te Mo­ti­va­ti­on der Kunst­sil­be ‘cy­ber’.
  6. Tat­säch­lich ist beim der­zei­ti­gen Stand der Tech­nik noch viel gu­ter Wil­le nö­tig, da ins­be­son­de­re das Über­tra­gen des “nor­ma­len” Mus­kel­spiels auf ent­spre­chen­de Be­we­gun­gen nur mit re­la­tiv großem Auf­wand mög­lich ist und im We­sent­li­chen nur Seh- und Hör­sinn tat­säch­lich “be­dient” wer­den. Statt­des­sen kann man sich al­ler­dings auch da­rauf ver­las­sen, dass Men­schen recht leicht ih­re Kör­per­sche­ma­ta an tech­ni­sche Ge­rä­te an­pas­sen, was wohl je­der am Bei­spiel Fahr­rad­fah­ren selbst kennt: Die­se Ad­ap­ti­on um­fasst so­wohl die mo­to­ri­sche wie auch die per­zep­ti­ve Sei­te – kommt man doch leicht in die La­ge, die Kon­sis­tenz des Un­ter­grun­des statt mit den Füßen auch mit den Rei­fen zu spü­ren.
    Im üb­ri­gen ist es bei vie­len nütz­li­chen An­wen­dun­gen sinn­voll, die tat­säch­li­che Um­ge­bung nicht völ­lig ab­zu­blocken. Viel­mehr sol­len aug­men­ted re­a­li­ty-Sys­te­me zu­sätz­li­che vir­tu­el­le Ele­men­te so be­reit­stel­len, dass mit ih­nen be­stimm­te Auf­ga­ben in der tat­säch­li­chen Si­tu­a­ti­on er­leich­tert wer­den: vgl. etwa Wi­ki­pe­di­a: Er­wei­ter­te Re­a­li­tät.
  7. Da in der Re­gel nur der Com­pu­ter­bild­schirm samt Laut­spre­chern, Maus und Tasta­tur als Ein­ga­be­ge­rä­te ver­wen­det wer­den, wird kein all­zu­ho­her Im­mer­si­ons­grad im tech­ni­schen Sinn er­reicht – doch sagt das we­nig über die Tie­fe des Ein­ge­taucht­seins im Sin­ne der Ver­tie­fung in die vor­ge­stell­te Spiel­welt aus.
  8. Es wa­ren, ne­ben As­pek­ten des Re­fe­renz­prob­lems, ins­be­son­de­re die sich aus die­ser Mög­lich­keit er­ge­ben­den so­zi­a­len und öko­no­mi­schen Fol­gen, die «Se­cond Life» zeit­wei­se zu ei­nem häu­fig be­han­del­ten The­ma der Bou­le­vard­pres­se wer­den ließen. Im Ge­gen­satz zu den üb­li­chen 3D-Mul­ti­user-Spie­len geht es in «Se­cond Life» nicht da­rum, mehr oder we­ni­ger aus­ge­fal­le­ne Aben­teu­er zu be­ste­hen. Viel­mehr be­ruht ein we­sent­li­cher Teil des Kon­zepts da­rauf, im vir­tu­el­len Raum das­sel­be wie im wah­ren Le­ben (nur mit ge­wechs­el­ten Rol­len) zu tun. Hier wie dort nimmt da­her viel­fach der Er­werb und die Prä­sen­ta­ti­on von ech­ten und fal­schen Sta­tus­sym­bo­len ei­nen wich­ti­gen Platz ein. Vgl. auch Wi­ki­pe­dia: «Se­cond Life».
Literatur                             [Sammlung]

[Lakoff 1987a]: Lakoff, George (1987). Women, fire, and dangerous things – What categories reveal about the mind. Chicago: Chicago University Press.

[Lang­acker 1991a]:
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[Les­sig 1999a]:
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[Neu­haus 2006a]: Neuhaus, Wolfgang (2006). Als William Gibson den Cyberspace erfand ... - Die Faszination für ein Vielzweck-Symbol aus der Science Fiction-Literatur. Telepolis. [Rucker et al. 1993a]:
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Ausgabe 1: 2013

Verantwortlich:

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [39], Klaus Sachs-Hombach [4] und Dimitri Liebsch [2] — (Hinweis)

Zitierhinweis:

[Schirra 2013g-h]Literaturangabe fehlt.
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- Beitrag in Sammelband,
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[Lang­acker 1991a]:
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[Les­sig 1999a]:
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[Rucker et al. 1993a]:
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[Schirra 2013g-h]:
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