Cyberspace: Unterschied zwischen den Versionen

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
Wechseln zu: Navigation, Suche
Zeile 23: Zeile 23:
 
==Raummetaphorik und immer­sive Bild­räume==
 
==Raummetaphorik und immer­sive Bild­räume==
  
Die oben erwähnten Assoziationsketten lassen sich durchaus auch um den Ausdruck ‘Bildraum’ erweitern: Der Begriff Cyberspace erscheint damit angereichert mit der Vorstellung von den imaginativen [[Theorien des Bildraums|Räumen]] “hinter” den Bildoberflächen und Spiegeln, aber auch allgemeiner “hinter” den Tonkonserven und sonstigen Datenspeichern. In diesem Sinn bezeichnet J. P. Barlow den Cyberspace als den Ort „... where you are when you are talking on the telephone“ (zitiert nach <bib id='Rucker et al. 1993a'></bib>: S. 78). Das ist natürlich eine durch und durch metaphorische Sprechweise, die tatsächlich für jede [[Typologien der Medien|nicht-primärmediale]] [[Interaktion und Kommunikation|Interaktion]] möglich ist: Da ''per definitionem'' nur die primärmedialen Interaktionen im gleichen raumzeitlichen [[Kontext]] stattfinden, gibt es tatsächlich für sekundär-, tertiär- oder quartärmediale Interaktionen keinen realen, allen Interaktionspartnern gemeinsamen Ort, an dem die Interaktion stattfände. Doch tritt in diesen Fällen die Vorstellungskraft der Beteiligten in Aktion, die sich in gewissen Grenzen so verhalten, als wären sie an einem gemeinsamen Ort mit den anderen, einer geteilten Umgebung in einem nur vorgestellten Raum (und zur gleichen ebenfalls nur vorgestellten Zeit; hierzu auch ⊳ [[Bildrezeption als Kommunikationsprozess]]).<ref>Interessanter Weise kommt diese ganz "reale [[Virtualität]]" etwa bei gelesenen Geschichten weitgehend ohne hochtechnisierte Hilfsmittel aus: Im Gegensatz zur virtuellen Realität des Cyberspace im engeren Sinn genügt hier das "Kino im Kopf". Immersion ist also keineswegs allein abhängig vom technischen Aufwand, sondern gründet zu einem ganz wesentlichen Teil darin, wie sehr sich der Betreffende auf eine Fiktion einläßt, sich in sie "vertieft".</ref>   
+
Die oben erwähnten Asso&shy;ziations&shy;ketten lassen sich durchaus auch um den Ausdruck ‘Bildraum’ erwei&shy;tern: Der Begriff »Cyber&shy;space« erscheint damit ange&shy;reichert mit der Vorstel&shy;lung von den ima&shy;gina&shy;tiven [[Theorien des Bildraums|Räumen]] “hinter” den Bild&shy;ober&shy;flächen und Spiegeln, aber auch allge&shy;meiner “hinter” den Tonkon&shy;serven und sonsti&shy;gen Daten&shy;speichern. In diesem Sinn bezeich&shy;net J. P. Barlow den Cyber&shy;space als den Ort „... where you are when you are talking on the tele&shy;phone“ (zitiert nach <bib id='Rucker et al. 1993a'></bib>: S. 78). Das ist natür&shy;lich eine durch und durch meta&shy;phori&shy;sche Sprech&shy;weise, die tatsäch&shy;lich für jede [[Typologien der Medien|nicht-primär&shy;media&shy;le]] [[Interaktion und Kommunikation|Inter&shy;aktion]] möglich ist: Da ''per defini&shy;tionem'' nur die primär&shy;medialen Inter&shy;akti&shy;onen im gleichen raumzeit&shy;lichen [[Kontext]] stattfin&shy;den, gibt es tatsäch&shy;lich für sekun&shy;där-, tertiär- oder quartär&shy;medi&shy;ale Inter&shy;akti&shy;onen keinen realen, allen Inter&shy;aktions&shy;partnern gemein&shy;samen Ort, an dem die Inter&shy;aktion stattfän&shy;de. Doch tritt in diesen Fällen die Vorstel&shy;lungskraft der Betei&shy;ligten in Aktion, die sich in gewis&shy;sen Grenzen so verhal&shy;ten, als wären sie an einem gemein&shy;samen Ort mit den ande&shy;ren, einer geteil&shy;ten Umge&shy;bung in einem nur vorge&shy;stellten Raum (und zur gleichen eben&shy;falls nur vorge&shy;stellten Zeit; hierzu auch ⊳ [[Bildrezeption als Kommunikationsprozess|Bildre&shy;zeption als Kommu&shy;nika&shy;tionspro&shy;zess]]).<ref>In&shy;te&shy;r&shy;es&shy;san&shy;ter Wei&shy;se kommt die&shy;se ganz ''re&shy;a&shy;le [[Virtualität|Vir&shy;tu&shy;a&shy;li&shy;tät]]'' et&shy;wa bei ge&shy;le&shy;se&shy;nen Ge&shy;schich&shy;ten weit&shy;ge&shy;hend oh&shy;ne hoch&shy;tech&shy;ni&shy;sier&shy;te Hilfs&shy;mit&shy;tel aus: Im Ge&shy;gen&shy;satz zur vir&shy;tu&shy;el&shy;len Re&shy;a&shy;li&shy;tät des Cy&shy;ber&shy;space im en&shy;ge&shy;ren Sinn ge&shy;nügt hier das “Ki&shy;no im Kopf”. Im&shy;mer&shy;si&shy;on ist al&shy;so kei&shy;nes&shy;wegs al&shy;lein ab&shy;hän&shy;gig vom tech&shy;ni&shy;schen Auf&shy;wand, son&shy;dern grün&shy;det zu ei&shy;nem ganz we&shy;sent&shy;li&shy;chen Teil da&shy;rin, wie sehr sich der Be&shy;tref&shy;fen&shy;de auf ei&shy;ne Fik&shy;tion ein&shy;läßt, sich in sie “ver&shy;tieft”.</ref>   
 
:
 
:
 
Eben dieser Vorstellungskraft entspringt auch die Idee, man bewege sich beim Gebrauch des Internetdienstes WWW, statt ruhig vor dem Computerterminal zu sitzen und von fern übertragene Zeichenträger zu betrachten, selbst zu fiktiven Orten, über die verstreut sich jene Zeichenträger befinden. Die abstrakte Topologie der Hyperlinks wird als räumliches Netz von Nachbarschaftsbeziehungen gesehen, das beschreitbare Wege anbietet hin zu Informationsangeboten oder sogar dem Kontakt mit anderen Nutzern. In der Tat greifen wir häufig auf Vorstellungen von räumlichen Relationen zwischen Entitäten zurück, wenn wir uns Abstraktes vergegenwärtigen wollen. Insbesondere in der Schule der Kognitiven Linguistik (<bib id='Langacker 1991a'></bib>, <bib id='Lakoff 1987a'></bib>) wird auf den zentralen Rang hingewiesen, den [[sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|Raummetaphorik]] für viele Konzeptualisierungen hat. Darüber hinaus bildet Raummetaphorik auch die Grundlage des Visualisierens (⊳ [[Strukturbild]]): Nur mit ihrer Hilfe ist es möglich, Nicht-Visuelles, wie etwa die Netztopologie des Internets, und Nicht-Räumliches, wie beispielsweise die logischen Beziehungen zwischen den Teilen eines Programms, in einen Bildraum zu bringen (⊳ [[Semantik logischer Bilder]]).  
 
Eben dieser Vorstellungskraft entspringt auch die Idee, man bewege sich beim Gebrauch des Internetdienstes WWW, statt ruhig vor dem Computerterminal zu sitzen und von fern übertragene Zeichenträger zu betrachten, selbst zu fiktiven Orten, über die verstreut sich jene Zeichenträger befinden. Die abstrakte Topologie der Hyperlinks wird als räumliches Netz von Nachbarschaftsbeziehungen gesehen, das beschreitbare Wege anbietet hin zu Informationsangeboten oder sogar dem Kontakt mit anderen Nutzern. In der Tat greifen wir häufig auf Vorstellungen von räumlichen Relationen zwischen Entitäten zurück, wenn wir uns Abstraktes vergegenwärtigen wollen. Insbesondere in der Schule der Kognitiven Linguistik (<bib id='Langacker 1991a'></bib>, <bib id='Lakoff 1987a'></bib>) wird auf den zentralen Rang hingewiesen, den [[sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|Raummetaphorik]] für viele Konzeptualisierungen hat. Darüber hinaus bildet Raummetaphorik auch die Grundlage des Visualisierens (⊳ [[Strukturbild]]): Nur mit ihrer Hilfe ist es möglich, Nicht-Visuelles, wie etwa die Netztopologie des Internets, und Nicht-Räumliches, wie beispielsweise die logischen Beziehungen zwischen den Teilen eines Programms, in einen Bildraum zu bringen (⊳ [[Semantik logischer Bilder]]).  

Version vom 12. Juli 2013, 16:38 Uhr

Unterpunkt zu: Bildmedien


Ein Wort zwischen techni­scher All­machts­phan­ta­sie und medi­aler Marke­tingek­stase

Erfunden wurde das Kunstwort ‘Cyber­space’ in der Science-fiction-Lite­ratur ([Neu­haus 2006a]Neuhaus, Wolfgang (2006).
Als William Gibson den Cyberspace erfand ... - Die Faszination für ein Vielzweck-Symbol aus der Science Fiction-Literatur. In Telepolis.

  Eintrag in Sammlung zeigen
):[1] Gemeint war damit eine fikti­ve, von Compu­tern erzeug­te Welt “neben” der Wirklich­keit mit eige­nen Gesetz­lichkei­ten – eine virtu­elle Wirklich­keit hinter den Spiegeln der Moni­tore, in die die Roman­figu­ren eintre­ten konnten, um in völlig frei wählba­ren Scheinkör­pern ihre Aben­teuer ohne kompli­zierte Anrei­se und meist auch ohne allzu häufi­ge ernsthaf­te Gefähr­dung für Leib und Leben an einer Vielzahl von exo­tischen oder grotes­ken Schauplät­zen zu konsu­mieren.

Gegenüber den durchaus vorhan­denen alter­nati­ven Vorschlä­gen von ‘Phanto­matik’ bis ‘virtual reali­ty’ setzte sich die Bezeich­nung ‘Cyber­space’ durch, weil sie eine breite und unspe­zifi­sche Asso­ziation zu posi­tiv besetz­ten Themen auslöst, ohne zugleich als proble­matisch erach­tete Aspek­te (wie etwas das Refe­renzprob­lem bei ‘virtual reali­ty’) in den Aufmerk­samkeits­fokus zu bringen: Die beiden Wortbe­standtei­le verwei­sen einer­seits über die Asso­ziations­kette ‘cyber’—‘kyber­netisch’—‘infor­matisch’—‘digi­tal-’ oder ‘unter­haltungs­technisch’ auf digi­tale Medien und die mit ihnen gege­bene Inte­gration verschie­dener tradi­tionel­ler Medien und ubi­quitä­re “Vernet­zung” der Nutzer; über die Asso­ziations­kette ‘space’—‘Raum’—‘Weltraum’—‘Umwelt’ verwei­sen sie ande­rerseits auf Medien im biolo­gischen Sinn: das Einge­taucht-Sein in eine spezi­fische Umge­bung, die direkt wahrge­nommen und unmit­telbar mani­puliert werden kann und durch die man sich auf je spezi­fische vom Medium bestimm­te Weise – etwa schwebend, schwimmend, hangelnd, hüpfend, kriechend, rollend oder fliegend – fortbe­wegt: Das ist der Grundge­danke der Immer­sion. So erkun­den die Cyber­nauten in Lite­ratur und Film einen digi­tal vermit­telten unei­gentli­chen “Spielraum”, in den sie einge­taucht sind und dessen Inhal­te sie anschei­nend ohne medi­ale Distanz wahrneh­men und mani­pulie­ren können. ‘Weltraum’ evo­ziert zudem das große Unbe­kannte, das es zu ent­decken und zu ero­bern gilt, das Aben­teuer des ganz Ande­ren, das Uto­pia voller Wunder und Reich­tümer.

Der annähernde Gleichklang von ‘cyber’ mit der engli­schen Silbe ‘hyper’ zielt zudem unter­schwellig zugleich auf eine über die Geset­ze der “norma­len” Wirklich­keit hinaus­gehen­de, beson­ders spekta­kulä­re Umge­bung (⊳ Reali­tät und Hyper­reali­tät), wie auf den instan­tanen Zugang zu verschie­densten Teilwel­ten in Ana­logie zu den Möglich­keiten der Verlin­kungen bei Hyper­medien, die zur selben Zeit (um 1990) ihren Einfluss auf mehr oder weni­ger alle sozi­ale Berei­che zu entfal­ten began­nen. All diese Konno­tati­onen wurden einer­seits von Technik­begeis­terten aufge­griffen und in uto­pische Phanta­sien über das angeb­lich demnächst technisch Machba­re transpo­niert, die wiede­rum zu ambi­tionier­ten, wenngleich insge­samt eher einge­schränkt erfolg­reichen Forschungs­projek­ten zur techni­schen Umset­zung virtu­eller Reali­täten führten.[2] Ande­rerseits blieb diese Affi­nität den Marke­tingex­perten nicht verbor­gen, die ‘Cyber­space’ zu einem Mode­wort aufbläh­ten, das zumeist benutzt wurde, um Produk­te eksta­tisch mit unrea­listi­schen Verspre­chen zu bewer­ben.

Nach dieser inflationären Abnut­zung als Mode­wort wird der Ausdruck ‘Cyber­space’ gegen­wärtig in einer recht unspe­zifi­schen Weise verwen­det, um sowohl komple­xe multi­medi­ale Spielwel­ten als auch verein­facht dreidi­mensi­onal darge­stellte Visu­ali­sierun­gen der Ordner- und Datei­struktu­ren eines Rechners als Desktop­meta­pher oder aber die bloß vorge­stellten geomet­rischen wie sozi­alen Verbin­dungsstruk­turen der moder­nen digi­talen Kommu­nika­tionsnet­ze zu bezeich­nen. Vor allem für letzte­re Vari­ante hat sich dabei der defi­nite Arti­kel einge­bürgert, als ob es nur einen solchen “Weltraum” geben könne, ein eindeu­tig bestimm­tes Paral­leluni­versum, in das jeder eintritt, der etwa Zugang zum Inter­net hat. Hier wird der Ausdruck ‘Cyber­space’ zur (schrägen) Meta­pher der moder­nen Infor­mations­gesell­schaft selbst mit den ihr inhä­renten sozi­alen Abgren­zungen. Bildphi­loso­phisch ist aller­dings vor allem die erste Verwen­dungswei­se – in etwa syno­nym zu ‘virtu­al reali­ty’ – inte­ressant.[3]


Raummetaphorik und immer­sive Bild­räume

Die oben erwähnten Asso­ziations­ketten lassen sich durchaus auch um den Ausdruck ‘Bildraum’ erwei­tern: Der Begriff »Cyber­space« erscheint damit ange­reichert mit der Vorstel­lung von den ima­gina­tiven Räumen “hinter” den Bild­ober­flächen und Spiegeln, aber auch allge­meiner “hinter” den Tonkon­serven und sonsti­gen Daten­speichern. In diesem Sinn bezeich­net J. P. Barlow den Cyber­space als den Ort „... where you are when you are talking on the tele­phone“ (zitiert nach [Rucker et al. 1993a]Rucker, Rudy & Sirius, R.U. & Mu, Queen (1993).
Mondo 2000: A User’s Guide to the New Edge. London: Thames and Hudson.

  Eintrag in Sammlung zeigen
: S. 78). Das ist natür­lich eine durch und durch meta­phori­sche Sprech­weise, die tatsäch­lich für jede nicht-primär­media­le Inter­aktion möglich ist: Da per defini­tionem nur die primär­medialen Inter­akti­onen im gleichen raumzeit­lichen Kontext stattfin­den, gibt es tatsäch­lich für sekun­där-, tertiär- oder quartär­medi­ale Inter­akti­onen keinen realen, allen Inter­aktions­partnern gemein­samen Ort, an dem die Inter­aktion stattfän­de. Doch tritt in diesen Fällen die Vorstel­lungskraft der Betei­ligten in Aktion, die sich in gewis­sen Grenzen so verhal­ten, als wären sie an einem gemein­samen Ort mit den ande­ren, einer geteil­ten Umge­bung in einem nur vorge­stellten Raum (und zur gleichen eben­falls nur vorge­stellten Zeit; hierzu auch ⊳ Bildre­zeption als Kommu­nika­tionspro­zess).[4]
Eben dieser Vorstellungskraft entspringt auch die Idee, man bewege sich beim Gebrauch des Internetdienstes WWW, statt ruhig vor dem Computerterminal zu sitzen und von fern übertragene Zeichenträger zu betrachten, selbst zu fiktiven Orten, über die verstreut sich jene Zeichenträger befinden. Die abstrakte Topologie der Hyperlinks wird als räumliches Netz von Nachbarschaftsbeziehungen gesehen, das beschreitbare Wege anbietet hin zu Informationsangeboten oder sogar dem Kontakt mit anderen Nutzern. In der Tat greifen wir häufig auf Vorstellungen von räumlichen Relationen zwischen Entitäten zurück, wenn wir uns Abstraktes vergegenwärtigen wollen. Insbesondere in der Schule der Kognitiven Linguistik ([Langacker 1991a]Langacker, Ronald W. (1991).
Concept, Image, and Symbol: The Cognitive Basis of Grammar. Berlin/New York: Mouton de Gruyter.

  Eintrag in Sammlung zeigen
, [Lakoff 1987a]Lakoff, George (1987).
Women, Fire, and Dangerous Things – What Categories Reveal about the Mind. Chicago: Chicago Uni­versity Press.

  Eintrag in Sammlung zeigen
) wird auf den zentralen Rang hingewiesen, den Raummetaphorik für viele Konzeptualisierungen hat. Darüber hinaus bildet Raummetaphorik auch die Grundlage des Visualisierens (⊳ Strukturbild): Nur mit ihrer Hilfe ist es möglich, Nicht-Visuelles, wie etwa die Netztopologie des Internets, und Nicht-Räumliches, wie beispielsweise die logischen Beziehungen zwischen den Teilen eines Programms, in einen Bildraum zu bringen (⊳ Semantik logischer Bilder).

Im engeren Sinn ist mit ‘Cyberspace’ allerdings nicht nur eine bloß vorgestellte Räumlichkeit gemeint, in der man sich imaginativ bewegt, sondern eine technisch bewerkstelligte Immersion, d.h. ein schnell arbeitendes künstliches Rückkopplungssystem, das Impulse vom Bewegungsapparat des Nutzers aufnimmt, verarbeitet und in verarbeiteter Form auf seinen Wahrnehmungsapparat zurückprojiziert.[5] Dadurch wird die natürliche Rückkopplung durch “die Realität”, d.h. präziser: durch den aktuellen situativen Kontext, überbrückt. An die Stelle der eigentlichen Umgebung tritt – zumindest im idealen Grenzfall – eine technisch nach bestimmten Regeln ablaufende Simulation einer Umgebung.[6] Daher gelingt es – in gewissen Grenzen – bei den durch immersive Systeme simulierten Umgebungen durchaus, empirische Befunde zu erheben, was bei bloß vorgestellten räumlichen Situationen nicht möglich ist: Der Cyberspace gehört damit zu den wahrnehmungsnahen Zeichensystemen.

Für solche Rückkopplungssysteme spielt die visuelle Wahrnehmung entsprechend ihrem Rang für die menschliche Wahrnehmung allgemein eine herausgehobene Rolle. Cyberspace-Anwendungen beruhen daher in hohem Maße auf einer speziellen Form des interaktiven Bildes.

Bilder als konstitutiver Teil des Cyberspace

Offensichtlich ist alles, was ein Cybernaut in einem (vollständig) immersiven System – d.h. im Cyperspace – sieht, tatsächlich ein Bild, das von dem System gemäß bestimmter Regeln aus dem Verhalten des Nutzers und weiteren Parametern zur Präsentation ausgewählt wurde. Allerdings spalten sich im spezifischen Verwendungszusammenhang immersiver Systeme einige Faktoren ab, die für Bilder ansonsten charakteristisch sind, und verschieben sich auf eine andere Interaktionsebene: Der Zeichencharakter und die damit verbundene Distanz zum Bildinhalt verschwindet. Dem Bild tritt man dann nicht mehr als einem wahrnehmungsnahen Zeichen gegenüber; die Verwechslung mit dem Abgebildeten selbst, die für den dezeptiven Modus charakteristisch ist, dominiert. Das schließt nicht aus, dass der Zeichencharakter des Cyberspace insgesamt als komplexes wahrnehmungsnahes Zeichen bewusst bleibt, dessen Täuschungspotential sich der Nutzer mit Absicht hingibt.

Eine solche Abspaltung des Darstellungscharakters ist zwar bereits für trompe l'oeil-Bilder im Zusammenhang mit der sie umgebenden Architektur typisch, wie auch für bewegte Bilder insbesondere im Zusammenspiel mit passend eingespielten konservierten oder simulierten Geräuschen und der spezifisch isolierten Rezeptionssituation im abgedunkelten und damit reizarmen Projektionsraum (⊳ Kino). Offenbar genügt die Integration der Bilder mit wahrnehmungsnahen Zeichen anderer Sinnesmodalitäten zu einem koordinierten multimodalen wahrnehmungsnahen Zeichen höherer Ordnung, um sie in der Rezeption als Bilder verschwinden zu lassen. Doch erst der digitaltechnisch vermittelte Cyberspace, der dem bewegten Bild oder der bewegten Bild-Ton-Kombination auch noch die Freiheitsdimension der Interaktivität zugesellt, ermöglicht jenes Eintauchen in die gezeigten Bildräume, das neben den perzeptiven auch die volativen Aspekte des jeweiligen Nutzers berücksichtigt: Die direkte Manipulation der gezeigten Situationen bei interaktiven Bildern verstärkt das multimodale Täuschungspotential, indem nun Ähnlichkeit auch auf kausale Aspekte der dargestellten Dinge ausgedehnt wird und damit Aspekte von deren potentiellem Verhalten auf nachprüfbare Weise einbezogen sind.

Abbildung 1: Standbild entsprechend der subjektiven Ansicht eines Mitspielers in einer der virtuellen Umgebungen von «Second Life»

Dass die Aktivität eines Nutzers ein Element des Cyberspace ist führt letztlich auch dazu, dass sich im Cyberspace mehrere Nutzer mit je unterschiedlicher, von ihrer Geschichte in dem jeweiligen virtuellen Raum abhängiger Perspektive treffen und quasi-primärmedial miteinander interagieren können (vgl. Abb. 1). Dazu brauchen lediglich die den virtuellen Raum aufbauenden technischen Systeme miteinander vernetzt zu sein, etwa die über das Internet verbundenen PCs von Nutzern auf verschiedenen Kontinenten. Allerdings muss dazu auch die Rolle des Nutzers (als Sender oder Empfänger) in dem virtuellen “Spielraum” als separierte Figur manifestiert sein. Diesem Zweck dienen die so genannter Avatare: Stellvertreter für die Leiber der Nutzer in der virtuellen Situation; d.h. letztlich ein interaktives (Teil-)Bild, das von dem jeweiligen Nutzer (in der Regel über direkte Manipulation eines zugrunde liegenden 3D-Modells) gesteuert und den anderen Nutzern präsentiert wird. Allein schon durch die Verwendung von Avataren ergeben sich umfangreiche Verschiebungen im Selbstbezug der kommunikativen Handlungen, denn die Selbstdarstellung des Nutzers in den Interaktionen mit einem anderen Avatar im virtuellen Raum bezieht sich nicht notwendig auf den Nutzer selbst, sondern auf eine Rolle, die er in der Maske des Avatars annimmt.

Der Cyberspace bildet daher ein quartäres Medium mit besonderer Komplikation: Der Nutzer kommuniziert über das System mit sich selber bzw. mit den Systemautoren, um eine Situation aufzubauen, in der er (gegebenenfalls in der Rolle eines anderen) mit den scheinkörperlichen Stellvertretern (Avataren) anderer Nutzer scheinbar primärmedial kommuniziert und direkt interagiert. Dabei steuern seine Bewegungen die Aktivitäten des eigenen Avatars, wie dieser den anderen Nutzern erscheint.

Ein (eingeschränktes) Beispiel: «Second Life»

Ein besonders populäres Stück Cyberspace im Sinne eines von vielen Benutzern gleichzeitig und miteinander “bevölkerten”, aber dennoch eher schwach immersiven Raumes[7] stellte für einige Zeit das so genannte «Second Life» dar: Es handelt sich um eine große Zahl miteinander verbundener virtueller Räume, zu denen gleichzeitig eine Vielzahl von Nutzern Zugang haben können.

Abbildung 1 gibt einen groben, wenn auch statischen Eindruck von der visuellen Erscheinung, die sich in einem dieser Räume zu einem bestimmten Zeitpunkt und von einer bestimmten Stelle aus bietet: die momentane Perspektive “meines” Avatars. Die Räume sind, wie ersichtlich, mit einer Menge von Gegenständen ausgestattet, mit oder an denen sich jeweils bestimmte Handlungen vollziehen lassen (Treppen steigen, Türen öffnen, sich in Stühle setzen etc.). Zudem sind Interaktionen mit den anderen “Bewohnern” möglich.[8]

Abbildung 2: Skizze zur Einbettung primärmedialer Kommunikation in das quartärmediale Setting des Cyberspace

Analysiert man die komplexen Kommunikationshandlungen, die ein Teilnehmer vollzieht, wenn er über sein Avatar mit dem eines anderen Teilnehmers kommuniziert, ergibt sich das folgende Bild (vgl. Abb. 2): Einerseits betrachten wir Interaktion und Kommunikation im virtuellen Raum. Diese erfolgt meist von Angesicht zu Angesicht, also primärmedial. Die deiktischen Komponenten des Sachbezugs richten sich auf den jeweiligen virtuellen Kontext. Allerdings handelt es sich bei den Kommunikationspartnern um wechselseitig imaginierte Rollen, die durch Avatare verkörpert werden: Die Selbstdarstellungskomponente dieser Kommunikation ist also entsprechend verzerrt.

Dem steht die Kommunikation im quartären Medium des interaktiven Systems gegenüber: Jeder Teilnehmer von «Second Life» führt diese Kommunikation, indem er sich selbst jene Bilder, Geräuschkonserven etc. vorführt. Dabei nimmt er zugleich selbst die Rolle des Systemautors ein, der das immersive System entworfen hat, den der Nutzer in der Regel aber gar nicht kennt, so dass diese Rollenübernahme lediglich auf seiner Vorstellung der Intentionen des Autors beruht. Erst durch diese kommunikative Ebene wird der virtuelle Kontext für die andere Interaktionsebene etabliert. So wird auch klar, wieso die audiovisuellen Bilder, über die der Nutzer den virtuellen Raum wahrnehmen kann, innerhalb des virtuellen Raums nicht als wahrnehmungsnahe Zeichen erscheinen: Hier wirkt nur der dezeptive Modus, während die bildtypische Kombination aus dezeptiver und symbolischer Komponente nur von außerhalb, also in der Kommunikation mit dem immersiven System zum Tragen kommt. Im quartären Medium sind es Bilder und Hörbilder, im virtuellen Kontext hingegen Situationen mit Gegenständen, die so und so aussehen und die und die Geräusche abgeben.

Zwischen beiden Ebenen vermittelt schließlich die Rollenübernahme der Nutzer, die ebenfalls ein kommunikativer Akt ist: Dem Teilnehmer von «Second Life» ist ja (im nicht-pathologischen Fall) durchaus klar, dass er sein Avatar im virtuellen Raum mit dem Avatar eines anderen Benutzers reden lässt – oder dass er mit jenem anderen Benutzer in einem Modus des Als-ob redet. Er ist es ja, der sich über die komplexe Zeichenhandlung im Cyberspace anderen gegenüber darstellt als eben dieser Avatar mit gewisser Vergangenheit in einem bestimmten aktuellen Kontext und mit spezifischen Zukunftsoptionen. Und er darf durchaus davon ausgehen, dass der andere dieses So-tun-als-ob ebenfalls durchschaut. Da sich die Nutzer tatsächlich vermutlich noch nie begegnet sind, handelt es sich aber – wie so oft schon bei sekundär- oder tertiärmedialer Kommunikation – immer um die jeweils wechselseitigen Vorstellungen vom Gegenüber. Das Übernehmen der eigenen Rolle ist dabei zugleich durch die Handhabung des technischen Zugangssystems vermittelt.

Zusammengefasst kommuniziert also ein Teilnehmer von «Second Life» und ähnlichen virtuellen Räumen mit einem anderen Nutzer auf doppelt indirekte Weise, indem er sich (i) als jemand darstellt, der er (in der Regel) nicht ist, und der an einem Ort zu sein vorgibt, an dem er sich gar nicht befindet; und indem er (ii) tatsächlich ganz andere Mittelhandlungen ausführt, um diese Kommunikation zu erreichen, als er normalerweise zu einem solchen Zweck ausführen würde. Beide Differenzen werden dadurch überbrückt, dass er sie als Teile einer quartärmedialen Interaktion ausführt, in der er sich selbst etwas in der Rolle des vorgestellten Systemautors vorführt, nämlich den virtuellen Raum mit seinen Möglichkeiten.

Anmerkungen
  1. Nach­dem be­reits Sta­nis­ław Lem das Kon­zept An­fang der 1960er Jah­re un­ter dem Na­men ‘Phan­to­ma­tik’ durch­ge­spielt hat­te («Sum­ma tech­no­lo­giae», 1964), be­nutzt Gib­son das Wort erst­mals le­dig­lich als un­er­läu­ter­tes Eti­kett in ei­ner No­vel­le von 1982 («Chrom brennt»), um es zwei Jah­re spä­ter als Be­zeich­nung ei­nes dra­ma­tur­gisch hoch-wirk­sa­men Kon­zepts aus­zu­bau­en («Neu­ro­man­cer»). Wei­te­re Vor­läu­fer sind u.a. bei D.F. Ga­louye («Si­mu­la­cron-3», 1964) und W.H. Fran­ke («Der Or­chi­de­en­kä­fig», 1961) zu fin­den; vgl. auch Wi­ki­pe­dia: Cy­ber­space.
  2. Mit Data­suits, Head-moun­ted 3D-Dis­plays, CAVEs, Kraft­rück­kopp­lungs­hand­schu­hen und ähn­li­chen Er­geb­nis­sen die­ser For­schung lässt sich zwar ein ver­hält­nis­mäßig ho­hes Maß an Im­mer­si­on in ei­ne vir­tu­el­le Um­ge­bung er­zeu­gen, doch ver­hin­dert der Auf­wand da­für ei­ne brei­te Nut­zung. Als Pen­dant mit um­ge­kehr­tem Vor­zei­chen er­schie­nen zu­gleich mit den Cy­ber­be­geis­ter­ten die Cy­ber­skep­ti­ker, die die bei ih­nen durch die uto­pi­schen All­machts­phan­ta­sien aus­ge­lös­ten Be­dro­hungs­emp­fin­dun­gen zum Un­ter­gang der Mensch­heit hoch­sti­li­sier­ten; vgl etwa [Les­sig 1999a]Lessig, Lawrence (1999).
    Code and Other Laws of Cyberspace. New York: Basic Books.

      Eintrag in Sammlung zeigen
    .
  3. Von dem Cy­ber­space sei al­so ins­be­son­de­re dann die Re­de, wenn man sich vor­stellt, auch al­le im­mer­si­ven vir­tu­el­len Räu­me wä­ren als Tei­le in ei­nem fik­ti­ven Welt­raum ver­or­tet: So­bald man sich “in” ir­gend ei­nem vir­tu­el­len Raum be­fin­det, wä­re man dann stets auch im (so ge­fass­ten) Cy­ber­space.
  4. In­te­r­es­san­ter Wei­se kommt die­se ganz re­a­le Vir­tu­a­li­tät – et­wa bei ge­le­se­nen Ge­schich­ten – weit­ge­hend oh­ne hoch­tech­ni­sier­te Hilfs­mit­tel aus: Im Ge­gen­satz zur vir­tu­el­len Re­a­li­tät des Cy­ber­space im en­ge­ren Sinn ge­nügt hier das “Ki­no im Kopf”. Im­mer­si­on ist al­so kei­nes­wegs al­lein ab­hän­gig vom tech­ni­schen Auf­wand, son­dern grün­det zu ei­nem ganz we­sent­li­chen Teil da­rin, wie sehr sich der Be­tref­fen­de auf ei­ne Fik­tion ein­läßt, sich in sie “ver­tieft”.
  5. In der Terminologie der Kybernetik könnte man auch von einer Art komplexem, umgekehrtem Regelkreis mit künstlicher Rückkopplung der körpereigenen Effektoren auf die (oder einige der) Sensoren sprechen. Somit ergibt sich sogar eine indirekte Motivation der Kunstsilbe ‘cyber’.
  6. Tatsächlich ist beim derzeitigen Stand der Technik noch viel guter Wille nötig, da insbesondere das Übertragen des “normalen” Muskelspiels auf entsprechende Bewegungen nur mit relativ großem Aufwand möglich ist und im Wesentlichen nur Seh- und Hörsinn tatsächlich “bedient” werden. Stattdessen kann man sich allerdings auch darauf verlassen, dass Menschen recht leicht ihre Körperschemata an technische Geräte anpassen, was wohl jeder am Beispiel Fahrradfahren selbst kennt: Diese Adaption umfasst sowohl die motorische wie auch die perzeptive Seite – kommt man doch leicht in die Lage, die Konsistenz des Untergrundes statt mit den Füßen auch mit den Reifen zu spüren.
    Im übrigen ist es bei vielen nützlichen Anwendungen sinnvoll, die tatsächliche Umgebung nicht völlig abzublocken. Vielmehr sollen augmented reality-Systeme zusätzliche virtuelle Elemente so bereitstellen, dass mit ihnen bestimmte Aufgaben in der tatsächlichen Situation erleichtert werden: vgl. etwa Wikipedia: Erweiterte Realität.
  7. Da in der Regel nur der Computerbildschirm samt Lautsprechern und Maus und Tastatur als Eingabegeräte verwendet werden, wird kein allzuhoher Immersionsgrad im technischen Sinn erreicht – doch sagt das wenig über die Tiefe des Eingetauchtseins im Sinne der Vertiefung in die vorgestellte Spielwelt aus.
  8. Es waren, neben Aspekten des Referenzproblems, insbesondere die sich aus dieser Möglichkeit ergebenden sozialen und ökonomischen Folgen, die «Second Life» zeitweise zu einem häufig behandelten Thema der Boulevardpresse werden ließen. Im Gegensatz zu den üblichen 3D-Multiuser-Spielen geht es in «Second Life» nicht darum, mehr oder weniger ausgefallene Abenteuer zu bestehen. Vielmehr beruht ein wesentlicher Teil des Konzepts darauf, im virtuellen Raum dasselbe wie im wahren Leben (nur mit gewechselten Rollen) zu tun. Hier wie dort nimmt daher vielfach der Erwerb und die Präsentation von echten und falschen Statussymbolen einen wichtigen Platz ein. Vgl. auch Wikipedia: «Second Life».
Literatur                             [Sammlung]

[Lakoff 1987a]: Lakoff, George (1987). Women, Fire, and Dangerous Things – What Categories Reveal about the Mind. Chicago: Chicago Uni­versity Press.

[Langacker 1991a]: Langacker, Ronald W. (1991). Concept, Image, and Symbol: The Cognitive Basis of Grammar. Berlin/New York: Mouton de Gruyter. [Les­sig 1999a]: Lessig, Lawrence (1999). Code and Other Laws of Cyberspace. New York: Basic Books. [Neu­haus 2006a]: Neuhaus, Wolfgang (2006). Als William Gibson den Cyberspace erfand ... - Die Faszination für ein Vielzweck-Symbol aus der Science Fiction-Literatur. Telepolis. [Rucker et al. 1993a]: Rucker, Rudy & Sirius, R.U. & Mu, Queen (Hg.) (1993). Mondo 2000: A User’s Guide to the New Edge. London: Thames and Hudson.


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Verantwortlich:

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [39], Klaus Sachs-Hombach [4] und Dimitri Liebsch [2] — (Hinweis)