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Aktuelle Version vom 15. Dezember 2019, 15:21 Uhr
Unterpunkt zu: Bildmedien
Diagramme und das Feld des DiagrammatischenEs gibt eine Reihe von (im weiten Sinne) Bildern bzw. bildlichen Darstellungen, denen – in den jeweiligen Gebrauchskontexten – strukturelle und funktionale Eigenschaften zukommen, die sie aus dem Bereich der Bilder in besonderer Weise herausheben. Dazu gehören etwa: Karten, geometrische Zeichnungen, Flussdiagramme, Graphen, logische Diagramme (etwa Venn-Diagramme), Funktionsdiagramme, Pläne, aber auch Mindmaps, Listen, Tabellen, Begriffs-Tableaus bzw. in gewisser Weise auch generell alle schriftbildlichen Darstellungen. Zu den entsprechenden spezifischen Eigenschaften dieser Art Bilder gehören insbesondere deren besondere Syntaktizität und Operativität, die sie zugleich in die Nähe anderer symbolischer Darstellungsmedien, wie Sprache und Schrift rücken, zum Teil sind diese diagrammatische Darstellungen sogar direkt mit Schriftzeichen amalgamiert. In der Literatur werden unterschiedliche Vorschläge gemacht, die genannten speziellen Arten von Bildern unter einen einheitlichen Begriff zu fassen: etwa als „schematische Zeichnungen“ bzw. „Schemata“ ([Dirmoser 2004a]Dirmoser, Gerhard (2004).Vom Nutzen schematischer Zeichnungen – Teil I.. Eintrag in Sammlung zeigen), als „Strukturbilder“ ([Sachs-Hombach 2003a]Sachs-Hombach, Klaus (2003). Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem. Eintrag in Sammlung zeigen) oder eben als „Diagramme“ bzw. als „das Diagrammatische“ in einem weiten Sinne ([Krämer 2009a]Krämer, Sybille (2009). Operative Bildlichkeit: Von der Grammatologie zu einer Diagrammatologie? Reflexionen über erkennendes ‚Sehen’. In Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, 94-123. Eintrag in Sammlung zeigen). Am stärksten durchgesetzt als Oberbegriff scheint sich dabei der Begriff des Diagramms zu haben, was sich insbesondere auch daran zeigt, dass sich ein entsprechender Begriff der Diagrammatik etabliert hat, wobei ‘Diagrammatik’ eben eine Theorie der strukturellen und funktionalen Eigenschaften von diagrammatisch-schematischen Artefakten in diesem weiteren Sinne meint. Folgt man dieser extensional ausgeweiteten Verwendung des Audrucks ‘Diagramm’ bzw. des ‘Diagrammatischen’, setzt dies natürlich zugleich voraus, dass man die Differenz zu den Diagrammbegriffen im engeren Sinne präsent hält: Wir unterscheiden ja normalsprachlich zwischen beispielsweise Karten und Tabellen einerseits und Diagrammen im engeren Sinne (als geometrischen Darstellungen, als logischen Diagrammen, Fluss- und Funktionsdiagrammen) andererseits. Trotzdem scheinen eine Reihe von markanten strukturellen und funktionalen Eigenschaften eben sowohl für Diagramme im engeren als auch für solche im weiteren Sinne zuzutreffen, strukturelle und funktionale Eigenschaften, die zumindest familienähnlich überlappend den Bereich der als ‘diagrammatisch’ auszuzeichnenden Phänomene konstituieren. Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics. Dordrecht: Springer. Eintrag in Sammlung zeigen). Dabei wird diese Ähnlichkeit als „Strukturähnlichkeit“ (⊳ Isomorphie) aufgefasst.[1] Dagegen vermeidet Nelson Goodman in seinen Erläuterungen zum Diagramm den Bezug auf so etwas wie Ähnlichkeit ([Goodman 1968a]Goodman, Nelson (1968). Languages of Art. Indianapolis: Hackett, 2. rev. Aufl. 1976. Eintrag in Sammlung zeigen: S.163ff. u. S.212f.), Christian Stetter folgt ihm darin ([Stetter 2005a]Stetter, Christian (2005). Bild, Diagramm, Schrift. In Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, 115-135. Eintrag in Sammlung zeigen). Diagramme bzw. diagrammatische Darstellungen kommen in allen möglichen Lebens-, Wissens und Wissenschaftsbereichen zum Einsatz - in der Mathematik und den Naturwissenschaften ebenso wie in den Kulturwissenschaften und selbst in der Philosophie. Das vorliegende bildphilosophische Glossar beruht ja in seiner Struktur selbst auf einer diagrammatischen Begriffskarte, die auf der Portalseite dieses Glossars in einer (um die Unterpunkte) reduzierten Form auch grafisch abgebildet ist: ⊳ Glossar der Bildphilosophie: Portal.
Strukturmerkmale von DiagrammenDie zentralen funktional relevanten Strukturmerkmale von Diagrammen sollen im Folgenden unter drei Stichwortpunkten expliziert und verdeutlicht werden: a) Die spezifische Fähigkeit von Diagrammen zur Sichtbarmachung und VeranschaulichungDiagramme referieren. Sie machen dabei empirische oder auch nicht-empirische Sachverhalte/Verhältnisse sichtbar, die vorher nicht (bzw. nicht auf diese Weise) sichtbar gewesen sind. Auch Nichtvisuelles kann durch sie visuell dargestellt bzw. veranschaulicht werden (⊳ Semantik logischer Bilder). Diagrammatische Veranschaulichungen nutzen dabei einerseits räumliche Strukturen/Lagebeziehungen auf der Schreibfläche (wie »links« und »rechts«, »oben« und »unten«, »gegenseitige Nähe« und »Ferne«) und andererseits die Potentiale der menschlichen Gestaltwahrnehmung (etwa die Fähigkeiten zum Zusammen- und Auseinandersehen, sowie zum Überblicken), um Sachverhalte/Relationen darzustellen. Diagramme können in diesem Sinne “Übersichten” und “Überblickswissen” verschaffen. Zentral insbesondere für Diagramme im engeren - geometrischen - Sinne ist die Tatsache, dass hier mit dem Akt der zeichnerisch-räumlichen Darstellung entsprechend der jeweils vorgegebenen Konstruktionsregeln mehr Informationen qua Räumlichkeit/Anschaulichkeit präsent werden, als in den vorgängigen Konstruktionsregeln selber enthalten waren. Diagramme sind aus diesem Grund nicht bloß illustrativ, sondern haben epistemische Funktion. Jenseits der Opposition von Text und Bild. In Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore: Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, 1-22. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 8).[2] Der Verweis auf das Verdichtungspotential von Diagrammen sollte insbesondere nicht mit der irrigen Vorstellung verknüpft werden, diagrammatische Darstellungen würden einseitig der bloßen Komplexitätsreduktion dienen. Mit Blick auf die vielfältige Diagrammpraxis lässt sich vielmehr konstatieren: Es gibt zwar Diagramme, deren Zweck es ist, komplexe Sachverhalte – etwa zu didaktischen Zwecken – vereinfacht darzustellen, allerdings gibt es auch solche Diagramme, deren Aufgabe gerade darin besteht, Sachverhalte komplexitäts-erweiternd darzustellen. Manchmal kann eine solche komplexe Darstellung dabei auch “über-komplex”, also unübersichtlich werden.[3] „‘Komplexität’ ist (…) eine Funktion des Kommunikations- und Verwendungszwecks“, schreibt Heiner Wilharm ([Wilharm 1992a]Wilharm, Heiner (1992). Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. In Diagrammatik und Philosophie, 121-159. Eintrag in Sammlung zeigen). Komplexitäts-erweiternde Darstellungen, können dabei u.a. der Generierung von neuem Wissen dienen. Beispielsweise können durch die Darstellung eines Sachverhaltes auf der Schreibfläche plötzlich inhaltliche Leerstellen buchstäblich als weiße Flecken auf dem Papier sichtbar werden, die dann zur Bearbeitung drängen. Diagrammatische Darstellungen ermöglichen das sehende bzw. zeichnende Auffinden von neuen Relationen oder von „Zwischengliedern“ (Wittgenstein) durch „Dazwischenschreibung“.[4] b) Die Syntaktizität von DiagrammenIm Feld diagrammatischer Phänomene gibt es große Unterschiede in Bezug auf deren Syntaktizität bzw. auf die Regelhaftigkeit der Typisierung und des Typengebrauchs. Nicht alle Diagrammtheoretiker würden in Bezug auf Diagramme von einer Syntax reden. Christian Stetter etwa schlägt vor, den Begriff »Syntax« nur für Schriften, genauer: für Texte zu reservieren, nicht jedoch für Diagramme ([Stetter 2005a]Stetter, Christian (2005).Bild, Diagramm, Schrift. In Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, 115-135. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 126f.). Operative Bildlichkeit: Von der Grammatologie zu einer Diagrammatologie? Reflexionen über erkennendes ‚Sehen’. In Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, 94-123. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 102).[5] Einige Bildtheoretiker präferieren allerdings einen Syntax-Begriff, der sogar so weit (bzw. so schwach) ist, dass er auch auf Bilder angewandt werden kann und sich dann entsprechend nicht zur besonderen Kennzeichnung von Diagrammen eignet.[6] Jedoch gibt es auch bei diagrammatischen Darstellungen Unterschiede, was die Strenge der Syntax angeht. Bei einigen Diagrammen gibt es sehr klare Regeln für deren korrekte Erstellung und Lesung. Verfahren wie die Vorformatierung der diagrammatischen Inskriptionsflächen durch Koordinatensysteme, in die dann Messwerte eingetragen werden, kreieren eine solche relativ strenge Syntax. Für logische Diagramme (etwa die ikonische Logik von Peirce[7]) gilt dies in noch stärkerem Maße. Demgegenüber gibt es jedoch auch diagrammatische Darstellungen, die einer weniger strengen Syntax folgen. Das heißt: dort existieren recht freie, offene, provisorische bzw. transitorische Regeln der Produktion und der Lektüre dieser Diagramme.[8] Als Laboratorien epistemischen Schreibens/Zeichnens etwa sind diese Arten diagrammatischer Artefakte oftmals sogar gerade darauf angelegt, spielerisch zu verfremden und dabei möglichst viele kreative Assoziations- und Interpretationsspielräume zu eröffnen.[9] c) Die Operativität und Pragmatik von DiagrammenEin dritter wesentlicher Aspekt ist die „Operativität“ der Diagramme (bzw. des Diagrammatischen) und deren – insbesondere auch im Vergleich zu Bildern – besondere pragmatische Dimension. „Diagramme muss man sich (…) immer auch vom Prozess der Produktion her verständlich machen. Die Geste der Setzung oder das Verfahren der Einschreibung müssen als integraler Bestandteil der Repräsentation mitgedacht werden“, schreibt Steffen Bogen ([Bogen 2005b]Bogen, Steffen (2005).Schattenriss und Sonnenuhr. Überlegungen zu einer kunsthistorischen Diagrammatik. In Zeitschrift für Kunstgeschichte, 68, 2, 153-176. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 164). Wer diagrammatische Darstellungen begreifen will – so Heiner Willharm –
Operative Bildlichkeit: Von der Grammatologie zu einer Diagrammatologie? Reflexionen über erkennendes ‚Sehen’. In Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, 94-123. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 104). Schriften, Graphen, Karten stellen nicht nur etwas dar, „sondern eröffnen damit Räume, um das Dargestellte auch zu handhaben, zu beobachten, zu explorieren“ ([Krämer 2009a]Krämer, Sybille (2009). Operative Bildlichkeit: Von der Grammatologie zu einer Diagrammatologie? Reflexionen über erkennendes ‚Sehen’. In Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, 94-123. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 104). Diagrammatische Darstellungen sind performativ. Indem man an Diagrammen graphische Manipulationen vollzieht bzw. nachvollzieht, wird etwas sichtbar, einsichtig und übersichtlich, was vorher nicht sichtbar, einsichtig bzw. übersichtlich war. Diagramme müssen, so könnte man Wittgenstein adaptierend formulieren, immer als “Diagrammspiele” aufgefasst, also aus der Praxis des Umgangs mit ihnen verständlich gemacht werden. Für einige Diagramm-Theoretiker beruht die Stärke der Diagramme sogar auf deren besonderer „pragmatischer Potenz“:
Zur Materialität der DiagrammeAbschließend noch zwei Bemerkungen zur Materialität der Diagramme und damit noch einmal zur Extension des Diagramm- bzw. des Diagrammatik-Begriffs: Diagramme werden – wie Bilder – von den meisten Autoren des Diagrammatik-Diskurses primär als zweidimensionale Artefakte verstanden. Natürlich ist auch diese Fokussierung eine begriffliche Entscheidung, deren Konsequenzen bedacht werden müssen; genauso wie es in Bezug auf das Phänomen Bild eine begriffliche Entscheidung ist (deren Kosten-Nutzen-Bilanz man abzuwägen hat), den Begriff des Bildes eng mit der Zweidimensionalität der Bildfläche zu verkoppeln und Bilder im engeren Sinne von den dreidimensionalen Bildern – etwa Werken der Plastik innerhalb der bildenden Kunst – abzugrenzen. Analoges lässt sich auch für die Verwendung des Begriff »Diagramm« sagen: Eine Reihe von funktionalen Eigenschaften des Diagrammatischen trifft durchaus auch für bestimmte dreidimensionale Artefakte zu. Man denke an dreidimensionale Strukturmodelle, wie das DNS-Modell das Watson und Crick entwickelt – und das heißt auch: real in 3D gebastelt – haben. Andererseits spricht aber auch vieles dafür, die besondere Übersichtlichkeit, die der Blick von oben auf eine zweidimensionale Diagramm-Darstellungsfläche ermöglicht, und die besonders einfachen (grafischen) Rekonfigurationsmöglichkeiten von Elementen eines Diagramms auf der Schreibfläche auch begrifflich hervorzuheben. Diagrammatik als Präphilosophie und Metaphysik. Von einer schriftbildlichen Perspektive zu einer Perspektivierung von Schriftbildlichkeit. In Schriftbildlichkeit, 37-45, Sprache und Literatur, Themenheft, 107/2011. Eintrag in Sammlung zeigen), Filmen, Bildern, Sounds – aufzufinden versucht, sondern z.B. auch in der menschlichen Kognition selber verortet ([Bauer & Ernst 2010a]Bauer, Matthias & Ernst, Christoph (2010). Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld: transcript. Eintrag in Sammlung zeigen, [Stjernfelt 2007a]Stjernfelt, Frederik (2007). Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics. Dordrecht: Springer. Eintrag in Sammlung zeigen; vgl. auch Image Schemata). Auch hier gilt es jedoch, die Kosten und den Nutzen dieser Ausweitung bzw. dieser stärker metaphorischen Verwendung des Begriffs abwägend im Auge zu behalten ([Birk 2012b]Birk, Elisabeth (2012). Review to: Frederik Stjernfelt: Diagrammatology: An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics, New York 2007.. Eintrag in Sammlung zeigen). Siehe auch:
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Anmerkungen
[Bauer & Ernst 2010a]: Bauer, Matthias & Ernst, Christoph (2010). Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld: transcript.
[Birk 2012b]: Birk, Elisabeth (2012). Review to: Frederik Stjernfelt: Diagrammatology: An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics, New York 2007. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Rainer Totzke [54], Joerg R.J. Schirra [32], Dimitri Liebsch [30] und Christoph Martin [2] — (Hinweis) Zitierhinweis: in Literatursammlung. Eintrag in Sammlung zeigen Totzke, Rainer (2013). Diagramm. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024). |