Evidenz, visuelle/ikonische
Unterpunkt zu: Grundbegriffe der Bildlichkeit
Evidenz im AllgemeinenDie Bestimmung von Evidenz (Offenkundigkeit, unmittelbares Einleuchten, Augenscheinlichkeit, Richtigkeit, auch Wahrheit) im Rahmen eines bildphilosophischen Begriffsverständnisses trifft nur einen Ausschnitt aus dem Gebrauch und der Geschichte des Begriffs. Denn Evidenz im Allgemeinen ist „einerseits dem auffassenden Subjekt, andererseits der objektiven Verbindlichkeit des Aufgefaßten, einerseits dem Urteilserlebnis und dem Akt des Zustimmens („assensus evidens“), andererseits dem Urteilsinhalt zugeordnet worden und weist insofern … eine Ambivalenz auf …“ ([Halbfass 1972a]: S. 6199). In dieser Weite bezieht sich der Begriff auf mehr als auf innere und äußere Bilder und deren Wahrnehmung; er bezieht sich auf das Phänomen der Gewissheit bzw. des Einleuchtens überhaupt. Die Frage nach der „evidentiellen Gewissheit“ stellt sich „vom Wissen her“ ([Campe 2006a]: S. 27), das ist wesentlich. Der Begriffsgebrauch ikonischer Evidenz verlangt daher nach einer Klärung des Verhältnisses von Anschauung und intellektueller Erkenntnis, d.h. es müssen erkenntnistheoretische Grundsatzfragen gestellt werden.
Visuelle/ikonische Evidenz als ein SonderfallWill man angeben, was ikonische Evidenz ist, so ist es erforderlich zu bestimmen, welcher Status der Präsenz der Anschauung gegenüber intellektueller Erkenntnis oder als Ermöglichung dieser zukommt bzw. in welcher anderen Art und Weise beide zusammenhängen. Baumgarten z.B. löst diese Fragen, indem er intellektuelle Erkenntnis und einleuchtende Anschauung in zwei Evidenzbegriffen fasst, die für unterschiedliche Grade von Gewissheit stehen sollen. Er spricht von Evidenz als überzeugender Gewissheit einerseits, d.i. intellektuelle Gewissheit, und von überredender Gewissheit andererseits, d.i. ästhetisch-anschauliche Gewissheit. Beide Weisen der Evidenz befinden sich lt. Baumgarten in einem Spannungsverhältnis. Dieser „terminologischen Spannung im Gebrauch des Wortes Evidenz“, die sich aus dem Verhältnis von Philosophie und Rethorik (aus Letzterer stammt der Begriff der Evidenz ursprünglich) ergebe, „soll ein Raum der Entfaltung gegeben werden“ ([Campe 2006a]: S. 30). Das Subjekt kommt im 17. Jahrhundert in einer neuen Weise ins Spiel, wenn ganz besonders auf sein inneres Erleben im Wahrnehmungsprozess geschaut wird. Seither ist Evidenz nicht mehr nur das Offenkundige selbst, sondern sie wird vielmehr auch als subjektiver Bewusstseinszustand aufgefasst, in dem etwas offenkundig ist (vgl. [Campe 2006a]: S. 28, vgl. [Locke 1975a]: S. 591-594). So fallen bei Franz Brentano im 19. Jahrhundert Wahrheit und Evidenz sogar vollständig zusammen im Sinne der Bestimmung einer völligen emotionalen Zustimmung des Subjekts ([Brentano 1930a]: S. 137-150). Edmund Husserl, auf den sich auch aktuelle Versuche der Bestimmung von Evidenz beziehen (vgl. z.B. [Boehm 2008a] und [Siegmund 2007a]), setzt Wahrheit und Evidenz nicht mehr in eins, sondern bestimmt Evidenz als erfüllte Intentionalität. Dem Anschauungserlebnis wird damit von Husserl eine Gerichtetheit attestiert, die immer schon mit einer Sinnunterstellung verknüpft ist ([Husserl 1993a]: S. 8-127). In Bezug auf (äußere) Bilder stellt Husserl fest: „Das Bild … bezieht sich auf die Sache durch Ähnlichkeit“ ([Husserl 1993a]: S. 54).
Evidenz und BildhaftigkeitAmbivalenzen wie die eingangs genannten spiegeln sich in Versuchen wider, Evidenz konkret als einen bildtheoretischen Begriff zu fassen. Lessing vertritt die Ansicht, sie sei eine Eigenschaft, die man besonders von Bildern erwarte, und verbindet somit Evidenz mit Bildhaftigkeit schlechthin. Er beansprucht diese allerdings nicht nur für die gemalten, sondern mehr noch für die poetischen Bilder. Das „Material … [wird] zum (ästhetischen) Begriff des Bildes“ ([Campe 2006a]: S. 38). Die erkenntnistheoretische Schwierigkeit besteht hier wie in vielen Erläuterungen zur ästhetischen/ikonischen Evidenz darin, zu verstehen, was damit gesagt ist, dass Material, mit dem sowohl Bilder als Gegenstände wie auch innere Vorstellungsbilder gemeint sind, zum Begriff werden kann. Einen weiteren Versuch, Evidenz als Bildhaftigkeit zu lesen, unternimmt Gottfried Boehm, der sie mit Sichtbarkeit verbindet. Aus der Sichtbarkeit, die in einem starken Sinne, nämlich als Einleuchten aufgefasst wird, lässt sich allerding noch nicht (wie Boehm es versucht) auf die Kategorie der Bilder schließen, denn sichtbar sind zunächst nicht nur Bilder, sondern vieles mehr. „Wie läßt sich die Struktur der Evidenz aus der Sphäre der Wahrnehmung in die des Bildes übertragen? Die ikonische Darstellung und ihre Logik … lassen sich auf die Logik der Wahrnehmung zurückbeziehen“ ([Boehm 2008a]: S. 17). In dieser Formulierung Boehms behält Evidenz die Ambivalenz zwischen subjektiver Anschauung und objektiver Augenscheinlichkeit, und es stellt sich zunächst die Frage nach deren genauem Verhältnis. Boehm entscheidet sich unter Rückgriff auf Husserls Intentionalitätsbegriff dafür, Evidenz auf ein „zugrundeliegendes Orientiertsein“ zurückzuführen, auf welches sich die Geltung der Evidenz stütze, er entscheidet sich somit für die subjektive Akzentuierung des Begriffs ([Boehm 2008a]: S. 22). Damit wird aber die Spezifik einer ikonischen/visuellen Evidenz hinfällig. Denn in der Synthese von „Sicht und Ansicht“ müsste erstens Zeugenschaft von etwas als etwas verankert werden, wenn der Witz des Evidenzbegriffs nicht geopfert werden soll. Aus der Bildhaftigkeit aller Evidenz als innerer Anschauung ist zweitens noch nicht auf die spezifische Bildlichkeit von Bildern zu schließen, die als Gegenstände evident sein können. Diese Spezifik der Bilder bestimmt Boehm mit Hilfe der „Dichte der Materialität“ ([Boehm 2008a]: S. 30). Qua Materialität sowie aufgrund ihres Gemachtseins „liefern [Bilder] eine Vorgabe des Erwartbaren und zugleich deren gegebenenfalls evidente Erfüllung“ (ebd.).
Weitere BegriffsvariantenDie Weite des Evidenzbegriffs und damit die Variationsbreite möglicher Konzeptualisierungen der Bildlichkeit als innerer Anschauung im Verhältnis zu Sprache und Begriff zeigt sich auch daran, dass Evidenz z.B. als „überkomplexe Zeichenfülle“ verstanden wird, die „jenseits der Mangellogik des Begriffs“ angesiedelt sei ([Pfotenhauer et al. 2005a]: S. IX, vgl. auch [Sommer 1987a]). Abhängig ist solch eine Bestimmung vom jeweiligen Verständnis, wie Sprache sein soll, jedoch ist ja die Pointe der Evidenz, dass sich etwas erschließt, etwas, dem Sinn bzw. Bedeutung zukommt. So scheint es eher kontraintuitiv, unter Evidenz eine „Undarstellbarkeit des Ereignisses“ ([Öhlschläger 2005a]) zu verstehen oder etwas, das sich im „emphatischen Sehen“ als etwas ereignet, „weil die Reflexivität vorübergehend suspendiert ist“ ([Riedel 2005a]: S. 196). Auch in einer „Bildproduktion des Unbewussten“ ist Sinnhaftigkeit mit am Werk (vgl. [Pfotenhauer et al. 2005a]).
Differenz von Evidenz und Wahrheit / Fall fehlender Autorschaft von BildernIm Gegensatz zur Abwesenheit von sprachlich verfasster Reflexivität ist Evidenz als eine performativ erfahrbare Eigenschaft des Augenscheinlichwerdens von etwas als etwas aufzufassen, bei der Sinn bzw. Bedeutung mit den materialen Eigenschaften und dem Phänomen des Wahrgenommenen verschränkt bleibt. Dass Kunstwerke nicht nur etwas evident machen, sondern selbst in ihrer Art, wie sie gemacht sind, evident sind – und der Bereich der Kunst kann hier als paradigmatisch betrachtet werden –, verweist auf die Differenz von Evidenz und Wahrheit. Evidenz ist nicht wie Wahrheit sprachlicher Aussagen an Geltungsforderungen gebunden, sondern vielmehr an in der Wahrnehmung erlebte Anschauung (vgl. [[Siegmund 2007a]). Es sind die Wahrnehmungen von unkünstlerischen Bildern (als äußeren Gegenständen), für welche diese Beschreibung der Evidenz nicht mehr vollständig zutrifft, denn nicht allen Bildern lässt sich Evidenz unterstellen. Es gibt Bilder, denen jede Form der Autorschaft abgesprochen werden muss (z.B. Bilder, die von Webcams und anderen Geräten erzeugt werden), und es gibt Bilder, die nur noch von Spezialisten gedeutet werden können (z.B. Untersuchungsergebnisse in der Medizin). Auf solche Bilder trifft die Rede von der „Vorgabe des Erwartbaren“ und der „gegebenenfalls evidenten Erfüllung“ (vgl. [Boehm 2008a]) dessen, was erwartbar war, nicht mehr zu.
Allgemeines FazitGenerell lässt sich in Bezug auf Evidenz von einem „gründenden Verhältnis von sinnlicher Anschauung zu begrifflicher Deutung sprechen“, womit über Bilder aber noch nichts Spezifisches gesagt ist, außer dass (mit Husserl gesprochen) eine „erfüllte Intentionalität in der Wahrnehmung“ von Bildern ein konkreter Fall neben anderen ästhetischen und nichtästhetischen Wahrnehmungsvollzügen ist (vgl. [Siegmund 2007a]: S. 191). |
Anmerkungen
[Boehm 2008a]: Boehm, Gottfried (2008). Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz. In: Mersman, Birgit & Spies, Christian (Hg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. München: Wilhelm Fink, S. ???.
[Brentano 1930a]: Brentano, Franz (1930). Wahrheit und Evidenz. Hamburg: ???, (1975??). [Campe 2006a]: Campe, R. (2006). Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant. In: Peters, S. & Schäfer, M.J. (Hg.): Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen. Bielefeld: ???, S. 5-43. [Halbfass 1972a]: Halbfass, W. (1972). Evidenz. In: Gründer, K. & Ritter, J. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2. Basel: ???, S. Sp. 829-834. [Husserl 1993a]: Husserl, E. (1993). Logische Untersuchungen. Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis. Tübingen: ???, Teil II/Bd. 2. [Locke 1975a]: Locke, J. (1975). An Essay Concerning Human Understanding. Oxford: ???, hg. von Niddich, P. H.. [Öhlschläger 2005a]: Öhlschläger, C. (2005). Evidenz und Ereignis. Musils poetische ‚Momentaufnahmen‘ im Kontext der Moderne. In: Pfotenhauer, H.; Riedel, W. & Schneider, S. (Hg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg: ???, S. 203-216. [Pfotenhauer et al. 2005a]: Pfotenhauer, H; Riedel, W. & Schneider, S. (Hg.) (2005). Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg: ???. [Riedel 2005a]: Riedel, W. (2005). Endogene Bilder. Anthropologie und Poetik bei Gottfried Benn. In: Pfotenhauer, H.; Riedel, W. & Schneider, S. (Hg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg: ???, S. 163-202. [Siegmund 2007a]: Siegmund, J. (2007). Die Evidenz der Kunst. Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation. Bielefeld: ???. [Sommer 1987a]: Sommer, M. (1987). Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt am Main: ???. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [34] und Judith Siegmund [11] — (Hinweis) Zitierhinweis: [Siegmund 2013g-a]
[Siegmund 2013g-a]: |