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Aktuelle Version vom 15. Dezember 2019, 14:39 Uhr
Unterpunkt zu: Wahrnehmungstheorien: Übersicht
Glossar-English:Gestalt[1]
Historische Wurzeln und Entstehung der GestaltpsychologieDer Begriff »Gestalt« wurde von Christian von Ehrenfels, einem Schüler von Franz Brentano, geprägt [Ehrenfels 1890a]Ehrenfels, Christian von (1890).Über Gestaltqualitäten. In Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 14, 242-292. Eintrag in Sammlung zeigen. Brentano hatte die Wichtigkeit der direkten Erfahrung betont, da er die Aufgabe der Psychologie (als empirischer Wissenschaft) in der Beschreibung derjenigen Phänomene sah, die man direkt durch innere Wahrnehmung erlebt. Ehrenfels nannte diese Art Psychologie ‘deskriptive Psychologie’ manchmal auch ‘Phänomenologie’ und setzte sie in Gegensatz zur genetischen Psychologie, die psychologische Phänomene aus der Perspektive der dritten Person untersucht. Ehrenfels formulierte seine einflussreichste Idee im Rahmen des Problems der komplexen Wahrnehmung. Die atomistische Psychologie des 19. Jahrhunderts hatte die Möglichkeit einer Addition von einfachen Wahrnehmungen vorausgesetzt. Ernst Mach teilte diesen Standpunkt und behauptete, dass nur die einfachen Elemente unserer Empfindungen real seien, allerdings erkannte er das Problem der komplexen Wahrnehmung an. Nach Ehrenfels hingegen können wir die Wahrnehmung von komplexen Formen, Melodien etc. nur verstehen, wenn wir von einer einfachen und unmittelbar zusammengesetzten Wahrnehmung ausgehen; und das beinhaltet die Aufgabe der atomistischen Sichtweise. Die Gestaltpsychologie entwickelte ihre grundsätzlichen Ideen vor dem Hintergrund zweier rivalisierender Schulen: dem Strukturalismus und dem Behaviorismus. Um dem Phänomen der Kognition näherzukommen – so der Grundgedanke der Gestaltpsychologie – soll sich die Untersuchung weder allein auf die geistig-mentalen Aspekte (wie im Strukturalismus) noch ausschließlich allein auf die Verhaltensaspekte wie im Behaviorismus beziehen, sondern stets auf die Ganzheit des bewussten Erlebens. Sie besteht aus mentalen und physikalischen Aspekten, und dementsprechend beziehen sich bewusste Erfahrung und zerebrale Prozesse aufeinander. Diese Voraussetzungen bedeuten methodologisch, dass gestaltpsychologische Untersuchungen ihren Ausgangspunkt nicht allein oder primär bei der Erfassung und Analyse von Sinnesdaten nehmen können, sondern versuchen müssen, die gegebenen Phänomene in ihrer Ganzheit und Komplexität zu berücksichtigen. Bei Wahrnehmungsexperimenten bemühen sich Gestaltpsychologen deshalb darum, dafür zu sorgen, dass die Personen, die am Experiment teilnehmen, sich in einer natürlichen, alltäglichen Umgebung befinden. Wenn diese Kriterien erfüllt sind, spricht man in der Gestaltpsychologie vom ‘biotischen Experiment’. Die Psychologen der sogenannten Berliner Schule, Max Wertheimer, Kurt Koffka und Wolfgang Köhler, werden als die wichtigsten Vertreter der Gestaltpsychologie betrachtet. Zentral für sie ist die Rolle von Gruppierungen, wobei die Eigenschaften von Stimuli uns zwingen, unsere jeweiligen (z.B. visuellen) Wahrnehmungen von vornherein in bestimmter Weise anzuordnen. 1912 entdeckte Wertheimer das sogenannte Phi-Phänomen. Nachdem Wertheimer das Phänomen der von einem Pol zu einem anderem springenden Lichter auf einem Eisenbahnzug bemerkt hatte, führte er weitere Versuche durch. Sie belegten, dass wir, wenn zwei Lichter mit einer bestimmten Geschwindigkeit aufleuchten, ein einzelnes Licht wahrnehmen, das sich hin und her bewegt. Diese optische Täuschung ist Indiz dafür, dass wir Informationen “erfinden”, die nicht existieren, wenn wir Bewegung wahrnehmen. Wertheimer entwickelte die Grundgesetze der Organisation der visuellen Information wie z.B. die Gesetze der Nähe, der Ähnlichkeit, der Geschlossenheit und der Einfachheit.
Der Begriff der GestaltDas deutsche ‘Gestalt’ entspricht dem englischen ‘form’ oder ‘shape’. Auf einen Vorschlag von E. B. Tichener hat Harry Helson ‘configuration’ als englische Übersetzung empfohlen. Der Ausdruck leitet sich metaphorisch vom germanischen ‘stalla’ (ein Platz zum Stehen) ab und hat damit dieselbe Wurzel wie das englische ‘stall’. Die normale Bedeutung von ‘Gestalt’ ist ‹external or visible form›. Der Ausdruck bezeichnet sowohl eine Struktur als auch einen Komplex (vgl. [Smith 1988a]Smith, Barry (1988).Gestalt Theory. An Essay in Philosophy. In Foundations of Gestalt Theory, 11-81. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 14).
Wir machen häufig die Erfahrung, dass wir wahrnehmen, dass Dinge dieselbe Gestalt besitzen, obwohl sie an sich sonst nichts gemein haben.
Infolgedessen kann man die Gestalt als das Muster oder die Ganzheit eines Phänomens begreifen, das/die mehr ist als die Summe seiner/ihrer Teile. Die Gestalt hat viele Facetten, von denen je nach Perspektive unterschiedliche in den Fokus rücken. Wie Harry Helson zusammenfasst:
Arbeitsgebiete der GestaltpsychologieDie Experimente und Untersuchungen der Gestaltpsychologen ebneten den Weg für eine Vielzahl von neuen Disziplinen und Einsichten. Der späte Wertheimer setzte sich mit Fragen des Problemlösens auseinander und betonte, dass die Lösung erst mit dem Verstehen des Problemganzen einsetzt und dass erst nachträglich Einzelheiten in Betracht gezogen werden. Demnach beruht Lernen auf der übergreifenden Struktur des jeweiligen Problems. Auch Köhler konzentrierte seine Untersuchungen auf das Lernen und die Problemlösung. Er führte Versuche mit Tieren (Affen und Hühnern) durch, die einige Belege dafür lieferten, dass auch Tiere zum verstehenden Lernen befähigt sind, dass auch sie Gestalten lernen können. Koffka hat den Begriff Gedächtnisspur für die Einrichtung der Gedächtnisfunktion in den Rahmen der Gestaltpsychologie eingebracht: Wenn eine Erfahrung gemacht worden ist, bleibt ihr Effekt als eine Spur im Gehirn. Diese Spur beeinflusst zukünftige Erfahrungen. Der Prozess einer in reiner Form ausgelösten Erfahrung geschieht nur einmal. Danach interagiert jede neue Erfahrung mit einer früheren Spur. Ein Spursystem baut sich auf. Kurt Zadek Lewin versuchte auf der Grundlage der Gestaltprinzipien eine Theorie der Motivation in Übereinstimmung mit der Feldtheorie der Physik zu entwickeln. Der Theorie zufolge gehören Verhältnisse und kognitive Prozesse zu einem “Feld”, in dem sich jedes Element auf die anderen Elemente auswirkt. Wir können solche Felder auf vielen verschiedenen Ebenen, in verschiedenen Bereichen beobachten: Die von einem Individuum wahrgenommene Umwelt wäre ebenso als ein solches Feld zu analysieren wie auch (auf einer anderen Ebene) eine ganze Gesellschaft. In Bezug auf diese letzte Kategorie wird Lewin als Begründer der Sozialpsychologie angesehen. Film als Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen) und Merleau-Ponty ([Merleau-Ponty 1966a]Merleau-Ponty, Maurice (1966). Phänomenologie der Wahrnehmung (1945). Berlin: Walter de Gruyter. Eintrag in Sammlung zeigen, [Merleau-Ponty 2006a]Merleau-Ponty, Maurice (2006). Das Kino und die neue Psychologie (1947). In Philosophie des Films, 70-84. Eintrag in Sammlung zeigen), im Gebiet der Linguistik, nämlich in John Lakoffs Konzept der »Kategorisierung« ([Lakoff 1987a]Lakoff, George (1987). Women, Fire, and Dangerous Things – What Categories Reveal about the Mind. Chicago: Chicago University Press. Eintrag in Sammlung zeigen) sowie in der Theorie der konzeptuellen Metapher von Mark Johnson ([Lakoff & Johnson 1980a]Lakoff, George & Johnson, Mark (1980). Metaphors We Live By. Chicago & London: University of Chicago Press. Eintrag in Sammlung zeigen).
Prinzipien und Gestaltgesetze der visuellen WahrnehmungWas die visuelle Wahrnehmung betrifft, so hat die Gestaltpsychologie einige Schlüsseleigenschaften herausgearbeitet. Diese Gestaltgesetze oder Prinzipien sind wichtige Leitlinien für die visuellen Künste und für das Design. Je nach Akzentsetzung und Entstehungszeit sind diese Prinzipien jeweils etwas anders formuliert worden. Zu den wichtigsten Prinzipien gehört zunächst das der Emergenz. Der Terminus verweist darauf, dass ein Gegenstand in unserer Umwelt von uns sofort als eine Ganzheit wahrgenommen wird. Das Erkennen eines Hundes geschieht nicht durch das aufeinanderfolgende Erkennen seiner einzelnen Bestandteile, sondern durch das Erkennen bestimmter Muster. Der generative Aspekt der Wahrnehmung ist die Reifikation. Dies bedeutet, dass die durch unsere Erfahrung bereits “vorgemusterte” Wahrnehmung visueller Artefakte uns mehr räumliche Informationen liefert als der bloße sinnliche Reiz. Wir erkennen bestimmte Formen bzw. Figuren (Gestalten), obwohl diese keine echten Konturen besitzen, wie etwa das Beispiel von Kaniszas Dreieck (benannt nach Gaetano Kanisza) zeigt. Synoplevde Figurer. Kopenhagen: Gyldendalske. Eintrag in Sammlung zeigen), oszillieren die Figur (die substantielle Erscheinung des Gegenstandes) und der Grund (das allgemeine Umfeld des Gegenstandes) gemäß der jeweiligen Interpretation. Ein nächstes von der Gestaltpsychologie herausgearbeitetes Wahrnehmungsprinzip ist das der Invarianz: Es ist uns möglich, einfache geometrische Gegenstände unabhängig von unserer Sehperspektive und unabhängig von elastischen Deformationen zu erkennen. Das Prägnanzgesetz wiederum besagt, dass wir unsere Erfahrung auf eine einfache, symmetrische, regelmäßige und ordentliche Weise aufbauen. Ferner gibt es sechs weitere Prinzipien der Gestaltwahrnehmung: Nähe, Ähnlichkeit, gemeinsames Schicksal, gute Kontinuität, Geschlossenheit und Symmetrie. Das Gesetz der Nähe besagt, dass Gegenstände mit näherem Abstand zueinander als zusammengehörig wahrgenommen werden. Das Gesetz der Ähnlichkeit meint, dass Gegenstände, die sichtbare Eigenschaften (z.B. Form, Farbe, Größe, Orientierung) teilen, als zusammengehörig wahrgenommen werden. Das Gesetz des gemeinsamen Schicksals artikuliert die Tatsache, dass Gegenstände, die sich in eine Richtung oder auf eine ähnliche Weise bewegen, von uns als eine Einheit wahrgenommen werden. Das Gesetz der guten Kontinuität bezieht sich auf unsere Vorliebe für sich fortsetzende, durchziehende Gestalten: Im Fall von gekreuzten Linien nehmen wir zwei sich durchkreuzende Linien wahr statt vier sich an einem Punkt treffende Linien. Dem Prinzip der Geschlossenheit zufolge sehen wir ganze Figuren trotz fehlender Information: Wir gestalten unsere visuelle Information so, dass wir damit eine Ganzheit aufbauen können. Das Gesetz der Symmetrie schließlich bezieht sich auf die Figur-Grund-Beziehung. Wenn wir Gegenstände wahrnehmen, nehmen wir sie als symmetrische Gestalten wahr, die um ihr Zentrum herum geformt sind. Deswegen nimmt man symmetrische Bilder sogar aus größerer Entfernung als zusammengehörig wahr, und deswegen werden auch symmetrische Räume als Figuren auf einem asymmetrischen Hintergrund wahrgenommen. |
Anmerkungen
[Arnheim 1932a]: Arnheim, Rudolf (2002). Film als Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
[Ehrenfels 1890a]: Ehrenfels, Christian von (1890). Über Gestaltqualitäten. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Band: 14, S. 242-292. [Helson 1925a]: Helson, Harry (1925). The Psychology of Gestalt. The American Journal of Psychology, Band: 100, Nummer: 3/4. [Lakoff & Johnson 1980a]: Lakoff, George & Johnson, Mark (1980). Metaphors We Live By. Chicago & London: University of Chicago Press. [Lakoff 1987a]: Lakoff, George (1987). Women, Fire, and Dangerous Things – What Categories Reveal about the Mind. Chicago: Chicago University Press. [Merleau-Ponty 1966a]: Merleau-Ponty, Maurice (1966). Phänomenologie der Wahrnehmung (1945). Berlin: Walter de Gruyter. [Merleau-Ponty 2006a]: Merleau-Ponty, Maurice (2006). Das Kino und die neue Psychologie (1947). In: Liebsch, D. (Hg.): Philosophie des Films. Paderborn: Mentis, S. 70-84. [Rubin 1915a]: Rubin, Edgar (1915). Synoplevde Figurer. Kopenhagen: Gyldendalske. [Smith 1988a]: Smith, Barry (1988). Gestalt Theory. An Essay in Philosophy. In: Smith, Barry (Hg.): Foundations of Gestalt Theory. München, Wien: Philosophia-Verlag, S. 11-81. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Dimitri Liebsch [49] und Joerg R.J. Schirra [19] — (Hinweis) Zitierhinweis: in Literatursammlung. Eintrag in Sammlung zeigen Kondor, Zsuzsanna (2013). Gestalt. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024). |