Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
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Unterpunkt zu: Auswirkungen der Bildlichkeit


Die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ‘Ähnlichkeit’

Häufig charakterisiert als “Gleiches im Ungleichen” gilt Ähnlichkeit in vielen bildtheoretischen Ansätzen als besonders relevanter Begriff, wenn nicht gar als ein zentraler Grundbegriff (⊳ Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen); für eine entsprechende Theorie kann nur dann von einem Wesen behauptet werden, es verwende etwas als Bild, wenn es in der Lage ist, Ähnlichkeit zwischen Gegenständen zu erkennen. Hinter dieser Formulierung entbirgt sich bei genauerer Betrachtung eine recht komplexe Fähigkeit, deren Tragweite erst bei einer begriffsgenetischen Rekonstruktion klar hervor tritt. Denn auf Ähnlichkeit reagieren offensichtlich bereits recht niedere Organismen, wenn sie etwa in ethologischen Experimenten auf künstliche Reize oder in freier Natur auf Fälle von Mimikry[1] reagieren. Doch bleibt dabei gerade fraglich, ob jene Wesen tatsächlich ein Vorkommnis von Ähnlichkeit erkennen, ja, ob sie überhaupt dazu in der Lage sind, Ähnlichkeit im eigentlich gemeinten Sinn zu erkennen, wird hierbei doch Ähnlichkeit letztlich einfach im Sinne von Gleichheit für jene Wesen verwendet, während die Abweichungen von der Gleichheit nur dem menschlichen Beobachter bewußt sind.

Je nach Kontext handelt es sich hier in der Tat um unterschiedliche, wenn auch miteinander verwandte Begriffe, die mit demselben Ausdruck ‘Ähnlichkeit’ gemeint sein können. Insbesondere sollte der bildtheoretische Begriff »Ähnlichkeit« dem Begriff der Gleichheit bzw. Gleichartigkeit von Gegenständen einerseits und dem der Identität andererseits gegenüber gestellt werden.

Bereits in dieser kurzen Einleitung wird deutlich, daß sich auch die Diskussion um Gleichheit, Ähnlichkeit und Identität sinnvoll nur zwischen den beiden Polen der beurteilten Gegenstände und ihren für ein Wesen erkennbaren Eigenschaften einerseits und den beurteilenden Wesen und ihren Kompetenzen zum Erkennen von Gegenständen andererseits wird führen lassen. Denn nur wer beispielsweise überhaupt dazu fähig ist, zwischen der momentanen Erscheinung eines Objekts und dem Objekt unabhängig von seiner jeweiligen Erscheinung zu unterscheiden, kann einen Gegenstand als einer anderen Art von Gegenständen ähnlich verstehen, d.h. als in seiner aktuellen Erscheinung jenen anderen Objekten gleich.


Begriffsgenetische Betrachtung zu Ähnlichkeit

Die Verklammerung von Objekteigenschaften und Betrachterkompetenzen läßt sich am ehesten in einer handlungstheoretischen Bestimmung des Ähnlichkeitsbegriffs erfassen: Die Reaktionen und Reaktionsdispositionen, die ein Wesen bei Anwesenheit eines Gegenstands in seinem Umfeld zeigt, bilden dann die Grundlage der begriffsgenetischen Analyse.

Ausgangspunkt: Ähnlichkeit als Gleichartigkeit

Die Fähigkeit, etwas wahrnehmen zu können, ist wohl die unstrittige Basis, von der begriffsgenetische Betrachtungen des Begriffs »Ähnlichkeit« ausgehen können.[2] Dass eine gewisse Wahrnehmung bei einem anderen Wesen vorliegt, erkennen wir indes nur an dessen zugehörigen Reaktionen. So legt die durch Plinius d. J. erzählte Anekdote von dem antiken Maler Zeuxis auf den ersten Blick nahe anzunehmen, dass Vögel Ähnlichkeit erfassen: Plinius zufolge hatte Zeuxis seine Darstellung von Trauben so ähnlich gestaltet, dass einige Vögel herbei flogen, um nach den scheinbaren Früchten zu picken ([Plinius 2004a]Literaturangabe fehlt.
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). Auch dass Gegenstände in einigen Aspekten gleich, in anderen ungleich sind ist nur relativ zu den entsprechend gleichen oder verschiedenen Reaktionen des betrachteten Wesens bestimmt ([Gallistel 1980a]Literaturangabe fehlt.
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).

Ein einfacher Wahrnehmungsbegriff ergibt sich für Wesen, für die die Umwelt bereits in Objekte gegliedert ist, ohne daß sie aber mit diesen Objekten bereits als mit individuierten Gegenständen umgehen können.[3] Zwar werden auf dieser begrifflichen Ebene schon verschiedene Nah- und Fernreize einerseits und unterschiedliche Verhaltensbereiche andererseits miteinander assoziiert, so daß von einem dem Organismus gegenüberstehenden Objekt als Teil seiner Umwelt gesprochen werden kann wie auch von dessen Wahrnehmung: Wasser aus der Nähe und aus der Ferne gesehen, gehört, gefühlt etc.; Wasser zum Trinken, zum Baden, zum Schwimmen etc. Gleichwohl gilt auch hier, daß Schein und Sein jeweils zusammenfallen. Wahrnehmung heißt hier stets, Ähnliches zusammen zu gruppieren

Abbildung 1: Zwei Arten von Ähnlichkeit

Auf das obige Beispiel der Vögel des Zeuxis bezogen, die im Wesentlichen auf dieser Komplexitätsstufe begriffen werden können, ist für die handlungstheoretische Bestimmung des Begriffs der Ähnlichkeit entscheidend, dass das Verhalten der Vögel als ein der aktuellen Verhaltenssituation nicht adäquates Verhalten betrachtet wird (vgl. Abb. 1[4]). Das Verhalten würde jedoch, so begreifen wir Beobachter, zu einem ganz anderen Kontext durchaus gut passen – einer Verhaltenssituation, in der an Stelle des Bildträger tatsächlich Futter wäre. Das Verhalten der Vögel zeigt uns, mit anderen Worten, dass sie sich vom falschen Schein täuschen lassen. Dass er falsch ist ist dem Beobachter klar. Die Vögel durchschauen hingegen ihr Verhalten nicht selbst als Täuschung. Zwar werden sie sich auch nach einiger Zeit “enttäuscht” abwenden. Doch bleibt für sie dann an der Stelle, an der sie eben noch Trauben wahrgenommen hatten (B-Wahrnehmung in Abb. 1), nicht etwas zurück, was an Trauben erinnert, sondern lediglich etwas, was mit Trauben gar nichts mehr zu tun hat (A-Wahrnehmung).

Wann immer solche Wesen erkennen, reagieren sie auf Ähnlichkeit, nicht aber auf Identität, da auf dieser Ebene der Begriff des über eine Verhaltenssituation hinausgehenden Zusammenhangs von Erscheinungsweisen ein und desselben Gegenstands noch nicht gebildet werden kann. Gerade darum sind sie im Gegensatz zu dem menschlichen Beobachter auch nicht in der Lage, die (täuschende) Erscheinung eines tatsächlich anwesenden Gegenstands mit der Erscheinung eines ganz anderen abwesenden Gegenstands in Beziehung zu setzen. Ähnlichkeit kann von Wesen, die unter diesen Begriff fallen, selbst noch nicht erkannt werden.

Zielpunkt: Ähnlichkeit als Gegenbegriff zu Identität

Anders als Vögel verfügen Menschen hingegen mit den Begriffen für individuierte Gegenstände prinzipiell über die Möglichkeit, in einer trompe l’œil-Situation nicht einfach nur entweder fehlerhaft auf die Täuschung hereinzufallen oder gar keinen Zusammenhang zwischen Bildträger und Abgebildetem herzustellen. Vielmehr gelingt es ihnen, sich zugleich anwesende Darstellung (A-Wahrnehmung in Abb. 1, auf die aktuelle Verhaltenssituation bezogen) und abwesendes Dargestelltes (B-Wahrnehmung, auf einen anderen Kontext bezogen) zu vergegenwärtigen und beides als zwei verschiedene, aber aufeinander verweisende Entitäten zu begreifen. Genau das ist es, was wir als Erkennen von Ähnlichkeit begreifen ([Schirra & Sachs-Hombach 2006b]Literaturangabe fehlt.
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). Damit also Wesen etwas als etwas anderem ähnlich erkennen können, muß zweierlei vorliegen:

  • das Wesen muß im aktuellen Kontext auf einen Gegenstand spontan mit einem Verhalten zu reagieren geneigt sein, das nicht zu diesem Gegenstand (und damit dem aktuellen Kontext) passt, wohl aber zu einem Kontext mit einem anderen Objekt;
  • das Wesen muß erkennt, dass es sich um eine solche Verwechslung handelt, es also eine Verbindung zwischen den beiden beteiligten Kontexten herzustellen in der Lage ist.
Da es umgangssprachlich zu nahe liegt und daher kaum zu vermeiden ist, dass auch bei den Vögeln des Zeuxis und ähnlichen Fällen von „Ähnlichkeit“ gesprochen wird, ist es sinnvoll, die beiden Fälle zumindest durch Indizes voneinander zu unterscheiden. In [Schirra 2005a]Schirra, Jörg R.J. (2005).
Foundation of Computational Visualistics. Wiesbaden: DUV, ISBN: 3-8350-6015-5.

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werden beispielsweise entsprechend ‘Ähnlich­keitα’ beim Zuschreibung einer Täuschung bei Lebewesen, welche die Täuschung selbst nicht durchschauen können, und ‘Ähnlichkeitβ’ im anspruchsvollen Fall verwendet. Anders gewendet wird der Begriff Ähnlich­keitα beim begriffsgenetischen Übergang differenziert in Ähnlichkeitβ einerseits und Identität andererseits. Sind die Verhaltensweisen von Wesen, die gemäß dem einfacheren Wahrnehmungsbegriffs betrachtet werden, nur auf jeweils gleichartige Gegenstände ausgerichtet (“Gleichheit”), differenzieren sie sich bei Wesen, die gemäß dem komplexeren Wahrnehmungsbegriff beurteilt werden, einerseits zu solchen relativ zu Gegenständen hinsichtlich gleichartiger Erscheinung (“Ähnlichkeitβ”) und andererseits zu Gegenständen hinsichtlich zusammengehöriger raumzeitlicher Entwicklung (“Identität”).


Ähnlichkeit und Kontextbildung

Grundlage der erweiterten Wahrnehmungskompetenz, die Ähnlichkeitβ erlaubt, ist gleichermassen die Fähigkeit, mit individuellen, die Zeit überdauernden Gegenständen umgehen zu können: Objektkonstitution, wie die Fähigkeit verschiedene Situationen miteinander in Beziehung zu setzen: Kontextbildung. Damit verklammert Ähnlichkeit Bilder auf doppelte Weise mit dem Zugang zu abwesenden Kontexten: Ähnlichkeit beruht auf der intentionalen Hinwendung zu einer abwesenden Situation, die damit für Bilder als wahrnehmungsnahen Zeichen konstitutiv ist. Andererseits wird mit dem Bild auf eben diese in der Regel abwesende Situation hingewiesen, so daß die kommunikative Grundfunktion des Bildes im Etablieren eines gemeinsamen Zugang zu diesem Kontext besteht. Bildanthropologisch spielt dieser Doppelbezug bei der initialen Kontextbildung – der begriffsgenetischen Betrachtung zur Fähigkeit, mit abwesenden Kontexten umzugehen, eine wichtige Rolle (⊳ logische Kontextbildung und mentale Bilder).

Anmerkungen
  1. Vgl. auch Exkurs:Mimikry.
  2. Die Alternative wäre ein platter ontologischer Ähnlichkeitsbegriff, der –horribile dictu – Ähnlichkeiten einfach als Eigenschaften der Welt unabhängig von einem Betrachter voraussetzt.
  3. Bei noch einfacheren Wesen, deren Verhalten begrifflich nur durch Reiz-Reaktionsschemata (SR-Schemata) bestimmt wird, sollte noch nicht von Wahrnehmung gesprochen werden: Die SR-Schemata gruppieren lediglich in der einen oder anderen Hinsicht Gleichartiges – insofern nämlich dasselbe Verhaltensmuster damit verbunden ist. Alles, was hinreichend vom zugehörigen Rezeptor als hinreichend “ähnlich” klassifiziert wird, löst dasselbe Verhalten aus (ermüdungs- und krankheitsbedingte Änderungen nicht berücksichtigt). Der Begriff, daß verschiedene Reize – als von einem Objekt ausgehend – miteinander assoziiert und damit auch verschiedene Verhaltensweisen als auf ein Objekt bezogen zusammengebunden werden, ist in diesem Begriffsfeld noch nicht möglich. Daher kann auch nicht von einer gegenständlichen Wahrnehmung gesprochen werden (vgl. [Schirra 2000a]Schirra, Jörg R.J. (2000).
    Täuschung, Ähnlichkeit und Immersion: Die Vögel des Zeuxis.
    In Vom Realismus der Bilder: Interdisziplinäre Forschungen zur Semantik bildhafter Darstellungsformen, 119-135.

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    ).
  4. Die im Bild verwendeten “Denkblasen” sind lediglich als graphisch-verkürzte Darstellungen der jeweiligen Verhaltensdispositionen relativ zu einer wahrgenommenen Verhaltenssituation zu verstehen.
Literatur                             [Sammlung]

[Gallistel 1980a]:
Literaturangabe fehlt.
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[Plinius 2004a]:
Literaturangabe fehlt.
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[Schirra & Sachs-Hombach 2006b]:
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- andere Publikation,
- Glossarlemma.
[Schirra 2000a]: Schirra, Jörg R.J. (2000). Täuschung, Ähnlichkeit und Immersion: Die Vögel des Zeuxis. In: Rehkämper, K.& Sachs-Hombach, K. (Hg.): Vom Realismus der Bilder: Interdisziplinäre Forschungen zur Semantik bildhafter Darstellungsformen. Magdeburg: Skriptum, S. 119-135.

[Schirra 2005a]: Schirra, Jörg R.J. (2005). Foundation of Computational Visualistics. Wiesbaden: DUV, ISBN: 3-8350-6015-5.


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [54], Klaus Sachs-Hombach [4] und Elisabeth Birk [4] — (Hinweis)