Grundbegriffe der Bildlichkeit
Hauptpunkt zu: Bildlichkeit: Bedingungen und Folgen
Der vorparadigmatische Zustand der BildwissenschaftEine sich neu konstituierende Wissenschaftsdisziplin ist in der Regel zunächst damit beschäftigt, ihren Gegenstandsbereich zu bestimmen. Bereits dieser Arbeitsschritt lässt sich für gewöhnlich nicht vollkommen problemlos bewältigen. Über die Frage, wie weit der Gegenstandsbereich einer Disziplin zu reichen habe, werden häufig kontroverse grundlagentheoretische Debatten geführt. Viele dieser Debatten gründen auf dem Umstand, dass der Begriff, der einer Wissenschaftsdisziplin ihren Namen gibt, in der Regel nicht schon von sich aus Aufschluss über die konkreten Phänomene gibt, auf die er sich bezieht. Am Beispiel der Bildwissenschaft lässt sich dieser Sachverhalt gut vor Augen führen. Begrifflich ist hier völlig unstrittig, dass die Untersuchung von Bildphänomenen im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit steht. Weitaus weniger unkontrovers ist jedoch, welcher Phänomenbereich genau von einer Bildwissenschaft historisch wie systematisch überblickt werden sollte. Soll sich die Bildwissenschaft nur solchen Phänomenen zuwenden, die einem engeren Bildbegriff entsprechen (Gemälde, Zeichnungen, Fotografien usw.); oder sind auch andere Phänomene, die weitere mediale Register umfassen, welche aus konventioneller Sicht eher nur mittelbar mit Facetten des Bildlichen zusammenhängen (z.B. Diagramme, Ornamente, Kalligrafie, Schriftbilder), gleichberechtigt zu berücksichtigen? Alleine über diese grundlegende Frage lassen sich Diskussionen führen, die in ausformulierter Form ganze Bücherregale füllen. Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 12f.). Aus dem Faktum, dass die Klärung dessen, was den Kern des Bildbegriffs ausmacht, nicht ohne Weiteres herbeigeführt werden kann,[1] folgt nicht zuletzt auch der Umstand, dass die Suche nach allgemeinen Grundbegriffen des Bildlichen bei Weitem nicht abgeschlossen ist. Auf der Suche nach den Elementen einer allgemeinen BildtheorieDass sich im Rahmen der intensiv geführten jüngeren bildwissenschaftlichen Debatte kein Begriffsrepertoire herausbilden konnte, welches zur Untersuchung grundlagentheoretischer Bildreflexionen herangezogen werden könnte, lässt sich unterdessen nicht behaupten. Auch wenn über die methodischen und disziplinären Fundamente einer allgemeinen Bildwissenschaft noch in vielen Punkten keine weitreichende Einigkeit erzielt werden könnte, sind durchaus Konzepte und Begrifflichkeiten in Umlauf gekommen, die theorieübergreifend als bildwissenschaftliche termini technici Anerkennung gefunden haben. Auch stimmen Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster Fach- und Theorierichtungen häufig darin überein, welche Phänomene und Begriffe zur Eingrenzung der Kategorie der Bildlichkeit eingehend zu analysieren sind. Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 70) charakterisiert.[2] Bildern wird auf diese Weise eine gewisse visuelle bzw. ikonische Evidenz zugesprochen, die in manchen Bildtheorien nicht nur in einem metaphorischen Sinne als phantomhaft oder phantasmatisch beschrieben wird. Die Wiederkehr der Bilder. In Was ist ein Bild?, 11-38. Eintrag in Sammlung zeigen; [Boehm 2011a]Boehm, Gottfried (2011). Ikonische Differenz. In Rheinsprung 11 - Zeitschrift für Bildkritik, 1, 170-178. Eintrag in Sammlung zeigen). Reflektiert wird durch dieses Konzept der Umstand, wonach bildliche Sinneinheiten allererst in bzw. auf einer als Bildgrund fungierenden „überschaubaren Gesamtfläche“ ([Boehm 1994a]Boehm, Gottfried (1994). Die Wiederkehr der Bilder. In Was ist ein Bild?, 11-38. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 30) in Erscheinung treten können. In diesem Zusammenhang wird auch häufig darauf hingewiesen, dass Bildlichkeit mit einer deiktischen Doppelstruktur korreliert. Bilder zeigen demnach nicht einfach nur etwas, worauf in spezifisch ikonischer Weise Bezug genommen wird; vielmehr zeigen sie immer sich sich mitsamt ihrer „materielle[n] Faktizität“ ([Finke 2007a]Finke, Marcel (2007). Materialität und Performativität. Ein bildwissenschaftlicher Versuch über Bild/Körper. In Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, 57–78. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 61) mit (Zeigen und Sich-Zeigen). Oder anders gesagt: „Zwar erzeugen Bilder Sichtbarkeiten – nämlich jene Formen, die Objekte bedeuten können –, im selben Moment aber stellen sie sich selbst als etwas Materielles aus, das wiederum nicht mit der Bedeutung kongruent ist.“ ([Finke 2007a]Finke, Marcel (2007). Materialität und Performativität. Ein bildwissenschaftlicher Versuch über Bild/Körper. In Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, 57–78. Eintrag in Sammlung zeigen: ebd.) Diskutiert wird in diesem Kontext oft die Tatsache, dass das Was einer bildlichen Darstellung insofern immerzu stilistisch präfiguriert ist, als jede Darstellung durchweg mit einer bestimmten Darstellungsweise – einem eigentümlichen Wie des Sichtbaren – einhergeht. Dass der fundamentale Stilcharakter eines jeden Bildes zudem aufs Engste mit Phänomenen der Rahmung zusammensteht, in deren Grenzen Sichtbarkeit sich als bildliche überhaupt zu konstituieren vermag, umschreibt dabei keinesfalls eine belanglose Trivialität, sondern einen Sachstand, der für die grundbegriffliche Konturierung einer allgemeinen Bildwissenschaft von größter Bedeutung ist. Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In Werke, Bd. 6, 7-187, Erstveröffentlichung 1766. Eintrag in Sammlung zeigen), doch wird dieser erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit vor dem Hintergrund neuerer Bildtheorien weiterführend und kritisch aufgegriffen (vgl. [Günzel 2012a]Günzel, Stephan (2012). Raum|Bild. Zur Logik des Medialen. Berlin: Kadmos. Eintrag in Sammlung zeigen). Reflektiert wird in diesem Kontext etwa die Frage, auf welche Weise es Bildern gelingt, Raum darzustellen bzw. zu konstruieren. Dieses Problem wird nicht nur auf technischem Wege untersucht (beispielsweise über die Rekonstruktion der dem zentralperspektivischen Darstellungsverfahren zugrunde liegenden Gesetze, die bereits seit Jahrhunderten bekannt sind), sondern gerade auch wahrnehmungsphilosophisch. Verbreitet ist hier vor allem der Versuch, auf phänomenologischer Basis die Differenzen zwischen der Wahrnehmung bildlicher Raumkonstellationen und solchen nicht-bildlicher Natur in Erfahrung zu bringen. Diese Vorgehensweise gründet auf folgender Hoffnung: Wird verstanden, inwieweit sich die Wahrnehmung eines Bildes von der eines gewöhnlichen Raumdings unterscheidet, lassen sich so generalisierbare Rückschlüsse über die Natur sowohl der Bild- als auch der Normalwahrnehmung gewinnen, die für die Formulierung einer allgemeinen Theorie des Bildes als unerlässlich betrachtet werden (vgl. [Wiesing 2009a]Wiesing, Lambert (2009). Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen). Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Berlin: Bruno Cassirer. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 21) des Geistes geredet, die mit der Konstruktion von spezifischen „Weltbildern“ kulminiere (vgl. [Cassirer 1925a]Cassirer, Ernst (1925). Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Berlin: Bruno Cassirer. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 39). Das Ereignis der Erkenntnisgewinnung wird hier als ein grundsätzlich plastischer (d.h. stets veränderlicher) Prozess der Bildung von Welten angesehen, die in ähnlicher Form auf einer schöpferischen Tätigkeit des Geistes beruhen, wie dies bei der Erstellung eines materiellen Bildwerkes der Fall ist. Die ausdrückliche Rede von Weltbildern ist in diesem Kontext in vielen Punkten freilich metaphorisch zu verstehen. Nichtsdestotrotz spiegelt sich in ihr die keinesfalls nur in einem übertragenen Sinne zu begreifende Auffassung wider, wonach unser Wissen von und über Welt ähnlich perspektivisch zugeschnitten ist wie die Sichtbarkeitsgebilde bildlicher Artefakte.
Unterpunkte
Anmerkungen
[Boehm 1994a]: Boehm, Gottfried (1994). Die Wiederkehr der Bilder. In: Boehm, G. (Hg.): Was ist ein Bild?. München: Fink, S. 11-38.
[Boehm 1994c]: Boehm, Gottfried (1994). Was ist ein Bild?. München: Wilhelm Fink. [Boehm 2011a]: Boehm, Gottfried (2011). Ikonische Differenz. Rheinsprung 11 - Zeitschrift für Bildkritik, Band: 1, S. 170-178. [Cassirer 1923a]: Cassirer, Ernst (1923). Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Berlin: Bruno Cassirer. [Cassirer 1925a]: Cassirer, Ernst (1925). Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Berlin: Bruno Cassirer. [Finke 2007a]: Finke, Marcel (2007). Materialität und Performativität. Ein bildwissenschaftlicher Versuch über Bild/Körper. In: Reichle, I. & Siegel, S. & Spelten, A. (Hg.): Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft. Berlin: Kadmos, S. 57–78. [Günzel 2012a]: Günzel, Stephan (2012). Raum|Bild. Zur Logik des Medialen. Berlin: Kadmos. [Lessing 1974a]: Lessing, Gotthold Ephraim (1974). Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Göpfert, H. G. (Hg.): Werke, Bd. 6. München: Hanser, S. 7-187, Erstveröffentlichung 1766. [Mersch 2002a]: Mersch, Dieter (2002). Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink. [Sachs-Hombach 2003a]: Sachs-Hombach, Klaus (2003). Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem. [Wiesing 2005a]: Wiesing, Lambert (2005). Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M.: Suhrkamp. [Wiesing 2009a]: Wiesing, Lambert (2009). Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [35], Mark A. Halawa [20], Eva Schürmann [8] und Sebastian Spanknebel [3] — (Hinweis) |