Kippbild
Unterpunkt zu: Bildwahrnehmung
Ambiguity of ‘Ambiguity’. In Perception, 29, 1139-1142. Eintrag in Sammlung zeigen; [Metzger 2008a]Metzger, Wolfgang (2008). Gesetze des Sehens. Taunus: Klotz. Eintrag in Sammlung zeigen; [Mitchell 1994a]Mitchell, William J.T. (1994). Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago: University of Chicago Press. Eintrag in Sammlung zeigen; [Zimmer 1995a]Zimmer, A. C. (1995). Multistability – More Than Just a Freak Phenomenon. In Ambiguity in Mind and Nature. Multistable Cognitive Phenomena, 99–138. Eintrag in Sammlung zeigen; [Piccolino & Wade 2006a]Piccolino, Marco & Wade, Nicholas J. (2006). Flagging Early Examples of Ambiguity (1). In Perception, 35, 7, 861–864. Eintrag in Sammlung zeigen; [Piccolino & Wade 2006b]Piccolino, Marco &. Wade, Nicholas J. (2006). Flagging Early Examples of Ambiguity (2). In Perception, 35, 8, 1003–1006. Eintrag in Sammlung zeigen). In Situationen des praktischen Lebens ist derartige Instabilität des Wahrnehmens selten. Das schließt nicht aus, dass Momente der umweltbezogenen Wahrnehmung zumindest teils Ausgangspunkt für entsprechende bildnerische Spiele waren und sind.[1]
Phänomenologie (Eingrenzung und Varianten)Oft werden Kippbilder in drei Typen unterteilt:[2] Umspringen von Figur und Grund, 2) Ambivalenz von Bedeutung und 3) Mehrdeutigkeit perspektivischer Darstellungen. Diese Typologie ist zwar nicht umfassend und in gewisser Weise sogar irreführend, aber gleichwohl ein brauchbarer erster Zugang. Umspringen von »Figur« und »Grund«Berühmtestes Beispiel für diesen Typus ist der Kelch, dessen Umrisse als zwei einander zugewandte menschliche Profile gesehen werden können. Unter Psychologen ist dieses Kippbild als ‘Rubinscher Becher’ oder ‘Rubinsche Vase’ geläufig; der dänische Psychologe Edgar Rubin hatte dieses Motiv, das zuvor schon in der graphischen Kunst benutzt worden war,[3] zu Beginn des 20. Jh. aufgegriffen[4] (vgl. Abb. 1). Von ‘Kippen’ kann man hier sprechen, weil die Konturlinie entweder den Profilen zugehört oder dem Kelch: Sieht man die Profile, hat sich die weiße Fläche in Hintergrund verwandelt; nimmt man den Kelch wahr, sieht man keine Schattenrisse von menschlichen Gesichtern, sondern nur dunklen Hintergrund, der sich hinter dem verschnörkelten Gefäß fortsetzt. Figur/Objekt und (Hinter-)Grund können auch bei eher sinnfreien Linien/Flächengrenzen ineinander umschlagen. Derartige Beispiele standen im Mittelpunkt von Rubins Untersuchungen (Abb. 2). Die Unterscheidung von »Figur« und »Grund«, die man als Betrachter von nichtperspektivischen zweidimensionalen Darstellungen vornimmt, demonstriert, wie stark man dazu neigt, dreidimensionale Verhältnisse (»vor« vs. »hinter«) in Bilder hineinzusehen. Bereits da, wo nur eine schlichte Linie eine Fläche teilt (Abb. 3), sehen wir leicht eine der beiden Teilflächen vor der anderen.[5] Gesetze des Sehens. Taunus: Klotz. Eintrag in Sammlung zeigen). Manche der zahlreichen Variationen der Darstellung von Rubins Becher machen Faktoren der Figurbildung deutlich; schneidet man beispielsweise Rubins Original an der oberen und unteren Kante des Kelchs horizontal ab, so springen die Profile leichter ins Auge als in der ursprünglichen Konstellation (umschließende Flächen werden eher als Grund gesehen, Abb. 4), ein Tausch von hell und dunkel wirkt dieser Tendenz wiederum entgegen (dunklere Flächen sieht man bevorzugt als Figur, Abb. 5). Ambiguity of ‘Ambiguity’. In Perception, 29, 1139-1142. Eintrag in Sammlung zeigen, Abb. 6), funktioniert nur bedingt als Kippfigur. Hat man die Umrisse, die für den Mann stehen, erst einmal entdeckt, ist ein Umschlagen von Figur und Grund zwar insofern nicht ausgeschlossen, als man abwechselnd die Silhouette des Mannes vor einem dickem Baum oder aber Bäume/Baumstrünke und einen leeren Zwischenraum sehen kann. Aber nicht nur bei breit (auf die Totale) eingestellter Aufmerksamkeit kann man Landschaft und Person zugleich sehen; es ist auch möglich, simultan gewundene dünne Baumstämme und die von ihren Konturen geformte Silhouette zu sehen, also zwei sozusagen symbiotische Figuren. Dieses Vexierbild funktioniert – wie viele andere auch – deshalb gut als Bilderrätsel, weil es in die relativ detailreiche Darstellung einer realistischen Szenerie in unwahrscheinlicher Weise Anzeichen eines bedeutsamen Objektes (meist eines Menschen oder anderen Lebewesens) konstruiert. Ist der Betrachter erst einmal über diese Andeutungen gestolpert, springt aus dem Hintergrund der ursprünglichen Figur (hier: Baumgruppe in Landschaft) ein Objekt in die Szene, ohne diese dabei auszulöschen. Das Konstruktionsprinzip solcher Vexier- oder Rätselbilder sorgt eher für einmalige Überraschung als fortgesetztes Kippen (vgl. [Schönhammer 2011a]Schönhammer, Rainer (2011). Stichwort: Kippbilder.. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 4). Ambivalenz von Bedeutungen (semantisch ambivalente Bilder)Stichwort: Kippbilder.. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 4f) One Hundred Years of an Ambiguous Figure: Happy Birthday, Duck/Rabbit. In Perceptual and Motor Skills, 3 Pt 1, 89, 973–977. Eintrag in Sammlung zeigen). Einige Bemerkungen im Spätwerk Ludwig Wittgensteins (siehe unten) haben diese Gesichterkippfigur gewissermaßen philosophisch geadelt. Ein weiteres sozusagen klassisches Kippbild vereint die Ansicht einer alten Frau (im ganz leicht dem Betrachter zugewandten Profil) mit der Darstellung des Gesichts einer jungen Frau, das vom Betrachter dreiviertel abgewandt ist (Abb. 8);[8] wie beim Enten- vs. Hasenkopf schließen sich beide Sichtweisen aus. Manchmal ist ein partieller Figur-Grund-Wechsel in die Metamorphose der Figur einbezogen. So erscheint im Kippbild «Ratte vs. Mann mit Brille» (Abb. 9) ein Bereich einmal als Grund zwischen Körper und Schwanz der Ratte und wird mit dem Umschlagen zur Wange des Mannes.
Perspektivische MehrdeutigkeitZweidimensionale Projektionen dreidimensionaler Körper, also beispielsweise perspektivische Darstellung von Kristallen, sind objektiv vieldeutig. Grundsätzlich kann ja schon jede auf ein Blatt gezeichnete Linie für zahllose Neigungen eines Stabes (oder eben einer Kante) in die Tiefe des Raumes stehen. Die verschiedensten Körper führen also zur nämlichen Projektion. Ungeachtet der unendlich vielen möglichen dreidimensionalen Konstellationen, die hinter einem solchen Bild stehen können, drängen sich dem Wahrnehmen nur wenige auf. Das ist per se bemerkenswert. Zu den „Lebensgewohnheiten des Gesichtssinnes“ ([Mach 1987a]Mach, Ernst (1987).Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Eintrag in Sammlung zeigen) gehört es offenbar, dass uns die Mehrzahl der möglichen 3D-Sichtweisen von Zeichnungen nicht in den Sinn kommen. Necker in Scotch Perspective. In Perception, 39, 1–4. Eintrag in Sammlung zeigen). Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Eintrag in Sammlung zeigen). Ambiguity of ‘Ambiguity’. In Perception, 29, 1139-1142. Eintrag in Sammlung zeigen). Perspektivische Mehrdeutigkeit hat Konsequenzen für die Wahrnehmung von Bewegung: Bei einäugiger Betrachtung tritt die plötzliche Umstülpung auch bei einem Drahtwürfel auf;[13] dreht sich das Gebilde, so kehrt sich mit dem Umspringen die wahrgenommene Drehrichtung um.[14] Das geschieht auch, wenn man die Projektion eines rotierenden Drahtwürfels betrachtet. Ein Beispiel für eine natürliche Situation, bei der die Bewegungsrichtung in den Augen des Betrachters umschlagen kann, nennt Otto Klemm: „Die Windmühle, die man als dunklen Schattenriß am Horizont schräg von der Seite sieht, dreht sich je nach perspektivischer Vorstellung in verschiedener Richtung.“ Die Computeranimation «spinning dancer» spielt ebenfalls mit einer (weitgehenden) perspektivischen Äquivalenz entgegengesetzter Tiefenausrichtungen von Körpern, von denen man lediglich die Silhouette sieht. [15] Zwischenresümee
Weitere Typen von KippfigurenEin weiterer Typus von Kippbildern, bei dem es um räumliche Tiefe geht, sind Bilder mit Schattenindikatoren, die sowohl auf konvexe als auch auf konkave Wölbungen hinweisen können (Abb. 15); in Lehrbüchern wird dieser Aspekt von Schattierungswahrnehmung meist zugunsten vermeintlich eindeutiger Wölbungswahrnehmung in Abhängigkeit von der impliziten Lage der Lichtquelle (‘Licht von oben’ vs. ‘von unten’) vernachlässigt (demonstriert durch Drehung des Bildes um 180°); bereits die oben bzw. unten angedeuteten Schatten schließen indessen ein Kippen zwischen konvexem und konkavem Eindruck nicht aus, dreht man die Demonstrationsbeispiele um 90°, verlagert also das Helligkeitsgefälle auf eines zwischen rechter und linker Seite, so erleichtert dies die Fluktuation der Sichtweisen. Unter natürlichen Umständen tritt Wölbungsambivalenz beispielsweise im Hinblick auf die Segel entfernter Schiffe auf.[18] Die Scheinbewegung, die man durch benachbarte, in schneller Abfolge aufleuchtende bzw. verlöschende Lämpchen erzeugen kann, ist bei geeigneter Anordnung – etwa bei acht in gleichem Abstand auf einer Kreislinie angeordneten Lämpchen, von denen jeweils 4 im schnellen Wechsel aufleuchten – ambivalent hinsichtlich der Richtung. Multistability in Perception. In Scientific American, 225, 6, 62-71. Eintrag in Sammlung zeigen und [Wittgenstein 1990a]Wittgenstein, Ludwig (1990). Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen). Gesetze des Sehens. Taunus: Klotz. Eintrag in Sammlung zeigen & [Stadler & Kruse 1995a]Stadler, Michael & Kruse, Peter (1995). The Function of Meaning in Cognitive Order Formation. In Ambiguity in Mind and Nature. Multistable Cognitive Phenomena, 5–21. Eintrag in Sammlung zeigen); auch hier gehen meist Wechsel der wahrgenommenen Gruppierung mit solchen der wahrgenommenen Ausrichtung von Elementen des Musters Hand in Hand. Psychologische und neurowissenschaftliche Diskussion
Für Psychologen sind Kippfiguren – ebenso wie Wahrnehmungstäuschungen – ein beliebtes Mittel, um zu demonstrieren, dass Wahrnehmen nicht (vollends) von den äußeren Gegebenheiten, die auf die Sinnesorgane einwirken, bestimmt ist. Wie die Subjektivität im Fall der Kippfiguren bei unveränderten Gegebenheiten zu verschiedenen Eindrücken kommt ist indessen bis heute ungeklärt. Multistable Phenomena: Changing Views in Perception. In Trends Cogn. Sci. (Regul. Ed.), 3, 254–264. Eintrag in Sammlung zeigen). Seit langem wird diskutiert, ob das Umschlagen der Wahrnehmung von einer Art Ermüdung (“Sättigung”) in Nervennetzen rühren könnte; da diesbezüglich meist relativ frühe Stufen der Reizverarbeitung unter Verdacht stehen, gilt die Sättigungstheorie auch als Bottom-up-Hypothese. Dem steht die Vermutung gegenüber, dass nicht zuletzt Wissen und Aufmerksamkeit, also (eher bewusste) mentale Prozesse, die den “Automatismen” grundlegender Module des visuellen Systems nachgelagert bzw. übergeordnet sind, eine wesentliche Rolle spielen (Top-down-Hypothesen). Die im Laufe der Zeit angehäuften empirischen Befunde deuten, das sei einem Ausblick auf Methoden und Ergebnisse der experimentellen Erforschung von Kippphänomenen vorausgeschickt, darauf hin, dass die Wahrheit jenseits dieser plakativen (und zugleich unscharfen) Entgegensetzung liegt. Ambiguity in Mind and Nature. Multistable Cognitive Phenomena. Berlin: Springer. Eintrag in Sammlung zeigen als Schlüssel zum Verständnis des Wahrnehmens zu nutzen. Wenn in diesem Sinn das Kippen als „herausragendes methodologisches Fenster für das Messen der Dynamik des visuellen Systems“ ([: S. ??]Kruse, Peter; Strüber, Daniel & Stadler, Michael (1995). Significance of Perceptual Multistability for Research on Cognitive Self-organization. In Ambiguity in Mind and Nature. Multistable Cognitive Phenomena, 69–84. Eintrag in Sammlung zeigen) angesprochen wird, bleibt es nicht aus, dass u. a. Analogien von Kippfiguren und mathematischen Modellierungen der Quantenmechanik ins Feld geführt werden ([Caglioti 1995a]Caglioti, Giuseppe (1995). Perception of Ambiguous Figures: A Qualitative Model Based on Synergetics and Quantum Mechanics. In Ambiguity in Mind and Nature. Multistable Cognitive Phenomena, 463–478.. Eintrag in Sammlung zeigen). UntersuchungsmethodenBei experimentellen Untersuchungen zur Wahrnehmung von Kippbildern wird in der Regel von den Versuchspersonen verlangt, durch Drücken verschiedener Knöpfe anzuzeigen, welche Lesart der Vorlage ihnen momentan ins Auge springt. Auf diese Weise lassen sich der primäre Eindruck sowie der Wechsel im weiteren Verlauf (Fluktuation, jeweilige Verweildauer) feststellen. Dieses Verfahren setzt voraus, dass die Probanden über das potentielle Kippen bzw. die möglichen Sichtweisen vorweg aufgeklärt wurden; sie sind also nicht völlig unbefangen. Entsprechend vorinformiert sind auch Versuchspersonen, die auf einer Skala einschätzen sollen, wie leicht ihnen diese oder jene Sichtweise fällt. Will man eine derartige Voreinstellung vermeiden, ist man auf mündliche Berichte („Sagen Sie, was Sie sehen.“) angewiesen, die nicht so leicht statistisch ausgewertet werden können. Je nach spezifischer Fragestellung sind die Versuchspersonen frei, die jeweiligen Vorlagen ohne weiteren Vorsatz auf sich wirken zu lassen, oder werden aufgefordert, Sichtweisen möglichst zu halten oder im Gegenteil möglichst oft wechseln zu lassen. Das Betrachten erfolgt manchmal nur mit einem Auge, manchmal mit fixiertem Kopf (z.B. Kinnauflage). Der Blick darf schweifen oder soll auf eine Markierung im Bild fixiert werden (wie eine Fixierung wirkt es auch, wenn die Bilder dem Tanz der freien Augenbewegung nachgeführt werden oder wenn man das Kippen anhand von Nachbildern einer blitzlichtartigen Präsentation auf der Netzhaut – Nachbilder bewegen mit dem Auge mit – untersucht.) Die Vorlagen werden ununterbrochen oder in verschiedenen Intervallen präsentiert. Manchmal stehen die Bilder auf dem Kopf (etwa um zu prüfen, welche Rolle das Erkennen von Bedeutung/Lebewesen für die Zuordnung einer Kontur spielt). Manchmal spielen eindeutig gemachte (disambiguierte) Varianten von Kippbildern eine Rolle. Das, was Versuchspersonen im Zusammenhang des jeweiligen Versuchsaufbaus bewusst mitteilen (meist per Knopfdruck), wird in aufwendigeren Studien mit Messungen von Augenbewegungen (teils auch des eventuell abgedeckten Auges) und Akkommodation, der Hirnströme (sogenannter ERPs: ereigniskorrelierter Potentiale) oder lokaler Durchblutungsdifferenzen abgeglichen. Anhaltspunkte für die Erklärung (bzw. die neuronale Basis) multistabiler Wahrnehmung ergeben sich auch aus gewissen Parallelen zur binokulären Rivalität (bietet man beiden Augen Ansichten, die nicht zur Deckung zu bringen sind, springt das Wahrnehmen zwischen beiden Sichten), deren neuronale Korrelate mit Elektroden im Gehirn von Affen untersucht werden können. ErgebnisseEin bereits älterer Forschungsbefund machte die Sättigungstheorie zweifelhaft: Zeigt man Versuchspersonen, bevor man ihnen das Kippbild mit der jungen und der alten Frau präsentiert, eine eindeutig gemachte Variante, die entweder die “Ehefrau” oder die “Schwiegermutter” erkennen lässt (Abb. 17), sehen sie dann das Kippbild eher entsprechend der jeweiligen Prägung (nach [Attneave 1971a]Attneave, Fred (1971).Multistability in Perception. In Scientific American, 225, 6, 62-71. Eintrag in Sammlung zeigen und [Hochberg 1977a]Hochberg, Julian E. (1977). Wahrnehmung. Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft. Eintrag in Sammlung zeigen). Nach der Sättigungstheorie wäre das Gegenteil zu erwarten. Dem steht u. a. der neuere Befund gegenüber, dass im Falle eines rotierenden Neckerwürfels die Vorerfahrung mit eindeutig gemachter Drehrichtung nur dann auf die Auffassung der mehrdeutigen Vorlage durchschlägt, wenn das Priming, wie dieses Versuchsdesign genannt wird, kurz gehalten war, während eine längere Vorwegkonfrontation die gegenteilige Wahrnehmung befördert ([Pitts et al. 2008a]Pitts, Michael A.; Gavin, William J. & Nerger, Janice L. (2008). Early Top-down Influences on Bistable Perception Revealed by Event-related Potentials. In Brain and Cognition, 67, 1, 11–24. Eintrag in Sammlung zeigen). Was empirische Bestätigungen von Top-down-Prozessen angeht, ist vielfach belegt, dass sich das Kippen zwar willkürlich beeinflussen, indessen nicht völlig intentional kontrollieren lässt. Differences in Top-down Influences on the Reversal Rate of Different Categories of Reversible Figures. In Perception, 28, 1185–1196. Eintrag in Sammlung zeigen). Early Top-down Influences on Bistable Perception Revealed by Event-related Potentials. In Brain and Cognition, 67, 1, 11–24. Eintrag in Sammlung zeigen). Single Units and Conscious Vision. In Philos. Trans. R. Soc. Lond., B, Biol. Sci., 353, 1377, 1801–1818. Eintrag in Sammlung zeigen) und EEG-Befunde beim Menschen zeigen ([Britz et al. 2010a]Britz, Juliane; Pitts, Michael A. & Michel, Christoph M. (2010). Right Parietal Brain Activity Precedes Perceptual Alternation During Binocular Rivalry. In Hum. Brain Mapping, 9, 32, 1432-42. Eintrag in Sammlung zeigen), dass bei binokulärer Rivalität “späte” Module (im Scheitellappen), die mit der räumlichen Auswertung visueller Reize in Verbindung gebracht werden, eine herausgehobene Rolle spielen; entsprechende Aktivierungen finden sich auch bei Kippfiguren ([Britz et al. 2009a]Britz, Juliane; Landis, Theodor & Michel, Christoph M. (2009). Right Parietal Brain Activity Precedes Perceptual Alternation of Bistable Stimuli. In Cereb. Cortex 19, 19, 1, 55-65. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 55–65). Object Perception: When Our Brain Is Impressed but We Do Not Notice It. In Journal of Vision, 9, 7. Eintrag in Sammlung zeigen). Zusammenhänge von Kippen und Augenbewegungen sind ebenso nachgewiesen, wie der Umstand, dass es zum Kippen auch dann kommt, wenn das Auge nicht über das Bild wandert. Multistable Phenomena: Changing Views in Perception. In Trends Cogn. Sci. (Regul. Ed.), 3, 254–264. Eintrag in Sammlung zeigen). Perspective Vergence: Oculomotor Responses to Line Drawings. In Vision Research, 27, 1513–1526. Eintrag in Sammlung zeigen). Multistable Perception: When Bottom-up and Top-down Coincide. In Brain and Cognition, 69, 138–147. Eintrag in Sammlung zeigen). Ungeachtet der offenen Fragen angesichts der hier schlaglichtartig angedeuteten komplexen Befundlage kann man festhalten, dass Kippbilder wohl eher durch Deutungen zu erhellen sind, welche bedenken, wie sich diese Situationen zum prinzipiellen Handlungs- bzw. Umweltbezug des Wahrnehmens verhalten, als durch losgelöste Modelle der Selbstorganisation bzw. Analogien zu physikalischen Phänomenen. Philosophische DiskussionSpätestens mit Wittgensteins Beispiel des Hasen-Enten-Kopfs (H-E-Kopf) hat das Kippbild Eingang in den philosophischen Diskurs gefunden (vgl. nochmals Abb. 7 oben). Aspektwahrnehmung. In Wittgenstein-Lexikon, 43. Eintrag in Sammlung zeigen und [Rager 1997a]Rager, Dietmar (1997). Aspekte Sehen. In Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften, 113-130. Eintrag in Sammlung zeigen). So unterscheiden wir das gewöhnliche »Sehen-von« vom »Sehen-als«. Beispielsweise lässt sich das gewöhnliche Sehen einer Wolke vom Sehen einer Wolke als Schaf unterscheiden. Eine andere Art von Unterscheidung liegt im Falle des H-E-Kopfes vor, wenn man ihn entweder als Hasenbild oder als Entenbild sieht. Wittgenstein spricht in diesem Fall von ‘Aspektsehen’ oder ‘Aspektwechsel’. Die Frage, die ihn dabei u.a. interessiert, lautet, ob der Aspektwechsel jeweils mit einem Wechsel eines Wahrnehmungserlebnisses einhergeht und dieser Wahrnehmungserlebniswechsel erklären kann, warum wir eben das eine mal einen Hasen und das andermal eine Ente sehen. Klar scheint ja erst einmal zu sein, dass wir beim Betrachten des H-E-Kopfs in gewisser Hinsicht jedes Mal das gleiche wahrnehmen oder sehen, egal ob wir entweder gerade der Aspekt des Hasen- oder des Entenkopfs aufleuchtet. Nach Wittgenstein kann uns hier die Gestalttheorie nicht weiter helfen, der zufolge wir beim Sehen des Hasen- bzw. des Entenkopfes jeweils unterschiedliche Gestalten wahrnehmen würden (vgl. [Glock 2000a]Glock, Hanjo (2000). Aspektwahrnehmung. In Wittgenstein-Lexikon, 43. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 43 und [Krkac 2010a]Krkac, Kristijan (2010). Wittgensteins’s Dubbit III. In Wittgenstein-Studien, 1, 121-149. Eintrag in Sammlung zeigen). Denn die Gestalt ist jedes Mal dieselbe, der Unterschied liegt allein in unserem Seherlebnis, das das eine Mal im Sehen eines Hasenbildes und das andere Mal im Sehen eines Entenbildes besteht. Vor ähnlichen Problemen wie der Gestalttheoretiker steht der Repräsentationalist, der behauptet, dass unsere Wahrnehmung in einem inneren Bild des wahrgenommen Gegenstandes besteht. Auch für ihn gilt, dass er nur schwerlich leugnen kann, dass das Hasen- oder Entenbild - also der jeweilige Aspekt, den der Betrachter wahrnimmt - erst einmal auf der gleichen Repräsentation beruhen muss (nämlich in beiden Fällen auf einer, die auf der Umrissform des H-E-Kopfes beruht). Wie aber kann der Repräsentationalist die unterschiedlichen Wahrnehmungserlebnisse erklären? Ambiguous Figures and the Content of Experience. In Nous, 40, 1, 82-117, 2006. Eintrag in Sammlung zeigen).[20] Nach Wittgenstein kann weder die Gestalttheorie noch der Repräsentationalismus eine Erklärung für das Aspektsehen anbieten. Wittgensteins eigene Lösung besteht darin, das »Sehen-als« nicht als eine reine Form der Wahrnehmung zu betrachten ([Wittgenstein 1971a]Wittgenstein, Ludwig (1971). Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 524): „Das ‘Sehen-als …’ gehört nicht zur Wahrnehmung. Und darum ist es wie ein Sehen und wieder nicht ein Sehen.“ Das Aufleuchten des Aspekts ist nach Wittgenstein „halb Seherlebnis, halb ein Denken“ (ebd. S. 524). Zum Aspektsehen muss also eine kognitive Leistung treten, die über eine bloße Wahrnehmungsleistung hinausgeht (vgl. [Glock 2000a]Glock, Hanjo (2000). Aspektwahrnehmung. In Wittgenstein-Lexikon, 43. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 44 f.). Aspektsehen ist für Wittgenstein demnach eine kognitive Fähigkeit und das Fehlen dieser Fähigkeit, die Aspektblindheit, ist für ihn vergleichbar mit der Farbenblindheit oder „dem Mangel des musikalischen Gehörs“ (ebd. 552). Die Aspektblindheit zeigt sich nicht in dem Fehlen bestimmter Wahrnehmungen, sondern in der Unfähigkeit, kognitiv auf bestimmte Fragen zu reagieren. Anders gesagt: die Fähigkeit, Aspekte zu sehen, zeigt sich in bestimmten sprachlichen Reaktionen, etwa ‘jetzt sehe ich’s’. Dieser Ausdruck, mit dem ich mein Erlebnis des Aspektwechsles mitteile, ist zumindest in einer Hinsicht vergleichbar mit dem Schrei, der meinen Schmerz anzeigt. Beide beziehen sich nicht auf mentale Gegenstände (innere Bilder), sondern sind Ausdruck eines Erlebnisses. Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart: Belser. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 21). Für Gombrich ist Wittgensteins Auseinandersetzung mit Kippbildern deshalb von Bedeutung, weil nach Gombrich auch beim Betrachten von Bildern eine Art von Aspektwechsel stattfindet, wenn wir nämlich zwischen der Illusion des Sehens des Bildraums oder des Bildsujets und dem bloßen Sehens des Bildträgers hin- und herwechseln. So wüssten wir zwar, dass wir in Wirklichkeit einen zweidimensionalen Gegenstand sehen, auch wenn wir die Illusion haben, einen dreidimensionalen zu sehen. Gombrich vergleicht dieses Phänomen mit dem Aspektwechsel beim Hasen-Enten-Kopf. Sehen-als, sehen-in und bildliche Darstellung. In Objekte der Kunst, 192-210. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 199). Wollheims Kritik weist daraufhin, dass wir zwei Fälle bei Bildern unterscheiden sollten. Auf der einen Seite können wir zwischen dem Bildinhalt und dem Bildträger unterscheiden und auf der anderen Seite zwischen zwei Bildinhalten eines Bildträgers. Nur im letzten Fall liegt nach Wollheim ein echter Aspektwechsel vor. Dies wird auch darin deutlich, dass wir bei echten Aspektwechsel nicht gleichzeitig beide Aspekte wahrnehmen können, während dies bei Bildern kein Problem und nach Wollheim sogar die Voraussetzung für das Sehen von Bildern ist. Bei Bildern müssen wir nach Wollheim gleichzeitig Bildträger und Bildinhalt wahrnehmen („twofoldness“). Wollheim unterscheidet in dieser Hinsicht das »Sehen-in« (hier liegt ein zweiheitliches Sehen vor) vom »Sehen-als« (einer Art des Aspektsehens). Wichtig in diesem Zusammenhang ist für Wollheim die Lokalitätsbedingung: beim Sehen-als können wir immer auf die Stelle hinweisen, die Ursache für die beiden Aspekte ist (z.B. beim H-E-Kopf die Löffel bzw. der Schnabel). Gleiches ist beim Sehen-in nicht notwendigerweise möglich. Understanding Pictures. Oxford: Claredon Press. Eintrag in Sammlung zeigen: § 2.3). Gegen Lopes lässt sich einwenden, dass eine Person, der es im Fall eines Trompe l'œils-Gemälde nicht gelingt, den Bildträger zu sehen, eben nicht das Gemälde als Bild sieht, sondern nur vermeintlich den dargestellten Gegenstand. Dies trifft auch für den Fall zu, dass die Person selbst weiß, dass sie nicht den Gegenstand selbst sieht. Es handelt sich in diesem Fall also um eine optische Täuschung vergleichbar mit der Müller-Lyer-Täuschung, bei der die Linien auch dann dem Betrachter unterschiedlich lang erscheinen können, wenn er weiß, dass sie gleich lang sind. Eine Illusion dieser Art liegt aber beim Sehen von Bildern nicht vor. Vielmehr gehört es zum Sehen von Bildern dazu (twofoldness!), dass wir gleichzeitig den Bildträger und das Bildsujet sehen. Im Fall von gegenstandslosen Bildern kann auf Lopes entgegnet werden, dass auch bei diesen ein zweiheitliches Sehen vorliegt, nämlich zum einen das Sehen des zweidimensionalen Bildträgers und des vermeintlichen dreidimensionalen Bildraums. |
Anmerkungen
[Attneave 1971a]: Attneave, Fred (1971). Multistability in Perception. Scientific American, Band: 225, Nummer: 6, S. 62-71.
[Britz et al. 2009a]: Britz, Juliane; Landis, Theodor & Michel, Christoph M. (2009). Right Parietal Brain Activity Precedes Perceptual Alternation of Bistable Stimuli. Cereb. Cortex 19, Band: 19, Nummer: 1, S. 55-65.
[Britz et al. 2010a]: Britz, Juliane; Pitts, Michael A. & Michel, Christoph M. (2010). Right Parietal Brain Activity Precedes Perceptual Alternation During Binocular Rivalry. Hum. Brain Mapping, Band: 9, Nummer: 32, S. 1432-42.
[Brugger & Brugger 1993a]: Brugger, Peter & Brugger, Susanne (1993). The Easterbunny in October: Is It Disguised as a Duck. Perceptual and Motor Skills, Band: 2, Nummer: 76, S. 577–578.
[Brugger 1999a]: Brugger, Peter (1999). One Hundred Years of an Ambiguous Figure: Happy Birthday, Duck/Rabbit. Perceptual and Motor Skills, Band: 3 Pt 1, Nummer: 89, S. 973–977.
[Caglioti 1995a]: Caglioti, Giuseppe (1995). Perception of Ambiguous Figures: A Qualitative Model Based on Synergetics and Quantum Mechanics. In: Kruse, P. & Stadler, M. (Hg.): Ambiguity in Mind and Nature. Multistable Cognitive Phenomena. Berlin: Springer, S. 463–478..
[Ditzinger 2006a]: Ditzinger, Thomas (2006). Illusionen des Sehens. Eine Reise in die Welt der visuellen Wahrnehmung. München, Heidelberg: Elsevier, Spektrum, Akad. Verl..
[Enright 1987a]: Enright, Jim T. (1987). Perspective Vergence: Oculomotor Responses to Line Drawings. Vision Research, Band: 27, S. 1513–1526.
[Gibson 1982a]: Gibson, James Jerome (1982). Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München, Wien u.a: Urban & Schwarzenberg.
[Glock 2000a]: Glock, Hanjo (2000). Aspektwahrnehmung. In: Glock, H. (Hg.): Wittgenstein-Lexikon. Darmstadt: WBG, S. 43.
[Gombrich 1977a]: Gombrich, Ernst H. (1977). Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart: Belser.
[Gombrich 2002a]: Gombrich, Ernst H. (2002). Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Berlin: Phaidon, 6. Auflage.
[Gregory 1997a]: Gregory, Richard L. (1997). Eye and Brain. The Psychology of Seeing. Princeton, N.J: Princeton University Press.
[Gregory 2000a]: Gregory, Richard L. (2000). Ambiguity of ‘Ambiguity’. Perception, Band: 29, S. 1139-1142.
[Haken 1995]: Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [95], Klaus Sachs-Hombach [52], Franziska Kurz [21], Rainer Schönhammer [9], Eva Schürmann [1] und Jakob Steinbrenner [1] — (Hinweis) |