Kommunikologie

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
Version vom 5. Oktober 2011, 14:04 Uhr von Oliver Bidlo (Diskussion | Beiträge) (Engere Begriffsbestimmung)
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Unterpunkt zu: Bildtheoretische Ansätze


Darstellung des gr. Zusammenhangs

Der Begriff der Kommunikologie geht auf Vilém Flusser zurück.(1) Flusser bezeichnet die Lehre von der menschlichen Kommunikation als Kommunikologie. Menschliche Kommunikation ist ihm ein kultureller Vorgang, der sich auf die Erfindung von zu Codes organisierten Symbolen gründet. Diese Codes verhüllen die Natur, und diese Hülle ist für Flusser die Kultur. Und da die Welt der Symbole gedeutet und nicht erklärt werden muss, sie also interpretativ anzugehen ist, verortet er die menschliche Kommunikation in den Bereich der Geisteswissenschaft und verzichtet darauf, „in der Symbolisierung ein ‚biologisches‘ Phänomen zu sehen.“ (Flusser 2003: 74) Flusser beschaut und untersucht, wie über den kommunikativen Prozess Informationen gespeichert, verändert und weiterverteilt werden, und kommt darüber zu einer Sichtweise und Bewertung von (Medien)Technologie, durch die er einen Wandel im zwischenmenschlichen Verhältnis konstatiert. Die Codes, mit denen und durch die sich die Menschen verständigen und der Welt einen Sinn zu geben vermögen, wandeln sich. Er sieht sogar einen „Umsturz der Codes“ durch TV, Video und Computer, den er in seiner Heftigkeit mit der industriellen Revolution und ihrer Auswirkung auf die Arbeitswelt gleichsetzt. Ausgehend vom Menschen, seinen Codes, der Sprache, seinen Gesten, weitergehend in Richtung Bilder und Technobilder hin zu technischen Apparaturen wie TV, Video oder Computer wirft Flusser einen Blick auf die damit einhergehenden Veränderungen in der menschlichen Kommunikation und den Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Engere Begriffsbestimmung

Flusser unterscheidet in seinem Buch „Kommunikologie“ zwei unterschiedliche Formen der Kommunikation, den Dialog und den Diskurs, die er später an Medien knüpft und die Medien dahingehend in dialogische und diskursive Medien einteilt. (Flussers Unterscheidung von Dialog und Diskurs ist stark von Martin Bubers Ich-Du und Ich-Es Unterscheidung geprägt).

Dialog und Diskurs Flusser versteht den Dialog als einen Prozess, „bei dem auf verschiedene Gedächtnisse aufgeteilte Informationen zu einer neuen Information synthetisiert werden“. (Flusser 2003: 286) Dialogische Medien sind dann Medien, die den Dialog in seiner Entfaltung unterstützen, die die Neuschöpfung von Informationen ermöglichen. Der Diskurs verteilt dagegen vorhandene Informationen. Beide Formen, Dialog und Diskurs, benötigen einander; der Dialog benötigt Informationen, die zuvor von den Beteiligten durch Diskurse angesammelt wurden. Der Diskurs wiederum entsteht erst aus der Verteilung von Informationen, die zuvor in einem Dialog neu synthetisiert wurden. Solcherart gibt es keine Präzedenz, denn jedes dialogische Medium kann zu einem diskursiven und umgekehrt werden. Flusser synthestisiert aus zwei Dialogarten, die er unterscheidet, eine neue Form des Dialogs. Zum einen nennt Flusser den griechischen (kreisförmigen) Dialog, so wie er von Sokrates praktiziert wurde. Hier steht der Logos im Mittelpunkt und der Erkenntnisgewinn. Wissen soll durch den Dialog gewonnen (oder validiert) werden. Davon abzugrenzen ist nun eine jüdisch-christliche Dialogvorstellung, die Flusser als Netzdialog fasst und die bisher noch nicht oder nur wenig in den Blick der westlichen Denktradition gekommen ist.

„Hingegen gibt es eine implizite Analyse des Dialogs in der jüdisch-christlichen Tradition, welche in Bubers ‚Dialogischem Leben‘ ganz explizit wird und in überraschender Weise das dem Netzdialog inhärente existentielle Problem beleuchtet.“ (Flusser 2003: 293)

Der Netzdialog ist vom Kreisdialog durch seine Offenheit zu unterscheiden und fußt auf eine andere, eben jüdische Ontologie. In der griechischen Ontologie wird der Mensch zur Welt in einem Subjekt-Objekt-Verhältnis gesehen, ist der Mensch als „Ich“ der Welt als „Es“ gegenübergestellt. Im Judentum dagegen steigt das „Ich“ aus dem Angesprochenwerden des „Du Gottes“ empor. Es ist ein partnerschaftliches „Du“, das den Griechen fremd ist. Während die Form des griechischen Dialogs auf die Bildung neuer Informationen aus ist, betont der jüdische Dialog das Antworten auf das Angesprochenwerden und die daraus erwachsende Verantwortung für das Du. Aus diesen beiden Dialogformen synthetisiert Flusser seine Dialogform, die zum einen die Erzeugung von Informationen als Kennzeichen des griechischen Dialogs beinhaltet. Zum anderen kommt damit der Aspekt des Antwortens und Verantwortens als existenzieller Aspekt des jüdischen Dialogs hinzu. Die Einschränkungen des Kreisdialogs führen Flusser zur Präferenz einer Netzstruktur als das Muster, welches die Bedingungen – Informationsgenerierung und Ausbil­dung zwischenmenschlicher Beziehung als existentielle Erfül­lung des Menschen – am besten erfüllen und sich zugleich den sich ausbreitenden Diskursen entgegenstellen kann. Kommunikation kann nach Flusser nur dann ihren Zweck erfüllen, nämlich die Einsamkeit und Sinnlosigkeit zu überwinden, „wenn sich Diskurs und Dialog das Gleichgewicht halten.“ (Flusser 2003: 17) Dieses Gleichgewicht sieht Flusser aber durch eine übermäßige Ausbreitung und der Vorherrschaft des Diskurses gestört, und damit die Gefahr der aufsteigenden Einsamkeit und Sinnlosigkeit. Durch die Unterscheidung der beiden Kommunikationsformen „Dialog“ und „Diskurs“ kommt Flusser zu einer Einteilung der Medien, die sich in diskursive und dialogische Medien einteilen lassen und in denen besonders die elektronischen Medien zur Geltung kommen. Denn gerade das Fernsehen ist ein Beispiel für eine Besiedlung des Lebensraumes der Menschen mit einer Diskursform, die keine Antwort- und Reaktionsmöglichkeit mehr gestattet. Und ein weiterer wichtiger Punkt tritt in diesem Zusammenhang auf, der über die strukturellen Aspekte hinaus geht. Denn z.B. mit dem Fernseher ist eine besondere Plattform für die Technobilder geboten; und diese stellen einen völlig anderen Code dar, der ein anderes Grundverständnis als der alte alphanumerische Code und das traditionelle Bild als Code erfordern (vgl. Technobilder). Der Code der technischen Bilder, der nun Einzug in die Wohnzimmer erhält, ist als ein Wechsel in der Kodierung anzusehen. Und die Codes sind es, die uns programmieren. Die menschliche Kommunikation, so wie sie Flusser in seiner Kommunikologie fasst, dient dazu Informationen zu speichern, zu prozessieren und zugleich weiterzugeben. Und die Kultur ist entsprechend eine menschliche Vorrichtung, um Informationen zu speichern und weiterzugeben.Die Menschen versuchen durch Kommunikation zugleich sich selbst zu transzendieren, indem sie neue Informationen prozessieren, um so der Entropie des Universums zu entkommen. Der Mensch kommuniziert dergestalt, um den Tod und die Einsamkeit zu überwinden.

Literatur:

Flusser, Vilém (2003): Kommunikologie. Fischer Verlag, Frankfurt/Main

1 Die nachfolgenden Ausführungen lehnen sich grob an die entsprechenden Kapitel von [Bidlo 2008a] an. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.


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