Kunstgeschichte als Bildgeschichte
Unterpunkt zu: Bildphilosophische Abgrenzungen
Die Kunstgeschichte als prädestinierte BildwissenschaftDie Kunstgeschichte gilt gemeinhin als eine der ältesten und versiertesten bildwissenschaftlichen Disziplinen. Eine intensive Auseinandersetzung mit Bildwerken verschiedenster Art gehört für sie zum Tagesgeschäft. Seit ihrer akademischen Etablierung im 19. Jahrhundert hat sie dabei eine Reihe von Methoden entwickelt, die die wissenschaftliche Beschäftigung mit etwaigen Bildwerken unter systematischen Gesichtspunkten anleiten. Viele davon haben in der internationalen kunsthistorischen Forschung weite Verbreitung gefunden (⊳ Ikonografie, Ikonologie, Ikonik). Wie sich seit Ende der 1980er Jahre herausstellt, sind zahlreiche dieser Methoden hingegen nicht mehr unumstritten. Obwohl die Arbeiten von Autoren wie Erwin Panofsky (1892-1968), Ernst Gombrich (1909-2001) oder Heinrich Wölfflin (1864-1945) nach wie vor als Klassiker der Kunstgeschichte zählen, machen sich etliche einflussreiche kunsthistorische Stimmen für eine Reformation der Disziplin Kunstgeschichte stark. Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts). Köln: Dumont. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 36-67), wird verworfen und durch die Überzeugung ersetzt, dass selbst die genaueste hermeneutische und semiotische Bildanalyse weder dem Wesen noch der tatsächlichen Wirkung von Bildwerken angemessen Rechnung tragen könne.[1] Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren. München: Verlag C.H. Beck, 2., erweiterte Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 77), d.h. ein Diktat, demzufolge nur solche Bildwerke von kunsthistorischem Wert und Interesse sind, die einem klassischen, durch Antike und Renaissance geprägten Kunst- und Ästhetikverständnis entgegenkommen. Demgegenüber wird darauf hingewiesen, dass die Tragweite des menschlichen Bildschaffens durch eine derartige Forschungsprogrammatik in keiner Weise eingefangen werden kann. Wie unter anderem James Elkins demonstriert, übersteigt das Reich der Bilder das der Kunst in beträchtlichem Maße (vgl. [Elkins 1999a]Elkins, James (1999). The Domain of Images. London: Cornell University Press. Eintrag in Sammlung zeigen). Nicht alles, was ein Bild ist, ist zugleich auch Kunst. The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response (1989). Chicago/London: The University of Chicago Press. Eintrag in Sammlung zeigen, [Belting 2004a]Belting, Hans (2004). Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 6. Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen). Gegenstand kunsthistorischer bzw. bildgeschichtlicher Forschung wären demnach sämtliche Bilderzeugnisse, darunter gerade solche Bildwerke, die von der traditionellen Kunstgeschichte ignoriert oder vernachlässigt worden sind. Leitend ist in solchen Forschungen nicht eine spezifische Idee von Kunst, sondern das Phänomen des Bildes in dessen gesamten Facettenreichtum. Zu erwähnen ist, dass dieses Forschungsinteresse von den Intentionen philosophischer Bildtheorien meist verschieden ist. Während philosophische Bildtheorien in der Regel den Begriff des Bildes untersuchen, befassen sich kunsthistorische wie bildgeschichtliche Studien häufig in erster Linie auf einem empirischen, historischen und/oder kulturwissenschaftlichen Wege mit speziellen Bildphänomenen (⊳ Bildwissenschaft vs. Bildtheorie). Der Möglichkeit, über die Analyse konkreter Bildwerke hinaus ebenfalls zu allgemeinen Einsichten über die Besonderheit bildlicher Darstellungen zu gelangen, steht diese Betrachtungsweise allerdings keineswegs prinzipiell entgegen. Kunstgeschichte als BildgeschichteDie vielleicht einflussreichsten Anregungen, kunstgeschichtliche Forschung im Sinne einer Bildgeschichte zu betreiben, finden sich in den Schriften Hans Beltings. In seinem Buch «Das Ende der Kunstgeschichte» – ein Werk, das bei seiner Erstveröffentlichung noch ein Fragezeichen im Titel trug (vgl. [Belting 1983a]Belting, Hans (1983).Das Ende der Kunstgeschichte?. München: Deutscher Kunstverlag. Eintrag in Sammlung zeigen)[3] – regt er die gegenwärtige Kunstgeschichte zu einer „Denkpause“ ([Belting 2002a]Belting, Hans (2002). Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren. München: Verlag C.H. Beck, 2., erweiterte Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 22) an und fragt, „ob die Kunst und die Erzählung von Kunst noch so, wie man es gewohnt war, zueinander paß[en]“ ([Belting 2002a]Belting, Hans (2002). Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren. München: Verlag C.H. Beck, 2., erweiterte Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen: ebd.). Wie im weiteren Verlauf des Textes deutlich wird, verneint Belting diese Frage. Allerdings betont er, dass die Notwendigkeit einer Kunstgeschichte damit unter keinen Umständen hinfällig geworden sei. Vielmehr hätten sich, angestoßen etwa durch die avantgardistische Kunstpraxis des 20. Jahrhunderts, etablierte klassische Analysemethoden und Denkweisen mit der Zeit abgenutzt, sodass nunmehr die Dringlichkeit nach einer erneuerten Form kunsthistorischen Forschens und Erzählens offenkundig geworden sei:
Angesprochen ist ein Kanon, der auf die Tradition der Renaissance und Antike zurückgeht und von kunsthistorischen Wegbereitern wie Leon Battista Alberti (1404-1472) und Giorgio Vasari (1511-1574) sowie Pionieren der akademischen Kunstgeschichte wie Alois Riegl (1858-1905), Heinrich Wölfflin oder Erwin Panofsky popularisiert und etabliert wurde. Im Zentrum dieses Kanons steht neben dem Werkbegriff häufig auch die Idee der kunstvoll-virtuosen Autorschaft, derzufolge großartige Kunst nur von solchen Personen kreiert werden könne, die mit einer außergewöhnlichen artistischen Begabung und künstlerischen Genialität versehen sind (⊳ Original).[4] Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren. München: Verlag C.H. Beck, 2., erweiterte Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen). Vor einem Bild. München/Wien: Carl Hanser Verlag, aus dem Französischen von Reinold Werner. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 147) klassischer kunstwissenschaftlicher Methoden zu lösen, um auf diese Weise einen Zugang zu der sinnlichen Wirkungsmacht von Bildern zu gewinnen, wie sie nach Ansicht von Didi-Huberman durch eine rein hermeneutische oder semiotische Betrachtungsweise niemals registriert werden könne. Bilder sind dieser Position zufolge nicht als Wissensobjekte von Interesse, die hinsichtlich ihrer semiologischen Bedeutungen und Rätsel prinzipiell entschlüsselbar sind, sofern nur das “richtige” ikonologische Instrumentarium verwendet wird. Vielmehr treten sie als besondere Sichtbarkeitsgebilde in den Blick, die, von der intellektualistisch-positivistischen „Rhetorik der Gewißheit“ ([Didi-Huberman 2000a]Didi-Huberman, Georges (2000). Vor einem Bild. München/Wien: Carl Hanser Verlag, aus dem Französischen von Reinold Werner. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 11) sowie der „Tyrannei des Lesbaren“ (ibid. S. 16) befreit, in ihrer unbegrifflichen Phänomenalität und der damit einhergehenden hermeneutisch wie semiotisch undurchdringlichen Rätselhaftigkeit anerkannt und akzeptiert werden. Hinter diesem Vorstoß steht die in vielen gegenwärtigen bildtheoretischen Studien geteilte Überzeugung,
Ausgesprochen ist damit die Forderung einer Abkehr von klassischen kunst- und bildwissenschaftlichen Forschungsprogrammen. Ein etabliertes Primat der Interpretation soll hier durch eine Sensibilisierung für die phänomenalen, nicht immer schon in Interpretation und Wissen aufgehenden, gleichsam irrationalen Facetten der Bilderfahrung in Frage gestellt werden. Eingefordert wird dabei eine Sensibilität, wie sie sich nach Didi-Hubermans Dafürhalten im Anschluss an kunsthistorische Klassiker wie Panofsky oder Gombrich offenbar niemals entwickelt lässt. Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren. München: Verlag C.H. Beck, 2., erweiterte Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 38) sowie anderen vergangenen Kunstepochen im Zentrum gestanden hätten. Dazu notiert Belting:
Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen). Nicht das Verstehen von Kunst ist hier von Relevanz, sondern die Erfahrung des Ereignischarakters von Kunst (vgl. [Mersch 2002b]Mersch, Dieter (2002). Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer performativen Ästhetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen). Phänomene wie diese lassen sich mit traditionellen Analyseinstrumenten in der Tat nicht angemessen beschreiben und erklären. Ein revidiertes Analyseinstrumentarium erscheint daher als ebenso unerlässlich wie ein erweitertes Kunst- und Ästhetikverständnis. Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt. München: C.H. Beck. Eintrag in Sammlung zeigen, [Belting 2001a]Belting, Hans (2001). Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen). Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 6. Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen). Schon der Untertitel dieser Arbeit – «Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst» – signalisiert eine am Bild, nicht an der Kunst, orientierte Untersuchungsperspektive, aus der sich eine tiefgreifende Verschiebung der wissenschaftlichen Fragestellung ergibt. Entscheidend ist für Belting nicht, was ein konkretes Bild bedeutet, wie es zwecks einer gelungenen Interpretation “gelesen” werden muss oder inwieweit es mit einem kanonisierten Kunst- oder Werkbegriff korrespondiert. Stattdessen ist von Interesse, in welcher Form Menschen zu Zeiten, in denen ein elaborierter Kunstbegriff noch nicht existiert hat,[7] in gewissen politischen, religiösen und vor allem kultischen Kontexten von Bildwerken Gebrauch machten. Ob es sich in den betreffenden Bildverwendungskontexten im traditionellen Sinne um Kunstwerke handelte, ist aus dieser dezidiert bildgeschichtlichen Perspektive irrelevant. Ein bildgeschichtliches Erkenntnisinteresse äußert sich etwa in den folgenden Forschungsfragen: Warum haben Menschen das Bedürfnis, bei der Durchführung etwaiger politischer, religiöser oder kultischer Handlungen und Rituale nicht nur Bilder zu verwenden, sondern diese auch ins Zentrum entsprechender Handlungen und Rituale zu stellen? Was motiviert Menschen dazu, Bilder zu schaffen? Warum knüpfen Menschen insbesondere in religiösen und kultischen Zusammenhängen existenzielle sowie spirituelle Hoffnungen und Erwartungen an die Schöpfung, Verwendung und quasi-personale Interaktion mit Bildwerken? Wie lässt sich verstehen, warum Bildern seit Jahrtausenden besondere Kräfte und Mächte zugesprochen werden, die auch heute noch die Vorstellungen von einer eigentümlichen Bildmagie bzw. Bildmacht prägen?[8] Was führt Menschen dazu, sich vor Bildern zu ängstigen oder sogar ikonoklastische Handlungen durchzuführen, durch die – wie etwa in den spätantiken oder reformatorischen Bilderstürmen oft geschehen – mitunter auch Menschenleben ein Ende finden?[9] Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 6. Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 9) The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response (1989). Chicago/London: The University of Chicago Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. XIX). Auch bei Freedberg findet sich der Impuls, eine als verkrustet empfundene Kunstgeschichte durch die Einführung anderer Forschungsperspektiven und -direktiven zu erneuern, die vorwiegend auf das Bild als Gegenstand des Erkenntnisinteresses bezogen sind und die Frage nach dem künstlerischen Wert eines Bildwerkes bewusst unberücksichtigt lassen. The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response (1989). Chicago/London: The University of Chicago Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 23). Eine derartige Haltung führt seines Erachtens zu der Einsicht, dass die historischen Voraussetzungen für den Umgang mit Werken der höheren Künste erst dann angemessen nachvollzogen werden können, wenn dieser mit Bildpraktiken in Beziehung gesetzt wird, die im Zuge eurozentristischer Vorurteile unberechtigterweise gemeinhin als ‘einfach’ oder ‘primitiv’ deklariert worden sind. Aus dieser Erweiterung des kunstwissenschaftlichen Horizonts leitet Freedberg die Hoffnung ab, die Kunstgeschichte in eine Bildgeschichte transformieren zu können. Der Bildgeschichte spricht er dabei einen vollkommen eigenständigen wissenschaftlichen Status zu, der im Vergleich zur klassischen Kunstgeschichte vor allem in anthropologischer Hinsicht von weitaus elementarerer Natur ist:
Von der Bildgeschichte zur BildanthropologieDie anthropologischen Konsequenzen, die sich aus einer bildgeschichtlichen Forschungsperspektive ergeben, sind von Belting ausführlicher als von Freedberg herausgearbeitet worden. In seinem Buch «Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft» unternimmt er den Versuch, über eine anthropologische Zuspitzung des bildgeschichtlichen Ansatzes einen systematischen Beitrag zur allgemeinen Bildtheorie beizusteuern. Dieser Beitrag äußert er sich zunächst in der im vorangegangenen Text bereits geschilderten Überzeugung, „daß sich das Bild nur auf Wegen erschließen läßt, die interdisziplinär gegangen werden und auch vor einem interkulturellen Horizont nicht zurückschrecken“ ([Belting 2001a]Belting, Hans (2001).Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 8). Bildwissenschaft im Sinne von Bildtheorie ließe sich dieser Position zufolge nur dann erfolgreich betreiben, wenn sich von einem Bildbegriff gelöst wird, der im Wesentlichen auf die abendländische Kultursphäre zugeschnitten ist. Eine von aller Empirie getrennte Analyse des Bildbegriffs, wie Lambert Wiesing sie beispielsweise für eine philosophische Bildtheorie fordert, wäre demnach von vornherein zum Scheitern verurteilt und damit zwecklos. Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 57) anzusehen ist. Diese These besitzt zwei Komponenten: Auf der einen Seite deutet sie auf die (freilich triviale) Tatsache hin, dass „[t]rotz aller Apparate, mit denen wir heute Bilder aussenden und speichern, […] allein der Mensch der Ort [ist], an dem Bilder in einem lebendigen Sinne […] empfangen und gedeutet werden“ ([Belting 2001a]Belting, Hans (2001). Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen: ebd.); auf der anderen Seite resultiert sie aus der Beobachtung, dass der Mensch selbst mitsamt seines Körpers „gleichsam ein lebendes Organ für Bilder“ ([Belting 2001a]Belting, Hans (2001). Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen: ebd.) darstellt. Der Mensch gestaltet und reflektiert das Verhältnis zu sich und der Welt nicht nur mithilfe des Bildes; auch nutzt er seinen eigenen Körper als den wohl ersten und damit ursprünglichsten Bildträger.[10] Zum bildwissenschaftlichen Nutzen einer bildgeschichtlichen ForschungsperspektiveWorin liegt nun der bildwissenschaftliche Wert einer anthropologisch zugespitzten Bildgeschichte? Die Antwort auf diese Frage ist nur vermeintlich einfach und lapidar: Konsequent umgesetzt, ergibt sich aus einer bildgeschichtlichen Forschungsperspektive ein dynamisches Bildverständnis. Was ein Bild ist, lässt sich aus bildgeschichtlicher Sicht nicht auf einen fixen Begriff bringen, weil – semiotisch gesprochen – sowohl die Intension als auch die Extension des Bildbegriffs je nach Epoche und Kontext höchst unterschiedliche Richtungen annehmen kann. Bei dieser Erkenntnis handelt es sich einerseits sicherlich um eine Binsenweisheit. Andererseits ist indes nicht minder richtig, dass sich die Frage, woran genau sich die Plastizität des Bildbegriffs festmacht, mitunter nur sehr mühsam beantworten lässt. Durch seine kulturwissenschaftliche, ethnografische und anthropologische Erweiterung der Forschungsperspektive unternimmt das Konzept der Bildgeschichte den Versuch, diese Schwierigkeit aufzulösen. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Berlin: Bruno Cassirer Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen). Während es heutzutage in den meisten (gewiss nicht in allen) Fällen üblich ist, Bilder als Repräsentationen von Gegenständen und Sachverhalten wahrzunehmen, war es bis ins Mittelalter hinein besonders in kultischen und religiösen Kontexten gebräuchlich, in Bildern die leibhaftige Präsenz einer Sache auszumachen. Im einen Fall wird eine Sache lediglich zeichenhaft aufgefasst: was im Bild sichtbar ist, weist auf Gegenstände und Sachverhalte hin, die als Einheiten aufgefasst werden, die nicht aktuell anwesend sind. Im anderen Fall sehen sich die Betrachter eines Bildes mit der unmittelbaren Leibhaftigkeit einer Sache konfrontiert: was im Bild sichtbar ist, wird als die Sache selbst wahrgenommen. Zwischen Darstellung und Dargestelltem besteht ein Verhältnis der Identität; beide Komponenten verschmelzen miteinander und bilden eine untrennbare Einheit. Genau hier findet sich der erwähnte Berührungspunkt zwischen den bildwissenschaftlichen Implikationen einer bildgeschichtlichen Forschungsperspektive und Ernst Cassirers kulturphilosophisch hergeleiteter Theorie des Mythos. Was das mythische Denken nach Cassirer charakterisiert, ist das Fehlen eines abstrakten Zeichenbewusstseins. Dinge werden hier nicht im Modus der Repräsentation, sondern ausschließlich im Modus der Präsenz erfasst:
Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 30ff., [Wiesing 2009a]Wiesing, Lambert (2009). Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 201ff.), lässt sich in einem solchen Szenario folglich nicht feststellen. Was in der Bildtheorie zuweilen als ein universales Element für genuine Bildlichkeit überhaupt postuliert wird, lässt sich durch die Befunde einer bildgeschichtlichen Forschungsperspektive nicht verifizieren.[11] Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 6. Auflage. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 9) zu behandeln. Wer in einem Bild eine Identität zwischen Darstellung und Dargestelltem ausmacht, kann im Bild eines Menschen ohne Weiteres die leibhaftige Präsenz desselben ausmachen. Nach Ansicht von W.J.T. Mitchell und David Freedberg erklärt die Virulenz eines solchen magisch-mythischen Bildbegriffs, warum Menschen in privaten, politischen, religiösen oder kultischen Kontexten bis heute bisweilen ein quasi-personales Verhältnis zu Bildern pflegen können, in dem Bildwerke als autonome Akteure in Erscheinung treten, die wie “echte” Personen gelobt, geliebt, gehasst und getadelt werden können (vgl. [Freedberg 1991a]Freedberg, David (1991). The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response (1989). Chicago/London: The University of Chicago Press. Eintrag in Sammlung zeigen: Kap. 14, [Mitchell 2008b]Mitchell, W.J.T. (2008). Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur. München: Verlag C.H. Beck, mit einem Vorwort von Hans Belting, aus dem Englischen von Achim Eschbach, Anna-Victoria Eschbach und Mark Halawa. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 106-128). Obwohl die Idee des Bilderanimismus durchaus kritisch bewertet werden kann (vgl. [Waldenfels 2010a]Waldenfels, Bernhard (2010). Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Eintrag in Sammlung zeigen: Kap. 2.7), verdeutlicht sie einmal mehr den Kerngedanken einer bildgeschichtlichen Forschungsperspektive: Die Geschichte des Bildes geht nicht nur nicht mit der Geschichte der Kunst einher; auch verweist sie auf ein Forschungsfeld, das von der traditionellen Kunstgeschichte offenbar unerkannt bleiben musste, weil diese aufgrund ihres ästhetischen Konservatismus und Eurozentrismus offenbar keine ausreichende Sensibilität für die Vielfalt des menschlichen Bildschaffens entwickeln konnte. |
Anmerkungen
[Belting & Haustein 1998a]: Belting, Hans & Haustein, Lydia (1998). Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt. München: C.H. Beck.
[Belting 1983a]: Belting, Hans (1983). Das Ende der Kunstgeschichte?. München: Deutscher Kunstverlag. [Belting 2001a]: Belting, Hans (2001). Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag. [Belting 2002a]: Belting, Hans (2002). Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren. München: Verlag C.H. Beck, 2., erweiterte Auflage. [Belting 2004a]: Belting, Hans (2004). Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 6. Auflage. [Boehm 2007a]: Boehm, Gottfried (2007). Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin: Berlin University Press. [Cassirer 1925a]: Cassirer, Ernst (1925). Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Berlin: Bruno Cassirer Verlag. [Didi-Huberman 2000a]: Didi-Huberman, Georges (2000). Vor einem Bild. München/Wien: Carl Hanser Verlag, aus dem Französischen von Reinold Werner. [Elkins 1999a]: Elkins, James (1999). The Domain of Images. London: Cornell University Press. [Fischer-Lichte 2004a]: Fischer-Lichte, Erika (2004). Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. [Freedberg 1991a]: Freedberg, David (1991). The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response (1989). Chicago/London: The University of Chicago Press. [Kris & Kurz 1995a]: Kris, Ernst & Kurz, Otto (1995). Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, mit einem Vorwort von Ernst H. Gombrich. [Lippold 1993a]: Lippold, Lutz (1993). Macht des Bildes - Bild der Macht: Kunst zwischen Verehrung und Zerstörung bis zum ausgehenden Mittelalter. Leipzig: Edition Leipzig. [Mersch 2002a]: Mersch, Dieter (2002). Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Wilhelm Fink Verlag. [Mersch 2002b]: Mersch, Dieter (2002). Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer performativen Ästhetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. [Mitchell 1986a]: Mitchell, William J. T. (1986). Iconology. Image, Text, Ideology. Chicago, London: The University of Chicago Press. [Mitchell 2008b]: Mitchell, W.J.T. (2008). Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur. München: Verlag C.H. Beck, mit einem Vorwort von Hans Belting, aus dem Englischen von Achim Eschbach, Anna-Victoria Eschbach und Mark Halawa. [Panofsky 2002a]: Panofsky, Erwin (2002). Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts). Köln: Dumont. [Waldenfels 2010a]: Waldenfels, Bernhard (2010). Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. [Warnke 1993a]: Warnke, Martin (Hg.) (1993). Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag. [Wiesing 2005a]: Wiesing, Lambert (2005). Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. [Wiesing 2009a]: Wiesing, Lambert (2009). Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Verantwortlich: Seitenbearbeitungen durch: Mark A. Halawa [75], Joerg R.J. Schirra [31] und Franziska Kurz [1] — (Hinweis) |