Mimesis

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
Version vom 23. Oktober 2010, 15:33 Uhr von Tobias Schöttler (Diskussion | Beiträge) (Engere Begriffsbestimmung)
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Unterpunkt zu: Historische Bildbegriffe


Darstellung des gr. Zusammenhangs

Der Ausdruck 'Mimesis' fungiert in der Antike (besonders bei Platon und Aristoteles) als Grundbegriff der Kunstreflexion, aber auch der Naturphilosophie und Metaphysik. Bereits in seiner antiken Verwendung weist der Mimesisbegriff eine Vielzahl von Bedeutungsdimensionen auf, die in einem wechselseitigen Begründungsverhältnis stehen. Demnach betrifft die Mimesis

  • das Verhältnis des Künstlichen zum Natürlichen (ontologischer Gebrauch),
  • das Verhältnis von Darstellungen zur Welt (semiotischer Gebrauch),
  • das Verhältnis von Fiktionalem zu Faktualem sowie
  • anthropologische Vorstellungen über die schöpferischen bzw. kreativen Potentiale des Menschen (anthropologischer Gebrauch).


Die zweite Blütezeit der kunsttheoretischen Mimesis setzt mit der Rezeption der Poetik des Aristoteles' in der Renaissance ein und erreicht ihren Höhepunkt in der Aufklärung. Im Rahmen der Naturnachahmungstheorien wird die Mimesis/Naturnachahmung mentalistisch umgedeutet und bezieht sich vorrangig auf

  • das Verhältnis der Darstellungen zu mentalen Gehalten (mentalistischer Gebrauch).

Die Relevanz der beiden Blütezeiten der (ästhetischen) Mimesis für moderne Darstellungs- und Bildtheorien ergibt sich vor allem aus der Übernahme bestimmter Fragestellungen und einzelner Beschreibungsinstrumente, wodurch der Gegenstand dieser Theorien mit-konstituiert wird, und weniger aus den begrifflichen Anschlüssen. Die Verwendungen der Ausdrücke 'Mimesis' un 'Nachahmung' in der Moderne schließen nämlich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – allenfalls sehr lose an den antiken und frühneuzeitlichen Gebrauch an. Entweder werden die Ausdrücke pejorativ im Sinne von Kopieren verwendet oder ihr Gebrauch beruht auf eigenwilligen Umdeutungen wie beispielsweise

  • dem Ineinssetzen von Mimesis und fiktionaler Darstellung (Auerbach und Walton),
  • der Umdeutung der Mimesis als Rezeptionskategorie[1] bei Adorno und
  • der Untersuchung der Mimesis im Verhältnis zu Machtkonstellationen bei Girard.

Die folgende begriffsgeschichtliche Rekonstruktion konzentriert sich auf die Stationen der Begriffsgeschichte, welche für die Bildphilosophie relevant sind. Daher werden die modernen Umdeutungen ebenso wie der naturphilosophische Gebrauch der Mimesis/Imitatio im Mittelalter allenfalls gestreift.


Engere Begriffsbestimmung

Bei Platon wie auch bei Aristoteles sind zwei Verwendungsweisen von 'Mimesis' zu unterscheiden. Zum einen bezeichnet der Ausdruck einen bestimmten Darstellungsmodus und wird dabei der 'diegesis' als einem anderen Modus gegenübergestellt.[2] Bei der Diegesis redet der Autor und beschreibt eine Handlung. Bei der Mimesis spricht die Figur. Zum anderen verwenden Platon und Aristoteles 'Mimesis' aber auch als Oberbegriff für die beiden Darstellungsmodi. In dieser allgemeineren Verwendung beschreibt der Ausdruck das Verhältnis der Techne (alles Künstliche) zur Welt (alles Natürliche); jedes Artefakt und damit auch Kunstwerke im heutigen Sinne des Wortes gelten Platon und Aristoteles demnach als Mimesis. Platon beschreibt mit der Mimesis (aber auch mit der Methexis) auch das Verhältnis zwischen Sinnen- und Ideenwelt. Da Aristoteles die Annahme einer Ideenwelt ablehnt, spielt diese Verwendungsweise bei ihm keine Rolle, wohl aber die Mimesis als Darstellungsmodus und die (ontologische) Mimesis als Bezeichnung für das Verhältnis zwischen Künstlichem und Natürlichen.

Die philologische Erforschung der antiken Mimesis konzentriert sich auf die ontologische Mimesis und kreist um die Frage, ob der griechische Ausdruck besser mit ‚Nachahmung’ oder mit ‚Darstellung’ zu übersetzen sei.[3] Beide Übersetzungsalternativen sind nicht unproblematisch. Freilich reden weder Platon noch Aristoteles einer Nachahmung im Sinne eines Kopierens der Wirklichkeit das Wort; ebenso wenig ist aber ‚Darstellung’ gemeint, wenn diese ein freies Erfinden impliziert,[4] insofern der Bezug auf die natürliche Welt für die antike Mimesis konstitutiv ist.

Die Unterscheidung zwischen Künstlichem und Natürlichen wird von Platon und Aristoteles hierarchisch gedacht. Vorausgesetzt wird – wenngleich von Platon und Aristoteles unterschiedlich begründet – die Annahme einer geschlossenen, in sich \emph{vollständigen} Welt. Insofern die Natur bzw. die natürliche Welt vollständig ist, kann jedes Artefakt und jede Erfindung nur als Wiederholung dieser Welt gelten. Neukombinationen, Übersteigerungen und ähnliches gelten dabei nicht als genuine Erfindung.


Mimesis bei Platon

Bekanntlich steht die Kunst bei Platon nicht gerade hoch im Kurs. Viele Kunstwerke in unserem heutigen Sinne von Kunst sollen wegen ihrer schädlichen Wirkungen aus dem idealen Staat verbannt werden, alle Kunstwerke gelten ihm nur als 'Mimesis der Mimesis' und obendrein lügen die Dichter auch noch.[5]

Die epistemologisch-ontologische Abwertung der künstlerischen Darstellung als 'Mimesis der Mimesis' führt Platon in seinem berühmten 'Drei-Betten-Argument' aus. ([Platon 1991a]: 597a ff.) An (ontologisch) erster Stelle steht die Idee des Bettes. An zweiter Stelle steht das Bett, welches der Handwerker orientiert an der Idee des Bettes schafft. Erst an dritter Stelle steht das vom Künstler gemalte Bett. Das Drei-Betten-Argument wird anhand der Malerei diskutiert und anschließend kommentarlos auf die Dichtung übertragen. Diese Analogisierung von Malerei und Dichtung ist Platon nur möglich, weil er beide hauptsächlich in ontologischer Hinsicht als Artefakte betrachtet und sich dabei ebensowenig für Unterschiede zwischen den Medien wie für Fragen der Komposition oder Syntax der Zeichen interessiert.

Platon unterstellt, dass der Künstler sich an dem vom Handwerker geschaffenen Bett und nicht an der Idee orientiert. Diese Annahme begründet Platon nicht und hält sie in seiner Politeia auch nicht durch. Aber selbst wenn man seine Abwertung des Künstlers gegenüber dem Handwerker fallenließe, rückte der Künstler nur auf die zweite Stelle auf. Eine wirkliche Erfindung wäre nur die Schaffung der Idee selbst. Diese Möglichkeit besteht aber offenbar für den Handwerker wie auch für den Künstler nicht.

Der Grund, warum Platon sowohl für den Handwerker als auch für den Künstler die Möglichkeit einer Erfindung im Sinne einer creatio ex nihilo ausschließt, findet sich in seiner Annahme der exemplarischen Verbindlichkeit der Natur sowie ihrer essentiellen Vollständigkeit hinsichtlich aller möglichen Gehalte und Gestalten von Wirklichkeit aus.[6]

Daraus folgt, dass jede Form der Techne (seien es künstlich hergestellte Gegenstände wie Betten oder Stühle, seien es sprachliche oder bildliche Darstellungen) nicht als Erfindungen gelten können. Im Rahmen der platonischen Ontologie gibt es keinen 'Spielraum' für die Formulierung einer Überschreitung der Natur durch die Kunst, da einer vollständigen Welt nichts hinzugefügt werden kann.

Zu diesen Voraussetzungen sieht sich Platon im Timaios gezwungen, um gegen Anaximanders und Demokrits Annahme einer Pluralität von Welten die Einzigkeit der Welt auszuweisen.[7] Der Annahme einer solchen Pluralität von Welten setzt er die Annahme der qualitativen sowie quantitativen Vollkommenheit der Ideenwelt entgegen. In qualitativer Hinsicht wird diese Vollkommenheit von Platon durch Schönheit und Vortrefflichkeit bestimmt. Vollkommenheit impliziert für Platon aber auch eine quantitative Dimension, nämlich Vollständigkeit:

Denn alle die lebendigen Wesen, welche allein dem Gedanken zugänglich sind, fasst Jenes [die Ideenwelt] ebenso in sich zusammen, wie diese Welt uns und alle übrigen Geschöpfe, welche sichtbar gebildet sind.[8]

Die Ideenwelt enthält also alle gedanklich möglichen Ideen und die Ideenwelt bzw. Gedankenwelt ist in der Sinnenwelt vollständig verwirklicht. Das bedeutet aber, dass es keine unverwirklichten Möglichkeiten in der Sinnenwelt gibt – denn sonst könnte aus diesen unverwirklichten Möglichkeiten eine zweite Welt geschaffen werden. ([Platon 1991b]: 31a.) Demnach kann auch das Künstliche der Welt nichts essentiell Neues hinzufügen; somit kann die Kunst nur als Widerholung der allumfassenden Natur gedacht werden.


Mimesis bei Aristoteles

Auswirkungen auf andere Begriffe
Anmerkungen
  1. Adorno analysiert die Mimesis als spezifische Rezeptionshaltung. Während die Rationalität das Kunstwerk mittels gewisser Schemata begreift und diese dem Kunstwerk in der Rezeption aufzwingt, bemüht sich die Mimesis um eine Angleichung an das Kunstwerk — vgl. [Adorno 2003: 86 ff.].
  2. Vgl. hierzu und zum folgenden [Platon 1991a: 392d ff.]
  3. Die wesentlichen Positionen der Debatte werden von [Koller 1954], [Else 1958] und [Sörbom 1966] vertreten; neuere Varianten vertreten [Petersen 1992] sowie [Petersen 2000] und [Kardaun 1993].
  4. Das [Koller 1954] und [Petersen 2000: 21 f und 37 ff.] an.
  5. [Platon 1991a]: 377d. — Der Vorwurf der Lüge ergibt sich aus dem Umstand, dass Platon alle Arten der Rede nach den Maßstäben des logos apohantikos beurteilt.
  6. Vgl. hierzu und zum folgenden [Blumenberg 1957]: 276 und [Blumenberg 1969]: 15.
  7. Zu Anaximanders und Anaximenes’ Annahme einer Pluralität von Welten vgl. [Collingwood 1945]: S. 45 ff.
  8. [Platon 1991b]: 30d. Vgl. auch ebd.: 39e und 92 c. — [Lovejoy 1936]: S. 69 f. bezeichnet das Vollständigkeitsprinzip als 'Prinzip der Fülle'; [Blumenberg 1957] stellt fest, dass für Platon und Aristoteles die Natur der "Inbegriff des Möglichen" (ebd.: 273) sei.
Literatur                             [Sammlung]

[Adorno 2003: 86 ff.]: Adorno, Theodor W. (2003). Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: .

[Blumenberg 1957]: Blumenberg, Hans (1957). 'Nachahmung der Natur'. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. Studium Generale, Band: 10, Nummer: 5, S. 266-283. [Blumenberg 1969]: Blumenberg, Hans (1969). Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik 1. München: Fink, S. 9-27. [Collingwood 1945]: Collingwood, Robin (2005). Die Idee der Natur [The Idea of Nature (1945)]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [Else 1958]: Else, Gerald F. (1958). „Imitation in the fifth century”. Classical Philology, Band: 53, S. 73-90. [Kardaun 1993]: Kardaun, Maria (1993). Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike. Neubetrachtung eines umstrittenen Begriffes als Ansatz zu einer neuen Interpretation der platonischen Kunstauffassung. Amsterdam/New York/Oxford/Tokyo: North-Holland. [Koller 1954]: Koller, Hermann (1954). Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. Bern: Francke. [Lovejoy 1936]: Lovejoy, Arthur O. (1993). Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [The Great Chain of Being. A Study in the History of an Idea (1936)]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [Petersen 1992]: Petersen, Jürgen H. (1992). ‚Mimesis’ versus ‚Nachahmung’. Die Poetik des Aristoteles – nochmals neu gelesen. Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, Band: 27, S. 3-46. [Petersen 2000: 21 f und 37 ff.]: Petersen, Jürgen H. (2000). Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München: . [Platon 1991a]: Platon (1991). Politeia. In: Karlheinz Hülser (Hrsg.), Friedrich Schleiermacher (Übers.) (Hg.): Sämtliche Werke V. Frankfurt a.M.. [Platon 1991b]: Platon (1991). Timaios. In: Karlheinz Hülser (Hrsg.), Friedrich Schleiermacher (Übers.) (Hg.): Sämtliche Werke VIII. Frankfurt a.M., S. 197-425. [Sörbom 1966]: Sörbom, Göran (1966). Mimesis and Art. Studies in the Origin an Early Development of an Aesthetic Vocabulary. Stockholm: .


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Verantwortlich:

Schöttler, Tobias

Seitenbearbeitungen durch: Tobias Schöttler [52], Joerg R.J. Schirra [37] und Dimitri Liebsch [16] — (Hinweis)