Mimesis
Unterpunkt zu: Historische Bildbegriffe
Darstellung des gr. ZusammenhangsDer Ausdruck 'Mimesis' fungiert in der Antike (besonders bei Platon und Aristoteles) als Grundbegriff der Kunstreflexion, aber auch der Naturphilosophie und Metaphysik. Bereits in seiner antiken Verwendung weist der Mimesisbegriff eine Vielzahl von Bedeutungsdimensionen auf, die in einem wechselseitigen Begründungsverhältnis stehen. Demnach betrifft die Mimesis
Die Relevanz der beiden Blütezeiten der (ästhetischen) Mimesis für moderne Darstellungs- und Bildtheorien ergibt sich vor allem aus der Übernahme bestimmter Fragestellungen und einzelner Beschreibungsinstrumente, wodurch der Gegenstand dieser Theorien mit-konstituiert wird, und weniger aus den begrifflichen Anschlüssen. Die Verwendungen der Ausdrücke 'Mimesis' un 'Nachahmung' in der Moderne schließen nämlich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – allenfalls sehr lose an den antiken und frühneuzeitlichen Gebrauch an. Entweder werden die Ausdrücke pejorativ im Sinne von Kopieren verwendet oder ihr Gebrauch beruht auf eigenwilligen Umdeutungen wie beispielsweise
Die folgende begriffsgeschichtliche Rekonstruktion konzentriert sich auf die Stationen der Begriffsgeschichte, welche für die Bildphilosophie relevant sind. Daher werden die modernen Umdeutungen ebenso wie der naturphilosophische Gebrauch der Mimesis/Imitatio im Mittelalter allenfalls gestreift.
Engere BegriffsbestimmungBei Platon wie auch bei Aristoteles sind zwei Verwendungsweisen von 'Mimesis' zu unterscheiden. Zum einen bezeichnet der Ausdruck einen bestimmten Darstellungsmodus und wird dabei der 'diegesis' als einem anderen Modus gegenübergestellt.[2] Bei der Diegesis redet der Autor und beschreibt eine Handlung. Bei der Mimesis spricht die Figur. Zum anderen verwenden Platon und Aristoteles 'Mimesis' aber auch als Oberbegriff für die beiden Darstellungsmodi. In dieser allgemeineren Verwendung beschreibt der Ausdruck das Verhältnis der Techne (alles Künstliche) zur Welt (alles Natürliche); jedes Artefakt und damit auch Kunstwerke im heutigen Sinne des Wortes gelten Platon und Aristoteles demnach als Mimesis. Platon beschreibt mit der Mimesis (aber auch mit der Methexis) auch das Verhältnis zwischen Sinnen- und Ideenwelt. Da Aristoteles die Annahme einer Ideenwelt ablehnt, spielt diese Verwendungsweise bei ihm keine Rolle, wohl aber die Mimesis als Darstellungsmodus und die (ontologische) Mimesis als Bezeichnung für das Verhältnis zwischen Künstlichem und Natürlichen. Die philologische Erforschung der antiken Mimesis konzentriert sich auf die ontologische Mimesis und kreist um die Frage, ob der griechische Ausdruck besser mit ‚Nachahmung’ oder mit ‚Darstellung’ zu übersetzen sei.[3] Beide Übersetzungsalternativen sind nicht unproblematisch. Freilich reden weder Platon noch Aristoteles einer Nachahmung im Sinne eines Kopierens der Wirklichkeit das Wort; ebenso wenig ist aber ‚Darstellung’ gemeint, wenn diese ein freies Erfinden impliziert,[4] insofern der Bezug auf die natürliche Welt für die antike Mimesis konstitutiv ist. Die Unterscheidung zwischen Künstlichem und Natürlichen wird von Platon und Aristoteles hierarchisch gedacht. Vorausgesetzt wird – wenngleich von Platon und Aristoteles unterschiedlich begründet – die Annahme einer geschlossenen, in sich \emph{vollständigen} Welt. Insofern die Natur bzw. die natürliche Welt vollständig ist, kann jedes Artefakt und jede Erfindung nur als Wiederholung dieser Welt gelten. Neukombinationen, Übersteigerungen und ähnliches gelten dabei nicht als genuine Erfindung.
Mimesis bei PlatonBekanntlich steht die Kunst bei Platon nicht gerade hoch im Kurs. Viele Kunstwerke in unserem heutigen Sinne von Kunst sollen wegen ihrer schädlichen Wirkungen aus dem idealen Staat verbannt werden, alle Kunstwerke gelten ihm nur als 'Mimesis der Mimesis' und obendrein lügen die Dichter auch noch.[5] Die epistemologisch-ontologische Abwertung der künstlerischen Darstellung als 'Mimesis der Mimesis' führt Platon in seinem berühmten 'Drei-Betten-Argument' aus. ([Platon 1991a]: 597a ff.) An (ontologisch) erster Stelle steht die Idee des Bettes. An zweiter Stelle steht das Bett, welches der Handwerker orientiert an der Idee des Bettes schafft. Erst an dritter Stelle steht das vom Künstler gemalte Bett. Das Drei-Betten-Argument wird anhand der Malerei diskutiert und anschließend kommentarlos auf die Dichtung übertragen. Diese Analogisierung von Malerei und Dichtung ist Platon nur möglich, weil er beide hauptsächlich in ontologischer Hinsicht als Artefakte betrachtet und sich dabei ebensowenig für Unterschiede zwischen den Medien wie für Fragen der Komposition oder Syntax der Zeichen interessiert. Platon unterstellt, dass der Künstler sich an dem vom Handwerker geschaffenen Bett und nicht an der Idee orientiert. Diese Annahme begründet Platon nicht und hält sie in seiner Politeia auch nicht durch. Aber selbst wenn man seine Abwertung des Künstlers gegenüber dem Handwerker fallenließe, rückte der Künstler nur auf die zweite Stelle auf. Eine wirkliche Erfindung wäre nur die Schaffung der Idee selbst. Diese Möglichkeit besteht aber offenbar für den Handwerker wie auch für den Künstler nicht. Der Grund, warum Platon sowohl für den Handwerker als auch für den Künstler die Möglichkeit einer Erfindung im Sinne einer creatio ex nihilo ausschließt, findet sich in seiner Annahme der exemplarischen Verbindlichkeit der Natur sowie ihrer essentiellen Vollständigkeit hinsichtlich aller möglichen Gehalte und Gestalten von Wirklichkeit aus.[6] Daraus folgt, dass jede Form der Techne (seien es künstlich hergestellte Gegenstände wie Betten oder Stühle, seien es sprachliche oder bildliche Darstellungen) nicht als Erfindungen gelten können. Im Rahmen der platonischen Ontologie gibt es keinen 'Spielraum' für die Formulierung einer Überschreitung der Natur durch die Kunst, da einer vollständigen Welt nichts hinzugefügt werden kann. Zu diesen Voraussetzungen sieht sich Platon im Timaios gezwungen, um gegen Anaximanders und Demokrits Annahme einer Pluralität von Welten die Einzigkeit der Welt auszuweisen.[7] Der Annahme einer solchen Pluralität von Welten setzt er die Annahme der qualitativen sowie quantitativen Vollkommenheit der Ideenwelt entgegen. In qualitativer Hinsicht wird diese Vollkommenheit von Platon durch Schönheit und Vortrefflichkeit bestimmt. Vollkommenheit impliziert für Platon aber auch eine quantitative Dimension, nämlich Vollständigkeit:
Die Ideenwelt enthält also alle gedanklich möglichen Ideen und die Ideenwelt bzw. Gedankenwelt ist in der Sinnenwelt vollständig verwirklicht. Das bedeutet aber, dass es keine unverwirklichten Möglichkeiten in der Sinnenwelt gibt – denn sonst könnte aus diesen unverwirklichten Möglichkeiten eine zweite Welt geschaffen werden. ([Platon 1991b]: 31a.) Demnach kann auch das Künstliche der Welt nichts essentiell Neues hinzufügen; somit kann die Kunst nur als Widerholung der allumfassenden Natur gedacht werden.
Mimesis bei AristotelesAuswirkungen auf andere Begriffe |
Anmerkungen
[Adorno 2003: 86 ff.]: Adorno, Theodor W. (2003). Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: .
[Blumenberg 1957]: Blumenberg, Hans (1957). 'Nachahmung der Natur'. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. Studium Generale, Band: 10, Nummer: 5, S. 266-283. [Blumenberg 1969]: Blumenberg, Hans (1969). Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik 1. München: Fink, S. 9-27. [Collingwood 1945]: Collingwood, Robin (2005). Die Idee der Natur [The Idea of Nature (1945)]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [Else 1958]: Else, Gerald F. (1958). „Imitation in the fifth century”. Classical Philology, Band: 53, S. 73-90. [Kardaun 1993]: Kardaun, Maria (1993). Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike. Neubetrachtung eines umstrittenen Begriffes als Ansatz zu einer neuen Interpretation der platonischen Kunstauffassung. Amsterdam/New York/Oxford/Tokyo: North-Holland. [Koller 1954]: Koller, Hermann (1954). Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. Bern: Francke. [Lovejoy 1936]: Lovejoy, Arthur O. (1993). Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [The Great Chain of Being. A Study in the History of an Idea (1936)]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [Petersen 1992]: Petersen, Jürgen H. (1992). ‚Mimesis’ versus ‚Nachahmung’. Die Poetik des Aristoteles – nochmals neu gelesen. Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, Band: 27, S. 3-46. [Petersen 2000: 21 f und 37 ff.]: Petersen, Jürgen H. (2000). Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München: . [Platon 1991a]: Platon (1991). Politeia. In: Karlheinz Hülser (Hrsg.), Friedrich Schleiermacher (Übers.) (Hg.): Sämtliche Werke V. Frankfurt a.M.. [Platon 1991b]: Platon (1991). Timaios. In: Karlheinz Hülser (Hrsg.), Friedrich Schleiermacher (Übers.) (Hg.): Sämtliche Werke VIII. Frankfurt a.M., S. 197-425. [Sörbom 1966]: Sörbom, Göran (1966). Mimesis and Art. Studies in the Origin an Early Development of an Aesthetic Vocabulary. Stockholm: . Verantwortlich: Seitenbearbeitungen durch: Tobias Schöttler [52], Joerg R.J. Schirra [37] und Dimitri Liebsch [16] — (Hinweis) |